Wahrheit und Verdrängung – Ein ganz normaler Tag?
Kapitel 1: Wahrheit und Verdrängung -- Ein ganz normaler Tag?
~++ Achtung! Neuer POV ++~
"Kaiba-sama, Kaiba-sama!Auf Leitung drei ist ein wichtiger Anruf für
Sie. Ich stelle durch.", flötet die dauerfröhliche Quietschstimme meiner
Sekretärin.
Kurz darauf ist das übliche Tuten zu hören.
Ich nehme meine eifrig tippenden Finger von der Tastatur und greife
nach dem Telefon. Kurz drücke ich die Taste mit der Nummer drei und
einen kleinen roten Knopf an der Seite des Geräts, den Lautsprecher. Den
Hörer lasse ich auf der Tischplatte daneben liegen.
Ohne meinem Gesprächspartner ein Zeichen zu geben, richte ich den Blick
wieder auf den Bildschirm. Meine Finger flitzen in gewohnter Manier über
die glatten silbernen Tasten. Fast ebenso schnell huschen meine Augen
über die Zahlenreihen, Diagramme und Statistiken, die über den
Bildschirm flimmern.
"Herr Kaiba?", ertönt die Stimme eines wohl schon betagteren Mannes aus
dem schwarzen Hörer. Mit einem kurz gebrummten "Hm." Gebe ich zu
verstehen, dass ich zuhöre.
"Wir machen uns so langsam Sorgen, ob Sie nicht möglicherweise
vergessen haben, den Vertrag signiert an uns zurückzufaxen. Verstehen
Sie bitte, dass wir keinesfalls an Ihnen zweifeln, doch die Umstände
machen es dringend, dass Sie-"
Nervig. Einfach nur nervig. Ich bin CEO, kein Kindermädchen, das sich
den lieben langen Tag lang um die Sorgen zweitklassiger Strohmänner
kümmert.
Dieses Rumgedruckse ist ja nicht auszuhalten.
"Ich habe keineswegs vergessen, den Vertrag zu unterzeichnen.",
erwidere ich kalt. "Meine Firma sucht verlässliche Geschäftspartner,
keine blutsaugenden Parasiten, die von alleine nicht mehr aus den roten
Zahlen herauskommen. Einen schönen Tag noch." Mit diesen Worten löse ich
eine Hand vom PC und knalle damit kompromisslos den Hörer auf die Gabel.
Was denken sich die Leute eigentlich? Ich bin doch keine staatliche
Hilfsanstalt.
"Kaiba-sama, Herr Kinomoto noch einmal auf Leitung zwei."
Das darf doch nicht wahr sein. Dass der es tatsächlich wagt, hier
nochmal anzurufen. Sogleich hebe ich den Hörer ab und schnauze diese
unfähige Kuh an: "Sie Desaster von einer Tippse, was glauben Sie
eigentlich, wozu Sie da sind? Wimmeln Sie den Kerl ab und zwar
sofort!"
Wumm. Wieder landet der Hörer auf der Gabel.
Unfähiges Personal... Und da soll man in Ruhe arbeiten können.
Eine halbe Stunde später habe ich endlich meine wohlverdiente
Kaffeepause. Wird auch höchste Zeit.
Brummend massiere ich mir mit den Fingerspitzen die Schläfen, während
ich tief den betörenden Duft meines Kaffees einatme. Was könnte es
besseres geben, wenn meine Nerven am Ende sind.
Natürlich trinke ich ihn schwarz. Frisch gebrüht, vier Löffel auf eine
Tasse. Heiß und wohltuend.
Schon bei meinem ersten Schluck merke ich, wie das Koffein sich in
meinem Körper verteilt und meine stark strapazierten Nerven erstarken
lässt. Wie gut das doch tut.
In letzter Zeit bin ich einfach viel zu leicht reizbar. Ich bin
übermüdet und unaustehlich, wie Mokuba es gestern beim Frühstück
ausgedrückt hat. Wenn ich das doch auch so sehen könnte...
Ich kneife meine Augen fest zusammen und reibe weiterhin mit festem
Druck meine Schläfen.
Ich kann mich seit Tagen kaum konzentrieren. Ich werde noch verrückt!
Nachts kann ich nicht schlafen, meine Träume sind verworren und
abstrus, ich werde paranoid. Ich! Kaum zu glauben. Aber ich sehe
ständig und überall Gesichter. Oder eher ein Gesicht. Violette
Augen scheinen mich zu verfolgen. Wo ich auch hinsehe, funkeln sie mir
erwartungsvoll, manchmal gar sehnsuchtsvoll entgegen, bringen mich um
den Verstand.
Ich hätte nie gedacht, dass ich sowas mal sagen würde, aber ich brauche
dringend Urlaub. Vielleicht eine Woche nach Ägypten.
Argh! Da ist es schon wieder. Dieser ganze Humbuk von Pharaonen und
Geistern in irgendwelchen pyramidenförmigen Kettenanhängern, den diese
Gruppe von Kleinkindern um Jonouchi und seine Freunde mir jahrelang
geprädigt hat, hat mir total das Gehirn gewaschen. Ich sollte sie alle
wegen Störung des Seelenfriedens anzeigen! Dieser ganze erlogene
Schwachsinn über irgendeinen Atemu, dessen Hohepriester ich angeblich
sein soll, treibt mich noch zur Weißglut. Mental brenne ich bereits wie
ein Magnesiumröhrchen in einer offenen Flamme. Diesen Atemu gibt es doch
gar nicht. Diesen Zwergpunk, der mir zum Schluss sogar noch weißmachen
wollte, wir seien in die Vergangenheit gereist, indem er eine Gruppe
Schauspieler engagiert und sich einen kurzen weißen Fummel
übergeschmissen hat, der seinen knackigen Hintern zugegebenermaßen doch
gar nicht so schlecht betont hat...
Schnell schüttele ich den Kopf.
Nagut, diesen Atemu gibt es vielleicht doch, aber ein Pharao ist der
nicht!
Wohl eher ein versteckter Bruder von Muto, mit dem zusammen er seine
Freunde reingelegt und ihn danach einfach wieder nach Hause geschickt hat.
Ob Muto mir wohl seine Adresse geben würde, wenn ich frage?
Stopp! Jetzt ist aber gut. Ich brauche dringender Urlaub, als ich
dachte. Über solchen Unfug nachzudenken, wo ich doch viel Wichtigeres zu
erledigen hätte. Die neue Konsole »Tritemna« wartet noch immer auf
ihre Fertigstellung. Mit diesem Produkt werde ich Sony entgültig vom
Markt kicken und unangefochten auf Platz 1 der Spieleindustrie stehen.
Nicht, dass Sony jemals eine Chance gehabt hätte, doch sicher ist
sicher. Eine kleine Demonstration meines Könnens kann ja nicht schaden.
Immerhin wartet die ganze Welt mit Spannung auf KaibaCorps neues Produkt.
Also los.
In einem Zug leere ich die Tasse und greife gleich danach nach einem
Bleistift. In irgendeinem der vielen Hefter in meiner Schublade müssen
auch meine Aufzeichnungen sein. Ungeduldig wühle ich in einem Stapel
ungeordneter Papiere, aber Fehlanzeige. Dann muss der Ordner irgendwo im
Schrank sein.*
"Kaiba-sama? Es ist schon 23.23 Uhr. Ich mache jetzt Feierabend, wenn
es Ihnen recht ist."
"Jaja, wie auch immer.", winke ich ab.
Meine Sekretärin, die zum Abschied ihren Kopf durch meine Bürotür
gesteckt hat, lächelt mich an. Was maßt sich diese Frau nur an? Ich
sollte dringend in Erwägung ziehen, bei einer Vermittlungsagentur eine
Neue zu verlangen. Schlimmer kann es immerhin nicht werden als dieses
geliftete, überschminkte Etwas auf Stöckelschuhen, in seinem kurzen
Minirock und der rosa Rüschenbluse. Dieses Frauenzimmer denkt auch noch,
es wäre attraktiv. Doch stille Anerkennung muss ich ihr doch zukommen
lassen. Nicht jeder schafft es, in einem Alter von 29 Jahren auszusehen
wie 83 und das auch noch mit der Selbstsicherheit eines bockigen Kindes,
denke ich sarkastisch.
"Was ist denn noch?" Diese Nervensäge scheint nicht gehen zu wollen.
Sie kichert mich an wie eine Erbse und meint: "Grüßen Sie Ihren Schatz
von mir."
Moment mal. "Meinen was?!"
Wieder kichert sie dumm herum. "Sind Ihnen schon Ihre leuchtendroten
Bäckchen aufgefallen? Sie sind ja zu süß~ Es ist unübersehbar, dass Sie
bis über beide Ohren verliebt sind."
"RAUS!"
Knall. Da fliegt die Tür hinter ihr zu. Zum Glück! Die hat sie doch
nicht mehr alle, die ist gefeuert! Fristlos!
Wütend knalle ich die soeben beendete Akte auf den Tisch und stehe so
heftig auf, dass der Stuhl hinter mir umfällt. Ich bin so wütend, ich
könnte einen Mord begehen!
Am besten an meiner nutzlosen Sekretärin.
Schwer atmend stütze ich mich auf der voll beladenen Schreibtischplatte
ab. Mein Körper zittert vor Aufregung. Ich muss dringend ins Bett.
Mein Kopf tut weh und mir verschwimmt schon alles vor den Augen.
Oh man, jetzt werde ich hier auch noch zur Memme.
"Verdammt! Was ist nur mit mir los?!", schreie ich meine unschuldige
Schreibtischlampe zusammen. Mit einem schnellen Wisch meiner Hand
säubere ich sogleich auch den gesamten Tisch.
Krachend gehen Computer und Telefon zu Boden, einige Stifte klappern
und zuletzt vernehme ich das Rascheln der ganzen Blätter, die zuvor
wohlgeordnet neben mir lagen. Noch immer geht mein Atem schwer.
Was ist nur mit mir los?
Liebe?
So ein Quatsch. Ich und verliebt sein, das ist ja wie...wie...wie Eis
und Feuer! Absolut unvereinbar. Dieses alte Klatschweib wollte mich
bestimmt nur ärgern.
Ach verdammt nochmal! Ich gehe jetzt einfach nach Hause und schla...
Da! Da ist es wieder.
"DU!", schreie ich hysterisch und zeige auf die kaum sichtbare
Lichtgestalt, die auch unmittelbar darauf zusammenzuckt. Ha! Habe ich
mir das doch nicht nur eingebildet. Es ist zwar nur ein schwach
glimmender menschlicher Umriss, aber so überreizt, wie meine Wahrnehmung
ist, entgeht mir selbst das nicht.
"Du da! Komm her!"
Aber was? Das Ding haut ab!
Na warte.
Wer auch immer mich mit diesem Trick verschaukeln will, kann was erleben!
Hastig schreite ich auf die Lichterscheinung zu. Sie ist an die Wand
gedrängt. Damit kann sie mir nicht entkommen.
Ich lache hämisch, zeige dabei meine Beißerchen.
Gleich ist der Spuk vorbei... Da huscht das Teil einfach mal eben durch
die Wand davon.
Schnell hinterher!
Ich rase aus dem Büro in den nachtschwarzen Flur und stolper auch
direkt über meine eigenen Füße.
"Verdammt! Verdammt! Verdammt!!"
Ich könnte ausrasten! Läuft denn heute alles schief? Das dumme Ding ist
weg!
Außer mir vor Zorn schlage ich mit meiner rechten Faust auf den weichen
Teppich ein.
"Ich krieg dich noch!", rufe ich in die Dunkelheit. Und bei meinem
Namen, ich meine es todernst. Niemand spielt Seto Kaiba ungesühnt einen
Streich und hält mich obendrein noch tagelang wach!
1.53 Uhr. Ich sitze auf der schwarzen Sitzgarnitur und umklammere mit
zittrigen Händen eine heiße Tasse extra-starken Kaffees. Nach diesem Tag
liegen meine Nerven entgültig blank. Ich kann nicht mehr.
Vorsichtig schlürfe ich die starke schwarze Brühe. Mein Blick wandert
zur Uhr. Es ist wohl zu spät, um noch heimzufahren. Obendrein sollte ich
in meinem Zustand kein Steuer anfassen und mich noch viel weniger von
einem Chauffeur so sehen lassen. Ich werde die Nacht einfach hier
verbringen.
Darauf bedacht, den Kaffee nicht zu verschütten, strecke ich mich auf
der Couch aus. Ich brauche unbedingt Schlaf, tiefen, ruhigen Schlaf.
Doch mein Flehen nach Erlösung bleibt ungehört. Stunden später liege
ich noch wach und starre über mir an die Decke, die inzwischen kalte und
leere Tasse in der Hand haltend und auf dem Bauch abstützend.
Dann stehe ich plötzlich wie in Trance auf, nehme mir den angeknacksten
Laptop vom Boden und setze mich mit ihm an den Tisch. Weiß der Teufel,
was mich dazu treibt -- wahrscheinlich die Schlaflosigkeit, oder ich
schlafwandel und weiß es nur nicht -- ich starte das Internet, öffne die
nächstbeste Suchmaschine und gebe den Suchbegriff »Geister« ein.