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Urlaub mit Nachwirkungen

von

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Tschüss Stadt, hallo Kaff!

„Christian, steh auf, es gibt Frühstück, außerdem musst du in zwei Stunden fertig sein!“

Jemand zog mir ruckartig die Decke weg und erschrocken setzte ich mich auf. In diesem Leben würde ich mich sicher nicht mehr an die etwas aggressive Weckmethode meiner Mutter gewöhnen, aber dafür schaffte sie es immer wieder, mich innerhalb weniger Sekunden aus den verrücktesten Traumwelten zurück in die Wirklichkeit zu holen.

„Ist gut, ich komm gleich.“ Wer brauchte noch einen Wecker, wenn er eine Mutter wie meine hatte? Und zur Not tanzte meine jüngste Schwester so lange um mein Bett herum, bis ich gar nicht anders konnte, als aufzustehen und sie vom ziemlich falschen Singen abzuhalten.

Noch etwas verschlafen – ich hatte gestern Abend definitiv zu lange meine Sachen gepackt – ging ich ins Bad, stolperte fast über ein paar Klamotten, die meine andere Schwester wohl absichtlich verloren hatte, versuchte nicht auf mein Spiegelbild zu achten, das sicher keinen Schönheitspreis gewonnen hätte, so wie ich mich gerade fühlte, und brachte mich mit einer Ladung kaltem Wasser in einen deutlich besseren Zustand. Immerhin wollte ich mir beim Frühstück nicht wieder von meinen Schwestern anhören müssen, dass ich wie ein Zombie aussähe, was eigentlich gar nicht stimmte, aber sie behaupteten es trotzdem gerne, um mich zu ärgern.

Typisch für kleine Mädchen.

„Christian!“

„Ja, sofort.“ Meine Nerven, nur weil man nicht innerhalb von drei Minuten in die Küche rannte und jedem mitteilte, dass man anwesend sei, bedeutete das nicht, man käme gar nicht. Irgendwie musste ich das meinen Eltern noch beibringen.

Außerdem durfte sie nicht erwarten, dass ich in den Ferien nichts Anderes zu tun hatte als mich von ihnen durch die Gegend kommandieren zu lassen. Es genügte ja wohl, wenn ich das in den Schulzeit über mich ergehen ließ, die leider nicht mehr in allzu weiter Ferne auf mich wartete.

Deutlich wacher, aber nicht unbedingt glücklich darüber, suchte ich mir meinen Weg in die Küche – meine Schwestern hatten anscheinend schon die Gelegenheit genutzt, überall ihr Zeug abzuladen – und musste feststellen, dass ich der Letzte war, der sich bequemte, zu diesem Highlight am Morgen, dem gemeinsamen Frühstück, aufzukreuzen.

Hoffentlich war das kein Anlass für meine Eltern, mir zum tausendsten Mal zu erläutern, dass man als großer Bruder eine Vorbildfunktion war und nicht unbedingt tun und lassen konnte, was man wollte.

Zum Glück ging darauf niemand ein, da meine jüngste Schwester Sina momentan damit beschäftigt war, meinen Eltern ganz stolz ihre Geburtstagswünsche mitzuteilen, die aufgrund ihres Alters – sie wurde bald zehn – nicht besonders realistisch erschienen. Mir konnte es egal sein, solange sie nicht von mir ein Pony und ein Märchenschloss samt Prinzen forderte.

Tamara hockte desinteressiert daneben, kaute an ihrem Croissant herum und fühlte sich wieder einmal ziemlich cool, weil sie heute Nachmittag mit ihren zwei Freundinnen shoppen gehen durfte. Und zwar ohne Eltern, dafür aber mit dem restlichen Weihnachtsgeld.

Ich konnte nur hoffen, dass sie nachher nicht mit einem ganzen Kleiderschrank neuer Klamotten und zehn Kilo Schminke ankam, Mädchen am Anfang der Pubertät traute ich alles zu, vor allem Tamara, die unbedingt alles ausprobieren wollte, was ihre Freundinnen ihr vorschlugen, ohne vorher nachzudenken, ob es auch sinnvoll war.

„Christian, hast du schon gepackt?“

„Ja, hast du nicht die Tasche vor meinem Schrank gesehen?“ Manchmal zweifelte ich an der Brille meiner Mutter, trotz diesem Teils bemerkte sie gerne Dinge und Tatsachen nicht. Oder es gefiel ihr, mindestens fünfmal nachzufragen und damit meine Nerven zu strapazieren.

„Hast du auch genügend Kleidung mitgenommen? Und Handtücher? Hast du auch...“

„Ja, Mama, hab ich alles.“ Wenn sie mir nicht zutraute, selbst verantwortlich für meine Sachen zu sein, warum packte sie dann nicht gleich mit? Das sparte überflüssige Fragen.

Ich hatte mir sogar vorher eine Liste erstellt, was ich wohl alles benötigen würde und sie meinem Vater gezeigt, damit nicht zum Schluss wieder kam, ich würde mich nicht ausreichend um alles kümmern. Manchmal ging es mir wirklich auf den Geist, keine älteren Geschwister zu haben; dann würde vielleicht nicht immer mein Verhalten analysiert, verbessert und hinterfragt werden.

Alles unter dem Deckmantel der elterlichen Fürsorge.

In Wirklichkeit wollten sie doch nur sicher gehen, dass ich nach ihrer Pfeife tanzte, egal ob jetzt oder in zehn Jahren.

Deswegen war ich auch sehr froh gewesen, als meine Großeltern, die ich sowieso nicht oft sah, da sie etwas weiter von uns entfernt wohnten, mich gefragt hatten, ob ich mit ihnen zusammen in Urlaub fahren wollte. Allein, ohne Sina, die immer Aufmerksamkeit wollte, ohne Tamara, die mir mit ihrem Selbstfindungstrip für Extreme langsam aber sicher die Nerven raubte, ohne meine Mutter mit ihrem dominanten Wesen und ohne meinen Vater, dem ich sowieso nur allzu gerne aus dem Weg ging.

Allein nur mit meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter, die ich wirklich gern hatte, im Gegensatz zu den meines Vaters, bei denen ich gerne das Weite suchte. Das klang doch zu verlockend, um abzulehnen, selbst wenn es irgendwo in die Pampa ging, wo es möglicherweise weniger als nichts gab, aber das war doch ein schönes Kontrastprogramm zu unserer Großstadt, in der man fast an jeder Ecke von einem Auto angefahren oder von unzivilisierten Jugendlichen dumm angemacht wurde, nur weil man sie zu lange angesehen hatte.

Diese Aussicht verschönerte mir das Frühstück, obwohl mich mein Vater mindestens dreimal ermahnte, auf keinen Fall dumme Dinge anzustellen und meine Mutter mir vorschrieb, immer Sonnencreme zu benutzen, keinen Alkohol zu trinken und bloß nicht die Einrichtung zu demolieren.

Wie alt war ich noch mal? Sieben oder 17?

Um allerdings nicht noch vor meiner Abreise einen sinnlosen Streit in der Familie auszulösen, hielt ich den Mund, dachte mir meinen Teil zu den übertriebenen Vorschriften, die sie sowieso nicht kontrollieren konnten, aß mein Brötchen und verschwand schließlich recht schnell in mein Zimmer zurück, um die restlichen Kleinteile noch in meinen Rucksack zu verstauen.

Zu allererst kam natürlich mein Discman mit. Ein uraltes Teil, das sich manchmal weigerte, meine CDs zu lesen, aber ich hing an dem Ding und mit MP3-Player und den noch 'cooleren' iPods konnte ich nichts anfangen, ich fand sie einfach nur hässlich und kompliziert. Außerdem musste man für diese elektronischen Hightechgeräte irgendetwas am PC machen und mit dem stand ich noch mehr auf Kriegsfuß als mit den erstgenannten. Mehr als anschalten konnte ich da nicht. Und vielleicht etwas mit der Maus wedeln, dann hörte es auch schon auf.

Aus dem Regal zog ich zwei CDs, die ich mir extra für den Urlaub gekauft hatte, und die üblichen Verdächtigen, die ich so gut wie überall mit hinnahm.

Mein Handy samt Ladekabel blieb auch nicht hier in meinem Zimmer, immerhin sollte ich eine SMS an meine Eltern schicken, wenn ich an unserem Zielort angekommen war. Als würden meine Großeltern mich aus Lust und Laune entführen und in Kopenhagen aussetzten.

Der Krimi aus der Bücherei durfte auch nicht fehlen, irgendetwas musste sich schließlich in den zwei Stunden Autofahrt noch tun außer mich von Blink 182, Rise Against oder Keane beschallen zu lassen, sonst langweilte ich mich möglicherwiese zu Tode.

Das halbe Kilo Kaugummi und die drei Tafeln Schokolade würden sicher für die fast fünf Tage an zusätzlicher Verpflegung reichen, immerhin konnte man nie wissen, wie weit der nächste Supermarkt wirklich entfernt war. Zwar stand im Reiseprospekt, es seien nur fünf Kilometer, aber vielleicht meinten die in Wirklichkeit 50 und hatten sich verdruckt. Oder ließen aus Prinzip Nullen unter den Tisch fallen.

Für alle Fälle stopfte ich noch einen Block und mein Mäppchen in meinen kleinen Rucksack, ging im Kopf noch einmal alles vorsichtshalber durch, um nicht mir Schrecken auf der Autobahn festzustellen, lebenswichtige Dinge auf dem Bett vergessen zu haben, und schleifte den Koffer und den Rucksack in den Flur und die Treppe herunter. Hoffentlich übersah sie niemand und regte sich später auf, weil er durch Unachtsamkeit darüber gefallen war.

Nachdem ich mein Vorhaben erfolgreich erledigt hatte, zog ich mich endlich um – im Schlafanzug wollte ich nicht in Hintertupfingen oder wie es hieß ankommen – und 'perfektionierte' mich im Bad. Putzte mir also kurz die Zähne, fuhr mir einmal mit fünf Fingern durch meine Haare, die sowieso nie das taten, was ich gerne von ihnen hätte, und streckte zum Abschluss meinem Spiegelbild die Zunge raus.

Eine dumme Angewohnheit, die irgendwie nicht mehr verschwinden wollte.

Bis meine Großeltern mich endlich aus diesem Irrenhaus abholten, würde es noch mindestens eine Stunde dauern; eigentlich hätte ich länger schlafen können, da aber meine Mutter auf keinen Fall wollte, dass sie wegen mir warten mussten, wurde ich ja frühzeitig aus den Federn geworfen.

Also brauchte ich bis zum Auftauchen meiner Großeltern noch eine Beschäftigung, die gleichzeitig intellektuell aussah und mich nicht vor Langweile einschlafen ließ wie diese Sachbücher über physikalische Abläufe, die mir mein Vater ständig unter die Nase hielt und die ich gefälligst verstehen sollte.

Würde ich vielleicht. In ein paar Jahren und einem abgeschlossenen Studium.

Im Wohnzimmer saß Sina vor der Glotze und weil mir wirklich nichts Besseres einfiel, setzte ich mich zu ihr. Immerhin musste ich als großer, böser Bruder überwachen, was meine Schwester so alles Verblödendes in der Flimmerkiste sah.

In diesem Fall handelte es sich um eine dieser x-beliebigen Kinderserien mit unendlich vielen Folgen, Darstellern, parallel laufenden Themen und Konflikten. Wie gebannt beobachtete Sina, wie sich X mit Y stritt, weil X Ys Cousine den Freund ausspannen wollte und dabei fast Ys Affäre mit dem Mathelehrer der Öffentlichkeit verkündet und die halbe Schule zerstört hatte. Zumindest verstand ich das so, es konnte auch ganz anders abgelaufen sein, da die beiden Tussies irgendwann nur noch in den höchsten Tönen herum kreischten, sodass ich sie nicht mehr verstand.

Meine Schwester fand es auf jeden Fall sehr lustig.

„Chrissi, hast du meinen DS gesehen?“, platzte Tamara unvermittelt in den Zickenkrieg auf dem Bildschirm und stellte sich genau so hin, dass man gar nichts mehr sah. Sina protestierte, ich überlegte, wo mir dieses kleine, piepende Teil zum letzten Mal über den Weg gelaufen war und Tamara moserte schon gleich herum, weil ich ihr nie half.

Würde sie mich in Ruhe nachdenken lassen und mir nicht gleich beleidigt Vorwürfe machen, wäre ich vielleicht in der Lage dazu.

Kleine Geschwister waren der reinste Horror, wenn man immer verständnisvoll, ruhig und erwachsen ihnen gegenüber sein musste, weil sie sonst Beschwerde bei den Eltern einlegten. Und diese machten mir dann die Hölle heiß, wenn ich auch nur einmal 'Halt die Klappe' zu Tamara oder Sina sagte.

Tamara war inzwischen eingefallen, dass sie ihr Lieblingsspielzeug an ihre beste Freundin verliehen hatte und Sina freute sich gerade ziemlich, als sich zwei Jungs ohne Vorwarnung zu schlagen anfingen. Was auch immer das für eine Serie war, für neunjährige war sie definitiv ungeeignet.

Aber ich ließ Sina ihren Spaß, wenigstens eine in diesem Haus sollte nicht dauernd Vorschriften bemacht bekommen.

„Willst du nicht noch Bianka anrufen, bevor du die Fliege machst?“, wollte Tamara erfahren, die sich nun ebenfalls zu uns gesellt hatte, sodass wir zu dritt die Schlägerei betrachten konnten.

Musste mich meine Schwester immer an irgendwelche Dinge erinnern, an die ich nicht denken wollte?

Bianka war meine feste Freundin, doch im Moment lief es nicht besonders gut zwischen uns, irgendeinen dummen Grund fanden wir immer, um uns zu streiten. Der Letzte war erst gestern gewesen und hatte natürlich mit meinem kurzfristigen Urlaub im Nirgendwo zu tun, da Bianka eigentlich geplant hatte, die letzte Ferienwoche mit mir zusammen zu verbringen und ziemlich sauer war, weil ich ihr gestern Abend per SMS mitgeteilt hatte, bis Samstag nicht da zu sein.

Wenn sie sich endlich mal gründlicher mit meiner Familie beschäftigen würde, würde sie meine Flucht vor ihnen nur zu gut verstehen, aber sie als Einzelkind mit wirklich tollen Eltern kannte solche Probleme gar nicht und konnte sie deswegen nicht nachvollziehen.

„Lieber nicht.“ Streitereien am Telefon waren fast noch ätzender als wenn man sein Gegenüber direkt vor sich hatte. Da konnte man wenigstens noch irgendwie einschätzen, wie derjenige reagieren würde.

Außerdem wollte ich mir den Urlaub nicht kaputt machen, indem ich mit schlechter Laune ankam.

„Chris, warum hast du eigentlich eine Freundin, wenn sie dich immer anrufen und dir hinterher rennen muss? Ist doch scheiße für sie“, meinte Tamara und sah mich herausfordernd an.

„Nenn mich nicht immer Chris.“ Das würde sie wohl nie lernen. „Und misch dich nicht in meine Beziehungen ein, such dir lieber selbst einen Freund und dann darfst du kommen und mir vorschreiben, wie ich was machen soll.“

„Mann, ich will dir helfen, damit du nach dem Urlaub nicht plötzlich sechs Exfreundinnen hast“, zickte sie mich an und schwieg beleidigt.

„Jetzt seid doch mal leise, ich kann nichts verstehen“, machte sich Sina bemerkbar und ich verließ ziemlich angenervt das Wohnzimmer.

Nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin dachte immer, sie würden mir einen Gefallen tun, wenn sie mir sagten, wie ich mit meinen Freundinnen umgehen sollte. Entweder sollte ich sie öfter anrufen, ihnen etwas schenken – und zwar nicht nur zum Geburtstag – oder sie ins Kino einladen. Und immer wieder musste ich mir anhören, dass ich die Streitereien durch mein Verhalten provozierte.

Langsam ging es mir wirklich auf den Geist, wenn die beiden es so gut wussten, sollten sie sich doch auch eine Freundin holen! Dann konnten sie mir die perfekte Beziehung vorleben und ich hätte meine Ruhe.

Meine Großeltern kamen Punkt zehn Uhr bei uns an und ich konnte es kaum erwarten, mich in ihr klappriges, etwas älteres Auto zu setzen und aus diesem Chaos abzuhauen, das sich jeden Tag aufs Neue einen Spaß daraus machte, mich fertig zu machen.

Die Verabschiedung von meiner Familie fiel äußerst knapp aus, von beiden Seiten. Bianka hatte ich nicht mehr angerufen, meiner besten Freundin Bettina hatte ich eine SMS geschickt und der Rest wusste sowieso nicht, dass ich mich für fünf Tage vom Acker machte. Wenn die Schule anfing war ich schließlich da, das reichte. Irgendwann würden sie es vielleicht mitbekommen und falls nicht, war es auch kein Weltuntergang.

Mit Müh und Not verstaute mein Großvater meinen Koffer im kleinen Kofferraum, während ich es mir auf der Rückbank bequem machte, meinen Discman aus meinem Rucksack fischte und die Außenwelt, die mir sowieso nur auf die Nerven ging, ausblendete.

Meine Familie war sowieso schon ins Haus verschwunden, immerhin musste Sina unbedingt ihre Sendung zu Ende sehen, Tamara sich für den bevorstehenden Ausflug in die Stadt vorbereiten und meine Eltern hatten natürlich auch andere Dinge zu tun als mich länger als nötig zu verabschieden.

Die Fahrt verlief normal, außer dass wir einmal im Stau standen und uns zweimal fast verfahren hätten, weil die Ausschilderung so schlecht war. Meine Großeltern besaßen nun mal kein Navi, sondern eine Straßenkarte, die sicher so alt wie ich sein musste, wenn nicht sogar älter.

Die meiste Zeit war ich in den Krimi vertieft, den ich nicht unbedingt weltbewegend fand, aber irgendwann hatte ich keinen Lust mehr, mir das Gejammer über eine fünfte Leiche und den zwanzigsten Tatverdächtigen ohne Alibi anzuhören, weswegen ich das Buch zur Seite legte und mir stattdessen die Landschaft, durch die wir fuhren, ansah.

Wenig Städte, viel Grün, ein paar Berge und Strommasten. Ansonsten gab es nur die alles andere als besonders gute Straße und die Autos, die darauf fuhren.

Die Autobahn hatten wir schon seit einiger Zeit verlassen, also musste wir bald da sein.

Vielleicht bekam man hier keinen Handyempfang, dann musste ich mich nicht mit nervigen Anrufern aller Art herumschlagen. Ob die hier überhaupt das Wort Computer kannten? Das würde mich sehr interessieren; es musste doch irgendwo einen kleinen Teil in Deutschland geben, der diese gemeingefährliche Zumutung nicht brauchte.

„Ich glaube, wir sind da“, sagte meine Großmutter plötzlich und ich sah mich etwas verwirrt um. Durfte man das überhaupt noch Dorf nennen oder wurde das schon als Dörfchen gezählt? So wenig Häuser auf einmal hatte ich noch nie gesehen, sogar dort, wo wir früher gewohnt hatte, hatte es mehr Einwohner gegeben.

Vielleicht hatte uns die Straßenkarte hineingelegt? Allerdings hatte ich gerade ein Schild mit 'Grünau' – so sollte unser Ferienort eigentlich heißen – entdeckt, so verkehrt konnten wir gar nicht sein.

„Äh, cool.“ Irgendwie musste ich schließlich mitteilen, dass ich sie gehört hatte und auf Anhieb fiel mir keine bessere Aussage ein. Mein Vater hätte mich dafür sicher wieder böse angesehen, er mochte es nicht, wenn ich solche nichtssagenden Wörtchen benutzte.

Ein Grund mehr, es zu tun, wenn er es nicht kontrollieren konnte.

Auf einem Rasenstück neben einem großen Haus mit der Nummer drei hielt mein Großvater an, aber es konnten sich niemand so richtig durchringen, auszusteigen und nachzusehen, ob wir vielleicht doch in den nächsten Ort mussten.

Schließlich ergriff ich die Initiative, schaltete meinen Discman ab, sodass Rise Againsts Survive einfach um eine Minute gekürzt wurde, öffnete die Autotür und bewegte mich auf das Haus zu.

Jetzt begann also die Stunde der Wahrheit, ob ich nicht doch lieber augenblicklich zurück in mein gewohntes Umfeld mit all seinen Nachteilen und Konflikten wollte.

Wie lerne ich Hintertupfingen am besten kennen?

So viel ich wusste, stimmte die Nummer mit der im Prospekt überein und da dieses 'Dorf' scheinbar nur aus einer Straße bestand, musste das hier wirklich unser Zuhause für die nächsten Tage sein. Dumm nur, dass ich keine Ahnung hatte, was nun zu tun war.

Sollte man irgendjemanden anrufen? Sich auf die Rasenfläche neben dem Haus stellen und schreien, bis jemand kam und einem half? Oder tauchten die Besitzer hiervon erst in zwei Stunden auf und wir durften solange im Auto warten und uns aufregen, dass der Stau nicht ewig gedauert hatte?

Meine Großmutter war mir gefolgt, allerdings nicht zehn Meter vor der Tür stehen geblieben, sondern stand nun direkt davor und versuchte einen Zettel zu entziffern, der mit Tesafilm an die Tür geklebt worden war. Anscheinend ohne Erfolg, zumindest deutete ich so ihre ausbleibende Reaktion. Vielleicht sollte ich ihr helfen, immerhin kannte ich mich mit schlimmer Schrift aus, ich hatte schließlich Freunde.

An Familie Wagner: Bitte warten Sie kurz, ich bin gleich wieder da!

„Na toll, da kommt man mal pünktlich und dann ist keiner da.“ Sollte ich mich verarscht fühlen? Lieber nicht, das half auch nichts, wenn ich mich nun unnötig aufregte. Meine Großeltern konnten die Leute auch nicht herzaubern, also mussten wir wohl ein bisschen warten.

Wieso benutzte man nicht die neuste Technik und warnte per Handy vor, dass man ankam? Da mussten die Vermieter nicht rund um die Uhr das Haus beobachten und man stand nicht plötzlich vor verschlossener Tür, weil irgendwer vielleicht auf dem Klo war.

„Naja, warten wir halt kurz im Auto“, sagte meine Großmutter, weil uns keine bessere Alternative einfiel, nur hatte ich nach der langen Fahrt keine Lust mehr, mich hinzusetzen und mich mit Musik beschallen zu lassen.

Während meine Großeltern es sich also im Auto bequem machten und erst einmal Kaffee aus der mitgenommenen Thermoskanne tranken, ging ich zuerst ein wenig hin und her, um mich aufzulockern. Lange Autofahrten waren nicht so mein Fall, aber bei einem Urlaub unvermeidbar.

Nach knapp einer Viertelstunde tauchte immer noch kein Mensch auf, der irgendwie den Anschein erweckte, zu diesem Haus zu gehören, was ich dann doch etwas unverschämt fand. Wenn ich jetzt dringend aufs Klo müsste, hätte ich theoretisch ein Problem.

Etwas Schwarzes auf einem Skateboard flitzte die Straße entlang und im ersten Moment dachte ich, ich hätte meinen Farbsinn verloren, bis mir auffiel, dass die Person einfach komplett schwarz gekleidet war.

Damit hätte ich nicht unbedingt gerechnet, immerhin befanden wir uns hier auf dem Land, in einem Kaff, das sogar die Bezeichnung Käffchen kaum verdiente, und dann sah man Leute, die man selbst bei uns kaum zu Gesicht bekam.

Sollte ich mich geehrt fühlen oder mich fragen, was da wohl falsch lief. Vielleicht ein Feriengast, der von seinen Eltern gezwungen worden war, mitzufahren? Oder einer der Anwohner hatte Fasnacht verpasst und holte es deswegen nach, nachfragen würde ich da nicht, das ging mich dann doch nichts an.

Allerdings rollte das Skateboardmännchen nicht wie erwartet die Straße weiter entlang, sondern sah zu mir und meinen Großeltern, die immer noch ihr kleines Picknick im Auto abhielten, legte eine in meinen Augen gewagte Drehung hin und näherte sich uns.

Ich musste ein Grinsen unterdrücken, sogar seine Schnürsenkel durften nichts anderes als schwarz sein, wurde ihm das nicht auf Dauer zu langweilig?

„Hi, ich bin Kai“; stellte er sich vor, nachdem er haarschaft vor mir gebremst hatte, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten war, „Seid ihr die Familie Wagner?“

„Ja“, sagte ich schnell, obwohl ich ja eigentlich nicht Wagner hieß, aber um es nicht zu kompliziert zu machen, ließ ich dieses Detail im Augenblick unter den Tisch fallen. Er sah hoffentlich, dass meine Großeltern zu alt waren, um als meine biologischen Eltern durchzugehen, vielleicht dachte er sich dann seinen Teil. „Warum?“

„Ich bin der Sohn von den Vermietern von dem Ferienhaus da und soll dir und deinen Großeltern - sind doch deine Großeltern, oder? – die Wohnung zeigen. Wartet ihr schon lange? Ich wollte ja schneller wieder da sein, aber ich wurde aufgehalten.“ Er grinste mich verzeihend an und wartete wohl auf eine Reaktion von mir.

„Aha.“ Wahrscheinlich hieß das, was ihn aufgehalten hatte, entweder potentielle Freundin oder Internet, kannte ich doch alles nur zu gut. „Dann sag ich mal meinen Großeltern Bescheid.“ Er hatte das tatsächlich richtig beobachtet, ansonsten hätte ich meiner Oma ein Kompliment machen können, wie jung sie auf andere Menschen wirkte.

Erleichter über das Auftauchen von Kai, wegen dem wir endlich unsere Wohnung kennen lernen durften, schlenderte ich zum Wagenfenster, klopfte dagegen, bis mein Großvater die Scheibe hinunterkurbelte, und verkündete ihnen, dass Kai die Arbeit seiner Eltern übernahm und uns in unsere Ferienwohnung lassen würde.

„Mit dem Schlüssel können sie auch gleich die Außentür aufschließen“, verriet uns Kai gleich als erstes und demonstrierte uns das auch sofort seine Aussage, als hätte er den Verdacht, wir könnten es ansonsten nicht nachvollziehen.

Hielt er Stadtmenschen etwa für doof?

Anscheinend hatte er meine Gedanken erraten, denn er drehte sich zu mir um. „Es gab wirklich schon Gäste, die spät am Abend zu uns nach Hause gekommen sind und wissen wollten, wie sie denn durch die Eingangstür kommen. Aber die haben auch das Sofa auf den Balkon geschoben und dann nicht mehr durch die Tür bekommen. Bei denen kann man sich nur wundern und die kommen jedes Jahr wieder hier her, vielleicht triffst du sie ja.“

Worauf ich garantiert nicht scharf war, ich wollte hier meine Ruhe vom Terror zuhause nicht auf neue störende Mitmenschen treffen. Reichte meine Familie – mit Ausnahme meiner anwesenden Großeltern – da nicht?

Kai ging nicht weiter auf die Gäste der ganz besonderen Art ein, sondern blieb vor der ersten Tür auf der rechten Seite des Flurs stehen, öffnete auch diese und winkte uns einladend zu sich, da wir uns nicht sofort in Bewegung setzten.

Der erste Eindruck unserer Unterkunft für die nächsten fünf Tage war weder besonders positiv noch negativ. Wenn man hineinkam, stand man praktisch schon in der Küche mit direktem Blick auf die Terrassentür. Auf der rechten Seite ging eine Tür zu einem kleinen Bad ab, links begrüßten uns zwei Sofas samt Fernseher und die zwei Schlafzimmer.

Wie erwartet hatte man hier wirklich nicht viel Platz für sich, aber ich hatte auch nicht vor, den ganzen Tag hier abzuhängen und mich zu langweilen, meine Großeltern genauso wenig.

„Also, falls irgendwas ist, wir wohnen in dem hässlichen, blauen Haus, das kann man gar nicht übersehen“, informierte uns Kai über sein Zuhause. „Und bitte lassen Sie das Sofa an seinem Platz stehen.“ Warum er bei diesem Satz ausgerechnet mich so auffordernd angrinste, fand ich etwas übertrieben, da ich der letzte war, der aus Spaß an der Freude Sofas entführte und auf dem Balkon oder der Terrasse aussetzte. Das traute ich wennschon eher ihm selbst zu.

Immerhin hätte er mich vorhin beinahe angefahren.

Kaum war Kai aus der Wohnung verschwunden, fingen wir an, unser Gepäck nach drinnen zu holen und auszupacken. Ich bekam das etwas kleinere Schlafzimmer mit Blick aus dem Fenster auf ein paar krumme Tannen, die wie zufällig in der Gegend herumstanden, und einem Bett, das im Gegensatz zu dem in meinem Zimmer daheim nicht so schmal war, dass ich öfters nachts aufwachte, weil ich plötzlich Bekanntschaft mit meinem Teppich geschlossen hatte. Immerhin sollte das hier ein Doppelbett sein und kein kleines Holzbänkchen für Menschen, die einem Spargel Konkurrenz machten.

Den Inhalt meines Rucksacks verteilte ich auf den hölzernen Nachtschränkchen neben dem Bett und der Kommode, die anstatt eines Schranks die Wand neben der Tür in Anspruch nahm. Mehr Ablageflächen gab es leider nicht, da für ein Regal kein Platz war und niemand auf die Idee gekommen war, Sideboards an den Wänden festzumachen.

Zur Not hinterließ ich meine Sachen noch auf dem Wohnzimmertisch, das würde meinen Großeltern nichts ausmachen. Nur meinen Eltern, die das zum Glück nicht sehen konnten, außer ich schoss ein paar Beweisfotos mit meinem Handy, um sie zu ärgern, dass ihr Sohn sich nicht vorbildlich in Anwesenheit anderer benahm.

Meine Klamotten landeten in den Schubladen in der Kommode, der Koffer passte geradeso unter das Bett, nun konnte ich machen; was ich wollte.

Etwas polterte im Wohnbereich und da fiel mir ein, dass ich möglicherweise meinen Großeltern helfen sollte, die Sachen aus dem Auto im Haus zu verteilen. Immerhin war ich kein kleines Egoistenkind, das sich überall hinfahren ließ und dann nicht mit anpackte, weil mir ja ein Fingernageleckchen abbrechen könnte.

„Oma, braucht ihr Hilfe?“

„Nein, Christian, nicht nötig.“

Das sagten sie immer, selbst wenn ihnen fast das Haus vor der Nase zusammenstürzte, also ein indirektes Zeichen für 'Wir haben ein Problem, aber du brauchst uns trotzdem nicht zu helfen'. Das konnten sie gleich vergessen.

Motiviert stürzte ich mich auf die Aufgabe und war schon nach zehn Minuten mit den Nerven am Ende, weil meine Großeltern so viel unnötiges Zeug mitgenommen hatte, dass ich sicher noch in zehn Tagen hier stand, zwischen Auto und Wohnung hin und her rannte und Kaffeekannen, Plastikflaschen, einen Eierkocher und vieles mehr zu meiner Großmutter trug, die es an den richtigen Platz stellte. Schlimmer als ein Einzug in ein neues Zuhause, weil man genau dasselbe in ein paar Tagen noch einmal machen durfte, nur in die umgekehrte Richtung.

Schließlich war das Auto leer, meine Großeltern geschafft und ich nicht mehr bereit, in dieser Wohnung zu bleiben, ich wollte endlich raus und etwas sehen, und zwar nicht nur das Innenleben des Kofferraums.

Da meine Großeltern sowieso erst einmal eine längere Pause von der Fahrt und vom Einräumen brauchten, verkündete ich ihnen, dass ich mir ein bisschen die Gegend anschauen würde. Immerhin wollte ich wissen, ob das hier nur aussah wie der kleinste Ort hinter dem Mond oder tatsächlich einer war. Bei letzterem hätte es sich ausgezahlt, den ganzen Vorrat an Kaugummi mitgeschleppt zu haben, ansonsten wäre ich vermutlich irgendwann durch meine Entzugserscheinungen durchgedreht.

Mit einer Packung Kaugummi in der Hosentasche und meinem Discman samt CD in der Hand verließ ich das Ferienhaus, das ich bei Gelegenheit ebenfalls komplett unter die Lupe nehmen würde und blieb an der Straße stehen. Von hier konnte man wirklich ein Haus in einem undefinierbaren Blauton sehen; Kai hatte zwar etwas übertrieben, ich kannte schlimmeres, aber es musste ihnen doch schon peinlich sein, da sonst die restlichen Häuser alle durch schlichtes Weiß überzeugten.

Naja, jeder hatte einen anderen Geschmack, das war auch gut so und ich konnte sowieso nichts daran ändern, also nicht länger nachdenken.

Ich schob mir zwei Stück meines 'Lieblingsessen' in den Mund, verkabelte mich mit Keane und machte mich auf den Weg. Natürlich nicht in die Richtung, aus der wir gekommen waren, da gab es wirklich nichts, sondern dort hin, wo Kais Haus schon mehr als auffällig stand und um Aufmerksamkeit bettelte.

Aus irgendeinem Grund schien sich außer mir niemand draußen aufzuhalten. Entweder herrschte hier ein ungeschriebenes Gesetz, wann die Mittagsruhe begann, hier wohnte sonst einfach kein Menschen oder sie waren allein von Aliens entführt worden, während ich den Essenskorb nach drinnen geschleppt hatte.

Wir waren hier auf dem Land, hier war alles möglich, immerhin sah Kai nicht wie der durchschnittliche Typ vom Land aus, wie man ihn sich in allen schönen Klischees vorstellte.

Ich würde es sicher nicht vermissen, allerdings würde ich auch kaum etwas mit ihm unternehmen, sicher war er einer dieser dauernd beschäftigten Personen und außerdem hatte er ein Skateboard, mit dem er seine Freizeit verbringen konnte.

Während ich leise die Anfangszeilen von Everybody’s changing mitsummte und hoffte, dass mich keiner hörte, weil ich einfach weder singen noch summen konnte, erreichte ich langsam das Ende des Ortes Grünau, was mich gar nicht so überraschte. Ich durfte hier keine Stadt wie Köln oder Hamburg erwarten, aber dass ich nicht einmal einen Bäcker gesichtet hatte, wunderte mich dann doch – vielleicht tarnte er sich auch nur extrem vorteilhaft –, denn was sollten die faulen Feriengäste denn sonst zum Frühstück essen?

Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass hinter der Biegung, die die Straße hier machte, alles, was man brauchen konnte, nur darauf wartete, von mir entdeckt zu werden. Vielleicht fand ich da nicht nur den Bäcker, sondern auch einen Supermarkt, Klamottenläden, Geschäfte mit extrem billigen Sachen und ein Schwimmbad.

Oder den Sinn des Lebens, der dort auf der Wiese bei den Schafen Urlaub machte, ich sollte aufhören, mir seltsame Dinge zusammenzudenken, die Landluft schien meinem Kopf zu schaden. Oder ich benutzte ihn zuhause einfach für die faschen Dinge und war deswegen nicht daran gewöhnt.

Auf jeden Fall entdeckte ich keins der genannten Objekte, nur eine weite Ebene mit Gras, Bäumen, Tieren aller Art und zwischendrin mal ein paar Häusern.

Schade aber auch, das bedeutete, zum Einkaufen mussten wir für jeden kleinen Gegenstand das Auto benutzen, da es nicht so aussah, als befand sich ein weitere Stadt in unmittelbarer Nähe. Und meine Großeltern gingen zwar gerne wandern – dafür waren sie schließlich auch hier her gekommen –, aber nicht mit einem Berg Konservendosen oder Milchpackungen unterm Arm.

Weil ich keine Lust hatte, die Straße weiter entlang zu laufen und mich zu vergewissern, dass da tatsächlich erst in einer halben Stunde die nächste Zivilisation auf mich wartete, hockte ich mich ins Gras, betrachtete den Himmel, hörte mir ein Lied nach dem anderen an und versuchte einfach an nichts zu denken.

Das hatte ich schon die ganze Zeit machen wollen, da ich zuhause fast dazu gezwungen wurde, ständig meinen Verstand anzustellen, egal ob ich in der Schule hockte, zuhause herumlief, sogar beim Einschlafen dachte ich dauernd nach, wie ich das Problem mit Biankas und meiner eher angespannten Beziehung beheben konnte, was ich am nächsten Tag alles machen sollte oder wie ich die letzte Mathehausaufgabe, die noch unbeendet auf meinem Schreibtisch auf mich wartete, lösen könnte. So lief das immer ab, weshalb mir diese freie Zeit wirklich gelegen kam.

Einfach die Wolken bewundern, sich über die grelle Sonne aufregen und es dabei belassen. Keine nervigen Geschwister, keine Eltern, die mich mit einem Berg Verantwortung beluden, keine Schule, kein gar nichts. Nur ich. Und mein Discman natürlich, der ausnahmsweise noch kein einziges Mal protestiert hatte.

Jemand tippte mir auf die Schulter; erschrocken fuhr ich hoch, riss mir die Ohrstöpsel aus den Ohren und wollte denjenigen gerade etwas unfreundlich darauf hinweisen, dass ich im Augenblick nicht ansprechbar war, aber dann hielt ich doch den Mund.

Hinter mir stand Kai mit seinem Board unter dem Arm, immer noch in seiner scheinbaren Lieblingsfarbe gekleidet und grinste mich an. Der grinste wohl öfter so, zumindest öfter als ich. Nicht, weil ich ein ich depressives, pessimistisches kleines Sonstwaskind war, sondern weil es in meiner normalen Umgebung momentan nicht so viel zum Grinsen gab, da verlernte man das leicht.

„Hi“, begrüßte er mich und stellte sein Fortbewegungsmittel neben sich ab. Deswegen hatte ich ihn nicht gehört, er hatte sich angeschlichen, damit die Rollen auf dem Asphalt keine verdächtigen Geräusche machten. Netter Junge.

„Hallo.“ Das fing ja nicht so besonders fließend an, obwohl ich eigentlich sonst kein besonders großes Problem hatte, mich mit anderen zu unterhalten. Nur musste der andere mir ein Thema vorgeben, danach gab es keine Schwierigkeiten mehr. Mit einer schlichten Begrüßung konnte ich gar nichts anfangen.

„Ist der Himmel so interessant?“

„Nein, eigentlich nicht, aber sonst gibt es irgendwie nichts, was man hier machen kann.“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern. Sicher konnte man hier etwas unternehmen, nur hatte ich es noch nicht gefunden.

„Du suchst ja auch am falschen Ende“, erklärte mir Kai und deutete in der Richtung, aus der ich vor wenigen Minuten erst gekommen war. „Hier ist wirklich nichts los, aber wenn du bei unserem Haus diese kleine Straße reingehst, findest du vielleicht was.“

Bei denen man Haus war eine Straße? Die hatte ich gar nicht gesehen, musste also ziemlich klein sein, wie so vieles hier in diesem Käffchen.

„Wie heißt du eigentlich?“, wollte Kai unvermittelt wissen. „Meinen Namen kennst du ja schon.“

Daran hatte ich gar nicht gedacht, mich vielleicht mal vorzustellen. Meine Eltern hätten einen Herzinfarkt bei diesem Verhalten bekommen. Mir war es gar nicht aufgefallen. „Ich heiße Christian.“

„Darf ich dich Chris nenne? Christian ist so lang und... naja, nicht mehr so topmodern.“

„Ungerne.“ Wie oft in meinem Leben hatte ich diese Frage schon gehört? Zu oft und genauso oft hatte ich höflich, aber bestimmt klargemacht, was ich davon hielt. „Ich mag den Namen Chris nicht, der klingt einfach blödsinnig und so möchtegerncool.“ Zwar stand ich mit dieser Meinung irgendwie allein da – die ganze Welt schien ihn 'voll geil und so' zu finden –, so kam es mir meistens vor, aber es ging hier um meinen Namen, der da verunstaltet wurde. „Kannst mich aber auch Martin nennen, ist mein toller Zweitname.“ Für den auch meine Eltern verantwortlich waren.

„Okay...“ Von diesem Angebot schien Kai nicht so begeistert zu sein, aber so hieß ich nun mal, konnte nichts dafür. Ansonsten hätte ich meine Eltern schon längst verklagt. „Ist deine Familie irgendwie sehr gläubig?“

„Was?“ Wie kam er denn da drauf? „Nicht dass ich wüsste, wieso sollten sie?“

„Naja, Christian heißt ja 'der Christ' und Martin von Sankt Martin. Verstehst du?“

Oha, der tat aber einer gebildet, vermutete man auf den ersten Blick gar nicht. Aber vielleicht hatte er hier so wenig zu tun, dass er Lexika auswendig lernte...

„Ja, aber wahrscheinlich ist ihnen einfach nichts Besseres eingefallen. Meine Eltern sind ungefähr so christlich wie alle anderen, die nur an Weihnachten und Ostern in die Kirche gehen.“

„Dann ist gut.“ Über diese Tatsache schien Kai erleichtert. Hatte er schlechte Erfahrung mit gemeingefährlichen Sekten gesammelt oder was? „Wir hatten mal streng katholische Feriengäste, die haben befürchtet, ich könnte ihre Kinder verhexen oder so etwas bescheuertes.“ Er verdrehte leicht genervt die Augen.

„Nicht alle Katholiken sind so.“ Betti war katholisch und lebte trotzdem nicht hinterm Mond, genauso wie ihre Familie. Nur ignorierten das viele Leute und behaupteten automatisch, alle Katholiken hingen geistig noch irgendwo im Mittelalter ab, das ging mir ziemlich auf den Geist, obwohl ich nicht mal getauft war und mich für Religionen eigentlich nicht so sehr interessierte.

„Hab ich auch gar nicht gemeint“, beschwichtigt Kai mich sofort, weil er wohl befürchtet, wir könnten bei unserem ersten richtigen Gespräch gleich in eine stundenlange Debatte über Themen geraten, über die man nicht einmal mit Bekannten unbedingt streiten sollte.

„Ich wollte es nur sagen. Also meine Familie ist wahrscheinlich ungefähr so religiös wie unsere Nachbarskatze und du darfst mich auch nicht Chrissy nennen, das finde ich genauso schrecklich“, versuchte ich etwas ungeschickt auf das vorherige Thema zurückzukehren.

„Dann überleg ich mir einfach einen Namen für dich. Wie wärs mit... Chrima?“

Mein versucht böser Blick brachte ihn eher zum Lachen statt zum Aufhören, meinen Namen auseinander zubauen und katastrophal wieder zusammenzusetzen.

„Scheint dir nicht so zu gefallen. Gefällt dir Machri besser?“

„Hör einfach auf damit und sag Christian zu mir, sonst ignoriere ich dich einfach“, erklärt ich ihm, obwohl mich das dumm Gefühl beschlich, dass man den Kerl nicht ignorieren konnte, wenn er damit nicht einverstanden war.

„Ich versuche, mich daran zu halten.“ Sein Gesichtsausdruck sprach zwar eine ganz andere Sprache – er würde mich jetzt erst recht Chris rufen –, aber selbst meine Geschwister hielten sich nicht an diese Regel, die ich selbst schon vor Jahren aufgestellt hatte.

„Soll ich dir dann ein bisschen die Gegend zeigen oder willst du lieber allein hier herumgurken?“, erkundigte sich Kai, während er ein wenig sein Skateboard mit dem Fuß vor- und zurückschob, was auf einer Wiese nicht so einwandfrei funktionierte.

„Kannst du machen, wenn du willst.“ Ich wollte mir nachher nicht anhören müssen, jemand zum Fremdenführer degradiert zu haben, aber zu zweit mit jemandem, der Ahnung hatte, war das doch besser als allein. Zum Schluss verlief ich mich vielleicht auf irgendeinem Weizenfeld oder fiel in einen kleinen Bach.

Tatsächlich verlief neben dem coolen Haus der Familie Herzbach eine extrem kleine Straße, die auf einen ebenfalls kleinen Marktplatz führte, wo es wirklich einen Bäcker gab, dafür kein Geschäft, nur noch drei oder vier Wohnhäuser. Vielleicht waren es auch Ferienhäuser, so genau fragte ich nicht nach.

„Und sonst? Gibt’s hier wirklich nicht mehr?“ Irgendwie konnte ich mir das schlecht vorstellen.

„Nein, leider nicht. Hier wohnen so wenige Leute, da rentiert sich das alles gar nicht. Hier hält nicht mal der Schulbus, so unbedeutend sind wir.“ Ich merkte Kai an, dass diese Abgeschiedenheit ihm gar nicht gefiel. Musste aber auch ätzend sein, hier sozusagen festzuhocken, ohne Auto lief hier wirklich nichts.

Etwas mehr hatte ich mir da schon erhofft, nicht gleich ein riesiges Programm, aber wenigstens einen Eisladen durfte man erwarten, oder?

„Wenn man die Straße, wo wir vorhin waren, weitergehen, kommt man irgendwann zu einem See, da kann man baden, aber die richtigen Sachen sind erst in Burgheim und das ist mit dem Auto zwanzig Minuten von hier entfernt. Sorry, aber wirklich viel außer chillen und Kühe ansehen kann man hier nicht unbedingt machen.“

„Wie lang braucht man bis zum See?“

„Nicht lange, zu Fuß höchstens eine halbe Stunde.“

Was verstand der Junge unter nicht lange? Allerdings musste man in Grünau wohl etwas anders denken als im Rest von Deutschland, wenn man so sehr am Arsch der Welt lebte.

„Mit dem Fahrrad sogar nur zehn.“ Kai hatte meine ungläubige Miene über seine Definition von Zeit erkannt, dem fiel aber auch alles auf. „Wenn du willst, können wir da hingehen, da ist um diese Uhrzeit zwar noch nicht so viel los, aber wenn aus zehn kleinen Käffern die Leute antanzen, wird das irgendwann voll, du wirst es merken.“

Das befürchtete ich auch, dabei mochte ich es eher, wenn man in Ruhe herumschwimmen konnte statt sich mit kleinen Kindern und frechen Senioren um die besten Orte zum Tauchen schlagen zu müssen.

„Können wir machen, ich frag meine Großeltern vorher noch.“ Nicht dass ich jetzt drei Stunden mit Kai verschwand und sie sich unnötig Sorgen machten, das musste nicht sein. Nicht im Urlaub.

„Okay, ich hol dich in einer Viertelstunde bei dir ab. Kannst du skaten?“

„Nicht so besonders gut.“ Dass ich mich dabei immer ungewollt auf die Fresse legte, verschwieg ich lieber. Zum Schluss lachte er mich noch aus und das mochte ich gar nicht.

„Dann nimmst du einfach mein Fahrrad oder kannst du kein Fahrrad fahren?“

„Klar kann ich das.“ Stellte er denn alles von mir in Frage? Sah ich so aus, als wäre ich unfähig, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen? Hoffentlich nicht, sonst drehte er mir am See noch Schwimmflügelchen an.

Eilig flitze ich zu unserer Wohnung, klingelte meine Großeltern aus ihrem Mittagsschläfchen, informierte sie über meine weiteren Pläne für den Tag und begann zu packen. Meine ziemlich unstylische Badehose – meine Mutter hatte sie mir gekauft, das erklärte alles –, Handtuch mit Blümchenmuster – ebenfalls nicht mein Werk –, Sonnencreme, Essen, damit ich dort nicht verhungerte und vorsichtshalber meinen Discman, falls Kai sich dazu entschied, mir das Ohr abzukauen. Reden war zwar schön und gut, aber irgendwann reichte es auch mir, obwohl mich meine männlichen Klassenkameraden gerne als Labertasche bezeichneten, dabei quasselte ich deutlich weniger als gewisse weibliche Wesen an dem Plätzen in der Schule um mich herum.

Meinen Großeltern machte es nicht aus, dass ich den ersten Tag ohne sie verbrachte, da sie sich sowieso erst einmal ausruhen wollte und sie es freute, dass ich gleich jemanden gefunden hatte, mit dem ich Zeit verbringen konnte, falls ich mal keine Lust auf sie hatte und Abwechslung brauchte.

Überpünktlich klopfte Kai gegen die Terrassentür, was mich auch nicht unbedingt dazu brachte, meine Glas Apfelsaft schneller zu trinken. Es war mir schon einmal passiert, dass ich mich vom zu schnellen Trinken übergeben hatte und das musste ich nicht noch einmal wiederholen, vor allem nicht vor Kai.

Chillen für Fortgeschrittene

Besonders geheuer war mir Kais Fahrrad nicht, dafür machte es eindeutig zu seltsame Geräusche, als ich mich darauf schwang und wartete, dass Kai sich mit seinem Skateboard in Bewegung setzte, damit ich ihm folgen konnte.

„Klingt das immer so?“, wollte ich mich vorsichtshalber vergewissern, weil das Quietschen einfach nervte und mir der Vergleich mit einer Tür aus einem Horrorfilm in den Sinn kam.

„Als würde es gleich zusammenbrechen? Ja, das ist normal. Eigentlich hätte mein Bruder sich mal darum kümmern sollen, er kennt sich damit aus, aber er ist zu faul dafür und meint, solange es fährt, ist alles andere egal.“

Toller Bruder, so etwas durfte ich mir nicht leisten, sonst war das Geschrei darüber groß.

„Hast du eigentlich Geschwister?“, quetschte mich Kai gleich passend zum Thema aus und hängte sich ganz frech einfach an meinen Gepäckträger. Oder eher an seinen, das Rad gehörte immer noch ihm, ich durfte es ja nur netterweise ausleihen.

„Ja, zwei kleine Schwester. Neun und dreizehn, wunderbares Alter.“

„Herzliches Beileid. Mein Bruder ist zum Glück schon achtzehn, aber manchmal nervt er auch ziemlich. Haben deine Schwestern auch so tolle Namen wie du?“

Sollte das gerade ein Angriff auf meine kreativen Eltern sein? Und wenn schon, er hatte ja irgendwie recht, obwohl Kai auch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei war.

„Sie heißen Sina Franziska und Tamara Carola.“

„Ich dachte, du hättest zwei und nicht vier Schwestern“, wunderte sich Kai und berührte mit seinem Board den Hinterreifen des Rads, sodass ich uns fast in den Straßengraben manövrierte.

„Hab ich auch, aber meine Eltern fanden, jedes Kind hat ein Recht auf einen dummen Zweitnamen, das ist sozusagen Familientradition.“ Und zwar eine ziemlich idiotische, die ich, sobald ich Kinder hätte, sofort brechen würde, nur um meine Familie zu schockieren.

„Na dann, kannst ja schon mal Namen für deine Töchter ausdenken“, stichelte Kai und beschwerte sich lautstark, als ich aus Rache ohne Vorwarnung bremste und er fast in mich hinein krachte. Er hatte es nicht anders verdient.

„Willst du keine Kinder oder wofür war das jetzt?“

„Fürs Dummschwätzen.“ Hoffentlich merkte er, dass das nicht ganz ernst gemeint war, auf einen eingeschnappten Typ hätte ich jetzt wirklich keine Lust. „Und dafür, dass du mich vorhin fast mit deinem Rollding umgefahren hättest.“

„Oh, armer kleiner Chrissy, du tust mir so leid!“

Ich wusste es doch, dass sich Herr Skateboardmännchen nicht an die Regel hielt, hätte ich ihn bloß nicht auf die Idee gebracht, mich damit vielleicht ärgern zu können.

„Mein Bruder und ich haben zum Glück ganz normale Namen.“

Fand er. Manche Leute empfanden Kai nicht einmal als eigenständigen Namen, also sollte er sich da nicht so aufspielen. Vielleicht wollte er mich dadurch auch nur ärgern, er schien nicht so unbedingt der böse Nachbarsjunge zu sein, der versucht die Menschheit zu 'dissen'.

„Wie heißt er denn? Jan? Sven? Max?“ Sicher auch irgendetwas Einsilbiges, damit sich hier keiner benachteiligt fühlte, weil der Name zu viel Stil besaß.

„Gregor.“

Ich musste lachen und kippte dabei zum zweiten Mal beinahe um. Über Geschmack ließ sich ja wirklich streiten, aber sich über meinen Namen aufregen und dann mit so etwas ankommen. So hieß mein Ururonkel, aber kein lebender Jugendlicher!

In Grünau tickten die Uhren definitiv anders als im Rest Deutschland, ein Wunder, dass es hier Strom und fließendes Wasser gab.

„Aber eigentlich nennen wir ihn alle nur Greg, kannst auch machen, falls du ihm über den Weg läufst.“

Darauf konnte er sich verlassen. Nur musste ich erst einmal wissen, ob es Kais Bruder war, der vor mir stand und nicht sonst jemand.

„Noch irgendwelche Diskussionen über Namen?“ Als nächstes debattierten wir die Vor- und Nachteile von Ganztagsschule und die Auswirkungen des Klimawandels. Ich wollte Urlaub, verdammt noch mal, also auch Gesprächsstoff auf dem Niveau einer durchschnittlichen deutschen Talkshow.

„Nein, nicht nötig. Jetzt links abbiegen, sonst landen wir im nächsten Maisfeld.“

Gut, dass er mich vorher gewarnt hatte, sonst hätte ich ihm vorne an das Rad gebunden, damit er Navi spielen konnte und nicht vom am Gepäckträger hängen abgelenkt wurde.

Ohne weitere Zwischenfälle erreichten wir den See und verteilten unsere Taschen samt Inhalt gleich auf der kleinen Wiese daneben im Schatten. Bis jetzt waren wir fast allein, nur zwei Mädchen lagen auf der anderen Seite des Sees auf ihren Handtüchern und ließen sich brutzeln.

„Habt ihr bei euch auch einen See?“ Kai entfernte einige kleine Ästchen unter seinem Handtuch und zog sein T-Shirt aus.

„Ja, aber erstens ist der im Sommer immer überfüllt und der Eintritt kostet Geld, obwohl die sich nicht mal die Mühe machen, dort Mülleimer aufzustellen.“ Eins der vielen Dinge, die mich an unserer Stadt störten.

„Was für Deppen.“ Vorsichtig begann Kai sich mit seiner Sonnenmilch einzucremen. „Auf die Idee würde hier keiner kommen, weil der See eigentlich allen gehört.“ Angestrengt versuchte er, mit der rechten Hand das weiße Zeug auf seinem Rücken zu verteilen, ohne sich dabei die Schulter auszurenken. „Scheiße! Ich komm nicht dran. Kannst du mir vielleicht helfen?“

Da mir kein guter Grund einfiel, ihm diese Bitte nicht zu erfüllen und er mir außerdem dann ebenfalls helfen könnte, nickte ich zustimmend, setzte mich hinter Kai und verrieb die Sonnenmilch auf seinem Rücken. Die Sonnenbadmädchen warfen uns einige schräge Blicke zu, aber da ich selbst wusste, dass Kai ansonsten eine neue Hautfarbe bekam, hörte ich nicht auf. Typisch Leute vom Land, mussten immer glotzen, als wäre man ein Alien.

Na gut, vielleicht taten das nicht alle, aber viele.

„Danke.“ Kai drehte sich zu mir um, grinste mich dankbar an und schien auf etwas zu warten. „Soll ich oder bekommst du das allein hin?“

„Sehe ich so aus?“ Bianka hätte es vielleicht geschafft, aber ich sicher nicht.

Seine Hände auf meiner nackten Haut fühlten sich seltsam an, viel rauer als die von Bianka, aber nicht so unangenehm, dass ich am liebsten geflohen wäre und die zwei auf den Handtüchern um Hilfe gebeten hätte. So verklemmt war ich dann doch nicht.

„Hast du eine Freundin?“

„Noch.“

„Aber?“

„Läuft nicht gut.“

„Und deswegen hast du dir hier eine Auszeit genommen?“ Kais Hände wanderten von meinen Schulterblättern zu meiner Wirbelsäule und wieder zurück.

„Auch, mich hat zuhause eigentlich alles angekotzt.“

„Deshalb hast du deine Großeltern gefragt, ob sie mit dir in Urlaub fahren?“

„Nein, sie haben mich gefragt, ob ich mitfahren möchte und das kam mir ziemlich gelegen.“

„Und woran liegt es?“

„Was? Mein Problem mir Bianka? Wird das jetzt Doktor Sommer auf höherem Niveau?“

„Tut mir leid, ich dachte, ich kann dir vielleicht helfen, aber wenn du nicht darüber reden willst, lassen wir es einfach und diskutieren lieber über die katholische Kirche weiter.“

„Nein, ist schon gut, aber meisten, wenn mir jemand helfen will, endet es damit, dass ich mich dauernd dumme Vorträge anhören muss, deswegen. Antrainierte Reaktion sozusagen.“ Obwohl ich ja irgendwie bezweifelte, dass jemand, der mich seit gerade mal einer halben Stunde kannte, mein kompliziertes Liebesleben anhören und dann dazu auch noch Stellung beziehen wollte.

„Ach so, kann ich verstehen.“ Kai beendete seine Tätigkeit und ging auch nicht mehr näher auf das Thema Bianka ein, weil er wohl annahm, dass ich da sowieso nicht mehr die Klappe aufbekommen hätte.

Die nächste Viertelstunde lagen wir herum, knabberten ein paar Salzstangen, die Kai aus der Vorratskammer zuhause hatte mitgehen lassen und warteten, dass die Sonnenmilch eingezogen war, ansonsten hätten wir uns die ganze Prozedur auch sparen können.

Kai konnte es kaum abwarten, endlich ins Wasser zu kommen, jedenfalls nahm ich das an, da er ungeduldig an seinen Salzstangen das Salz abkratzte und es quer über die Wiese schnipste. Vielleicht mochte er auch einfach das Salz nicht, ich kannte ihn ja noch nicht gut genug, um das beurteilen zu können.

Keinen drei Minuten später zog mich Kai auch schon mit an den Rand des Sees und ließ es sich nicht nehmen, mich ohne Vorwarnung hineinzuschubsen. Ich rächte mich, indem ich ihn einfach am Bein packte und ihn ruckartig aus dem Gleichgewicht brachte, sodass er ebenfalls schlagartig Bekanntschaft mit dem kühlen Wasser machte. Im Gegensatz zu mir schien ihm das gar nicht so viel auszumachen, plötzlich im Nassen zu sitzen, aber vielleicht war er es gewöhnt, öfter von gemeingefährlichen Bekannten in eine solche Lage gebracht zu werden.

Aus diversen Gründen ging ich nicht oft schwimmen, einerseits wegen der Abzocke in unserer sozialen Stadt, andererseits gehörte schwimmen nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich fand es nicht scheiße, aber auch nicht supertoll, es landete eher im Bereich 'kann man mal machen, aber auch lassen'.

Die Sonnenbadfraktion hatte sich in der Zwischenzeit aus dem Staub gemacht, sodass wir einigermaßen unsere Ruhe hatten und nicht mehr permanent beobachtet wurden, weil man ja irgendwelche seltsamen Dinge verpassen konnte. Manche Mädchen auf diesem Planeten würde ich wohl nie verstehen.

Mit viel Nachdruck animierte mich Kai zu einem Wettschwimmen, was er klar gewann, weil ich einfach nicht die nötige Ausdauer im Unterschied zu ihm besaß. Der Junge schien wirklich etwas sehr aktiv zu sein, er konnte im Wasser kaum eine Minute still stehen bleiben und scheuchte mich quer von eine auf die andere Seite des Sees, um angeblich zu testen, ob man wirklich nicht mehr aus mir herausholen konnte.

Warum ließ ich das eigentlich mit mir machen? Ich konnte einfach streiken und Kekse essen gehen und ihn zwingen, sich etwas zu beruhigen, da ich heute noch gar keine richtige Erholung von der Autofahrt, dem Ausräumen und dem Fahrradfahren gehabt hatte. Schwache Argumente, sogar für mich klangen sie billig.

Außerdem würde ich das sowieso nicht tun, weder die Aufzählung der Tätigkeiten noch das ungefragte Kekse essen.

Nach geschätzten zehn Minuten – im Nachhinein stellte ich fest, dass es fast zwei Stunden waren – fand auch Kai, dass es an der Zeit war, sich langsam mal auf den Rückweg zu machen, bevor irgendjemand von seinen Eltern oder meinen Großeltern dachte, wir wären im See verschollen gegangen. Außerdem bemerkte er wohl, wie ich krampfhaft versuchte, Energie zu sparen und ihm nicht zu deutlich zu zeigen, dass ich ziemlich am Ende war. Ich sollte zuhause wirklich mal mehr Sport machen als den idiotischen Schulsport und das bisschen Pseudofußball, das ich öfter mit Betti oder auch Sina spielte.

„Bist du kaputt?“, erkundigte sich Kai und hielt mir zurück an unserem Platz eine Packung Bonbons unter die Nase.

„Etwas“, räumte ich ein und verschleierte schnell ein Gähnen, indem ich mir eins der Bonbons in den Mund steckte. Schmeckte nach Kirsche, konnte mir nur recht sein. „Also komm bitte nicht au die Idee, jetzt noch eine Fahrradtour mit mir zumachen.“

„Guter Vorschlag... nein, mach ich nicht, ich will ja nicht, dass du mein Fahrrad demolierst, wenn du in den nächsten Baum fährst.“

Was eigentlich gar kein so schlechter Plan war, aber nachher müsste ich für das Rad Kohle zahlen und die gab ich dann doch lieber für andere Dinge aus.

„Mann, ich bin echt froh, dass endlich noch jemand hier ist, der den Altersdurchschnitt etwas senkt. Außer Greg und mir leben hier wirklich fast nur Leute zwischen sechzig und nicht mehr messbar und die Feriengäste sind entweder genau in demselben Alter oder Familien mit Kindern unter zehn Jahren.“

Das musste aber wirklich bescheuert sein, niemanden direkt vor der Haustür zu haben, der überhaupt im selben Jahrzehnt geboren worden war.

„Dann ist es ja gut, dass ich hier bin.“ Vielleicht war er deshalb so daran interessiert, etwas mit mir zu unternehmen: Weil sonst einfach keine Sau da war. Oder sie wohnten so weit entfernt, dass es sich gar nicht rentierte, mit dem Skateboard von hier nach dort zu kurven.

„Wie alt bist du eigentlich?“ Vom Aussehen hier schätze ich ihn auf ungefähr siebzehn, vom Verhalten etwas darunter, aber so genau wollte ich mich da nicht festlegen. ich kannte Typen, die sahen mit dreizehn aus wie achtzehn und umgekehrt.

„Rate“, lautete die geistreiche Antwort, die ich fast schon befürchtet hatte. Wieso konnten machen Leute nicht einfach ihr Alter zugeben, ohne gleich eine Quizshow dadurch zu veranstalten.

„Hm...“ Bloß nichts Falsches sagen. „Siebzehn?“ Lieber etwas mehr als zu wenig, sonst fühlten sie die meisten in ihrem Ego gekränkt. Zumindest, wenn sie unter dreißig waren.

„Noch nicht.“ Mit deutlichem Krachen biss er auf seinem Bonbon herum. „Bin vor einem Monat erst sechzehn geworden.“

„Okay.“ Vielleicht machte das ganze schwarz ihn einfach ein bisschen älter oder es lag daran, dass er einige Zentimeter größer als ich war. Da streikte auch mal der Sinn zum richtig schätzen.

„Und du bist... fünfzehn.“

Nein! Nicht noch so einer, was hatte ich denn verbrochen, um dauernd auf Niveau von Mittelstufenkindern geschätzt zu werden? Wenn das immer noch so weiter ging, wenn ich mein Abitur hätte, würde ich mit einem Schild um den Hals herumlaufen und jeden, der etwas falsches sagte, um zehn Euro erleichtern.

„Ich werde nächstes Jahr achtzehn.“ Stand zumindest in meiner Geburtsurkunde und die musste es wissen.

„Naja, knapp daneben ist auch vorbei.“ Kai ließ sich davon nicht abschrecken, wahrscheinlich war es mir peinlicher als ihm, was bei dieser Fragerunde herausgekommen war. „Willst du noch eins?“

Und noch ein Kirschbonbon wurde von mir umgebracht.

Aus Rücksicht auf mich blieben wir noch über eine halbe Stunde auf unsere Handtüchern liegen, ließen uns von der Sonne anbraten, verscheuchten komische Käfer von unserem Essen und sahen zu, wie immer mehr Menschen sich um den See und auch in unserer Nähe breit machten.

Währenddessen quetschte Kai mich weiter über mein langweiliges Leben aus. Zwar verstand ich nicht, was es ihm brachte, wenn er wusste, dass ich gerne Bananen und Nudelauflauf aß, Jungs mit rosa oder lila Klamotten am liebsten mal zu einem Styleberater geschickt hätte, die Supernanny am liebsten aus dem deutschen Fernsehprogramm gestrichen hätte und kein Haustier außer dem üblichen Kleintieren, die gerne unerlaubt ins Haus krabbelten, hatte. Allerdings standen diese Fakten nicht unter Datenschutz, also erzählte ich sie ihm bereitwillig.

Im Gegenzug erfuhr ich auch einiges über ihn, angefangen von seiner Abneigung gegen Harry Potter in jeder Form, egal ob Film, Buch oder Hörbuch, über seinen Wunsch nach einem Führerschein und natürlich auch einem eigenen Auto – wenn man mit dem Fahrrad zur Schule eine halbe Stunde brauchte und die Busverbindung für die Tonne war, konnte ich das verstehen – bis hin zu der Tatsache, dass der Junge intelligenter war als er auf den ersten Blick den Eindruck machte.

Außer, er hatte geschummelt, als er die dritte Klasse übersprungen hatte und schrieb immer bei seinen Klassenkameraden ab, um in der elften Klasse keine Arbeit unter elf Punkten gehabt zu haben, denn laut eigenen Aussagen lernte er so gut wie nie, sondern turnte lieber draußen rum und machte mit seinem Skateboard die Gegend unsicher.

Warum konnte das nicht auch bei mir so sein, da hätte ich mehr Zeit, mir Filme anzusehen und mir eine eigene Meinung darüber zu bilden.

Wahrscheinlich wären wir noch länger in unser Gespräch – oder Verhör – vertieft gewesen, das langsam den Fokus auf Schule insgesamt einlegte, als irgendjemand nicht aufpasste, seinen blöden Ball nicht festhielt und mir das Ding fast auf die Hand knallte. Genervt sah ich mich um; der Übeltäter war ein Mädchen im Fastteeniealter, die mich ansah, als wäre ich allein daran schuld, dass ihr Ball sich diese Richtung ausgesucht hätte, um zu landen. Natürlich konnte es auch sein, dass sie Kai so böse versuchte, in Grund und Boden zu sehen, jedenfalls fand ich es alles andere als höflich und bewegte auch keinen Finger, damit der Ball zurück zu seiner Besitzerin kam.

Kai übernahm das stattdessen, lächelte dem Mädchen zu und erhielt nicht einmal ein Dankeschön, als sie mit ihrem Mörderobjekt zurück zu ihrer Gruppe Freundinnen verschwand.

„Sind die hier alle so nett?“, fragte ich skeptisch mit einem Kopfnicken in Richtung Mädchen mit Ball. „Oder hab ich etwas verpasst?“

„Es sind nicht alle so“; wich Kai aus. „Sie und ich, wir kennen uns sozusagen und... naja, ist ja auch egal. Freunde werden wir nie sein können.“

Zwar interessierte es mich schon, was Kai mit jemandem zu schaffen hatte, der ungefähr in Tamaras Alter war, aber so wie er auf meine vorige Frage reagiert hatte, versuchte ich ihn erst gar nicht dazu zu bringen, mir etwas zu erzählen.

Nun schien es Kai ziemlich eilig zu haben, hier wegzukommen und da ich nicht allein zwischen unfreundlichen Mädchen und andere mir unbekannten Leuten herumliegen wollte, schloss ich mich ihm an.

Auf dem Rückweg verhielt sich Kai fast schon verdächtig still, denn er kommentierte nur einige Male meinen nicht berauschenden Fahrstil auf seinem Rad und konzentrierte sich ansonsten voll und ganz auf sein Board und die Straße.

Vor dem wunderbar blauen Haus übergab ich ihm sein Fahrrad und lief den Rest zu Fuß, so weit war es schließlich nicht. Außerdem musste Kai so nicht noch einmal hin und her laufen, um Skateboard und Fahrrad zu verstauen, da beides gleichzeitig nicht so optimal zu transportieren ging.

Meine Großeltern hatten ihre Chillstunde beendet und warteten eigentlich nur noch, dass ich endlich aufkreuzte, damit wir zusammen einkaufen gehen konnte. Am liebsten hätte ich mich darum gedrückt und stattdessen in meinem Zimmer eine Runde gepennt, aber da sie unbedingt wollten, dass ich entschied, was es in den nächsten Tagen zu essen gab – es reichte schließlich, dass man das nicht zuhause mitbestimmen durfte –, musste ich wohl oder übel mit, obwohl ich heute schon genug von Autofahren hatte.

Die fünf Kilometer, von denen im Katalog die Rede gewesen waren, dehnten sich auf ungefähr zwanzig, was ich ziemlich unverschämt fand, immerhin wurden so die Feriengäste abgezogen. Irgendwie zumindest. Zum Glück befand sich wenigstens der Supermarkt am Anfang des Ortes, der mindestens drei- oder viermal so groß wie Grünau sein musste, was wirklich keine Kunst war.

Die Auswahl dort an Lebensmittel wirkte ziemlich beschränkt, aber wir würden es überleben, zur Not hatte ich noch meinen Vorrat an Kaugummi, mit dem ich die restlichen Tage überstehen konnte. Oder ich quartierte mich heimlich bei Kai ein und plünderte seiner Familie den Kühlschrank.

Meine Großeltern ließen es sich nicht nehmen, noch einmal ein bisschen in Burgheim oder wie Grünau in Groß sich nannte herumzuspazieren, auf der Rückfahrt verfuhren wir uns auch noch und so kamen wir erst um kurz nach fünf wieder in der Ferienwohnung an, sodass es sich nicht mehr lohnte, heute noch irgendwo hinzufahren.

„Ihr ward aber lange weg“, wunderte sich Kai, der uns zusah, wie wir die Einkäufe in die Wohnung trugen. „Was habt ihr denn gemacht?“

„Eingekauft, mehr eigentlich nicht.“ Für mehr hätte ich heute sicher auch keine Lust mehr gehabt.

„Und was macht ihr heute Abend?“

„Schlafen?“ Oder auf was wollte er hinaus?

„Und davor?“

„Weiß nicht, essen, ausruhen und dann schlafen.“ Glaubt er, wir veranstalteten heute Abend eine Party, auf die wir ihn extra nicht einluden?

„Dann hast du heute Abend theoretisch Zeit?“

Konnte Kai auch direkt sagen, auf was er hinaus wollte oder endete es wieder damit, dass ich raten durfte, bis er zufrieden war? „Ja, hab ich. Wieso? Hast du irgendetwas geplant?“

„Wir könnten uns zusammen einen Film ansehen, wenn du willst.“

Warum sagte er das nicht gleich? Wenn es um Filme ging, sagte ich nur in ganz seltenen Fällen nein und das meistens, wenn ich schon vorher wusste, dass ich den Film scheiße fand. Oder scheiße finden würde, was dann auch meistens eintrat.
 

Um sieben stand ich vor Kais Haustür und betete, dass er nicht zu den Typen gehörte, die pseudospannende Actionfilme mit dummdämlichen Sprüchen der Hauptcharaktere sammelten. Davor gruselte es mich ungefähr genauso wie vor diesen alle gleich ablaufenden Filmen für weibliche Teenies, in denen entweder, gesungen, getanzt oder beides gleichzeitig wurde.

Ansonsten würde ich wohl schnell Reißaus nehmen müssen, um mich nicht genervt mit anderen Dingen zu beschäftigen, wie zum Beispiel das Zählen der im Zimmer hängenden Poster oder das Nachfahren des Musters der Bettwäsche. Das hatte ich alles bei meiner dritten Freundin schon getan und eine Woche später hatten wir uns auch getrennt.

Nach dem dritten Klingeln wurde mir auch endlich von Kai die Tür geöffnet und er verfrachtete mich in sein Zimmer auf das ungemachte Bett. Insgesamt sah es hier aus, als hätte zumindest eine kleine Bombe eingeschlagen oder jemand Schwierigkeiten, dauerhaft Ordnung zu halten. Nicht, dass mich das störte, ich mochte chaotische Zimmer, in denen man das Gefühl hatte, dass auch tatsächlich jemand darin lebte, aber hier flog so ziemlich alles herum und zwar nicht nur auf dem Bett oder dem Schreibtisch.

Kai verschwand noch einmal kurz, um sich noch von seinem Bruder DVDs zu klauen, da er seine Auswahl ziemlich winzig fand, sodass ich mich etwas genauer umsah.

Die Poster über dem Bett und an der Tür zeigten überdurchschnittlich oft Orlando Bloom, gefolgt von irgendwelchen Bands, die mir auf Anhieb gar nichts sagten.

Auf Orli war ich nicht besonders gut zu sprechen, weil eine meiner Exfreundinnen – welche es gewesen war, wusste ich nicht mehr genau – jeden Tag pausenlos von ihm geschwätzt hatte, wie toll und gutaussehend und talentiert und noch mehr er war, sodass ich mir nur als Ersatz vorgekommen war, weil Orlando Blümchen für sie unerreichbar war. Seitdem mochte ich den Kerl nicht mehr.

Im Regal neben dem Schreibtisch standen ein paar Bücher; hauptsächlich kam im Titel irgendetwas mit 'Vampir' vor oder der Buchrücken deutete darauf hin, dass diese Viecher eine Rolle darin spielten. Ich hatte ja mit viel gerechnet, von gar keinem Buch bis Sachbücher über Chemie, aber das kam dann doch etwas unerwartet.

Auf dem Schreibtisch lagen auch noch ein paar Exemplare, dieses Mal zwei Bücher von Anthony Horowitz und eins, was mich unwillkürlich grinsen ließ.

Dass meine Freundin so etwas las, verstand ich ja, Mädchen suchten schließlich ununterbrochen nach ihrem perfekten Traumprinzen für die Ewigkeit, der ungefähr so leicht zu bekommen war wie der Weltfrieden, aber dass Kai sich damit befasste, war einfach nur schräg. Vampirfan hin oder her, aber die Bissreihe genoss man als Junge doch mit Vorsicht, sonst bekam man im Nachhinein Komplexe, weil man den Vampiren dort in tausend Jahren nicht das Wasser reichen konnte.

„Was machst du da?“ Mit drei weiteren DVDs in der Hand näherte sich Kai mir.

„Du liest dieses Twilightzeugs?“

„Ähm... das hat meine Mutter sicher hier liegen gelassen, die liest das gerne“, behauptete Kai schnell, zerrte mir das Buch aus der Hand und setzte es draußen vor die Zimmertür.

Ja nee, war klar, deswegen hatte ich das Buch auch hier in seinem Zimmer gefunden. Alle Beweise sprachen gegen ihn, aber wenn es ihm so peinlich war, zuzugeben, der Besitzer dieses Buchs zu sein...

In einer Ecke raschelte es leise und Kai fluchte leise vor sich hin. Hatten die Mäuse im Haus oder was verursachte dieses Geräusch?

Die Antwort lautete nicht Maus, sondern Hamster, der im Moment in seinem Käfig herumflitzte und dadurch Krach machte.

„Ich hab ganz vergessen, ihm etwas zu essen zu geben, deswegen nervt er jetzt“; erklärte Kai uns schüttete eine Hand voll Körner in den kleinen Napf. „Komm, Findus, friss.“

Das ließ sich der kleine, hellgraue Hamster nicht zweimal sagen, sondern begann gleich zu fressen. Interessiert sah ich ihm dabei zu. Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich auch immer einen Hamster haben wollen, aber natürlich hatte meine Mutter etwas dagegen gehabt. Erstens wäre das Saubermachen des Käfigs wieder an ihr hängen geblieben, zweitens stand der Hamster erst dann auf, wenn ich schon ins Bett gehen sollte und drittens befürchtete sie, dass der Hamster nicht sehr lange lebte und ich dann am Boden zerstört wäre und das ganze Spiel von vorne begann.

Kai zwickte mir in die Seite und erschrocken fuhr ich auf. „Ich dachte, wir wollten einen Film sehen und keine live Tierdoku.“

„Ist ja gut.“ Man durfte ja wohl mal einen Hamster ansehen. Schnell schnappte ich mir die zur Auswahl stehenden DVDs und entschied mich für Sleepy hollow, den ich schon vor Ewigkeiten mal hatte ansehen wollte, aber nie dazu gekommen war.

Ich setzte mich zurück auf Kais Bett, machte mich dort extrem breit und wartete, dass Kai seinen kleinen Kampf mit dem DVD-Player gewann. Aus gutem Grund mochte ich die moderne Technik nicht.

„Blödes Ding“; murmelte Kai leise, als der Player endlich die DVD annahm. „Zu Weihnachten will ich einen neuen. Brauchst du Licht oder soll ich den Rollo runtermachen?“

„Mach zu.“ Sonst kam einfach kein Kinofeeling auf, wenn man im Halbdunkeln hockte oder wenn sogar die Sonne einem direkt ins Gesicht schien, was zum Glück nicht der Fall war.

Schon nach fünf Minuten bereute ich diese Entscheidung: Müde im Dunkeln auf einem ziemlich gemütlichen Bett zu liegen – Kai hatte sich auf seinem Teppich gelegt – hatte nicht unbedingt zur Folge, dass man sich besonders gut auf den Film konzentrierte. Im Gegenteil, ich musste mich richtig zwingen, mir nicht die Decke über den Kopf zu ziehen und kompromisslos einzuschlafen. Das kam dann doch etwas sehr dreist, als wäre mir das Bett im Ferienhaus zu unbequem, sodass ich mir Kais unter den Nagel riss.
 

Etwas tippte mir so lange auf die Schulter, bis ich ungnädig die Augen öffnete und mich gleich beschweren wollte, warum ich jetzt schon aufstehen sollte, bis mir einfiel, wo genau ich mich befand.

„Scheiße!“ Hastig setzte ich mich auf und wäre am liebsten im Boden versunken, obwohl Kai nicht so aussah, als nahm er es mir sehr übel, dass ich vom Film ungefähr fünf Prozent mitbekommen hatte.

„Muss ja echt langweilig für dich gewesen sein“, stichelte er frech. „Du hättest vielleicht doch lieber Findus zusehen sollen, wie er sein Wasser trinkt.

Dazu sagte ich nichts. „Wie viel Uhr ist es?“

„Kurz nach neun.“ Im Hintergrund hörte ich passend dazu den Hamster lärmen.

„Okay, dann geh ich mal lieber.“ Nicht, dass ich noch einmal Kai vor der Nase wegpennte. „Sonst machen sich meine Großeltern Sorgen.“ Was ich eigentlich weniger vermutete, da ich sie vorgewarnt hatte, es könnte spät werden.

Darüber schien Kai nicht so begeistert zu sein, aber er sah wohl ein, dass man mit mir heute nicht mehr so viel anfangen könnte.

„Wenn du morgen Zeit hast, kannst du ja vorbei kommen“, bot er mir natürlich noch schnell an.

„Kann ich machen.“ Solange wir nicht wieder abends Filme sahen, bei denen ich einschlief, hatte ich nichts dagegen.

Ich verabschiedete mich von Kai und auch von Findus, verließ mit ein paar Schwierigkeiten das Haus – zuerst fand ich die Haustür nicht und stand plötzlich in der Abstellkammer – und klopfte gegen die Terrassentür, bis meine Großeltern mich hörten und mir aufmachten.

„Ich geh pennen, Nacht!“, informierte ich sie, bevor sie auch nur fragen konnte, ob ich vielleicht wieder Hunger hatte oder wie es bei Kai gewesen war und schlüpfte an ihnen vorbei.

Gähnend schlurfte ich durch mein Zimmer, zerrte ein T-Shirt aus der Kommode, zog mich um und spielte einen Moment mit dem Gedanken, das Badezimmer großzügig zu umgehen, aber das wollte ich meinen Zähnen nicht antun.

Keine drei Minuten später lag ich in meinem riesigen Bett, hatte mich in die Decke vergraben und schlief endlich – und zwar im richtigen Bett.



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Von:  Erdbeermarmelade771
2010-02-23T17:40:00+00:00 23.02.2010 18:40
die sind schon cool xD
ich mag deine FF!
aber kai tut mir echt leid mit dem kaff...=/ *kai pat*
ich hoffe du findest schnell zeit zum weiter schreiben ;)
würde mich freuen wenn du mir vielleicht eine ENS schucken könntest wegen dem neuen kapi =D
liebe grüße~
Von:  Inan
2010-02-21T12:11:34+00:00 21.02.2010 13:11
Kai ist süß~
Und dass er nicht sauer war, als Chris auf seinem Bett eingepennt ist, ist ne coole sache xD
tolliges Chap^^
Von:  Inan
2010-02-16T18:40:59+00:00 16.02.2010 19:40
Das Handtuch mit Blümchenmuster übertrifft alles xD
Aber hey, vielleicht schenkt Kai Chris(hehe xD) ja ein neues und bringt ihm gleich noch den Umgang mit dem Phänomen MP3-Player näher xDD
Tolliges Chap, freu mich schon aufs nächste~
Von: abgemeldet
2010-02-14T10:20:32+00:00 14.02.2010 11:20
Schöner Beginn, darauf kann man aufbauen :3
Freu mich schon auf das nächste Kapitel :DD
lg
Von: abgemeldet
2010-02-13T04:15:08+00:00 13.02.2010 05:15
Fängt ja schonmal interessant an :D
dein schreibstil ist echt gut
bin schon gespannt wo chris gelandet ist
hoffe es geht bald weiter
lg
nicicat
Von:  Inan
2010-01-20T21:33:05+00:00 20.01.2010 22:33
Haha! :D
Da sieht man mal, was man an all dem Großstadt zeug hat ne xD
Chris hat was, die story ist auch toll...
jaah...
also...find...ich gut würd ich sagen xD
krieg ich ne ens, wenns weitergeht?


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