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Sitaara

Sternenlicht
von

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Nur eine Chance

Madan lächelte seinem Bruder aufmunternd zu, als sie gemeinsam am Tage des Castings in einem langen Flur warteten. Sie waren alleine. All jene, die mit ihnen zusammen gewartet hatten, waren schon längst an der Reihe gewesen, darunter Männer und Frauen, die Madan schon oft im Fernsehen gesehen hatte, doch sie hatten keine Notiz von ihnen genommen. Nur Samir hatte Beachtung gefunden, wenn auch auf einer Art, die er nicht leiden konnte: als kleinen Jungen im Rollstuhl, den es zu bemitleiden galt.
 

Sie warteten schon seit einer ganzen Weile und langsam begann Madan immer öfter auf die Uhr zu blicken. Er hatte die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass es nie gut war, wenn man lange warten musste. Meist wurde man dann immer in letzter Minute dazwischen gequetscht, sodass man gar keine Chance hatte, sein Können unter Beweis zu stellen, was wiederum bedeutete, dass man nur der Form halber eingeladen worden war.
 

„Muss man immer so lange warten?“, fragte Samir gähnend und zog seine Kappe tiefer ins Gesicht.
 

„Manchmal“, antwortete Madan gedehnt. „Das kommt immer darauf an, wie die Leute sind, die vor dir an der Reihe waren. Manche sind schnell durch, manche brauchen länger. Aber keine Sorge. Das Beste hebt man sich immer bis zum Schluss auf.“ Zuversichtlich grinsend klopfte Madan seinem Bruder auf die Kappe, die sich der Junge murrend wieder zurechtrückte.
 

„Na das hoffe ich auch. Ich habe den anderen in der Schule bereits gesagt, dass mein Bruder demnächst in einem Kinofilm mitspielt.“
 

„Du hast was?“ Madan spürte, wie sich in ihm irgendetwas schmerzhaft zusammenzog. „Samir … So etwas musst du doch nicht gleich jedem erzählen.“
 

„Warum denn nicht? Ich glaube an dich, Madan. Du kannst alles. Das war schon immer so, warum sollte es jetzt anders sein? Alles ist möglich, dass hast du gesagt. Ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst. Ansonsten werde ich mir die Idioten da drinnen persönlich vorknöpfen!“ Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, legte er seine Hände um eine imaginäre Kehle. „Niemand wird es wagen, dich abzulehnen. Dazu bist du bestimmt viel zu gut.“
 

„Samir“, begann Madan, hin und her gerissen zwischen Freude, dass sein kleiner Bruder so viel Vertrauen in ihn setzte, und Sorge, denn der Junge schien seine Worte etwas anders aufzufassen, als sie gemeint gewesen waren. „Es kann aber auch möglich sein, dass sie mich nicht nehmen.“
 

Energisch schüttelte Samir den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass du alles erreichen kannst. Wenn du es schaffst, Schauspieler zu werden, dann ist alles möglich, dass hast du selbst gesagt. Wenn du Schauspieler werden kannst, dann kann ich vielleicht …“ Samir brach abrupt ab und senkte den Blick, ohne den Satz zu beenden, der unvollendet in der Luft verhallte.
 

„Wenn ich Schauspieler werden kann“, antwortete Madan mit einem Kloß im Hals, „wirst du vielleicht auch wieder laufen können. Ist es das?“ Samir sah ihn nicht an. Der junge Mann seufzte schwer. „Samir-“
 

„Ich weiß, dass ich vielleicht nie wieder laufen kann“, fuhr ihm Samir mit brüchiger Stimme ins Wort, „aber die Möglichkeit besteht noch, nicht wahr? Es ist möglich, dass ich vielleicht wieder laufen kann, nicht wahr? Es ist alles möglich. Selbst das Unmögliche! Und wenn du es schaffst, hier Schauspieler zu werden, dann … dann …“ seine Stimme versagte ihm, eine traurige Stille brach über dem Gang hinein. Niemand rührte sich. Madan saß einfach nur da und sah seinen Bruder an, der sein Gesicht noch tiefer im Schatten seiner Kappe verborgen hatte. Er fühlte sich elend, denn es gab da etwas, was er noch nicht gewagt hatte, seinem Bruder mitzuteilen, denn es würde ihn nur unnötig in Panik versetzen.
 

Plötzlich wurde knarrend eine Tür geöffnet.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Vaman“, erklang eine brüchige Stimme. „Wir werden uns ganz sicher bei ihnen melden. Das verspreche ich ihnen. In spätestens drei Tagen werden Sie das Skript auf dem Tisch haben.“
 

„Ich verlasse mich darauf“, antwortete ein Mann mittleren Alters strahlend, bevor er sich umwandte und den Gang entlang marschierte.
 

Madan spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er war jetzt dran. Zögernd stand er auf und blickte zur Tür, durch die sein Vorgänger gerade herausgekommen war. Sie hatte sich wieder geschlossen.
 

„Was bedeutet das?“, fragte Samir ein wenig beunruhigt. „Haben sie dich vergessen?“
 

„Nein. Sie haben sicher nur etwas zu bereden.“ Madan holte tief Luft. Dies war seine Chance. Er musste sie nutzen. Doch warum war die Türe wieder zu? Und was hatte es zu bedeuten, dass sein Vorgänger das Manuskript zugeschickt bekommen würde? War die Rolle etwa bereits vergeben?
 

Da öffnete sich die Tür knarrend wieder. „Mr. Khan?“, fragte ein kleiner Mann, der seinen Kopf aus der Tür steckte. „Kommen Sie bitte herein.“
 

„Du schaffst das“, flüsterte Samir leise. „Ich glaube an dich.“
 

Madan lächelte ihn an, dann betrat er das Zimmer. Vier Männer und eine Frau saßen an einem langen Tisch, der voll bepackt war mit Papierbögen und Trinkgläsern, die gerade nachgefüllt wurden. Im Hintergrund standen weitere Männer, in Anzug und Krawatte gekleidet, sodass sich Madan mit seinem Hemd und seiner ausgebleichten Hose ein wenig schäbig vorkam. Es war heiß im Raum, niemand hatte sich die Mühe gemacht ein Fenster zu öffnen und in der Luft hing ein beißender Zigarettengeruch herum, der den jungen Mann die Nase rümpfen ließ. Das Ganze hier wirkte nicht wirklich wie ein Casting, sondern hatte viel mehr den Flair einer Anwaltskanzlei, in der es ein wenig lockerer zuging als normal. Madan verwirrte dies. Hatte er sich etwa im Zimmer geirrt? Als er leise die Tür hinter sich schloss, verstummten die Gespräche, die eben noch vorgeherrscht hatten. Der junge Mann fühlte sich plötzlich wie auf dem Präsentierteller.
 

„Kommen Sie näher, Mr. Khan“, forderte ihn der kleine Mann auf. „Lassen Sie sich ansehen. Was hältst du von ihm, Deepak?“
 

Ein Mann um die sechzig mit fast vollständig ergrautem Haar stand auf, trat auf Madan zu und betrachtete ihn eindringlich mit Kennerblick.
 

Madan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Puls raste, seine Beine wurden weich. Deepak. Deepak Kapoor, einer der berühmtesten Regisseure Indiens, stand gerade nur wenige Zentimeter von ihm entfernt! Hoffentlich machte er einen guten Eindruck auf ihn. Plötzlich viel ihm ein, dass ein junger Mann, der gerade wirken musste wie ein nervöses Frag, keinen guten Eindruck machen musste und riss sich ernsthaft zusammen. Nur wenige Sekunden später wurde hinter ihm eine kräftige Stimme laut.
 

„Wissen Sie, wer ich bin, Madan?“
 

„Sie sind Deepak Kapoor. Einer der größten Regisseure Indiens.“
 

„Dann haben Sie mir etwas voraus, denn ich habe noch nie von Ihnen gehört.“
 

„Das können Sie auch gar nicht“, antwortete Madan ungerührt und widerstand dem Zwang sich umzudrehen, um den Mann in die Augen zu blicken. Sein Instinkt riet ihm dazu, es nicht zu tun. „Bisher hatte ich leider noch nicht die Ehre, vor der Kamera zu stehen.“
 

Deepak sagte nichts dazu, sondern ging wortlos an ihm vorbei, setzte sich wieder hin und wechselte leise mit einem Mann, der hinter ihm stand, ein paar Worte. Madan kam der stehende Mann irgendwie vertraut vor, doch er konnte ihn nicht einordnen, also wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die am Ende des Tisches saß, und wäre beinahe aus allen Wolken gefallen. Das war doch Kamala, eine der erfolgreichsten Schauspielerinnen, die es zurzeit gab! Sie saß da, trank einen Schluck Wasser und begutachtete ihn kritisch. Er lächelte sie ein wenig schüchtern an, doch dann wandte sie sich von ihm ab um ebenfalls mit Deepak ein paar Worte zu wechseln, dann stand sie auf und verließ durch eine Hintertür den Raum.
 

Der kleine Mann räusperte sich wieder, nahm Madans Akte in die Hand und blätterte kurz darin herum, bevor er den jungen Mann zum ersten Mal wirklich ansah. „Ihrer Akte entnehme ich, dass Sie noch keine praktische Erfahrung haben, sehe ich das richtig?“
 

„Keine praktische Erfahrung vor der Kamera“, bestätigte Madan. „Aber Erfahrung auf der Bühne.“
 

„Bühnenerfahrung in einer Studententheatergruppe.“
 

„Einer Studententheatergruppe, die von Raj Kota geleitet wurde“, korrigierte Madan. „Er hat auch eine Empfehlung hinzugefügt. Wenn ich sie Ihnen zeigen dürfte …?“ Er schickte sich an, nach seiner Akte zu greifen, doch der kleine Mann entzog sie ihm.
 

„Ich habe die Empfehlung gelesen“, warf Deepak ein. „Sie klingt danach, als hätte er Sie beinahe adoptiert. Madan Khan ist wohl das größte Talent, dass ich während meiner Kariere und auch danach je zu Gesicht bekommen habe“, zitierte er. „Seine Interpretationen von Rollen entsprechen einer Reife, die ich nur selten bei jemandem gesehen habe, sein Spiel ist kein Spiel. Es ist die Wirklichkeit.“ Deepak lehnte sich tief in seinem Stuhl zurück. „Was können Sie dazu sagen?“
 

Madan sah ihn überrascht an. „Dass ich vielleicht diese Behauptungen mit einer Demonstration untermauern sollte?“, schlug er vor.
 

„In ihren Akten steht des weiteren“, fuhr der kleine Mann fort, „dass Sie ansonsten keine richtige Schauspielausbildung besitzen. Ihre ganze Erfahrung beruht auf das, was Raj Ihnen beigebracht hat, was sich allerdings auf die Bühne beschränkt und nicht auf die Kamera. Das ist ein großer Unterschied.“
 

„Welche Rollen haben Sie bisher gespielt?“, fragte der bärtige Mann im Hintergrund, den Madan nicht zuordnen konnte.
 

„Asoka, Raj Kapur in einem von Mr. Kota geschriebenem Stück und Devdas.“ Letzterer hatte es nicht mehr auf die Bühne geschafft, denn ein schwerer Unfall hatte sein ganzes Leben verändert. Es waren nicht viele Rollen, das stimmte leider, aber dafür hatte Mr. Kota viel Wert auf die Grundausbildung gelegt, damit die jungen Menschen eine Basis hatten, auf die sie aufbauen konnten.
 

„Devdas.“ Deepak grinste den bärtigen Mann an. „Der steht doch bei dir als Nächstes an, nicht wahr?“ Falls er irgendeine Reaktion erwartet hatte, so wurde er enttäuscht.
 

Der kleine Mann räusperte sich, schloss die Akte und schob sie von sich weg. „Das ist nicht gerade viel.“
 

„Das weiß ich“, antworte Madan ein wenig steif. „Aber es ist immerhin etwas. Und etwas ist etwas, auf das man aufbauen kann. Lassen Sie mich Ihnen etwas vorführen. Dann können Sie sich selber davon überzeugen, wie viel Erfahrung ich habe.“
 

Der kleine Mann warf Deepak einen fragenden Blick zu. Dieser lehnte sich weiter nach vorne und stützte sich auf den Tisch, die Haarsträhne ignorierend, die ihm übers Auge fiel. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Madan“, begann er und der junge Mann wusste sofort, was diese Worte zu bedeuten hatten. Etwas schien in seinem Inneren zu Eis zu erstarren. „Sie passen nicht in meine Vorstellung des Mannes, den es hier zu besetzen gilt. Zumal hat die Rolle bereits jemand anderer erhalten. Es tut mir sehr leid.“
 

Madans Gesicht wurde zu einer eisernen Maske, als der Eisklumpen in ihm in tausend Stücke zerbrach, die sich in sein Fleisch bohren zu schien. Schon wieder eine Chance verpasst, ohne sie wirklich erhalten zu haben. Das war nicht fair! „Und warum, wenn ich fragen darf, haben Sie mich nicht gleich weggestellt, anstatt mich hereinzuholen und mir falsche Hoffnungen zu machen?“
 

„Ich wollte den Mann kennen lernen, von dem Raj so schwärmt. Ich habe drei Filme mit ihm gedreht, alle drei erfolgreich. Wir kennen uns recht gut und ich weiß, dass er eher schwer zu beeindrucken ist. Allerdings neigt er oft zu Übertreibungen und schlechten Scherzen. Es tut mir leid, Ihnen etwas von Ihrer Zeit gestohlen zu haben.“
 

„Ja, mir auch.“ Enttäuscht wandte sich Madan ab, doch dann fiel sein Blick durch ein Fenster, durch das man in den Gang blicken konnte. Samir saß vor der Tür, die Hände gefaltet. Betete er etwa? Aus Enttäuschung wurde Wut, Wut auf sich selber, dass er versagt hatte. Wie konnte er nur seinem Bruder wieder vor die Augen treten? „Können Sie mir auch sagen, was ich jetzt zu meinem Bruder sagen soll?“, fragte er mit düsterer Stimme und wandte sich wieder um. „Soll ich etwa hier herausgehen und meinem Bruder sagen, dass man mir noch nicht einmal eine Chance gegeben hat, mein Talent unter Beweis zu stellen? Wie soll ich ihm sagen, dass sein Bruder nicht sein bestes geben konnte, obwohl ich ihm beizubringen versuche, dass man alles erreichen kann, wenn man es nur versucht und immer sein bestes dabei gibt? Wie soll ich ihm je wieder vor die Augen treten, wenn ich weiß, dass nicht einmal ich meine eigenen Werte erfüllen kann? Können Sie mir das sagen, Mr. Kapoor? Können Sie mir sagen, wie ich ihm beibringen kann, dass sein großer Bruder versagt hat, ohne auch nur etwas von dem zu zeigen, was in ihm steckt?“ Madan sah die versammelten Männer eindringlich an. Seine Stimme bebte vor Schmerz und Enttäuschung. Er würde es nicht fertigbringen, zu Samir hinaus zu gehen, ohne nicht vorher eine Chance erhalten zu haben, sein Talent zu entfalten, nach dem Strohhalm zu greifen, der ihm zu entschwinden drohte. „Können Sie das, Mr. Kapoor? Ich versuche, meinem Bruder ein Vorbild zu sein. Wir haben nur noch uns. Aber wie kann ich ihm ein Vorbild sein, wenn man mir nicht eine Chance dazu lässt? Zu wem soll er aufblicken, wenn nicht zu mir? Ich bin für ihn wie ein Vater und sollte ein Sohn nicht voller Stolz zu seinem Vater aufblicken? Sollte ein Vater seinem Sohn nicht zeigen, dass es sich lohnt, für seinen Traum zu kämpfen? Immer wieder höre ich, dass es unmöglich für mich wäre, ein Schauspieler zu werden. Ich hätte keine Erfahrung, keine Ausbildung, keine Basis, auf die man aufbauen könnte, aber niemand gibt mir eine Gelegenheit, mich zu beweisen. Ist die Welt wirklich so voreingenommen geworden, dass man jemanden nicht einmal eine Chance gibt, sich selbst zu verwirklichen? Ist die Welt so egoistisch geworden, dass man nur noch an sich selber denkt, ohne auf die Menschen zu achten, mit denen man zusammenlebt? Ist die Welt so dunkel, dass man es niemanden mehr erlaubt, zu strahlen zu beginnen? Mein Bruder ist seit einem schrecklichen Unfall an einen Rollstuhl gefesselt, doch er erträgt sein Schicksal mit solch einer Tapferkeit, dass er dafür den Respekt eines jeden Mannes verdient hätte. Er sieht zu mir auf, denn ich zeige ihm jeden Tag, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Er ist mein Licht in meinem Leben, so wie ich das seine bin. Was soll aus ihm werden, wenn er mein Licht nicht mehr sehen kann? Bevor ich hier reingekommen bin, sagte er mir, wie sehr er mir vertraut und an mich glaubt. Wie soll ich ihm erklären, dass sein Glaube gescheitert ist? Wie soll ich ihm sagen, dass sein Wunsch, dass sein Bruder das Unmögliche schafft, zerstört ist, noch bevor ich eine Chance erhalten habe, für seinen Wunsch zu kämpfen? Wenn ich es schaffen würde, diese Hürde zu nehmen, wäre das ein Beweis für ihn, das alles möglich ist, dass man alles erreichen kann, selbst wenn niemand an einen glaubt. Vielleicht, so hofft er, würde das bedeuten, dass auch er eines Tages etwas Unmögliches erreichen kann und wieder laufen könne. Wie soll ich ihm sagen, dass die Welt einem nicht einmal die Gelegenheit gibt, für seinen Traum zu kämpfen? Wenn ich nicht einmal die Chance habe, hier mein Können unter Beweis zu stellen, wie soll er es dann jemals schaffen, auch nur noch einen Schritt auf eigenen Beinen zu gehen? Können Sie mir das sagen, Mr. Kapoor? Können Sie das? Können Sie ihm sagen, dass sein Bruder gescheitert ist, ohne die Möglichkeit zu haben, über die Hürde zu springen, die einem den Weg versperrt?“
 

Es war still geworden im Raum. Niemand sprach, alle schwiegen sie bedrückt. Madan stand einfach nur da und kämpfte gegen sich selber, gegen seine Enttäuschung, seinen Schmerz und seiner Wut. Niemand wusste, wie lange die Stille sie zu erdrücken schien, doch dann brach der bärtige Mann das Schweigen.

„Spielen Sie.“
 

Madan sah ihn an, einen langen Moment trafen sich ihre Blicke, ein Blick, der ihm irgendwie vertraut vorkam. „Spielen, Sir?“
 

„Spielen Sie.“
 

Es war wie immer. Madan spürte, wie sich seine Seele und sein Körper zu trennen schienen, sich neu zu formen begannen. Es war wie damals, auf der Bühne, als ein Teil von ihm verschwand, um etwas neuem Platz zu machen. Seine Gedanken verschwammen, Wut und Enttäuschung verschwanden, doch der Schmerz blieb, doch er gehörte nicht mehr ihm, sondern einem jungen Mann, dem es verwehrt wurde, die Frau zu ehelichen, die er über alles liebte, denn die Mutter seiner Angebeteten war Tänzerin gewesen, was seinen Eltern nicht gefiel. Er war nicht mehr Madan Khan, er war Devdas, ein junger Mann, der seine Flucht in Alkohol fand, denn der Schmerz über den Verlust seiner einzig wahren Liebe war zu viel für ihn. Er war Devdas, der seinen Tod finden sollte, ohne einen letzten Blick auf jene zu werfen, der sein Herz gehörte und mit jedem Wort, das seinen Lippen entfleuchte und mit jeder Geste, die sein Körper wie von Geisterhand tat, wich die Farbe aus den Gesichtern jener, die ihm zuvor noch eine Chance verweigert hatten. Ihre Münder öffneten sich vor Erstaunen, ihre Augen weiteten sich vor Unglauben vor dem, was sie erblickten. Aus dem nervösen jungen Mann, der eben noch seine Wut und seinen Schmerz zu unterdrücken versuchte, war ein Mann geworden, den der Schmerz um eine unerfüllte Liebe zu ermorden versuchte. Wie er dort stand, mit all dem Leid in seinem Blick, wie er sprach, die Stimme voller Bitterkeit, wie er Schwieg, sodass die Stille selbst zu sprechen schien. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich. Sie saßen einfach nur da und ergaben sich dem, was vor ihren Augen geboren wurde. Und dann, ohne dass sie es wahrnahmen, kehrte Madan in seinen Körper zurück. Devdas verschwand in einem Winkel seines Inneren, wo er wieder zu dem wurde, was er zuvor gewesen war, zu einer Figur, die Madan hätte spielen sollen, wenn das Schicksal nicht anders entschieden hätte. Niemand rührte sich, als Madan wieder Madan war, seinen Blick über die erstarrte Runde schweifen ließ und sich zum Gehen umwandte, ohne ein Wort zu sagen. Er verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ die Männer hinter sich, die viel zu geblendet waren von dem, wovon sie gerade Zeuge geworden waren. Madan sprach kein Wort, auch zu Samir nicht, als dieser mit hoffnungsvollem Blick zu seinem Bruder aufsah. Schweigend ergriff er den Rollstuhl und gemeinsam verließen sie das Gebäude, ohne ein Wort zu wechseln.
 

Erst Minuten später, als sie schon längst außer Sicht waren und die Straße hinter sich gelassen hatten, kehrte das Leben in die verblüfften Männer zurück. Sie sahen sich an, verwundert, verwirrt, überrascht. Nur einer nicht. Tief in Gedanken versunken ergriff der bärtige Mann Madans Akte, öffnete sie jedoch nicht, sondern klemmte sie sich unter den Arm, um sie später in Ruhe noch einmal durchlesen zu können. Besonders eine gewisse Empfehlung, die einer Lobeshymne glich.



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