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Die Farben der Welt

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Vorwort zu diesem Kapitel:
13 Jahre nach Miras' Tod Komplett anzeigen

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Eine unruhige Nacht

Das kalte Licht des Mondes fiel auf ein heruntergekommenes Haus am Rande der Stadt. Der Putz bröckelte von den Wänden, auf dem Dach klafften einige Löcher, wo die Dachschindeln fehlten und einige Fensterrahmen enthielten statt Scheiben nur noch Scherben.

Dies war das Waisenhaus im ärmsten Teil der Hauptstadt.

Hinter einem der kaputten Fenster befand sich der Schlafraum von sechzehn Mädchen im Alter von vier bis zwölf Sommern. Sie schliefen in schlecht zusammen gezimmerten Betten auf piksenden Matratzen in zerschlissene Decken gehüllt, die die winterliche Kälte nicht abhalten konnten, die der Wind ins Zimmer trug, während er höhnisch mit den alten Gardinen spielte, die vors Fenster gezogen wurden. Dennoch schliefen die Mädchen ruhig, obgleich ihr gleichmäßiger Atem weiße Wolken in der Luft bildete.

Ein leises Stöhnen durchbrach die Stille. Es kam aus einer Ecke des Zimmers, wo sich ein Mädchen unruhig auf seinem Bett hin und her wälzte, während seine Augen unter den geschlossenen Lidern wie wild umher rollten. Sein Atem ging stoßweise. Die Decke hing halb übers Bett hinaus.

Plötzlich stieß das Mädchen einen leisen Schrei aus und saß augenblicklich mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen aufrecht im Bett. Es keuchte und rang nach Atem.

Niemand schien es bemerkt zu haben. Nur ein Mädchen, das Kopf an Kopf mit dem ersten schlief, rieb sich verschlafen die Augen, zog sich auf die Ellbogen hoch und blickte zu dem aufgeschreckten Mädchen.

"Seph?", flüsterte es besorgt, doch Seph schien sie nicht wahrzunehmen.

Es glitt aus seinem Bett zu ihr hinüber und griff nach einer ihrer verkrampften Hände. Im gleichen Augenblick drang der Ruf einer Eule von draußen herein und Seph zuckte zusammen. Mit immer noch geweiteten Augen blickte es auf ihre Hand hinunter und dann zu dem Mädchen. Als sich ihre Blicke begegneten, entspannten sich Sephs Züge ein wenig und sie stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus. Langsam ließ sie sich zurück auf ihre Matratze sinken, während das andere Mädchen sie immer noch besorgt musterte.

"Du siehst blass aus, Seph", meinte es. "Was ist denn passiert? Hattest du wieder einen Alptraum?"

Seph drehte sich zu ihr und nickte. Dabei drückte sie Halt suchend seine Hand, die noch immer in ihrer lag.

"Mach mal ein wenig Platz", forderte sie das Mädchen auf und während Seph soweit wie möglich an die Wand rutschte, holte das Mädchen seine Decke. Dann legte sie sich neben Seph auf das ohnehin schon schmale Bett und nahm sie in die Arme.

"Danke, Vi", hauchte Seph erschöpft. Die Gegenwart ihrer Freundin beruhigte sie und ihr Atem normalisierte sich.

"Erzählst du mir diesmal von deinem Alptraum?", fragte Vi sie. Doch Seph schüttelte ihren Kopf und Vi fragte auch nicht weiter nach. Das schätzte Seph sehr an ihrer Freundin. Sie hatte oft Alpträume, ihrer Freundin aber noch nie von ihnen erzählt, zu sehr fürchtete sie sich für Vis Reaktion.

Außerdem, nüchtern betrachtet hatte sie keine Alpträume. Jedenfalls keine gewöhnlichen. Sie waren eigentlich nicht von schrecklichen Gefahren erfüllt, da war kein steiler Abhang, den sie entlang ging, kein blutrünstiges Untier, das ihr zu Leibe rückte, niemand wollte ihr Schmerzen zufügen, niemand zwang sie Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte. Niemand verging sich an ihr.

Seph blickte zu Vi, die ihre Augen geschlossen hatte und wieder schlief. Vi hatte ihr nie erzählt, was ihr passiert war, bevor sie hierher ins Waisenhaus kam. Doch auch sie hatte anfangs Alpträume gehabt, von denen sie hoffte, dass niemand sie bemerkte. Sie wusste nicht, dass sie dann im Schlaf sprach, doch Seph hatte sich im Laufe der Zeit so viel zusammenreimen können, dass sich Vis Vater ihr in einer ihr unangenehmen und angsterregenden Art und Weise genähert hatte. Wie sie dort schließlich weggekommen und was mit ihrem Vater passiert war, das hatte Seph nie in Erfahrung bringen können. Sie spürte, dass Vi nicht über das Thema reden wollte, und da sie zu Seph ins Waisenhaus gekommen war, war zumindest klar, dass es den Vater wohl nicht mehr gab.

Seph drehte die Augen in Richtung Fenster und sah den wehenden Gardinen zu. Vi hatte echte Albträume – und ich? Ich komme nicht einmal in meinen so genannten Alpträumen vor, auch keiner den ich kenne, niemand ist in Gefahr. Nur... Seph schloss für einen Moment erschöpft die Augen.

Diese Träume hatte sie schon ihr Leben lang. Allerdings hatte sie früher keine Angst vor ihnen, manche hatte sie sogar genossen. Natürlich hatte sie sie den anderen Kindern erzählt und natürlich hatte es irgendwann die Leiterin vom Waisenhaus mitbekommen. Und dann war sie fuchsteufelswild geworden.

Sie hatte Seph zur Seite genommen und mit ihr geschimpft. Sie meinte, sie würde den anderen Kindern Flausen in den Kopf setzen, gar ihre Seelen mit ihren Geschichten aufs Spiel setzen.

Seph verstand kein Wort, sie verstand ja nicht mal, was genau das Besondere an ihren Träumen war, genauso wenig begriffen es die Kinder. Seph sah fremde Leute bei ganz alltäglichen Beschäftigungen: Eine Mutter, die Essen zubereitete, Kinder, die mit einem Hund spielten, einen Mann bei der Arbeit auf dem Feld schwitzen. Das einzig Besondere an manchen dieser Träume war das Schwarz-Grau-Weiß-Gemisch. Seph wusste nicht, wie sie es beschreiben konnte, sie kannte keine Worte, die bezeichneten, was sie sah. Denn manche Träume waren nicht schwarz-weiß-grau – jedenfalls nicht in der Art, wie sie es kannte. Sie waren irgendwie.. anders... und freundlicher.

Aber die Leiterin redete sich immer weiter in Rage und irgendwann sagte sie etwas, dass für Seph den Anfang der Angst vor diesen Träumen bedeutete. Sie meinte, Seph sei besessen. Die Hexen hätten sie verhext und wahrscheinlich vollkommen im Griff, für ihre Seele gebe es keine Rettung, Gott nehme keine besudelten Seelen auf. Für sie bliebe nur der Hochofen.

Die anderen Kinder hatten nicht alles mitbekommen, aber so einiges, da die Leiterin ihre Stimme nicht unter Kontrolle hatte und schließlich laut schrie. Das genügte, dass sie sich von da an von Seph fern hielten und sie nur noch misstrauisch und ängstlich beäugten. Sie war zur Außenseiterin geworden und die Erwachsenen, die vorbei kamen und sich die Kinder ansahen, erkannten wohl auch immer, das etwas mit ihr nicht stimmte, dass sie eine unrettbar befleckte Seele hatte.

Acht Sommer waren seitdem vergangen und die anderen Kinder waren inzwischen alle weg, nur Seph war geblieben. Und obwohl keins der derzeitigen Kinder den Vorfall damals mitbekommen hatte, behielt Seph doch ihre Außenseiterrolle bei.

Erst als Vi kam, hatte sie eine neue Freundin gefunden. Anfangs hielt sich Vi von den anderen Kindern fern, doch irgendwie, Seph wusste auch nicht wie, fanden die beiden zusammen. Und obgleich Vi ihr Trauma inzwischen wohl weitestgehend überwunden und inzwischen unter den Kindern weitere Freunde gefunden hatte, waren Seph, die Außenseiterin, und Vi immer noch beste Freundinnen.

Seph blickte ihr Freundin ins Gesicht, hob eine Hand und streichelte ihr sacht über die Wange. „Danke“, flüsterte sie dabei und über Vis Gesicht huschte ein kurzes Lächeln.

Vi hatte inzwischen keine Alpträume mehr und Seph hoffte, dass es auch ihr irgendwann gelingen würde, sich von den ihren zu befreien. Vielleicht würde dann doch noch Rettung für ihre Seele bestehen. Und vielleicht würde sie es mit Vis Hilfe schaffen.

In Vis Armen fühlte sie sich stark und zuversichtlich genug dafür. Und tatsächlich hatte sie noch nie einen ihrer Träume gehabt, wenn Vi dicht bei ihr war.

Mit einem Lächeln um den Mund und einem warmen Gefühl im Herzen schlief Seph wieder ein.



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