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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Ganz ehrlich

Zwei Jahre nach seiner Einschulung fuhr eine Kutsche vor, und wir alle waren recht erstaunt, James so plötzlich wiederzusehen. Er fiel mir wortwörtlich in die Arme, nachdem ich ihm und zwei schlicht gekleideten Damen die Tür geöffnet hatte und sollte bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Das Scharlachfieber, welches sich für seine nicht geplante Rückkehr verantwortlich zeichnete, vernichtete die Erfüllung jeglicher Erwartungen, darüber erstaunt sein zu können, wie reif er doch geworden war, denn tatsächlich hatten die Klauen der Krankheit bereits alles Fleisch, das man ihm in der strikten Schule angeeignet hatte, um einen prächtigen Kerl aus dem zarten Jungen zu machen, wieder abgerissen. Lady Elizabeth blieb ausnahmsweise zuhause, um ihrem Sohn höchstpersönlich Walratpulver und viel Wasser zu verabreichen, und nach einigen Tagen hatte das Fieber zumindest so weit nachgelassen, dass es ihm schon wieder egal war. Nach der ersten Woche musste ich mich nur umdrehen, da war er schon halb aus der Tür, und damit ich mir auch einmal eine Pause von meinem Wachdienst gönnen durfte, um meinen menschlichen Bedürfnissen nachzukommen, stellte ich zum Beginn meiner nächsten Schicht eine Reihe an Aufgaben zusammen, die er zu lösen hatte. Er beugte sich über den Zettel wie ein vom Tun Besessener. Gerade war ich von meinem Ausflug zum sanitären Zimmerchen zurück, da trafen wir uns jedoch auf dem Flur vor seinen Räumlichkeiten wieder. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragte ich endlich mit leichter Resignation. „Auf die Schule?“

Er brauchte nicht zu verneinen, ich wusste seine Antwort trotzdem. Mit mehr Rücksicht auf seine Furcht vor Höhen denn vor seinem beinahe schon jugendlichen Alter schob ich ihn, statt zu heben, sanft zurück auf die erniedrigte Fläche von vier mal sechs Fuß frischem Bettzeug, seinen weichen Kerker für die übrigen Tage. Er überreichte mir den Aufgabenzettel zur Kontrolle. Dummerweise hatte ich nicht daran gedacht, mir die richtigen Antworten zu notieren, und die Übungen waren zu schwer, als dass eine Dienerin wie ich sie lösen könnte. Seine Rechnungen stellten mir eine Wand aus wie willkürlich platzierten Zahlen dar, aber es machte den Eindruck, korrekt zu sein. Zumindest hatte er nirgendwo etwas durchgestrichen, was auf mögliche Schwierigkeiten bei der Aufgabe hingewiesen hätte. „Wie gefällt Ihnen die Schule?“, fragte ich beschwingt. Wie ich bereits erwähnte, bedurfte es eigentlich keiner Antwort, doch ich hoffte, die Begründung zu erfahren, welche mir zuweilen ein größeres Rätsel war als alle mathematischen Rechnungen dieser Welt.

„Sie entspricht den Erwartungen“, sagte er nach kurzem Sinnieren. Es war eine jener Erwiderungen, die typisch für ihn waren, weil so ungenau, schon kryptisch. Sie legte sich nicht fest, wessen Erwartungen entsprochen wurden, und selbst dann, wenn es die eigenen waren, so blieb doch im Dunkeln, mit welchen Erwartungen er nach Norfolk gereist war. Mir, die ich vom Inhalt der Briefe seitens des Direktorats voreingenommen war, wirkte seine Antwort furchtbar traurig zu sein. „Erzähle d…en Sie doch“, bat ich ihn oder bot ich es ihm an, für eine Sekunde durch mein manchmal ärgerliches Mitgefühl nachlässig, doch er schwieg nur wieder wie der James, der uns vor zwei Jahren verlassen hatte, auf all diese Aufforderungen, die seiner Ansicht nach zu tief dringen wollten in die aufregende Biografie eines Neunjährigen. Doch eine Sache war anders. Wo ich es gewohnt war, sein Schweigen, wenn er den Blick abwandte oder den Kopf senkte und die Unterlippe schürzte, wohl oder übel hinzunehmen, drehte er sich, von plötzlichem Sittendrang gesteuert, mir wieder zu und brach die von ihm begonnene Stille, die zuvor niemals eine gewesen, weil sie seine Art war, sich in gewissen Situationen mitzuteilen, als wäre sie ihm zum ersten Mal peinlich – er lenkte ab: „Was ist mit meinem Vater?“

„Die anderen Naval Lords haben ihn vorübergehend außer Dienst gestellt. Sie verstehen, wegen der Sache mit seinem Arm ist er nun natürlich eingeschränkt.“ Die halbe Wahrheit stellte sich in diesem Fall als die simpelste Antwort heraus. Einmal war der beurlaubte Admiral Lawrence Norrington aus dem Nichts seines Labyrinths der äußeren Apathie aufgetaucht, hatte James angesehen, James hatte ihn angesehen, und war wieder verschwunden. Es hatte genügt, um den Jungen zu verwirren.

„Es gab schon viele einarmige Offiziere in der Kriegsgeschichte“, konterte er mit einem schwachen, aber präsenten Vorwurf, als vertrete ich in seinen Augen plötzlich die Meinung der Großadmirale. „Warum sollte mein Vater, ausgerechnet er sich nicht in ihre Reihe gliedern dürfen?“

Eine andere Antwort lag mir auf der Zunge, aber aufgrund seiner Wortwahl fiel mir etwas ein: „Ihr Vater wird sich niemals in eine Reihe gliedern. Er ist zu stolz, um einer von vielen zu sein.“

Unvermittelt machte er sich klein. Ich grübelte, was ihn so zusammengehen ließ. Erst nach einer weiteren Phase von Schweigen kam mir in den Sinn, dass er anscheinend sich selbst bezichtigte, seinen Vater für nicht ausreichend würdevoll gehalten zu haben, um selbst auf diese Idee zu kommen.

„Sie können sich vorstellen, dass es ihm schwer fällt, gar nichts zu tun. Doch die Zeit wird kommen, da wird er wieder in See stechen dürfen, und bis dahin wird sein Ärger längst verraucht und er wieder gesprächiger sein.“

Er nickte, doch ich ahnte, dass ihn die Angelegenheit weiter beschäftigte. „Darf ich Sie fragen, woher die Aufgaben sind?“

Irgendwie schien es mich zu bedrücken, weil er nicht angenommen hatte, dass sie eigens von mir erdacht sein könnten. „Aus den Büchern in der Bibliothek deines Vaters.“

„Sie können dort hinein?“ Die Frage funkelte förmlich vor verheimlichter Faszination. Ich sah ein Kind vor mir, das Wissen seit jeher aufgesogen hatte, ohne jemals ernsthaft neugierig zu wirken, ich sah es gedanklich ein Areal betreten, über das es nie ein Wort verloren hatte; einen Orpheus, der Chance gegenübergestellt, möglicherweise bald, endlich, jetzt vielleicht in die einen mahnenden Finger schwenkende Unterwelt hoher Regale zu gelangen, um dort Eurydike zu finden, die ihm wie unbegrenzt quellende Erfüllung seines verborgenen Sehnens, welche er eigentlich nicht anschauen durfte. Aber Kerberos wachte nicht mehr, und siedend heiß leuchtete mir ein, dass ich mich dummerweise als Charon offenbart hatte. Konnte es falsch sein, die seltene Aufmerksamkeit des Jungen als Obolus zu akzeptieren und ihn einmal mitzunehmen? Der Grund, weshalb mein Herr seinem Sohn den Zugang nicht gestattete, verschloss sich vor mir. „Wenn Sie sich brav kurieren“, stellte ich von seinen permanenten Fluchtgedanken Gestresste zumindest die eine Bedingung, „dann gehe ich das nächste Mal nicht allein.“

Zwei Tage später steckte er bis zum Kopf wahrhaftig untergeben im Bett und mit der Nase dafür in einem alten Wälzer. Beim ersten Mal hatte er sich gemerkt, wohin ich den Schlüssel legte, und machte auch ohne Begleitung von ihm Gebrauch – natürlich gab er mir jetzt Bescheid, wann, wohin und wie lange er fort war. Dass er den von meiner Seite gestellten Teil unserer Abmachung mit diesem strikten Ernst befolgte, frustrierte mich ein bisschen ob der verpassten Gelegenheit, ihn über die nach wie vor im Zentrum meines Ammeninstinktes stehende Frage nach dem sprechen zu lassen, was immer in der uns fremden Stadt vorfiel, dass der auffassungsemsige und durchaus gescheite Schüler bis zu diesem Tage kein einziges ehrgeizige Eltern zufrieden stellendes Ergebnis erzielt hatte. So machte er weiterhin von seinem Recht zu schweigen Gebrauch. Was es ihn auch kostete. Denn dass es ihn belastete, war offensichtlich. Derart offensichtlich, dass ich mich heute wundere, weshalb mir sein stummer Kummer nicht selbst aufgefallen war. Tag für Tag verbrachte ich an seinem Bett während der sich hinziehenden Rekonvaleszenz und doch war es Benedict, der – auf mein Wort hin aus seiner Ecke verschreckt – mir – noch bevor ich ein Zweites verlor – wie nebensächlich einen meinen Argwohn zerstreuenden Wink gab, wie krank der praktisch gesunde Junge doch wirke. Ich hätte mich bloßgestellt gefühlt, würde ich mein Versäumnis zugeben, und so entgegnete ich etwas trotzig: „Er will nicht darüber reden.“

Benedict richtete sich daraufhin unmerklich auf und starrte wie durch mich hin. „Bei diesem Herrn Papa? Wer will das schon. Aber manche Dinge, die müssen einfach raus, weißt du, Abda?“
 

Manche Dinge, die müssen einfach raus…
 

Am nächsten Mittag kehrte ich zur verabredeten Zeit zurück zu James’ Zimmer. Die verabredete Zeit war als Punkt dreizehn Uhr siebenundvierzig definiert. Bis dahin nämlich pilgerte James in der Bücherei herum und mir blieb genügend Raum, ohne Hektik zu Mittag essen und gar noch einen Plausch mit der jungen Mary oder Lady Elizabeth führen zu können. Was Letztere betraf, so war sie bemerkenswert selten in den Gemächern ihres Jungen anzutreffen. Ohne Unterlass informierte sie sich über seinen Zustand, aber in der Zeitspanne von acht bis zwölf Uhr, der abgesprochenen dreizehn Uhr siebenundvierzig bis achtzehn Uhr – seiner vom Hausarzt verschriebenen Schlafenszeit – inoffiziell aber achtzehn Uhr neun, weil ich mich oder er sich noch zu einer Partie Karten überreden ließ, steckte sie noch nicht einmal den schönen Kopf durch die Tür. Es mochte der Schatten von Lawrence Norrington sein, welcher ihr einen frostigen Schauer über die Haut fahren ließ, wann immer sie nur daran dachte, es doch zu tun. Bei allem, was mir entging: In diesem Bezug stand ich mit großer Gewissheit dafür ein, dass ihr Fernbleiben James nicht im Kleinsten störte. Nichtsahnend wollte ich also in den Durchgang biegen, mit Blick auf die offene Tür, welche allein mich vielleicht schon innehalten lassen sollte, James bereits vor Augen habend, wie er von einer Kompanie Bücher belagert wurde, darauf eingestellt, mich vor das Bett auf einen Stuhl zu setzen und ihn zu beobachten, was ihn – so vertieft würde er sein – nicht kümmern würde, und das tat sie auch. James von seiner günstigen Position aus erblickte mich sofort und begrüßte mich mit einem hohlen Blick. Ich aber verharrte ohne Reaktion, machte keinerlei Anstalten, mich zu ihm zu begeben, wie es vorhergesehen war. Mit dem Rücken zu mir und an der Bettkante auf dem Stuhl, den ich für gewöhnlich in Beschlag nahm, saß Benedict und redete mit dem Jungen. Bar eines Verlangens, scheue Vögel zu verschrecken, wenn sie einmal gelandet waren, schwebte mein vorgesetzter Fuß zurück hinter die Schwelle, und zum Glück machte James seinen Gast nicht auf den Störenfried aufmerksam. Sein Gesicht wandte sich, obwohl er sich im Klaren darüber war, dass ich an der Tür blieb, wieder dem Gärtner zu. Auf seinem Schoß wartete ein Buch mit Zeichen, die ich nicht entschlüsseln konnte und die mich überraschten, wenn James eben das gelingen würde, erst einmal vergeblich darauf, umgeblättert zu werden.

„Ganz ehrlich“, sagte James. Es klang wie ein Gebot.

„Ihr Herr Papa“, so hörte ich Benedict antworten, „der kann jetzt einem schon Sorgen machen. Aber wir müssen das verstehen, wir zwei. Die Marine hat ihn vor die Aussicht gestellt, vielleicht niemals wieder auf das Meer fahren zu dürfen! Sie können sich vorstellen, wie traurig ihn diese Vorstellung macht. Er hat ja sein Leben lang nichts anderes gemacht als zur See zu fahren, immer zur See hinaus! Und es ist ja nicht nur wegen seinem Arm. Auch um seinen Kopf machen sie sich Gedanken. Ihr Papa hat viele Kriege über sich ergehen lassen müssen. So viele Kriege, das erträgt man einfach nicht so leicht. Und Ihre Frau Mama? Für sie ist es auch zu viel. Anstatt ihm beizustehen, ist sie oft außer Haus, seit Ihrer Abwesenheit, James. Sie geht viel mit anderen Männern um. Sehen Sie? Aber wir beide, wir müssen das verstehen, wir dürfen ihm nicht böse sein oder ihn deswegen fürchten. Ihr Papa, der ist ein toller Mensch. Das wissen Sie doch?“

James nickte.

Meine Kinnlade war niedergefahren bei den Worten, welche Benedict dergestalt leichtfertig von den Lippen hüpften. Längst hätte ich eingegriffen, wenn nicht, was mir ein Rätsel war, meine Füße wie festgefroren an ihrem Platz verweilten. Hier wurden Geheimnisse ausgeplaudert, die der Neunjährige wirklich nicht zu erfahren brauchte. Zumal er kaum etwas mit Umschreibungen wie "viel mit anderen Männern umgehen" anfangen zu wissen würde.

„Und, um das auszugleichen, müssen ich und Sie besonders stark sein“, versetzte Benedict mit dem charakteristischen Ton von kindlichem Ernst. „Deshalb bin ich auch ganz besonders stark und zwar für Sie, damit Sie, weil Sie ja noch recht jung sind, das, was Sie traurig macht, jemandem mitteilen können, damit es Sie nicht mehr belastet und Sie wieder stark sein können für Ihren Papa und Ihre Mama. Wir wollen ja nicht noch mehr Traurigkeit in unserem Haus, wenn wir sie vermeiden können, oder? Wir können dann nicht tun, wofür der Herr uns in die Welt gesetzt hat, wofür wir leben. Und deshalb jetzt: Ganz ehrlich.“ Die beiden Worte waren wie der Zauberspruch in einem sich überirdischer Kräfte bedienenden Spiel, das mich fesselte. Eine Magie hüllte die beiden schützend ein und verhinderte jegliches Vordringen, und dieselbe Magie veranlasste James schließlich, Benedicts Angebot zu beherzigen, wo er bei mir konsequent verstummt wäre, und sich zu öffnen, wie er es mir gegenüber nur einmal getan hatte, als er fest davon ausgegangen war, dass ich den nächsten Morgen sowieso nicht mehr erleben würde. Heute weiß ich, dass diese Magie, welche nur der unschuldige Benedict gegenüber dem Knaben beschwören konnte, nichts anderes war als ungeschönte, klare, ungemütlich angemessene Ehrlichkeit, und dass ihm gelang, woran die Amme verzagte, weil er nicht Opfer des Reflexes der Erwachsenen war, sich nicht einmal unbedingt mit bösen Absichten, möglicherweise unbewusst über ein Kind oder einen Heranwachsenden zu erheben, weil Benedict allein sich niemals die Mission auferlegt hatte, den Jüngeren von alledem, was ihn als Podest dienend über das Gitter seiner Kindheit zu schauen ermöglichte, fernzuhalten. So wie zwei junge Geschwister oft ohne die Kenntnis der Eltern schon über die eben diese beschäftigenden Themen diskutierten und urteilten, führten auch James und Benedict ein vorbehaltlos offenes Gespräch. Der deutlich Kleinere schob die Lippen fest aufeinander. Er schien vergessen zu haben, dass ich lauschte, denn in der Anwesenheit eines typischen Erwachsenen hätte er nicht geredet.

„Zu allererst möchte ich bekannt wissen, dass ich bemüht bin, den mir gestellten Aufgaben und den Pflichten meines jungen Lebens im vollen Umfang nachzukommen. Ich… ich gebe zu, dass es mich überfordert. Ich versuche nicht, diese Tatsache, über die Sie alle bereits informiert zu sein scheinen, abzustreiten, denn es ist nun einmal so. Darüberheraus sehe ich mich… muss ich bedauerlicherweisend eingestehen, nicht mit einer Erklärung aufwarten zu können, denn die Gründe meines Versagens erschließen sich nicht einmal vor mir selbst. Ich kann es… Ich weiß, dass ich es kann. Es ist mir nicht zu schwer, wenn die Lehrer es erklären, und ich verstehe die Zusammenhänge… aber wenn ich es anwenden muss… dann…“

„…dann gelingt es Ihnen nicht?“, beendete Benedict den Satz, als ob James dessen Rest hätte hervorwürgen müssen. „Ihre Lösungen sind falsch?“

Wieder nickte Norringtons Sohn, doch noch ehe die knappe Bewegung ausgeführt worden war, sprudelte es bereits aus ihm wie einem Leck: „Manchmal fragen sie mich, ob ich mich vielleicht unwohl fühle oder irgendwie seltsam, wenn ich eine Aufgabe vorrechnen oder eine Frage vor den anderen beantworten soll. Aber das tue ich nicht. Ich weiß, dass sie denken, dass ich unter Druck stehe und ich deshalb überall Fehler mache, aber ich stehe nicht unter Druck. Meine Hausarbeiten sind schließlich auch alle falsch. Dabei denke ich mir immer, diesmal müssen sie einfach richtig sein!“

„Und die anderen Schüler? Was ist mit denen?“

James‘ Augen schweiften ab. „Ich weiß nicht. …Ich habe nicht viel Umgang mit ihnen. …Sie sind merkwürdig. …Sie geben sich merkwürdigen Spielen und Streichen hin. …Ich glaube, sie können mich nicht besonders gut leiden. Mir ist, als würde ich der Inhalt ihrer Streiche sein. Immer nur ich… und hin und wieder die Lehrer. Vermutlich bin ich ihnen schlichtweg zu besonnen. Weil ich mich niemals auf ihre Kinderspiele einlasse. Ich habe nicht viel mit ihnen zu tun und das ist auch gut so. Glaube ich… Aber…!“ Neue Energie fuhr in ihn, nachdem er immer weiter zusammengesunken war. „Das ist nicht das Problem! Mein Vater, er baut darauf, dass ich diese Schule schaffe! Kann ich ihn denn wirklich nur enttäuschen? Sie sagen, wir müssen stark sein, stark für ihn! Doch ich werde ihm und allem, was er in mich investiert hat, nicht gerecht. Ich stehe nicht an Englands Front, aber auch der Dienst der Passiven liegt mir nicht. Was soll ich tun? Wie passe ich in mein Schicksal?“

Unerwartet zeigte Benedict eine Seite der erwachsenen Verständnisfülle, die ihn lächelnd eine beschwichtigende Hand auf die Schulter des besorgten Kindes legen ließ. Zum ersten Mal sah James ohne sekündliche Unterbrechung in das mir vollkommen unbekannte Gesicht, welches wie selbstverständlich eine Attraktivität auszustrahlen wusste, die nichts mit dem unbekümmerten, kindlichen Gartenarbeiter zu tun hatte. Die erhobenen Mundwinkel spannten die Haut über seinem markanten, mit kurzen Stoppeln übersäten Kinn und verliehen seinen dunklen Augen einen Ausdruck von brüderlichem Stolz ob dem beachtlichen Mut des Kindes, sich frei von der Seele weg gesprochen zu haben. Ich wusste in dem Augenblick nicht, wie mir geschah. Konnte dies der Benedict sein, den ich zu vergrämen versucht hatte? Ohne ein weiteres Wort – das hieß: ohne Meinung, ohne Ratschlag, ohne Bevormundung, ohne sich einzumischen – erhob er sich von seinem Platz und näherte sich der Tür. Es waren Sekunden, die zu Minuten wurden, während sich der Vorgang verlangsamte, als würde man durch den Dunst am Horizont einer heißen Steppe jemanden auf einen zuschreiten zu sehen glauben, ohne sich dessen ganz sicher zu sein. Rasend schnell hingegen strömten die Gedanken durch meinen Kopf. Sollte ich flüchten? Würde er es jetzt nicht bemerken? Wusste er eventuell, dass ich hier war? Er trat durch den Rahmen und… Ich stand dort. Er begrüßte mich. Ich ihn wahrscheinlich ebenfalls. Er sagte mir, dass ich jetzt wieder zu James könne. Ich schaute wieder in das vertraute Gesicht. Ertappt oder verwundert wirkte es nicht. Ich nickte. Und er ging einfach.
 

Neben Benedicts sonderbarer Wandlung, die möglicherweise gar keine war, weil ich bisher lediglich die eine Seite seines Charakters kannte, ohne dass ich mich je um eine vorhandene andere geschert hatte, die ebenso und zwar schon immer Teil des Gärtners Benedict gewesen war, sowie meiner unerklärlichen, nicht einzuordnenden inneren Reaktion darauf beschäftigte mich eine Art Schuld gegenüber James. Mir als seine Amme war es nicht gelungen, ihm sein Geständnis abzuringen, obwohl ich stets stolz davon ausgegangen war, dass niemand eine engere Bindung zu ihm genoss denn ich – nicht einmal Lady Elizabeth. Um meine Unfähigkeit wieder gutzumachen und ihm zu bedeuten, wie interessiert ich an ihm war, betrat ich selbst nicht lange vor seiner Abreise die Bücherei des Lords und fühlte mich zwischen den wuchtigen Schränken wie vor stummen Geschworenen und strengen Richtern die entscheidende Aussage sprechen müssen. Auf einem Tablar, welches sich so weit oben befand, dass James ohne die Leiter nicht heranreichte, fiel mir ein Buch ins Auge, das ich auf der Fahrt in meiner Tasche verstaut hatte. Da Lady Elizabeth wieder einmal bei einem Freund untergekommen und der Lord weiterhin verschwunden war, musterte lediglich James mich fragend, bis er den zwischen hohen, goldgelben Halmen schlafenden See ausmachte. Der einsame Spaziergang beschäftigte uns für Stunden. Selbstverständlich ließ er sich wieder nicht von seinem Antlitz ablesen, doch ich wusste, dass James die keine Gitterstäbe kennende Bewegungsfreiheit und der Anblick von Menschenhand unberührter Natur gefiel. Wie ein kleiner, neunjähriger Junge entfernte er sich bald von mir, kniete sich in das Getreide, bis er nicht mehr zu sehen war, ließ sich an dem Rand des Sees nieder und stupste die Wasseroberfläche an. Je näher wir der vollständigen Umkreisung des Gewässers kamen, desto forschender, mutiger wurde er. Wo das Gewächs niedrig war, grub er in der Erde, und dann zeigte er mir verschiedene Insekten, die sich fern instinktiver Angst auf und um seine Hände tummelten. Wir entdeckten ein kleines Holzkreuz im Boden stecken und setzten uns zeitraubend mit den die Familie Norringtons nicht im Geringsten beeinflussenden und damit recht sinnlosen Fragen auseinander, wer es dort platziert hatte und warum. Schließlich breitete ich eine Decke mitten auf dem Pfad aus und überraschte James mit dem Platzwunder meiner kleinen Tasche, aus der ich eine bunte Vielfalt an Gaumenfreuden zauberte. Graugelbe Streifen mischten sich am Himmel in das schwache Blau, die ununterbrochene Bergkette am Rand der sichtbaren Welt formte eine braune Silhouette und die Sonne warf einen leuchtenden Schatten unmittelbar über jenen fernen Wald, welchen sie heute zu ihrem Ruheort erkoren hatte. Der See war erwacht und täuschte uns im letzten Schein gelassen vor, einen Teppich aus Münzen zu beherbergen, während auf den wippenden Ähren kleine Punkte weiß glitzerten. Verdutzt bemerkte James, wie ich jetzt erneut in mein Täschchen griff und das Buch hervorholte. Willkürlich blätterte ich es auf und schob es ihm zu. Was es beinhaltete, erschloss sich aufgrund der unverkennbaren Form von hellen Flächen über einer einzigen dunklen sofort. „Schiffe“, erkannte James sie.

Ich nickte und betrachtete ihn mit sanfter Erwartung. Er schaffte es nicht, dem Druck der aufeinander treffenden Blicke standzuhalten.

„Ich weiß, was Sie sagen wollen“, flüsterte er in den verträumt tanzenden Wind. „Ich mag jung sein, doch das hält mich nicht davon ab, die Pläne meines Vaters im Bezug auf mich zu erkennen. Er will…“ Nun sah er mir doch ins Gesicht, hoffend, darin Klarheit finden zu können.

„Schau dir doch erst einmal das Buch an. Blättere ein bisschen darin.“

Das zu tun, schenkte ihm die willkommene Gelegenheit, die von ihm selbst angestoßene Thematik noch einmal einer genauen Überlegung zu unterziehen. Seine Augen tauchten nicht, wie ich es sonst von ihm kannte, in die Texte und Abbildungen hinein. Ich holte mir die kaum vergangenen Stunden seiner kindlichen Entdeckungsreise in den Vordergrund meines Gedächtnisses zurück. Die sichere Gefährdung jener sorglosen Entfaltung schmeckte bitter – mir ganz bestimmt bitterer als ihm. James war jetzt noch nicht in der Lage, einschätzen zu können, welcher Wert die rasch vergängliche Jugend würdigte.

„Sie sollen sich keine Gedanken um mich machen“, sagte er auf einmal, noch immer langsam Seite um Seite wechselnd. „Ich bin mir der mir auferlegten Berufung im Klaren. Ich habe keine Angst davor – nein! Bitte sagen Sie nichts. Sie wissen, dass es der Wille meines Herrn Vaters ist, selbst… wenn er zwischenzeitend anderes behauptete. Aber das ist nicht alles… Ms Abda: Wenn beide sich in einer Sache, und ist sie auch so bedeutsam und bindend, einig sind, sollte man dann nicht das Grübeln, welches – das bezweifle ich nicht – durchaus vernünftig ist, dennoch aufhören lassen und zur Tat schreiten, ehe die Chance ungenutzt an einem vorüberzieht? Es mag Sie überraschen, aber das ist meine Entscheidung: Sobald ich die Schulausbildung abgeschlossen habe, trete ich in den Dienst der Royal Navy. Ich werde Menschen beschützen. Und ich werde meinem Vater be…“ Unvermittelt sog er Luft ein. Seinem Augenziel folgend, blickte ich auf den skizzierten Entwurf eines Schiffes. Ein Labyrinth aus Pfeilen, Beschriftungen und Detailvergrößerungen ließen mich recht spät feststellen, dass dieses Schiff kein Gewöhnliches war… werden sollte. In der gleichen Sekunde, da ich mir der fünf Masten bewusst wurde, leuchtete mir gleichwohl ein, dass dieses Konzept niemals Realität geworden war. Es lag in der Natur des Menschen, immer weiter immer schneller immer höher zu streben. Auch Seemänner konnten sich diesem Drang nicht entziehen, allerdings war selbst mir bekannt, dass fünf Masten voller Segel zu anstrengend wären für jedes Holz unserer Welt, aus dem man Schiffe fertigen konnte. Dieses abgedruckte Bleistiftkonzept war der Traum irgendeines Idealisten gewesen, und als ich aufsah, um zu versetzen, dass man aus einem einzigen Wunsch heraus nicht derart leichtfertig die Entscheidung für das gesamte Leben treffen sollte, merkte ich, dass James bereit war, diesen Traum weiterzuträumen: Stehend unter einer sich in frischer Brise schlängelnder englischen Flagge, in einer von Orden wie ein jeden Ozean durchkämmt habender Schiffsrumpf von Algen besetzten Uniform an Deck seines Fünfmastvollschiffes, mit dem Blick immer auf das Meer zu seiner Tiefe, sahen seine Augen doch nie etwas anderes als das eine Ufer hinter dem Horizont, wo – endlich! – die väterliche Anerkennung darauf wartete, erweckt und empfangen zu werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-05T16:40:40+00:00 05.03.2011 17:40
Dann hat er also seine Berufung gefunden. Wie schön. Dass Benedict auch eine zweite Seite hatte, hatte ich nicht erwartete. Und wohl ebenso Abda. Vielleicht wird ja doch noch was aus ihnen ;)
Schön wäre es für die dame. DAs Buch, das sie James gab ist auch ein schöner Teil.
Er hat sich entschieden...


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