Die Wahrsagerin
Kapitel 2: Die Wahrsagerin
Seufzend ziehe ich mir den Schal höher ins Gesicht und überprüfe im
Spiegel nochmal meine Sonnenbrille. Sie bedeckt einen großen Teil meines
Gesichts, der Schal tut ein Übriges. Hoffentlich reicht das aus, um
unerkannt zu bleiben. Obwohl...kritisch mustere ich mein Spiegelbild in
dem kleinen Fahrerspiegel. So wirklich inkognito kann man das auch nicht
nennen. Zweifelnd fahre ich mir mit der Hand durch die Haare. Der braune
Haarschopf ist so eindeutig... Oder kommt das nur mir so vor? Immerhin
weiß ich ja, wen ich da im Spiegel sehe. Jedenfalls ist sicher sicher und
eine Kopfbedeckung umso mehr. Kurz wühle ich in einer Sporttasche, die
auf dem Nebensitz steht. Ah, da ist es ja.
Bedacht setze ich mir das schwarze Cappy auf den Schopf, ziehe es so
weit runter wie möglich und verdecke mit seinem Schirm zusätzlich mein
Gesicht.
Nach einem letzten prüfenden Blick auf mein Spiegelbild stelle ich
zufrieden fest, dass mich so wohl niemand identifizieren wird und steige
aus dem Wagen.
Das Haus, das ich suche, muss ganz in der Nähe sein.
Mit den Händen in den Manteltaschen, schlendere ich scheinbar
unbeteiligt die verdreckte Straße entlang, wobei mein Blick angewidert
über die zahllosen Exkremente und den Abfall auf dem Gehweg gleitet.
Ekelhaft.
Aber was kann man schon erwarten von einer Gegend, in der der Putz von
den Wänden bröckelt und die Häuser entweder keine oder nur eingeworfene
Scheiben haben. Das ist definitiv nicht mein Umfeld. Ich werde meinen
Aufenthalt so kurz wie möglich halten. Mit ein wenig Glück kann ich dann
heute nacht vielleicht schon wieder schlafen.
Heute lag ich ja wieder nur wach. Mir ist pausenlos das Gelaber von
Mutos Großvater durch den Kopf gegangen, von wegen, dass ich meine
Vergangenheit nicht ewig ignorieren könne. Dazu kam nach etwa drei
Stunden des Wachliegens auch noch das Geschwafel meiner Sekretärin.
Ich weiß nicht wieso, aber jedesmal, wenn ihr Satz, man würde mir die
Verliebtheit ansehen, den sie gestern losgelassen hat, mir in den Ohren
klingelte, hatte ich das Bild von Atemu vor Augen. Er stand da, in
seinem kurzen Röckchen und lächelte dieses herausfordernde Lächeln,
welches er während Duellen immer trägt...trug... Lange schien dieses
Bild vor meinem inneren Augen aufzuleuchten wie an einer Kinoleinwand,
bis ich die Augen öffnete und wieder diesen Amethysten begegnete. Sie
schwebten wenige Schritte von mir entfernt in der Luft, sahen auf mich
herab, aber nicht verurteilend...nein...sie blickten so sanft, als
beobachteten sie ein spielendes Kind. Mir war, als hätte ich Sehnsucht
und vielleicht auch einen Hauch von Schmerz in ihnen gelesen. Lange
starrte ich sie einfach nur an, fing ihren Blick auf. Ich hatte einfach
nicht mehr die Kraft, mich aufzuraffen und sie zu jagen.
Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, sahen die Augen in meinem Büro den
Augen von Atemu sehr ähnlich. Ob er es ist, der mich verfolgt? Muto
behauptet ja ständig, Atemu sei tot...
Wütend über mich selbst reiße ich mich zusammen und zwinge meine
Gedanken wieder auf meine Umgebung.
Na klasse, jetzt bin ich mindestens vier Straßen zu weit gegangen.
Ungläubig starre ich das Straßenschild an. Wie konnte mir das
schon wieder passieren? Dreck, das ist doch alles nur Mutos...nein
Jonouchis...nein Ishtars...argh!...die Schuld meiner Sekretärin! So
sieht' s aus! Nur wegen ihren gedankenlos fallengelassenen Worten bin ich
jetzt hier.
Verärgert knurrend drehe ich auf dem Absatz um und rausche den Weg zurück.
Also wo war ich? Ach ja, Atemus Augen. Das war bestimmt nur Einbildung.
Nur weil der Kerl durch irgendein leuchtendes Tor tritt glaub ich noch
lange nicht, dass er tot ist. Das kann ja jeder behaupten. Hat denn
schonmal irgendwer gesehen, wo dieses Tor hinführt? Und dann auch noch
dieser dramatische Showeffekt. Die unterirdische Höhle einstürzen zu
lassen überzeugt mich genausowenig davon, dass Atemu in den Tod gegangen
sein soll. Die müssen mich ja für super bescheuert halten, ansonsten
würden sie glaubhaftere Lügen erzählen.
Wollen die doch tatsächlich mir etwas vorspielen. Ich bin der Vater des
Cyber Space, die virtuelle Welt und Hologrammtechnik sind meine
Erfindung. Mir macht keiner etwas vor, indem er mir ein paar bewegte
Bilder und Lichteffekte zeigt, in der Hoffnung, ich möge sie für wahr
halten. Idioten.
Ein vorfreudiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich mein
Ziel erreicht habe und die Hand auf die Klinke der Tür lege. In wenigen
Augenblicken werde ich ihnen allen beweisen, wie falsch sie liegen mit
ihrem Geistergeschwafel. Ein letzter prüfender Blick auf das Türschild
"Kassandra, Wahrsagerin" bestätigt mir, dass ich richtig bin.
Beim Eintreten vernehme ich über mir das nervige Klingeln einer dieser
Türglocken, die in jedem zweiten Billigladen zu finden sind. Na das
verspricht doch schonmal viel, sage ich mir sarkastisch.
Ein erster Überblick zeigt mir schnell, was ich von diesem
Establissement zu erwarten habe. Grellbuntes Licht von komisch geformten
Lampen, knallige Flauschteppiche in Rot-, Gelb- und Orangetönen, eine
gänzlich von Tüchern behangene Wand und überall von der Decke baumelnde
Stoffstreifen und Perlenketten. Na jetzt weiß ich ja, wie die
vielgerühmte Hölle aussieht. Religion war noch nie mein Ding -- viel zu
esoterisch und verrückt -- aber das ist definitiv ein Ort des Todes. Man
kann den guten Geschmack hier förmlich verwesen sehen, mit einer süßen
Note von vergammelndem Stil.
Oje, nach 86 Stunden ohne eine Minute Schlaf geht die Poesie mit mir
durch. Das gilt es schnellstens zu unterbinden.
Von der anderen Seite des Ladens aus kommt eine rundliche, doch recht
große Frau auf mich zu. Abschätzig lasse ich meine Augen an ihr
herabwandern, bevor ich ihr die Hand gebe.
Sie passt wirklich perfekt in diese vier Wände. Ihr langes, ungekämmtes
schwarzes Haar kräuselt sich unter einem leuchtend pinken Kopftuch
hervor, ihr blasses Gesicht ist übermäßig mit Rouge, Lidschatten und
dunkelrotem Lippenstift bedeckt, haargenau die Farben, die sich auch auf
ihren Finger- und Fußnägeln wiederfinden; Pink und Orange. Sie trägt ein
(zum Glück) unförmiges dunkelrotes Kleid ohne Ärmel, das ihr bis auf die
nackten Füße fällt, die zu meinem Ekel über und über mit Warzen bedeckt
sind. Die nackten Arme sind umschlungen von irgendwelchen
Hennah-Zeichnungen, die in der Achselhöle ihren Anfang nehmen und in
dicken, rasselnden Armbändern ihr Ende finden. Diese Frau sieht einfach
nur grauenhaft aus. Tja, wenn das hier die Hölle ist, ist sie definitiv
der Teufel. Obwohl...Satan traue ich mehr Geschmack zu.
Sie schenkt mir ein eher angsteinflößendes Lächeln und lotst mich zu
einem Tisch, an dem ich doch bitte schonmal Platz nehmen solle, und
verschwindet hinter einem Vorhang. Ich setze mich, froh, den Anblick
ihrer Füße vorerst los zu sein, und betrachte argwöhnisch den runden
Tisch mit der langen flatternden Tischdecke und der komisch funkelnden
Glaskugel darauf.
Wenn ihr mich fragt, diese Frau braucht dringend einen Therapeuten.
Rasselnde Ketten kündigen ihr baldiges Wiedererscheinen an und ich
bereite mich innerlich bereits darauf vor, mit einer geistig Verwirrten
zu palavern.
"Wir hatten heute Morgen telefoniert, nicht wahr? Herr...?"
Ich habe ihr keinen Namen genannt, als ich sie heute vormittag
angerufen habe. Im Internet wird diese Frau zwar hoch gelobt, aber ich
wäre nicht ich, wenn ich darauf etwas geben würde. Und das zu recht, wie
mir nun scheint. Diese Vogelscheuche wird mir kaum weiterhelfen. Viel
mehr kann ich wohl weitere Predigten über die Existenz angeblich
übernatürlicher Lebensformen erwarten.
"Mein Name tut nichts zur Sache.", stelle ich deswegen auch gleich mal
klar.
Sie blinzelt mich verwirrt an, sagt aber nichts und setzt sich mit
einem aufgesetzten Lächeln mir gegenüber.
"Nun denn, werter Herr,", beginnt sie mit ihrer rauen Reibeisenstimme
zu erklären, "Dann lassen Sie sich wenigstens gesagt sein, dass ich
Kunden, deren Gesicht ich nicht sehen kann, nicht bediene. Wenn Sie also
so freundlich wären." Sie deutet mit einer Hand auf meinen Kopf.
Unwillig löse ich den Schal und lasse ihn mir lose um den Hals baumeln.
"Reicht das?", erkundige ich mich genervt. Ein Kopfschütteln verneint.
Seufz. Also auch runter mit der Brille. Leise Zweifel, ob ich mich
wirklich vor so einer zeigen sollte, habe ich ja schon, aber
andererseits kann ich es mir nicht leisten, herausgeworfen zu werden. So
nehme ich unwillig auch die verspiegelte Sonnenbrille ab und entblöße
somit meine blutunterlaufenen, von tiefen Augenringen verunstalteten
Augen. Aber eines schwöre ich: Sollte dieses Weibsbild es wagen, in der
Öffentlichkeit auch nur ein Wort über meinen hiesigen Besuch zu
verlieren, wird sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein.
Sie nickt kurz zufrieden. "Ich danke Ihnen."
Ein unerklärliches Unwohlgefühl macht sich in meiner Magengegend breit.
Aus einem mir unbekannten Grund beunruhigt mich die Offenbarung meines
Antlitzes ihr gegenüber.
,Das ist völlig unsinnig. Was soll schon geschehen?', rede ich mir
selbst gut zu. ,Was kann sie schon tun. Mich verfluchen?'
Ungeachtet des Faktums, dass ich mir sehr wohl darüber im Klaren bin,
dass soetwas wie Flüche nicht existiert, bildet sich bei mir eine eisige
Gänsehaut, als die Wahrsagerin ihre Hände an die Kugel legt, welche
augenblicklich ein unheimliches, gräulich-weißes Licht auszustrahlen
beginnt. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Durch die Kugel
konnte man eben noch durchsehen, jetzt ist sie absolut undurchsichtig.
Bestimmt ist eine Lampe in den Tisch eingebaut...
,Sei doch nicht dumm.', mahnt mich eine belustigte Stimme in meinem
Kopf. ,Du selbst hast einst die Macht einer solchen Kugel angerufen. Ich
schließe kurz die Augen, um wieder Klarheit zu bekommen, und reibe mit
einer Hand fest darüber. Da durchzuckt mich plötzlich ein Kribbeln, mir
wird schwindlig und ich fühle mich, als fiele ich gleich in Ohnmacht.
Alles dreht sich. Wo ist oben, wo ist unten? Ich fühle meinen Körper
nicht mehr...Etwas zieht an mir. Erschöpft wie ich bin habe ich dieser
reißenden Kraft nichts entgegenzusetzen und gebe rasch nach.
Vor mir erscheint ein dunkler Flur, durch den mich die unsichtbaren
Arme zu führen scheinen, bis an meiner Linken eine ebenso dunkle Tür
sichtbar wird. Ich soll da wohl rein... Nicht mit mir! Ich bleibe hier
steh- Hey!
Von hinten versetzt mir jemand einen kräftigen Stoß, so dass ich durch
die Tür in den kleinen, kerkerartigen Raum stolper. Na warte! Ich drehe
mich um, um den Angreifer zur Schnecke zu machen -- jedoch ist der Flur
hinter mir leer. Noch so ein dummer Streich. Haben wir April, oder was
ist mit der Welt los? Hat die Regierung aus Rache für den abgewiesenen
Staatskredit einen Ärgert-Seto-Kaiba-Tag eingeführt? Das erscheint mir
immer mehr so. Denen werde ich was husten, sobald ich aus diesm
stickigen, engen Loch raus bin!
Vorher sehe ich mich allerdings der Neugier halber -- Ja, auch ich bin
mal neugierig! -- in dem kleinen Raum um. Hier gibt es nicht viel. Eine
abgenutzte Matratze links an der Wand, eine Schüssel mit Wasser und
einem Abtrockentuch daneben, ein Stapel säuberlich zusammengefalteter
Kleider und ein junger Mann, der vor mir sitzt. Er hat mir den Rücken
zugewandt.
"He, du!", schnauze ich ihn missgelaunt an. Er kann vielleicht nichts
für meine Laune, aber es ist ja niemand anderes da, an dem ich sie
auslassen kann.
Da der Typ mich nicht gehört zu haben scheint, rufe ich noch einmal,
diesmal lauter. Wieder nichts. Keine Reaktion. Das ist doch Absicht.
Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ignoriert zu werden! Den knöpfe
ich mir vor.
Drohend mache ich einen Schritt vor und greife nach seinen Haaren. In
dem Moment, als ich sie eigentlich gepackt haben müsste, greife ich
jedoch ins nichts, mitten durch ihn hindurch. Sofort ziehe ich meine
Hand zurück, betrachte sie misstrauisch von allen Seiten. Was war das?
Ein erneutes Lichtspiel? Ich greife wieder nach ihm, diesmal
vorsichtiger, und beobachte genau, wie meine Hand durch den gebeugten
Kopf gleitet. In dem Glauben, den Trick damit aufgedeckt zu haben,
besehe ich mir Boden, Wände und Decke, doch Spiegel finde ich keine.
Nagut, dann funktioniert das eben anders. Ich komme schon noch dahinter.
Zunächst umrunde ich den jungen Mann, um zu sehen, ob es sich um ein
zweidimensionales Hologramm handelt. Ich gehe einen Halbkreis um ihn
herum. Er ist also ein Produkt dreidimensionaler Technik. Interessant.
Prüfen wir doch mal die Detailgenauigkeit. Vorsichtig knie ich mich vor
ihn, um ihn ins Gesicht sehen zu können und erstarre. Das bin ja ich!
Schonwieder dieses Fantasiebild von mir als angeblicher Hohepriester.
Und auch erst jetzt werde ich der Kugel gewahr, vor der ich knie.
Sie lag bis eben gerade noch im Schatten, deswegen konnte ich sie nicht
sehen.
Mein Herz zieht sich zusammen, in meinem Kopf höre ich eine Stimme
lachen. Meine Stimme. Das Hologramm vor mir rührt sich nicht.
Doch es rührt an mir, in mir. Es rüttelt irgendetwas wach, eine
Ahnung, eine ferne Erinnerung... Nein, Unsinn! Schluss damit, auf der
Stelle! Ich falle nicht auf euch rein!
Ein Ruck fährt durch meinen Körper und ich reiße die Augen auf. Ich
sitze noch immer auf dem Stuhl im billigen Laden der Kassandra. Rasselnd
stoße ich die Luft aus meiner Lunge. Ein Alptraum, nur ein Alptraum!
Doch etwas hat sich verändert...Es ist stockfinster geworden. Wie lange
habe ich geschlafen?
Ich blicke vor mich -- in das fies grinsende Gesicht Kassandras, das
unheimlich vom fahlen Licht der gläsernen Kugel zwischen uns beschienen
wird.
Als wäre zwischen dem Betreten des Geschäfts und meinem Erwachen keine
Sekunde vergangen, legt sie beide Hände an die Kugel und fährt unbeirrt
fort.
"Ich weiß, wer Sie sind, Herr Kaiba. Ich wusste es schon, als Sie
hereinkamen. Und ich weiß auch, weswegen Sie hier sind."
Sie macht eine bedeutungsschwere Pause, die meine schleichende Panik
wohl zusätzlich nähren soll und bedenkt mich mit einem unergründlichen
Blick.
"Du willst deinen Herren zurückholen, Priester."
Mir läuft ein unheimlicher Schauer über den Rücken, ich bringe kein
Wort heraus. Meine Stimme, mein ganzer Körper, scheint wie gelähmt. Sie
scheint es zu wissen und spricht direkt weiter, ihren Blick wieder auf
die leuchtende Kugel richtend. Automatisch folgen meine Saphire der
Richtung und richten sich auf das Instrument.
"Du hast es damals versucht und bist gescheitert, weil dein Liebster
nicht in der Welt der Toten, sondern noch immer in der Welt der Lebenden
weilte. Jetzt willst du es wieder versuchen. Wie damals hast du ihn
verloren, du Depp, und wie damals weilt er nicht in der Welt der Toten.
Nein, er verweilt in einer Zwischenwelt. Niemand weiß, wo sie liegt, wie
man sie erreicht. Niemand ist je von dort zurückgekehrt. Was du
brauchst, ist die Prophezeiung, die du schon damals in der Kugel gelesen
hast. Erinnerst du dich an sie?" Ihr Blick ruht streng auf mir. Ohne die
Augen von der Kugel zu nehmen schüttele ich den Kopf.
Diese ganze Szene ist so irreal, mutet an wie ein Traum. Es kann
unmöglich wahr sein. Es gibt keine Totenwelt, Zwischenwelt oder
irgendsowas. Und Atemu ist nicht mein Liebster!
"Priester!!", werde ich fluchs zur Ordnung gerufen.
Sofort richtet sich meine volle Aufmerksamkeit wieder auf sie.
Zufrieden nickend führt sie weiter aus: "Dann leg deine Hand auf die
Kugel. Ja, genauso. Und jetzt frag."
Ich hab keine Ahnung, was sie von mir erwartet.
Ein Experiment ist es aber wert.
"Zeige mir Atemu.", murmele ich. Das Bild des blassen Pharaos
erscheint. Er sieht nicht besonders gesund aus. Sein schwarzes Gewand
ist zerrissen, seine Haut aschfahl, seine Haare haben ihren Glanz
verloren und hängen stumpf um sein Gesicht, um ihn herum ist dichter
Nebel. Traurig betrachte ich das Bild. Es versetzt mir einen Stich ins
Herz.
"Ächem!"
Oh, stimmt ja, diese ominöse Prophezeiung. Die gibt's doch eh nicht,
aber wenn sie meint. Ich will sie nicht erzürnen. Nur...wonach genau
soll ich die Kugel jetzt fragen?
Ganz unvermittelt verändert sich das Licht der Kugel. Das Bild von
Atemu verschwimmt, bis es schließlich ganz verschwunden ist. Das
weiß-graue Licht färbt sich dunkelbläulich und seltsame Töne dringen aus
ihr hervor. In silbrig goldenen Lettern erscheint ein Text in
Hieroglyphen, den ich nicht entiffern kann, und eine dunkle Stimme
beginnt zu singen.
Mitternacht
Wenn die Gondeln Trauer tragen
Und es hallt der Toten Klagen,
Tief im Nacken das Grauen sitzt.
Wenn die Uhr beginnt zu schlagen,
Kalte, dichte Nebelschwaden
Berührn dich sacht.
Mitternacht.
Gefriert das Blut dir in den Adern,
Schnürt dir Angst die Kehle zu,
Hörst du dein Herz und die Glocken schlagen
Ist es Nacht.
Mitternacht. [*]
Aufmerksam lausche ich den fremdartigen Worten. Es ist eindeutig kein
Japanisch, doch trotzdem verstehe ich den Gesang, jedes Wort.
Komischer Text. Was soll der mir helfen?
Ich will gerade fragen, da geht das Licht im Zimmer wieder an, die
Kugel erlischt.
Meine Gesprächspartnerin erhebt sich und zeigt mit ausgestrecktem Arm
zur Tür. Ich soll also gehen.
Was denkt die sich? Ich habe Fragen, viele Fragen!
Noch bevor ich sie aussprechen kann, werde ich in Richtung der Tür
geschoben.
"Gehen Sie und finden Sie ihn. Die Prophezeiung wird Ihnen helfen, Herr
Kaiba. Ach ja, und grüßen Sie meine Schwester schön von mir, wenn Sie
sie sehen." Sie zwinkert mir zu.
Hat diese Frau gerade einen Sinneswandel durchlebt?
Aber ich will einfach nur noch heim.
"Ihre Schwester?"
"Ishizu Ishtar."
Ich zische verhalten.
Das war eben wieder alles nur Show! Und ich wäre denen beinahe auf den
Leim gegangen!
Ich nehme meine Beine in die Hand und mache mich aus dem Staub.
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[*] Das ist der Text des Liedes, das ich während dem Schreiben die ganze Zeit über höre. Es heißt Mitternacht und ist von E Nomine.
Nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass der Inhalt des Liedes teilweise im Text wiederzuerkennen ist. Da dachte ich, es würde doch perfekt passen. Es wird auch weiterhin eine Rolle spielen. Hörts euch doch mal an.
Auch hier bedanke ich mich im Voraus schonmal für alle Kommentare.