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Ein Leben ohne Vergangenheit?

Isamu - Die Suche nach dem Ich
von

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Alte Freunde

Ich sah Flammen! Überall Flammen. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut. Voller Angst schob ich mich zur Wand hinter mir. Weg von den roten, sich windenden Teufeln, welche in dem Haus meiner Eltern wüteten. Ich sah, wie sie sich an allem labten, was ihnen im Weg war. Außer Stande klar zu denken ergriff ich die wohl einzige Möglichkeit zur Flucht. Meine Beine fühlten sich an wie betäubt. Und doch waren sie es, welche mich in Richtung der brennenden Wände aus Reispapier trugen. Schützend hielt ich beide Arme vor mein Gesicht und durchbrach die Wand aus Flammen. Ich spürte gerade noch, wie ich auf dem harten Boden unseres Gartens aufschlug, ehe ich die Besinnung verlor.
 

»Riu! Wach auf mein Kind!« rief eine Stimme.

Als ich die Augen zitternd aufschlug, erblickte ich die Frau, welche in dem Haus neben unserem wohnte. Mit Tränen in den Augen kniete sie neben mir und schüttelte mich.

»Mir geht es gut, Frau Kanjiro«, antwortete ich benommen.

»Als ich den Rauch erblickte eilte ich so schnell ich konnte her«, hauchte sie erleichtert, als sie sah, dass mir nichts fehlte.

Ich war am Leben. Doch was war mit den anderen Bewohnern des Hauses? Wie erging es meinen Eltern? Unserem Koch? Unseren Pferden? Alle die mir nahe standen und die ich liebte, befanden sich in diesem brennenden Haus.

»Wo sind meine Eltern?«, fragte ich aufgeregt und fürchtete bereits die Antwort.

»Riu, es tut mir so leid.«, antwortete sie traurig.

All meine Hoffnung schwand. Ich stand vor dem Nichts! Meine Eltern füllten seit meiner Geburt die kleine Welt, in der ich lebte. Doch nun verschmolz sie in Finsternis und lies mich zurück. Als mir dies bewusst wurde brachen meine Tränen hervor, wie bei einem berstenden Damm. Alles um mich herum verschwamm und die Belange der Welt versanken in Bedeutungslosigkeit.
 

Drei Jahre lebte ich glücklich bei der Frau, welche sich damals meiner annahm. Jedoch konnte ich nie ganz den Schmerz vergessen, welchen ich empfand, wenn ich an meine verstorbenen Eltern dachte. Die Zeit verging und mit jedem Tag schloss ich Frau Kanjiro mehr in mein Herz. Doch auch sie unterlag eines Tages ihrem Alter und ließ mich wieder allein in dieser Welt zurück. Nach einigen Tagen, in welchen ich meist weinend in einer Ecke saß, entschloss ich mich, diesen Ort zu verlassen. Ich musste fort von all diesen traurigen Erinnerungen, welche mich von Tag zu Tag mehr quälten. Ohne genau zu wissen wohin, lief ich gen Osten. Hunger und Durst waren zwei Tagen lang mein ständiger Begleiter. Doch ich hatte Glück, dass meine Mutter Tänzerin war. Sie war es auch, welche mich in meiner Kindheit unterrichtet hatte. So versuchte ich als tanzende Geisha mir ein wenig Nahrung und einen Platz zum Schlafen zu verdienen.

Eines Tages dann, kreuzte Fürst Mino meinen Weg. Er war höflich zu mir und bat mich um eine Darbietung meines Könnens. Seit etlichen Monden übte ich jeden Tag und dieser Fleiß sollte sich nun auszahlen. Der Fürst bot mir an, mit ihm zu kommen und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft willigte ich ein. Er gab mir Essen, er gab mir Trinken, er gab mir Kleidung. Doch auch seine Güte vermochte meine Trauer über meine Eltern nicht zu überdecken. Als er mich fragte, aus welchem Grunde ich so bedrückt sei, erzählte ich ihm mein Schicksal bis zum damaligen Tage. Mitfühlend stellte er mir frei zu gehen, und auf der Suche nach einem Ort des Glückes, reiste ich weiter.
 

Am darauf folgenden Tage geschah dann etwas, was mein Leben und auch mein Umgang mit dem Schicksal meiner Eltern entscheidend veränderte. Ich saß, mit dem Gesicht in den Knien verborgen, an einen Baum gelehnt und dachte an die Wand aus Feuer, welche mich von unserem Garten trennte. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut. Und auf einmal konnte ich nicht nur dieses bekümmernde Gefühl der Hilflosigkeit spüren, sondern auch noch etwas anderes. Dieses Gefühl war mir neu, ich wusste nicht, was es zu bedeuten hatte. Und obwohl ich nicht zu sagen vermochte, wie es sich genau anfühlte, konnte ich dennoch eine Richtung ausmachen. Ängstlich, aber dennoch neugierig, lief ich vorsichtig durch den Wald, in welchem ich mich befand. Ich war schon eine Weile gegangen, da konnte ich zwei Männer erblicken. Sie standen auf einer Lichtung, umgeben von dichtem Geäst. Meine Augen weiteten sich, denn ich konnte nicht glauben, was ich vor mir sah! Konnte das wahrhaftig sein? Oder war ich vor lauter Sorge um meine Eltern verrückt geworden? Ich sah nicht nur die zwei Männer allein. Was mir zunächst nicht bewusst wurde, war die Gegebenheit, dass sie nicht auf einer natürlich gewachsenen Lichtung standen. Vielmehr waren die Bäume um sie herum umgeknickt oder wurden gar aus ihrer Verankerung im Boden herausgerissen. Was mein Augenmerk wie magisch auf sich zog, waren die farbig leuchtenden Auren um sie herum. Einer von ihnen wandte mir den Rücken zu und leuchtete in blauem Licht. Ich erkannte nicht viel. Konnte jedoch sehen, dass er schwarzes, kurzes Haar hatte und in seiner rechten Hand ein langes und scharfes Schwert hielt. Rot leuchtete die metallene Spitze im Licht und vereinzelte Tropfen fielen zu Boden. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, was genau dort von dem Schwert ab perlte und sich der Schwerkraft hingab. Doch dann traf es mich wie ein Schlag. Es war Blut! Doch wo kam es her? Mein Blick wanderte weiter zu dem Mann ihm gegenüber. Sein Gesicht konnte ich sehen. Es war Wutverzerrt und wies eine zarte, rote Linie auf der linken Wange auf.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit meinem Eintreffen vergangen war. Wie viele Augenblicke sich die beiden nun schon gegenüberstanden. Sie standen nur da und starrten sich an. Unfähig mich zu rühren, blieb ich wie angewurzelt stehen. Nichts deutete darauf hin, dass sich plötzlich etwas ändern könnte. Nicht einmal ein Wimpernschlag verging und der Zornige war verschwunden.

»Du glaubst also, du könntest mich besiegen?«, donnerte eine schrecklich laute Stimme direkt neben meinem Ohr. Und noch ehe ich hätte zusammen zucken können, spürte ich eine kalte Klinge an meinem Hals.

»Verschwinde von dem Mädchen! Das ist ein Kampf zwischen uns beiden Kaito!«, rief der Schwarzhaarige.

»Hahahaha.....« Schallendes Gelächter drang nicht nur durch den Wald, sondern auch durch Mark und Bein.

»Du glaubst, mir bedeutet dieses schwache Mädchen etwas? Du glaubst, ich lasse sie laufen, um mit dir ehrenhaft zu kämpfen? Du glaubst, ich lasse mir diesen Vorteil entgehen?«

Die letzten Worte schrie er, so hasserfüllt er nur konnte. Die Klinge verließ meinen Hals und augenblicklich loderte ein heftiger Schmerz durch mein Bein. Unwillkürlich schrie ich laut auf. Als sich einen Herzschlag später der grobe Griff löste, sank ich, immer noch schreiend, zu Boden. Schnell breitete sich die Flamme der Ohnmacht in meinem Körper aus. Und ich sah gerade noch wie mein Peiniger mit gezogenem Dolch hinter dem Schwarzhaarigen auftauchte. Dann verdunkelte sich alles um mich herum.
 

Ich sah sie! Meine Mutter! Sie schritt durch unseren Garten. Um sie herum tänzelte ein kleines Kind und lachte fröhlich. Lächelnd schritten beide zu der Mitte eines großzügigen Platzes, bedeckt mit Gras. Das kleine Mädchen hüpfte fröhlich weiter um meine Mutter herum.

»Wenn du erwachsen bist, wirst du sicher eine bedeutende Tänzerin Riu.«

Mir stockte der Atem! Und dann wurde mir alles mit einem Schlag bewusst. Das Kind war ich! Sie waren mir beide so nah, doch ich war unfähig mich zu bewegen. Ich wollte nach ihnen rufen, doch kein Laut verließ meine Lippen. Alles war so friedlich. Leise hörte ich die Vögel zwitschern und den kleinen Bach plätschern. Warmes Sonnenlicht schien auf den Boden. Und dann verblasste die Welt um mich herum. Ich war allein. In einem riesigen weißen Raum, dessen Wände ich nicht sehen konnte. Alles war so hell dass ich meine schmerzenden Augen schloss. Ich stand im weißen Nebel, welcher langsam wieder feste Umrisse annahm. Farben, zunächst ganz blass, dann schillernd leuchtend gestalteten die umliegende Welt. Satte Grüntöne und hie und da ein Tupfer braun. Ich war in einem Wald.

Ein unterdrücktes Heulen durchdrang den Gesang der Vögel. Alles kam mir so bekannt vor. Und da fiel es mir wieder ein. Als ich noch klein war, verlief ich mich in dem Wald nahe unseres Hauses. Ich erinnerte mich, dass meine beiden Eltern lange nach mir gesucht hatten, ehe sie mich fanden. Ich hielt die Augen offen. Jeden Augenblick würden meine Eltern mich finden, da war ich mir sicher.

Doch niemand kam. Sollte ich mich irren? Fand ich alleine zurück? Nein! Ich wusste, dass sie mich finden würden. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Mitleidig betrachtete ich das kleine Mädchen. Ich betrachtete mich.

Schutzlos. Hilflos. Voller Angst.

Ich wollte sie trösten, wollte sie in meine Arme nehmen und ihr sagen, dass sie bald wieder in Sicherheit sei. Doch wieder konnte ich mich nicht bewegen, konnte ihr nichts sagen, was sie hätte trösten können.

Ich verblieb stumm und reglos zwischen all den Bäumen.

Dann hörte ich leise Rufe.

»Riu, wo bist du?«

»Ich bin hier!«, schrie das Mädchen zurück.

Laut nach ihrer Tochter rufend, kam die Mutter angerannt. Und kurz darauf waren die Eltern glücklich mit ihrem Kind vereint. Ich sah, wie der Mutter die Tränen über die Wangen liefen.

»Ich befürchtete schon wir hätten dich für immer verloren. Komm her mein Kind, lass dich umarmen.«, sagte sie und unterdrückte ein erleichtertes Schluchzen.

Ich spürte, wie eine wohlige Wärme in mir aufstieg. All die Jahre, in denen ich mit meinen Eltern zusammen war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich an dieser Idylle etwas ändern konnte. Und doch geschah es.

An jenem Tage, an welchem unser Haus brannte, wurde mir meine unbeschwerte Kindheit genommen. Seit jenem Tage war ich auf mich allein gestellt.

Den Tränen nahe, starrte ich die glücklich vereinte Familie an. Doch dann wurden meine Gedanken bildlich. Ein heiße, rote Wand aus Feuer züngelte sich kreisförmig um meine Eltern und verschlang sie. Zurück ließ sie nur das kleine weinende Mädchen, welches schon zu lange in diesem Wald war. Ich wusste, das dies nicht so geschah. Ich wusste, dass meine Eltern mich fanden und wir alle drei unbeschadet den Wald verließen. Und doch konnte ich die Tränen nun nicht mehr zurückhalten.
 

»Wach auf!«, drang eine Stimme durch die Dunkelheit.

Als ich die Augen langsam öffnete, sah ich den Schwarzhaarigen. Er beugte sich über mich und versuchte gerade mir etwas Wasser einzuflößen.

»Ah, du bist wach. Wie fühlst du dich? Ich kam gerade zufällig hier vorbei und fand dich bewusstlos auf dem Boden liegend.«

»Nein...nein....ich sah dich, wie du gekämpft hattest.«, stammelte ich, noch immer benommen.

»Das kann nicht sein, ich kann nicht kämpfen! Ich habe dich hier gefunden, wie du auf dem Boden lagst.«

»Ich weiß, was ich sah!« antwortete ich selbstsicher. »Ich sah dich.« Ich zögerte. »Dich und einen Anderen. Ihr wart beide von einer Art Aura umgeben. Und dann war der Andere plötzlich hinter mir und - «

»Du hast dir sicher den Kopf gestoßen und wurdest deshalb ohnmächtig!«, warf der Schwarzhaarige schnell ein. Dann hielt er inne. »Am Besten bringe ich dich in das nächstgelegen Dorf und reise dann weiter.

In Gedanken versunken ließ ich mir aufhelfen und ließ mich führen. Ich bemerkte nicht einmal, dass wir bereits wieder auf einem gut ausgelaufenen Weg liefen. Erst als wir anhielten, erwachte ich endgültig. Erstaunt stellte ich fest, dass wir wirklich schon ein Dorf erreicht hatten. Ich schaute mich um. Einige Bauern arbeiteten draußen auf den Feldern, oder versorgten das Vieh auf den Weiden. Andere liefen an uns vorbei, um Wasser zu tragen. Doch niemand schien uns zu bemerken.

»Hier wirst du sicher eine Unterkunft für die Nacht finden. Ich gebe dir noch ein wenig Geld, damit kannst du deine Unterkunft auch bezahlen.«

»Halt, bitte warte«, warf ich schnell ein. »Ich konnte mich noch gar nicht bei dir bedanken.« Ich musste ihn zur Rede stellen. Er durfte noch nicht gehen. Zu viele Fragen brannten mir auf der Seele. Ich war mir sicher, dass er log. Ich sah meine Mutter, mit mir in unserem Garten! Ich sah mich als Kind im Wald! Ich sah, wie meine Eltern mich fanden. Und ich sah, wie sie in einer Flammenwand verschwanden. Ich spürte, wie bei diesen Gedanken die Tränen in den Augen zwickten. Schnell konzentrierte ich mich, um an etwas Anderes zu denken. Da fiel mir ein, wie ich auf die kleine Lichtung trat, welche von dichtem Geäst umringt war. Dort sah ich sie. Er, der Schwarzhaarige, und der Andere. Beide waren von einer Aura umhüllt. Und beide waren mitten in einem Kampf. Und dann, als ich zwischen die Fronten geriet, war ich Teil dieses Kampfes. Der Andere konnte sich so schnell bewegen, dass ich nicht ausweichen konnte. Und dann nutzte er mich, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Er hielt mir seine Klinge an die Kehle und dann stach er - .

Ich hielt inne. Er stieß mir sein Messer ins Bein. Ich sah an mir herunter. Und da war der Beweis, dass ich mir den Kampf nicht nur eingebildet hatte. Dort an der Stelle, an der die Klinge in mein Fleisch stieß, war jetzt ein rot getränkter Verband.

»Kannst du mir dann erklären, wie dieser Verband an mein Bein kommt?«, fragte ich siegessicher. Nun musste er mir die Wahrheit sagen. Ich wollte um jeden Preis wissen, was in Wirklichkeit geschah. Und auch was passierte, nachdem ich Ohnmacht gefallen war. Doch es erwies sich als schwerer als angenommen ihm die Wahrheit zu entlocken.

»Ich habe dich mit einer offenen Wunde am Bein entdeckt und habe sie dann verbunden.«, antwortete er leicht hin.

»Aber ich weiß noch, wie mich der Andere gefangen nahm. Er wollte mich nutzen, um gegen dich zu siegen. Und ehe er von mir wich, stieß er seine Klinge in mein Bein. Daran kann ich mich noch genau erinnern!«

»Ich sagte dir doch bereits, dass ich nicht kämpfen kann. Du hast dies sicher gesehen, als du ohnmächtig warst.« Er blieb eisern.

Traurig wendete ich mich ab. Ich wusste, dass meine Mutter, sowie mein Vater und ich als Kind nicht mehr existierten. War das alles ein Traum? Oder besser gesagt ein Albtraum? Wieder sah ich die Wand aus Feuer, wie sie meine Eltern verschlang.

»Nachdem ich den Schmerz in meinem Bein spürte, sah ich meine Mutter. Sie ging mit mir durch unseren Garten. Ich war damals noch sehr jung. Ich tänzelte um sie herum, und wir beide lachten.« Ich hielt kurz inne. »Dann war ich plötzlich von weißem Nebel umhüllt, welcher sich anschließend in einen Wald verwandelte. Dort hatte ich mich als Kind einmal verlaufen. Ich schrie vor Verzweiflung nach meinen Eltern und irgendwann fanden sie mich.« ich hielt wieder inne. Ich wusste bereits, was nun geschehen würde. Doch ich wollte dem Schwarzhaarigen die ganze Geschichte erzählen. Ich musste die Kraft aufbringen und weiter reden. »Wir waren wieder glücklich vereint. Doch dann gingen meine geliebten Eltern in Flammen auf. Und ließen mich allein zurück.« Die letzten Worte kamen immer leiser und gequälter aus meinem Munde. Ich drehte mich schnell von ihm weg. Er sollte meine Tränen nicht sehen.

Erneut fasste ich mir ein Herz und schluckte meine Trauer runter. Eine Weile darauf war ich bereit weiter zu erzählen. Der Schwarzhaarige stand derweil geduldig neben mir und wartete still. Dann fuhr ich fort.

»Ich weiß, dass das Ende im Wald nicht wirklich ist. Wir gingen damals zusammen Heim. Doch eines Tages, brannte dann unser Haus. Danach habe ich meine Eltern nie wieder gesehen.« Ich machte eine kurze Pause. »Das was ich sah, war ein Traum. Dessen bin ich mir bewusst. Doch was zuvor geschah, das geschah nicht nur in meinem Kopf, sondern in Wirklichkeit. Und ich möchte von dir wissen, was das alles zu bedeuten hat.«

Ich weiß nicht, was ihn umstimmte. Ob es meine traurige Geschichte war, oder mein weinender Blick. Vielleicht hatte er auch Mitleid, da er nun wusste, dass es niemanden mehr auf der Welt gab, der sich meiner annahm. Jedenfalls begann er dann – nachdem er mich aus dem Blickfeld eines vorbeikommenden Bauers zog - zu erzählen.

»Nun ja, ich geb´ es zu. Das was du gesehen hast, stimmt. Ich habe mit Kaito gekämpft, als du kamst. Du erinnerst dich vielleicht noch, dass wir auf einer Lichtung standen. Nun, das war nicht immer eine Stelle ohne Bäume. Oder besser gesagt: Vor unserem Eintreffen standen da wirklich noch Bäume.« Er grinste. »Wir, die Gruppe, denen ich angehöre, nennen uns Kura-Ki-Batsu. Und dieser Kaito gehörte zu den Ma. Dir die genauen Umstände unseres Krieges zu erläutern würde zu weit führen. Nun, wie erkläre ich dir das jetzt am Besten? Wir haben besondere Kräfte, mit denen wir kämpfen. Sowohl die Kura-Ki-Batsu als auch die Ma. Daher auch die Macht Bäume zu Fall zu bringen.« Wieder grinste er. Es schien ihn irgendwie zu erheitern, all diese Bäume gefällt zu haben. »Nun, wir haben gekämpft. Und dann kamst du. Ich gebe zu, ich habe dich nicht spüren können. Sonst hätte ich dich vielleicht besser schützen können. Kaito hat dich jedenfalls zuerst gesehen und nutzte dich, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Nachdem er dir ins Bein stach, sankst du zu Boden und er tauchte hinter mir auf. Ich konnte ihm ausweichen. Um Haaresbreite hätte er mich getötet, möchte ich hinzufügen. Doch seine Wut verzerrte seine Gedanken und er konnte nicht seine ganze Kraft nutzen. Letztendlich floh er und ließ uns allein. Anschließend kümmerte ich mich um deine Wunde und dann bist du aufgewacht.« Als er geendet hatte, spürte ich seinen Blick auf mir. Er sagte kein Wort mehr. Versuchte nicht mich zu einer Antwort zu führen. Und doch bemerkte ich eine gewisse Unruhe in seinem Verhalten. Er war neugierig, ob ich ihm diese Geschichte glauben würde. Dann öffnete ich meinen Mund um ihm die ersehnte Antwort zu geben.

»Du hast all diese Bäume gefällt?«, fragte ich ungläubig. »Selbst ein kräftiger Holzfäller hätte dafür viele Tage benötigt.«

In lang gezogenen Worten antwortete er: »Nun ja – diese Bäume waren ein wenig ungünstig platziert.«

»Und du sagtest, du konntest mich nicht spüren? Was hat das zu bedeuten? Wie kannst du jemand anderen denn spüren?«, fragte ich ratlos.

»Das weiß ich leider auch nicht.«

»Was weißt du nicht?«, drängte ich ihn.

»Warum ich dich nicht spüren konnte. In der Regel bemerke ich es, wenn sich mir jemand nähert. Jeder Mensch hat seine eigene Aura. So wie jene, die mich umhüllte, als du auf die Lichtung kamst. Nur um ein Vielfaches schwächer. - Das ist ungewöhnlich.«, fügte er in Gedanken versunken hinzu.

»Was ist ungewöhnlich?«. Ich platzte fast vor Neugierde. Doch er antwortete nicht. Ich wiederholte meine Frage. »Was ist so ungewöhnlich, wenn alle Menschen solch eine Aura besitzen?«

»Ja, alle Menschen besitzen solch eine Aura, doch kann man diese nicht sehen. Und auch nur sehr schwer spüren. Und du fragst, was daran ungewöhnlich ist?«

»JA«, schrie ich so laut, dass ein Bauer vor Schreck sein Heu, welches er auf dem Rücken trug, fallen ließ.

»Ich antworte dir, doch zuerst müssen wir hier weg. Zu viele neugierige Ohren.«

Eine Weile später befanden wir uns auf einem kleinen Hügel, welcher abseits des Dorfes eine herrliche Aussicht bot. Weit und breit war niemand zu sehen und eine kühle Brise wehte mir durchs Haar. Ich wollte nicht länger warten. Ich wollte wissen, was hier vor sich ging.

»Du wolltest mir erzählen, was so ungewöhnlich daran ist, dass alle Menschen eine Aura haben.«, erinnerte ich ihn drängend.

»Nichts.«, antwortete er schlicht.

Ich schaute ihn enttäuscht an. Ich hatte eine etwas erklärendere Antwort erwartet.

»Nun, wie gesagt. An der Tatsache, dass jeder Mensch eine Aura besitzt ist nichts ungewöhnliches. Jedoch können wir – also wir, die Kura-Ki-Batsu, und leider auch die Ma – unsere Auren verstecken. Es kostet viele Jahre an Übung, um dies zu schaffen. Doch es lohnt sich, denn dann ist es fast unmöglich einen von uns aufzuspüren. Ich habe zwei Jahre benötigt, ehe ich meinen Meister verborgen blieb. Du hingegen hast vermutlich noch keinen einzigen Tag mit solchen Übungen zugebracht. Und dennoch besitzt du die Gabe des Verhüllens. Ich kann im Moment deine Aura nicht wahrnehmen. Und das ist ungewöhnlich.«

»Vielleicht habe ich keine Aura«, sagte ich leicht an mir selbst zweifelnd.

»Doch, doch. Du besitzt eine Aura, dessen bin ich mir sicher.«, tröstete er mich. »Ich selbst habe sie bereits gespürt. Es geschah vorhin, als du über deine Eltern gesprochen hattest. Deine Trauer schien dich vergessen zu lassen, deine Gabe der Verhüllung zu nutzen. Du bist in der Tat ungewöhnlich.«

»Dann nimm mich mit zu deinem Meister.«, bat ich ihn. »Ich habe niemanden mehr auf dieser Welt, dem ich noch etwas bedeute. Bitte nimm mich mit. Ich möchte lernen so zu kämpfen, wie du es vermagst. Ich möchte verstehen, warum ich meine Aura verstecken kann, ohne zu wissen, wie es geht. Bitte nimm mich mit.«

»Nun gut. Wenn du wirklich mitkommen willst, dann werde ich dich Meister Chi-on vorstellen. Er wird entscheiden, was geschehen soll.«, schlug Yuzo vor.

Ich konnte es kaum fassen, dass ich die Möglichkeit erhielt, mein Leben zu ändern. Seit dem Tode meiner Eltern wandelte ich auf dieser Welt ohne Ziel und ohne Ruh´. Doch nun sprühte in mir die Hoffnung des Neuanfangs. Ich konnte meine Eltern nicht vergessen. Doch ebenso wenig konnte ich ihr Scheiden rückgängig machen. Es war ein Funke am dunklen Horizont. Nicht mehr. Denn ebenso gut konnte mir jedwede Hoffnung wieder genommen werden. Doch ich wollte es versuchen. Ich wollte diesem kleinen Funken die Möglichkeit geben, ein großes Feuer zu entfachen. Und so reiste ich mit Yuzo und reiner Hoffnung im Herzen zu Meister Chi-on.

Nach einigen Tagen erreichten wir ein kleines Dorf. Es war kaum zu glauben, dass hier ein großer Meister leben sollte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich hier leben würde, ohne zu wissen, was sich im Geheimen abspielte. Ich sah einige kleine Fischerboote, einen Mann, der sich vor der Schmiede streckte und einige alte Frauen, die sich zum Unterhalten trafen. Dann fiel mein Blick auf eine kleine Gruppe von Kindern, die lachend Richtung Meer rannten. Würde ich auch jemals wieder so von Herzen lachen können? So unbeschwert, so sorglos? Doch was auch immer mein Schicksal für mich bereit hielt, ich würde mich dem stellen.
 

»Yuzo, du bist spät. Was hat dich aufgehalten?«, fragte der alte Mann, als mein Retter und ich einen kleinen, abgedunkelten Raum betraten.

»Meister, ich traf Kaito. Ihr könnt Euch denken, wie es ausging.«, antwortete Yuzo mit verbitterter Stimme.

»Er ist wieder entkommen? Ärgerlich. Aber irgendwann wird die Zeit gekommen sein. Dann kannst du deine Schwester rächen. Kaito wird dir nicht immer entkommen.«

Nachdem sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich, dass die Augen des Meisters geschlossen waren.

»Doch Meister, das ist noch nicht alles. Ich traf dieses Mädchen hier. Sie hatte das Pech in das Gefecht verwickelt zu werden. Oder war es Schicksal?«

»Ein Mädchen? Hier?«, schlagartig öffnete der Alte die Augen. »Ich sehe dich. Doch kann ich dich nicht spüren. Hast du bereits bei einem Meister der Kura-Ki-Batsu gelernt?«

»Nein, Meister. Ich stamme aus einem Dorf im Westen des Landes. Viele Tagesreisen entfernt. Meine Eltern starben bei einem großen Feuer, welches unser Haus verwüstete. Ich lebte dann drei Jahre bei unserer Nachbarin. Doch als auch sie ging, brach ich voller Trauer in die grausame Welt auf. Einige Zeit später begegnete ich Fürst Mino, welcher sich meiner annahm. Doch auch er konnte meine Wunden nicht schließen. Und so setzte ich voller Unruhe meinen Weg fort. Dann traf ich Yuzo. Er kämpfte mit einem Ma und ich wurde Zeuge dieser verborgenen Welt. Ich bitte Euch, Meister Chi-on, unterrichtet mich. Ich habe keinen Ort, den ich aufsuchen könnte. Keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen könnte. Bitte unterrichtet mich.«

»Und du schwörst, dass du noch nie bei einem Kura-Ki-Batsu oder einem Ma gelernt hast?«, fragte der Meister mit prüfendem Blick. Sein blick bohrte sich in meine Augen. Ich spürte, dass tief in meine Seele zu blicken versuchte.

»Ja, das schwöre ich.«

»Gut. Ich glaube dir mein Kind. Doch eine Sache verwundert mich. Und du hast Glück, dass du diese Gabe besitzt. Denn sie ist ausschlaggebend für meine Entscheidung. Deine Gabe der Verborgenheit. Ich werde dich unterrichten.« Dann wendete er sich Yuzo zu und dieser nickte. Obwohl keiner ein Wort sagte, verstanden sie einander. Dann pfiff Meister Chi-on durch die Zähne und eine alte Frau betrat den Raum. Mit einer freundlichen Geste gebot sie mir ihr zu folgen. Durch die dünnen Wände hörte ich noch schwach die Stimme des Meisters. Alles was ich verstand war: »Was hältst du von dieser Gegebenheit?«. Dann waren wir zu weit entfernt und betraten kurz darauf ein Zimmer, in dem ein Bett und eine kleine Truhe standen.
 

Es folgten Wochen und Monate, in denen ich jeden Tag bis zur Erschöpfung lernte. Nicht nur den Umgang mit allerlei Waffen, sondern auch Lesen und Schreiben. Doch was ich am liebsten übte, war das Einzige was mir von meiner Mutter blieb. Das Tanzen. Diese feinen, sanften Bewegungen ließen meinen Geist zur Ruhe kommen. Erstaunlicher Weise halfen mir eben jene weichen Bewegungen auch meine Kampftechnik zu verbessern. Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich viele Gemeinsamkeiten. Die Monate vergingen. Ebenso die Jahreszeiten. Dann, nach zwei Jahren, trat Meister Chi-on zu mir um mich zu sprechen.

»Riu, mein Kind. Ich habe eine große Bitte an dich. Es ist ein Auftrag, der von größter Wichtigkeit im Kampf gegen die Ma ist. Ich wüsste niemanden, der so geeignet wäre, wie du. Deine Bekanntschaft mit Fürst Mino ist von Vorteil. Denn ich habe gehört, dass er gemeinsame Geschäfte mit den Ma macht. Ich fürchte, dass uns dieser Umstand sehr Schaden könnte. Wenn die Ma ihre Stellungen weiter ausbauen, könnte uns das den Sieg kosten. Ich brauche jemandem, dem ich vertrauen kann und der den Fürsten für mich im Auge behalten könnte. Du bist begabt im Tanz. Das wird deine Tarnung sein. Bleib unentdeckt, und bringe so viel du kannst über ihn und die Ma in Erfahrung. Würdest du mir diesen Gefallen erweisen?«

»Es ist mir eine Ehre Euch zu dienen Meister.«, antwortete ich mit einer Verbeugung.

»Sehr gut. Ich bin dankbar für deine Hilfe. Wie ich bereits sagte, wirst du als Geisha zu ihm zurück kehren. Ihm sagen, dass du in der Welt keinen Frieden finden konntest, und ob er dich wieder bei sich aufnimmt. Biete Mino eine Kostprobe deiner Kunst. Selbst ich schaue dir sehr gern beim Tanzen zu. Da ich überzeugt bin, dass der Fürst nicht widerstehen kann, wird er dir diesen Wunsch sicherlich erweisen und dich bei sich aufnehmen. Sobald du bei ihm bist, verhalte dich ruhig. Lerne seine Festung kennen und agiere im Verborgenen. Du besitzt alle Fähigkeiten, die du benötigst. Nutze deine Gabe der Verschleierung. Und vermeide unter allen Umständen Aufsehen.«

»Ja Meister. Ich werde nicht versagen.«

»Dessen bin ich mir sicher. Du wirst gleich morgen früh aufbrechen. Ich werde dir ein Pferd geben. Sag Mino, dass du die Jahre bei einem reichen Bauern lebtest, und dass er dir das Pferd schenkte. Als Abschiedsgeschenk. Du findest einen passenden Kimono in deinem Zimmer. So, nun ruh´ dich aber noch ein wenig aus. Morgen wirst du bei Kräften sein müssen.«
 

Und so verschlug es mich letztendlich nach Westen. Alles geschah so, wie Meister Chi-on es prophezeite. Und ein paar Tage später gehörte ich zum Hofe des Fürsten Mino. Nach einigen Monaten, in denen ich meine Rolle vervollkommnte, begann ich in der Burg umher zu schleichen. Ich belauschte wichtige Gespräche und las mehr oder weniger wichtige Dokumente, wenn diese unbewacht waren. Während dieser Zeit verbesserte ich meine Fähigkeiten im Schleichen und im Spüren von Auren. So konnte ich die Wachen mit Leichtigkeit umgehen und blieb so stets unentdeckt. In jeder Neumondnacht verließ ich heimlich die Burg und schilderte Yuzo, welcher am Waldrand auf mich wartete, was um mich herum geschah. Zumeist waren es alltägliche Ereignisse, die meinen Bericht füllten. Hin und wieder reisten einige Ma durch Fürst Mino´s Ländereien oder unterhielten sich mit den Wachen am Hofe. Doch eines Tages wurde plötzlich ein Dokument unterzeichnet, von dem niemand sagen konnte, was darin geschrieben stand. Nur ein Ma, der seit jenem Zeitpunkt den Hof und die Seite des Fürsten nicht mehr verließ, und der Fürst selbst wussten, was dieses Stück Papier beinhaltete. Ich sagte Yuzo alles, was ich über das Dokument wusste. Auch, dass die Truhe, welche das wohl behütete Schriftstück schützte, in einem Keller gebracht wurde. Nachdem ich endete mit meinem Bericht, ritt Yuzo so schnell er konnte zurück zu Meister Chi-on.

Einige Tage später kamen zwei Fremde und baten Fürst Mino um eine Audienz. Ich konnte sie nicht sehen, da ich mit einigen anderen Geishas die freihabenden Wachen unterhalten sollte. Ihre Auren wirkten normal, nicht weiter sonderbar. Und doch hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Jedoch konnte ich nicht genau sagen, was es war. Ich entschied mich, meine Rolle als Geisha weiter zu spielen und die beiden Fremden im Auge zu behalten. Nach einiger Zeit wurden sie in ein Zimmer gebracht, welches seit meiner Ankunft noch nie für Gäste genutzt wurde. Dort blieben sie eine ganze Weile. Als es jedoch dunkel wurde, entfernten sie sich rasch. Sie mussten wohl geflohen sein. Was könnten sie hier nur wollen, fragte ich mich. Dann fiel es mir ein. Es gab nur eine Begebenheit, die in den letzten Tagen stattfand, und die es sich lohnen würde sie zu stehlen. Das Dokument! Ich musste hinterher. Ich durfte sie nicht mit dem Dokument entkommen lassen. Meister Chi-on würde wissen wollen, was darin geschrieben stand. So schnell ich unentdeckt fliehen konnte verließ ich mein Zimmer und verfolgte die zwei Fremden. Ich wartete in einer Seitengasse auf sie. Meine Gespür sagte mir, dass sie gleich an mir vorbeikommen würden. Leise wie Schatten rannten sie die Straße entlang. Beide waren schwarz gekleidet und vermummt. Ich folgte ihnen ebenso unauffällig zu dem Keller, in dem sich das Dokument befand. Ich hatte also Recht. Sie wollten es stehlen. Das musste ich verhindern. Doch ich durfte nicht gesehen werden. Denn sonst wäre meine Tarnung dahin. Ich lief in eine nahe gelegene Seitengasse und wartete, bis die Vermummten wieder auftauchten. Als ich mich umsah, entdeckte ich eine lange Eisenkette. Gerade als ich sie aufhob, rannten beide aus dem Keller. Einer rannte weiter, um die Wachen abzulenken und ließ den anderen mit dem Schriftstück zurück. Er wartete ab, bis einige Männer mit klappernden Rüstungen und Lanzen an uns vorbei gerannt waren setzte die Flucht fort. Ich musste ihn aufhalten. Denn wenn ich ihn nun entkommen ließ, wäre auch das Dokument verloren. Kreisend schwang ich die Eisenkette welche sich um seine Beine schlang.



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