Fröhliche Weihnachten
Epilog
Fröhliche Weihnachten
Der Wecker klingelte und riss Seto aus seinem mehr als knapp zu nennenden Schlaf. Seine Hand schlug auf den Ausknopf und brachte ihn zum Schweigen.
Er ging in sein Bad und klatschte sich mehrere Ladungen eiskalten Wassers ins Gesicht, um wenigstens einen halbwegs wachen Eindruck zu machen. Dann griff er nach seinem Bademantel und verließ sein Zimmer. Auf dem Flur traf er auf Mokuba, der im Gegensatz zu seinem großen Bruder einen sehr munteren Eindruck machte.
„Guten Morgen, Seto“, sagte der Kleine überrascht.
„Guten Morgen. Willst du nicht runtergehen und nach deinen Geschenken sehen?“
Kaum ausgesprochen, war Mokuba auch schon auf dem Weg die Treppen herunter. Seto folgte ihm in gemessenem Tempo.
Als er ins Wohnzimmer kam und den Weihnachtsbaum sah, blieb er im Türrahmen stehen. Die Geschenke waren vor ein paar Stunden, als er ins Bett gefallen war, noch nicht da gewesen. Offenbar waren der Weihnachtsmann und seine beiden Elfen noch einmal zurückgekommen. Mokuba war allerdings zu seiner Überraschung nicht damit beschäftigt, seine Päckchen aufzureißen, sondern stand hinter der Couch, die Arme auf die Lehnen gestützt. Seto trat neben ihn und musterte ihn von der Seite.
„Stimmt etwas nicht, Mokuba?“
„Nein, es ist alles okay“, schüttelte er den Kopf. „Der Weihnachtsmann scheint alles gebracht zu haben, was ich auf meine Liste geschrieben habe, aber ...“
„Ja?“
„Ach, nichts.“
Aber meinen wichtigsten Wunsch kann wahrscheinlich nicht mal er mir erfüllen, fügte Mokuba in Gedanken hinzu.
„Dann mach doch deine Geschenke auf“, meinte Seto und schob seinen Bruder auf den Baum zu.
Mokuba ließ sich auf dem Boden nieder und griff nach dem ersten Päckchen. Er hatte kaum angefangen, das Papier zu entfernen, als er innehielt und zu seinem Bruder aufsah, der im Begriff war, sich neben ihn zu setzen.
„Wo hast du deinen Laptop gelassen, Seto?“
„Der ist oben in meinem Büro. Genau dort, wo er hingehört.“
„Ich dachte, du hast so viel zu tun.“
„Weißt du, Mokuba“, sagte Seto und griff nun selbst nach einem Päckchen, „manchmal kann einem eine einzige Nacht mehr Dinge deutlich vor Augen führen als ein ganzes Leben.“
„Ich verstehe nicht ganz, was du mir damit sagen willst.“
„Das wirst du schon noch“, sagte Seto und wandte seinen Blick gedankenverloren dem Fenster zu. „Das wirst du schon – oh, sieh mal! Ich glaube, es fängt an zu schneien.“
Mokuba sprang auf, lief zum Fenster und riss die Gardinen zur Seite. Die Flocken fielen in einem dichten Reigen vom Himmel. Auf dem hart gefrorenen Boden hatte sich bereits die erste dünne Schicht gebildet. Es war ein schöner, beruhigender Anblick, den Flocken bei ihrem Fall zuzusehen.
„Sag mal“, begann Seto, „was hältst du von einer kurzfristigen Weihnachtsparty?“
„Wen willst du denn einladen?“, fragte Mokuba.
„Das wird eine Überraschung“, sagte Seto mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Aber bist du damit einverstanden?“
„Klar.“
„Gut, dann pack weiter aus. Ich muss kurz in mein Büro und die Party organisieren.“
Seto marschierte schnurstracks in sein Büro und wählte als erstes die Privatnummer von Roland, um ihn zu bitten, sich um die Einladungen zu kümmern und ihn gleich selbst einzuladen. Dann rief er beim Partyservice an, um das Essen und die Getränke für den Abend zu bestellen, sowie bei einigen anderen Leuten.
Mokuba begann noch während der Vormittagsstunden, die seltsamen Worte seines Bruders zu begreifen. Seto setzte sich zu Mokubas Verwunderung nicht an seinen Laptop, sondern verbrachte den ganzen Tag mit ihm. Sie bauten sogar aus dem bis zum Mittag fallenden Schnee einen, wenn auch noch etwas mickrigen Schneemann.
In den späten Nachmittagsstunden fuhr vor der Villa ein Wagen des Partyservice vor und lieferte die bestellten Sachen an. Die Hausmädchen hielt Seto mit umfangreichen Putzarbeiten auf Trab und bis zum Abend war das ganze Haus auf Hochglanz gebracht.
Um Punkt neunzehn Uhr klingelte es an der Haustür. Seto, mit schwarzer Hose und gleichfarbigem Rollkragenpullover bekleidet, über dem er seinen weißen, ärmellosen Mantel trug, öffnete persönlich die Haustür und ließ seinen etwas verwirrt aussehenden Besuch ein.
„Füße abtreten, Wheeler“, zischte er, als Joey mit seinen von Schnee umkränzten Schuhen über die Schwelle treten wollte.
Augenblicklich begannen auch Yugi, Atemu, Tea, Serenity, Tristan, Duke, Mai und Ryou damit, den Schnee von ihren Schuhen zu klopfen.
„Was verschafft uns so unerwartet die Ehre, von dir eingeladen zu werden?“, erkundigte sich Atemu, während er seinen dicken Wintermantel und die Handschuhe ablegte.
„Herzitiert trifft es wohl eher“, meinte Tristan.
„Sei froh, dass ich heute keine Lust habe, mich auf solche Debatten einzulassen“, sagte Seto. „Es ist Weihnachten, da kann ich ja wohl einladen, wen ich will. Und jetzt kommt rein.“
Als er die Tür schließen wollte, glitt sein Blick noch einmal nach draußen. Der Schnee glitzerte im Licht des Mondes silberweiß, als wären Diamanten und nicht Eiskristalle vom Himmel gefallen. Neben einem großen Ahorn bewegte sich ein Schatten. Seto sah rasch zurück ins Haus, seine Gäste waren im Wohnzimmer verschwunden und schienen damit beschäftigt zu sein, das Büffet und den Baum zu bestaunen.
Er trat nach draußen, auf die oberste Stufe der Treppe, und spähte zu dem Baum herüber. Aus dem Schatten des Baumes trat eine Gestalt, die in einen langen Umhang gehüllt war. Ihr Gesicht war unter einer weiten, mit Pelz verbrämten Kapuze verborgen.
„Wer bist du?“, fragte Seto.
„Erkennst du mich nicht?“
Sie schlug die Kapuze zurück. Langes, braunes Haar wurde sichtbar.
„Bianca.“
„Ich wollte noch einmal nach dir sehen, Seto. Offensichtlich hast du deine Lektion am Ende doch gelernt.“
„Jaah ... Werden wir uns noch mal wiedersehen?“
„Vielleicht nächstes Weihnachten ... ich weiß es nicht“, sagte Bianca. „Ich wünsche dir frohe Weihnachten.“
„Ich dir auch.“
Sie nickte ihm zu und verschwand mit einem leisen Rauschen. Der goldene Staub, der sie begleitete, vermischte sich mit dem wieder einsetzenden Schneefall.
„Danke, Bianca“, flüsterte Seto.