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Lumiél Noir

von

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Tanz mit Teufeln

Es gibt ein Sprichwort in Lumiél. Es besagt, dass die Uhren in Sundergrad schneller ticken als im Rest des Königreiches. Wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit darin läge, so könnte man sich gewiss sein, dass diese Uhren in Samara gebaut worden waren...
 

Er hat sich nicht irgendwie heraus geputzt. Gut gekleidet ist er immer, feinste Seide von den teuersten Märkten der Stadt. Er trägt sie mit Vergnügen, mit Genuss. Ein wenig ist es wie eine zweite Haut – hat er sie an, dann fühlt er sich sicherer. Es ist bequem. Wer immer den Spruch schmiedete, man müsse für Schönheit leiden und Eleganz habe ihren Preis, der hat ganz offensichtlich noch nie einen guten Schneider getroffen.

Natürlich war der Schnitt einmalig. Solche Muster gebraucht in der Welt sonst kaum jemand und in der Regel wissen die Magier, die einstmals den Zirkeln angehörten, durchaus ihre Gewänder zu hüten und zu pflegen, zu flicken – falls nötig. Aber dieser Tage waren ein paar Dinge anders bestellt. Die Zirkel waren zerbrochen und er... hatte noch nie Interesse am Nähen aufgebracht. Gute Güte, dafür gab es geschickte Kinder- und Frauenhände!

Er hielt sich nicht zurück. Aufsehen folgte ihm auf den Straßen. Das verworren geschlungene Gewand war nicht dazu gedacht, unauffällig zu sein – das musste er hier auch nicht. 'Dezente' Töne von sattem Wiesengrün und ein paar Striche und einfache, fast ornamenthafte Muster in Violett. Eine skurrile Mischung, aber wenn man ein Auge für Mode hatte, durchaus kleidsam – zumal es seine gute Statur betonte. Nicht muskulös, aber durchaus trainiert.

Sein Weg führte ihn in das Noblenviertel der Stadt. Große Anwesen, viel Land mit Grün und teilweise sogar ein paar Wäldchen. Einige Beete und Gärten – natürlich ein einer kleinen Horde an Bediensteten und Tagelöhnern bewirtet. Sklaverei gab es in Lumiél nicht... die Abhängigkeit von Lohn und Nahrung dagegen hatte bei so manchem, der hier wohnte, ein durchaus legitim vergleichbares Verhältnis zwischen Arbeitern und Besitzern geschaffen.

Aber auch das störte ihn nicht.

Seine Laune war einfach zu gut. Er spitzte die Lippen und begann ein kleines Liedchen zu trällern, während er Hausfriedensbruch beging, über den Zaun hinweg setzte und den kleinen Kies- und Schotterweg zum eigentlichen Anwesen hinauf lief. Ganz ohne Eile, verstand sich. Solche wunderbaren Kleider, die schwitzte man nicht durch einen unüberlegten Dauerlauf voll, das wäre ja entwürdigend. Zumal es keine Veranlassung gab, zu rennen. Die Herren dieses Hauses würden gewiss nicht Selbiges packen und mitsamt des ansehnlichen Gebäudes sich einfach in Luft auflösen. Überhaupt...!

Er hielt einen Moment inne, fasste die Hände hinter dem Rücken und blieb stehen. Sein Blick glitt empor. Der kleine Springbrunnen vor dem Anwesen war ja schon recht imposant. Zwergentechnik pumpte irgendwie Wasser von irgendwo – wussten die Götter, wie das funktionierte! Es war schick anzusehen und neu. Solcherlei Innovationen fand man selbst im verschwenderischen Nobelviertel nicht überall. Doch das Haus selbst war... geradezu skurril.

Einerseits fand das geschulte Auge darin ohne jede Mühe viele Details, die auf den Baustil der zahllosen, weit verbreiteten Fachwerkshäuser schließen ließen. Ein Baustil, der in Samaras bester Wohngegend einfach nichts zu suchen hatte. Solche Häuser gehörten Krämern und Handwerkern und vielleicht ein paar wohlhabenderen Bauern, aber ganz sicher sollten sie keinen Platz hier finden! Andererseits war die Fassade auf geradezu kunstvolle Weise von eben diesen Details abgebracht worden. Auf dem Dach fanden sich keine Ziegel, es lief nicht spitz zu. Nein, flach wie ein geschliffener Stein. Er kannte das System bereits, war nicht zum ersten Male hier. Dort oben gab es eine Art von... Saal. Nur eben ohne Wände, ohne Decke. Grünzeug wucherte in kleinen Senken, ein System von kleinen, eingelassenen Kanälen beförderte das Regenwasser zu den Seiten, wo es über Rinnen und Röhren zum Boden geleitet wurde. Das obere Stockwerk war sehr stabil, sehr massiv gebaut – damit selbst sintflutartige Regenfälle keinerlei Gefahr darstellen konnten. Auch damit hob sich dieses Haus deutlich von allen anderen dieses Viertels ab.

Es war, als würde hier irgend so ein exzentrischer Künstler leben!

Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln, zufrieden und breit. Das Haus erweckte ganz eindeutig genau den Eindruck, den es auch erwecken sollte. Da hatte jemand wohl gute Arbeit geleistet.

Den Schritt wieder aufnehmend, trat er über eine Reihe flacher, breiter Stufen langsam zur Haustür empor und klopfte dezent. Ihm öffnete keine Magd, kein Diener, die Bewohner dieses Hauses vermieden solcherlei Verhältnisse. Noch. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde die Gartenarbeit zu viel werden, zu lästig, irgendwann würde die Bibliothek zu groß werden, würde der Weinkeller zu üppig bestückt sein, würde die Küche zu viele Gerätschaften fassen, würden die Festlichkeiten zu umfangreich werden.

Irgendwann würden weitere, helfende Hände einfach nötig sein. Das war immer so.

Nach einer Weile des Wartens wurde geöffnet. Er kannte das bereits – sonst wäre er möglicherweise nervös geworden, hätte befürchtet, dass seine Ziele geflohen wären. Doch das taten sie nicht. Nicht mehr.

Er trat ein und schmunzelte. Bei seinem ersten Besuch war er über die Maßen empört gewesen, war regelrecht außer sich, als er gespürt hatte, wie die dünnen Fäden des magischen Gewebes sich von ihm lösten. Er hatte geschrien und gegeifert und war so völlig aus seiner sonst ruhigen und beherrschten Rolle gefallen – weil er sich in einem Hinterhalt wähnte.

Doch niemand hatte ihn angegriffen. Damals nicht. Heute nicht. In jedem der Besuche seither nicht. Es war einfach eine Sicherheitsvorkehrung des Hausherren, es war... sein Ausdruck von Paranoia, und wer konnte ihm die schon verdenken?

Als die Tür geöffnet wurde, lächelte er und bekam ein Lächeln zurück. Nicht künstlich, aber auch nicht freundschaftlich. Sie waren keine Freunde, so leicht stülpte man nicht die ganze Welt um. Er musterte noch im Eintreten den Hausherren. Ein weites Gewand, seiden, aber von einer matteren, gedeckteren Farbwahl. Offenbar hatte er nicht mit Besuch gerechnet.

„Ihr kommt früher als sonst.“ eröffnete der Besitzer munter und konnte doch nicht verbergen, dass ihn offenbar der unerwartete Besuch aus einem Nickerchen in der Bibliothek gerissen hatte. Er schmunzelte, nickte nur und bestaunte – wie schon oft zuvor – die Eingangshalle. Sehr hübsch anzuschauen, wie die Treppe sich weitläufig in die oberen Stockwerke wand. Ihre Schritte hallten dumpf in der verwinkelten Halle wieder, als ihre Schritte sie über polierte Marmorfliesen einem kleinen Arbeitsraum entgegen führten.

Regale voller Bücher säumten die Wände. Und dabei war das hier nicht einmal die Bibliothek, es war nur ein Arbeitszimmer. Ihm wurde ein Sitz angeboten und er nahm ihn gerne in Anspruch. Ein mit rotem Samt bespannter Ohrensessel. Diese gewaltigen Dinger vermittelten stets gekonnt den Eindruck einer heimischen Atmosphäre, von Gemütlichkeit und gelöster Entspannung. In weiser Voraussicht zog er den kleinen, dreifüßigen Tisch aus kunstvoll bearbeitetem Kirschholz heran, ehe er sich zurück lehnte und auf die Rückkehr seines Gastgebers wartete, der sich für einen kurzen Augenblick entschuldigt hatte.

Sein Blick glitt über die unzähligen Bücher. Anatomische Studien, Fachlektüre, alles, was ein aufstrebender Künstler brauchte, um sich mit Inspiration zu versorgen und zeitgleich nicht zu erschaffen, was andere schon in ihren schöpferischen Phasen fabriziert hatten. Die wirklich interessanten Werke, die über das Brauen von Tränken, über rituelle Anrufungen und vor allem die Bücher, die vor lauter Zauberformeln überquollen... die würde man gewiss nicht hier finden. Vermutlich auch nicht in der Bibliothek, wenn... dann gab es einen sehr gut gesicherten Raum dafür. Ein geheimes Versteck, irgendwie, irgendwo. Er suchte nicht danach, nicht mehr. Das hier war keine Schlacht, die sich auf die klassische, altbewährte Weise gewinnen ließ und sie wussten das alle.

Der Hausherr kehrte zurück, balancierte ein kleines Silbertablett, das er auf dem Kirschholztisch abstellte. Der wunderbare Duft von würzigem Tee entströmte einer dampfenden Kanne. Das Gemisch wurde teilweise auf zwei edle Porzellantassen verteilt.

Er nahm sich seine erst, nachdem er das zusätzliche Angebot geprüft hatte. Kandis, Zucker, ein paar Sorgen von anderen Gewürzen, die der Verfeinerung des Aromas zukommen könnten. Alles recht klassisch, aber nicht unbedingt sein Geschmack. Er entschied sich stattdessen für den Honig, gab einen kleinen Teelöffel der zähen Flüssigkeit in seine Tasse, rührte sorgfältig um und labte sich daran, wie der Duft der vom dampfenden Gebräu aufsteigenden Flüssigkeit sich veränderte. Süße, ja, das war jetzt genau das Richtige.

Er rührte sorgfältig, wartete, bis der Tee ein wenig abgekühlt war, ehe er den Löffel weglegte und die Tasse erstmals an die Lippen setzte. Viele Minuten, die die zwei Herren einfach schweigend einander gegenüber sitzend verbrachten. Insgeheim musste er wieder über das Gewebe nachdenken. Bei Überschreiten der Türschwelle waren ihm seine magischen Kräfte genommen worden. Galt das auch für den Hausherren? Er wäre mehr als dumm, wenn er sich der eigenen Kräfte beraubte. Nicht zuletzt, weil sie ansehnlich stark waren – er hatte schon lange keinen so angemessenen Gegner mehr gehabt.

Nein, wahrscheinlicher war, dass es sich um Runen handelte. Vermutlich gefüttert mit dem Blut der Drei, die hier wohnten – damit für sie eine Ausnahme gemacht wurde. Damit sie nicht ihrer Kräfte beraubt wurden. Und dazu, quasi als kleine, doppelt absichernde Beigabe, irgendeine Form von Tarnung. Magiefähige spürten einander, wenn sie sich berührten. Ein zartes Kribbeln im Bauch und unter der Haut der Finger. Selbst aus dem Gewebe gelöst, waren manche in ihrer Sensorik fein genug, das zu begreifen – aber selbst der Händedruck beim zweiten Besuch hatte nichts klingeln lassen. Vermutlich war das ganze Haus ohnehin mit Magie nur so vollgepumpt.
 

„Warum kommt ihr eigentlich immer wieder hierher?“ eröffnete Alandor Lamerak, Besitzer des kleinen, aber ungewöhnlichen Hauses im Nobelviertel Samaras, schließlich das Gespräch mit seinem Gast.

„Nun, um ehrlich zu sein – ich schätze, was mir geboten wird. Der Tee ist einfach köstlich.“ merkte Iangeon an, seines Zeichens Geistmagier im Dienste der Abtrünnigen, einstmaliger Zirkelmitglieder, die sich beim erstbesten Angebot auf die Seite des Königs geschlagen hatten. Er hatte Alandor und seine Tochter Selina schon über Wochen und Monate hinweg gejagt – und Vivica Aandergast, Alandors einstmalige Begleiterin, sogar über Jahre.

Sonderliche Eile, seinen Auftrag zu erfüllen, hatte er dagegen nie an den Tag gelegt. Er war ein überaus geduldiger Jäger – und ein Gentlemen, trotz allem.

„Eine Mischung von Wildkräutern aus dem Norden. Das Rezept stammt natürlich von Vivica.“ erörterte Alandor mit einem Lächeln, in das Iangeon durchaus ehrlich einstimmte. Ja, die kleine Firnhexe hatte immer wieder die besten Ideen – schon damals, als sie seiner Obhut entwischt und ihn über Tage hinweg zum Narren gehalten hatte.

„Ist die Dame des Hauses denn anzutreffen?“ erkundigte sich der machtlose Geistmagier. Einen kurzen Moment wurde sein Gegenüber ernster, doch die Situation löste sich recht schnell wieder.

„Der Stadtvogt, der Beirat, der Kommandant der Wache, diverse äußerst wohlhabende Handelsleute, ein paar vom Klerus und sogar mancher aus den drei einflussreichsten Adelshäusern der Stadt...“ hob Alandor ohne scheinbaren Zusammenhang und in geradezu gelangweilter Manier an.

„Ich kenne die Liste eurer Förderer und Unterstützer. Nein, wirklich, ihr braucht mir diesmal nicht misstrauen. Heute bin ich nicht hier, um euch zu ärgern. Ich weiß, dass ihr schon rein politisch betrachtet schneller weit größere Geschütze gegen mich auffahren könntet, als ich auch nur die Anklageschrift geschrieben hätte. Überdies wisst ihr genauso gut wie ich, dass mir die nötigen Beweise fehlen, um einfach mal so jemanden aus Samaras Oberschicht anzuklagen. Ihr habt... euch ein hübsches Heim eingerichtet. Weit schneller, als ich es erwartet hatte und es ist gut gesichert, also macht euch vorerst keine Sorgen. Fühlt euch nicht zu sicher – aber vorerst bin ich nicht als euer Jäger hier. Ein wenig schade ist es ja schon, für mich zumindest. Jegurath hat mich weit länger aufgehalten, als ich gedacht hätte. Hm.“ erörterte Iangeon in aller Ruhe. Und obwohl sie einander Feinde waren – im Grundsatz zumindest, in der Theorie -, kam der Bannmagier und Hausherr nicht umhin, diese Gespräche, die in der Regelmäßigkeit eines Mondzyklus stattfanden, durchaus zu genießen. Iangeon war ein Abtrünniger, aber das würde er nie einsehen.

Er hatte seine Ausbildung als Magier der Zirkel absolviert, die Abschlussprüfung überstanden und durfte sich Zirkelmagier nennen, aber anders als die Meisten, hatte die intensive Gehirnwäsche und Umerziehung, die den Adepten während ihrer Ausbildung beigefügt wurde, bei ihm einfach nicht gefruchtet. Er fühlte sich den Zirkeln nicht verbunden, nicht ihren Herren, nicht ihrem Kodex, nicht ihrer Abneigung gegen Hexen. Er war hier, weil er einen Auftrag hatte – genau genommen war er also kaum besser als ein Söldner. Befand zumindest Alandor.

Aber es war nicht abstreitbar, dass er sich schon aus alter Gewohnheit heraus sehr nach Gesprächen mit seinesgleichen sehnte. Keine Beleidigung gegenüber Vivica – einer Eishexe -, sondern einfach das Zugeständnis, dass die Adligen, Kaufleute und Künstler Samaras gewiss ein gehobenes Niveau hatten, einem Zirkelmagier aber dennoch nicht das Wasser reichen konnten. Die Art, wie ein Gespräch geführt wurde, war unter ihresgleichen einfach einzigartig und anders als bei Iangeon, vermisste Alandor diese Zeit durchaus hin und wieder.

„Es ist so,“ hob der Geistmagier schließlich an, „neben dem unbestreitbar köstlichen Tee wird mir in diesem Haus geboten, was ich sonst nirgendwo finde: Höflichkeit und Ehrlichkeit. Will ich Erstere, gehe ich zurück an den Hof nach La Coeur und geselle mich zu den anderen verbohrten alten Magi – dummerweise ist die ganze Bande so intrigant und verlogen wie die einfachen Höflinge dort. Will ich Ehrlichkeit, dann treibe ich mich in Gasthäusern herum und lasse mich vom Pöbel mit seinen verdreckten Griffeln betatschen. Ehrlich sind sie, gewiss – solange sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ehrlich, aber leider schrecklich ungehobelt. Ich gebe es ungern zu, aber wenn die Jagd eines Tages von Neuem los geht, wenn eure kleine Welt hier zusammenbricht und wir wieder sind, was wir waren, bevor ich in Jegurath eure Spur verlor, nun... ich glaube, mir werden unsere Treffen fehlen.“

Fast wirkte es so, als wäre Iangeon geradezu rührselig geworden. Er blickte in seinen Tee hinab und trauerte bereits jetzt für etwas, das noch nicht einmal im Ansatz absehbar war. Der Anblick allein irritierte Alandor. Sie waren einander seit der Flucht aus der einstigen Elbenstadt mit einer distanzierten, ehrlichen Höflichkeit begegnet, gewiss, aber er hätte nicht vermutet, dass dem Magier diese Treffen so viel bedeuteten. Nein, er hätte nicht einmal vermutet, dass sie ihm überhaupt etwas bedeuteten.

„Warum hört ihr dann nicht einfach auf, uns zu jagen?“ erkundigte sich Alandor, die Antwort kennend und nippte erneut am Tee.

„Ach ihr wisst doch. Die Alten würden einen riesigen Aufstand machen, irgend einen Stümper auf eure Fährte setzen. Ihr seid gut... aber nicht fehlerlos. Wenn er euch findet, würde er gewiss ein heilloses Chaos anzetteln und mit der Eleganz eines hysterischen Trolls aufwarten. Möglicherweise kommt die kleine Selina oder Vivica dann noch zu Schaden – das kann ich so natürlich nicht zulassen.“

Früher hätte er ihn erdrosselt. Allein dafür, dass er wagte, diese zwei Namen in den Mund zu nehmen. Andererseits waren früher einige Dinge anders gewesen. Er hatte beispielsweise guten Grund gehabt, Iangeon Conster zu hassen, er hatte dagegen keinen Grund gehabt, ihm zu glauben, dass ihm tatsächlich etwas an Vivicas oder Selinas Wohlbefinden lag.

„Ich hörte, ihr gebt heute Abend einen Ball?“ erkundigte sich Conster und Alandors Miene wurde zum Spiegel seiner aufziehenden Erkenntnis. Natürlich – deshalb kam der Geistmagier ein paar Tage früher als sonst.

„Ja. Eine kleine Festlichkeit. Die Oberen der Stadt sind eingeladen, viele Künstler, Adlige. Kontakte pflegen und knüpfen, ihr kennt dieses Spiel ja.“

Eine Weile trat Schweigen ein. Iangeon wartete – das war ihm anzusehen. Und Alandor erwog genau die Schritte, auf deren Ergebnis der Gast wartete. Es war offensichtlich, worauf nun alles hinaus laufen sollte. Der Geistmagier langweilte sich in Samara zu Tode. Niemand konnte ihm hier das Wasser reichen, niemand seine Neugier fesseln. Ein Ball dagegen wäre zwar nicht ganz seine Kragenweite, bot ihm aber die Möglichkeit, Selina und Vivica wieder zu sehen und sich ein paar weitere Stunden mit Alandor zu beschäftigen, es bot ihm die Chance, sich einen schönen Abend zu machen.

Die Frage war, ob der Bannmagier den Geistmagier wirklich auf seiner Feier haben wollte. Offiziell wäre das so, als würde der Hase den Fuchs einladen – andererseits war so mancher Gast dabei, den er noch weniger leiden konnte und noch mehr zu fürchten hatte. Warum also nicht?

„Ihr seid natürlich herzlich eingeladen, euch unserer bescheidenen Runde anzuschließen.“ eröffnete der Hausherr schließlich. Sein Gegenüber zuckte mit keiner Miene, zumindest vorläufig. Das Schauspiel musste perfekt sein. Für wen auch immer – es ging hier vermutlich einfach ums Prinzip.

„Ich kann unmöglich annehmen. Ihr wisst, ich müsste euch im Falle von Verdachtsmomenten festnehmen und es wäre einfach nicht richtig, eure Gastfreundschaft auszunutzen.“ zierte sich der Geistmagier des Theaters wegen.

„Ich bestehe darauf. Ich bin mir sicher, euch wird der Abend gefallen – es gibt eine kleine Überraschung zur Krönung der Feierlichkeiten.“ frohlockte der Bannmagier und spätestens jetzt hatte er Iangeon am Haken. Nicht einfach nur auf der Bühne ihrer unauffälligen Aufführung, sondern tatsächlich. Der Geistmagier war neu- und wissbegierig, er konnte sich dem Reiz einer Überraschung unmöglich entziehen.

Entsprechend war der Rest schnell abgehandelt. Dem Jäger wurde von der vermeintlichen Beute eine Einladungskarte zugestanden, die am Abend als Eintrittsberechtigung dienen würde. Sie tranken ihren Tee zu Ende, fachsimpelten über ein paar Werke der hiesigen Schriftsteller und Künstler, stellten ein paar Gemeinsamkeiten in ihren ästhetischen Präferenzen fest, ehe Alandor Iangeon schließlich wieder zur Tür begleitete. Wie es sich gehörte, bedankte der sich artig für Tee und Unterhaltung, ehe er durch die Tür schritt und sich seinen Weg suchte. Schon als er einen Fuß über die Schwelle setzte, spürte er das angenehme Kribbeln, das zurückkehrte, als die dünnen, unsichtbaren Fäden des magischen Gewebes ihn wieder durchdrangen, ihn umschlangen und zurück in ihren Schoß führten. Jetzt war er wieder Magier – und dennoch war es ihm unmöglich, Geistmagier der er war, in den Gedanken des Mannes herum zu streunen, der kaum einen halben Meter hinter ihm stand und die Tür schloss.

Ein beeindruckender Schutz, ganz gleich, wie er funktionierte.
 

Die Vorbereitungen für die Festlichkeiten waren schon seit einer guten Stunde abgeschlossen und der Geräuschpegel aus dem Ballsaal stieg allmählich in Relation zur wachsenden Anzahl bereits eingetroffener Gäste. Bereits gegen frühen Nachmittag hatte sich das Haus nach und nach gefüllt – mit Tagelöhnern und Dienstmägden, die Alandor quer über die Stadt verteilt und aus verschiedenen Häusern und Geschäften aufgelesen hatte. Nun trugen sie alle feinste Gewänder, balancierten eifrig und geschäftig Krüge, Tabletts mit kleinen Vorspeisen, schafften Putzeimer aus dem Weg und wirkten dabei, als hätten sie seit Jahr und Tag nichts anderes getan.

Kein Wunder: Sie waren überaus motiviert. Herr Lamerak war ein wohlhabender Künstler und obendrein bekannt dafür, mit den höchsten Kreisen zu verkehren. Außerdem trug er im einfachen Volk der Stadt inzwischen den Ruf, ein recht gönnerhafter Mensch zu sein. Die Bediensteten, die ihm an diesem Abend halfen, durften ihre feinen, handgeschneiderten Kleider behalten und wurden zusätzlich fürstlich entlohnt. Sie durften an Speis und Trank teilhaben, die für die gesamte Gesellschaft gedacht war – aßen also von den gleichen Tellern wie die Gäste. Nur... sollten sie das eben nach Möglichkeit tun, ohne dass diese es sahen. Mit solchen Hinweisen konnten alle gut leben, es war mehr, als man dieser Tage von einem solchen Arbeitgeber erwarten konnte.

Nur eines, das bereitete dem Bannmagier fortwährend Sorge und fast wollte er erleichtert aufatmen, als er die zwei Pagen eiligen Schrittes auf ihn zuhalten sah. Doch schon ihre reumütig gesenkten Blicke machten ihm mehr klar, als sie mit Worten zu erklären fähig waren.

„Herr, wir... wir haben alles abgesucht, wirklich, ich schwör's, aber... wir haben sie... wir haben... sie einfach nicht gefunden.“ stammelte der Erste und zuckte geradezu zusammen, als Alandor ihm sorgenvollen Blickes die Hand auf die Schulter legte. Vielleicht hatte er Schläge und Schelte erwartet, doch obgleich ihm schon ein minutenlanger Monolog über Ehrgefühl, Stolz und Arbeitswürde auf den Lippen lag, hatte der Bannwirker einfach keine Zeit dafür, diesem jungen Burschen die Angst aus- und etwas Stolz einzutreiben.

„Habt ihr auf dem Dach nachgesehen?... In der Wäschekammer?... Draußen?“

„Ja Herr, überall!“

„Auch in der Küche?“

„...“

Noch bevor sie antworteten, wechselten die zwei Diener zweifelnde Blicke. Da waren sie nicht gewesen, aber... warum hätten sie auch dorthin gehen sollen? Die Hausherrin und die Tochter des Herrn waren gut betuchte Leute und die Küche quoll gegenwärtig über vor geschäftigen Mägden, die allesamt das Essen vorbereiteten, das Geschirr herbei schafften, spülten, bereit machten, wieder beluden. Warum sollten sich die Damen dieses edlen Heimes ausgerechnet am turbulentesten Ort dieses Abends verstecken?

Alandor dagegen grinste schelmisch über beide Ohren. „Schon gut, ich danke euch! Geht zu den anderen und helft, wie ihr könnt.“ erklärte der Hausherr, drückte den zwei Ahnungslosen je eine Silbermünze in die Hand und schickte sie davon, während er selbst zunächst sein Zimmer ansteuerte, um etwas abzuholen.

Kurz darauf durchschritt er die Tür zur Küche. Zwei hölzerne Flügel in einem Schnappverschluss, sodass die Tür auf- und zuschwingen konnte – gerade für einen stürmischen Frechdachs wie Selina war das ideal.

Heute Abend herrschte geschäftiges Treiben, in der Tat. Alandors Gegenwart wurde kaum bemerkt und die Mägde, die an ihm vorbei mussten, sahen zwar auf und lächelten, aber bei all den Aufgaben hatten sie kaum Zeit, ihm die eigentlich nötige Ehrerbietung zuteil werden zu lassen. Der Bannwirker störte sich daran jedoch nicht im Geringsten – nicht zuletzt, weil unter einer der Hauben, die die Köchinnen verwendeten, damit keine Haare in das Essen kamen, ein verräterisches Rot hervor funkelte.

„Vi-“ setzte Alandor an, um das Gepolter und Geklapper zu übertonen, da wurde auch schon sein Name gequietscht und eine kleine, wandelnde Mehlstaubexplosion kam auf ihn zugerannt.

Bei den Göttern...! wanderte es dem Magier durch den Schädel, als er seine Tochter erblickte. Kaum war sein Name gefallen, sah auch Vivica auf. In routinierter Manier gab sie ein paar weitere Anweisungen, ehe sie sich für wenige Minuten aus dem Treiben zurück zog und zu Alandor trat, der inzwischen Selina abgefangen und hochgehoben hatte. Sie verteilte eine stattliche Spur Mehl in der gesamten Küche...

„Was tut ihr denn hier?“ erkundigte sich der Bannwirker mit einer leichten Rüge im Ton. Während Vivica geradezu beschämt einen Moment den Blick senkte, kicherte Selina nur vergnügt auf. „Und du kleines Gespenst, hast du vielleicht meine Tochter gesehen? Sie sollte nämlich eigentlich ihr Kleid anziehen...!“ maßregelte er auch Selina, ehe er sie kurz durchkitzelte. Das helle, vergnügte Kichern des Mädchens übertönte ohne Mühe allen Lärm im Raum und ließ manche Magd mit einem Schmunzeln zu der kleinen Familie aufschauen.

Ein reiches Haus, aber der Frieden schien wie aus einer der normalen Familien beschaffen...

„Wenn du jetzt artig hoch gehst, dich sauber machst und dein Kleid anziehst, bekommst du nachher auch eine Überraschung!“ versuchte der Magier zu locken, doch seine Tochter schüttelte breit grinsend den Kopf. Als kleiner Mehlgeist durch die Küche zu spuken, war ihr ganz offenkundig ein viel größeres Vergnügen, als es der Gedanke je sein konnte, hübsch auszusehen und sich in einer Gesellschaft alter Männer und Frauen herum zu drücken und gut benehmen zu müssen.

Als hätte er es nicht geahnt!

„Du hast sie völlig verzogen, merkst du das?“ warf Alandor Vivica in gespielter Manier vor, die entrüstet nach Luft schnappte, jedoch nicht dazu kam, ihm trotzig zu antworten – zu schnell hatte er sich vorgebeugt und unter einem langgezogenen „Iiiihh!“ Selinas der Firnhexe die Lippen aufgedrückt.

Der Bannwirker setzte schließlich das Mädchen auf dem Boden ab – und trat einen Schritt bei Seite. Es war nicht schwer, nachzuvollziehen, was daraufhin geschah. Das kleine Mädchen verstummte, beäugte völlig verwirrt, was es sah, ehe seine Augen groß und größer wurden, ein wunderbar anzuschauendes, glückliches Strahlen annahmen und dann vor stürmten. „Nicht so hastig! Es sind viele Leute hier, es ist laut – er hat Angst. Vielleicht solltest du ihn nach draußen bringen und ihm sein neues Heim zeigen?“ erkundigte sich Alandor bei Selina, während die voller Begeisterung nur noch halb zuhörend nickte und die von Mehl krümelnden Finger durch das weiche, kurze Fell des Hundes streichen ließen.

„Darf ich ihn behalten...?“ fieberte das Mädchen mit einem wehleidig-bettelnden Blick, dem sich der Magier ohnehin nicht hätte entziehen können. Er nickte und sah zufrieden, wie sein Wildfang Nummer eins den Hund auf die Arme nahm und überglücklich strahlend mit ihm durch die Küchentür davon pirschte.

Daraufhin wandte sich Alandor Wildfang Nummer zwei zu.

„Und du? Du solltest doch oben sein, oder nicht?“ erkundigte er sich leise, „Was machst du hier?“

Vivica schlug einen Moment die Lider nieder, ehe sie sich zu dem regen Trubel hinter ihr umblickte. All die Mägde, die hier fleißig arbeiteten, schwere, schwierige Tätigkeiten in Akkord verrichteten... sie fühlte sich ihnen so viel zugehöriger als der fein herausgeputzten Gesellschaft dort draußen.

„Ich... helfe?“ hakte sie geradezu zögerlich nach. Der Bannmagier jedoch kam nicht umhin – sein rügender Blick weichte auf, bis ein zartes Lächeln seine Lippen verzog.

„Das hast du gestern und du wirst es morgen wieder. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich weiß, wie... unangenehm dir das ist. Aber ich bitte dich... nur diesen einen Abend...!“ flüsterte er leise. Ein letztes Mal blickte die Rothaarige zurück, ehe sie zögerlich nickte.

Gemeinsam Seite an Seite verließen sie die Küche. Bis zur Treppe brachte er seine Herzdame, wo sie sich schließlich trennen mussten.

„Sie hat sich schon seit Monaten einen Hund gewünscht.“ setzte Vivica an, als wolle sie so lange wie möglich hinaus zögern, die Stufen empor steigen zu müssen.

„Ach naja, ich dachte mir, einen Wachhund brauchen wir sowieso schon lange und ehe sie sich auf dem Empfang langweilt und Streiche spielt...“ hob ihr Liebster an, doch da brachte sie ihn auch schon zum Schweigen. Den Zeigefinger auf seine Lippen gelegt, trat sie zwei Stufen wieder herab, bis die Letzte dafür sorgte, dass sie auf Augenhöhe waren.

„Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Nicht vor mir. Du liebst sie über alles und... du glaubst, dass du ihr jetzt endlich das Leben schenken kannst, dass sie immer schon verdient hätte... und bei mir glaubst du genau das Gleiche.“

Es waren kostbare Momente wie dieser, die ihm ein ums andere Mal klar machten, warum er sie so abgöttisch liebte. Vor über einer Dekade hatten sie einander erstmals getroffen und Jebis wusste, es war nicht gut verlaufen. Er hatte sie über den Tisch gezogen, sie hatte ihn belogen, sie waren wie bissige Kampfhunde aufeinander losgegangen, sie hatten ihre Reise gerade so hinter sich gebracht, als ihr Zerwürfnis nicht mehr größer hätte werden können. Sie trennten sich, nur, um zehn Jahre später wieder übereinander zu stolpern – und siehe da, sie verliebten sich. Genauer genommen, gestanden sie einander nur die Gefühle ein, die sie schon früher entwickelt hatten und die noch immer unbewusst in ihren Gemütern geschwelt hatten.

Inzwischen konnte Alandor mit Fug und Recht behaupten, dass kein anderes Wesen auf dieser Welt ihn besser verstand als dieses Weib – und sowohl jene Erkenntnis, als auch das Gefühl, ertappt worden zu sein, ließen ihn am Absatz der Treppe stehend erröten. Vivica lächelte, machte einen kleinen Scherz darüber, dass seine Wangen ihrem Haar bald die Aufmerksamkeit stehlen würden, ehe sie sich abwandte und die Stufen hinauf schritt, um ihm den zugesicherten Gefallen zu tun: Einen Abend lang würde sie das Mädchen aus reichem Hause spielen, die manierlich-sittsame Frau eines wohlhabenden Künstlers, die kokett zu lächeln und ihrem Gatten den Rücken zu stärken wusste. Für Vivica eine schwere Rolle, kam sie doch aus völlig anderen Verhältnissen.

Alandor hingegen begab sich zum Empfang. Es war ohnehin längst Zeit geworden, sich persönlich auf der eigenen Feier blicken zu lassen. Auf dem Weg zum Ballsaal passte ihn ein weiterer Page ab und informierte ihn wie gewünscht darüber, das Iangeon ebenfalls eingetroffen war und sich bereits unter die Gäste gemischt hatte. Nun, dann war wenigstens einer in diesem Raum, dem gegenüber er ein wenig mehr Offenheit und Ehrlichkeit walten lassen konnte.

Als der Bannwirker den Ballsaal betrat, brandete ihm das Geschwätz ausgelassener Gespräche entgegen, zarte Musik legte einen Teppich über das rege Treiben und viele der Gäste waren zweifellos in irgendwelche Absprachen vertieft. Anlässe wie dieser waren selten – wenn mehr als die Hälfte der Oberschicht Samaras zusammen kam, bot das Zunder. Hier wurde die wahre Politik geschmiedet, hier wurden Thronerben gestürzt, Länder befreit oder bezwungen, Allianzen geschmiedet und so manche Ehe beschlossen.

Doch nicht heute.

All das hätte Alandor viel Geduld abverlangt, aber er hätte sich direkt ins rege Treiben geworfen und wäre darin nach ein paar sehr anstrengenden Stunden aufgegangen. Er hätte sich in den Tenor ihres Spieles eingefunden und hätte es als Gewinner verlassen, mit unzähligen neuen Freunden, ein paar wenigen, machtlosen Feinden und Absprachen, wie sie nur ein in Diplomatie und Rhetorik befähigter Zirkelmagier hinbekommen konnte. Heute aber ging es um etwas anderes, etwas völlig anderes!

Er machte zunächst einmal die Runde und begrüßte all seine bisher eingetroffenen Gäste persönlich. Viele Künstler, die ihm nacheiferten, ein paar, zu denen er in oberflächlich-freundschaftlicher Korrespondenz stand und – wie es sich gehörte – natürlich auch ein paar Konkurrenten. Zudem fanden sich einige Kaufleute, die bereits über die neuen Steuer-, Zoll- und Handelsbestimmungen sprachen, die erst nächsten Monat offiziell bekannt werden und in Kraft treten sollten. Die Götter wussten, dass man alles, aber auch wirklich alles kaufen konnte – man musste nur wissen, wo, bei wem und für wie viel.

Auch einige Adlige hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammen gefunden. Hier und da wurde über die Inneneinrichtung seines Hauses hergezogen, etwas, das Alandor nicht ernst nahm. Hätten sie über das Wetter gesprochen, hätte es genauso lästerlich geklungen. Er wurde sogar kurz Zeuge, wie an anderer Stelle die Sabotage einer Ehe erwogen wurde, indem man dem Gatten vorschlug, ein Galan – einer der Höflinge, der in der Gesprächsrunde anwesend war – könne sich an seinem Weib zu schaffen machen. Mancher hätte es für tiefste, niederträchtigste Teufelei gehalten. Da fand sich ein Ehemann auf einem Ball ein, ohne sein Weib, und beriet mit anderen, wie er es anstellen könne, seinem Weib Schuld aufzuladen.

Aber auch das war Politik.

Alandor merkte sich so viel davon, wie er konnte, sog die Gesprächsfetzen um ihn herum auf und versuchte dennoch zugleich, konzentriert zu bleiben. Als Magier war das ein leichteres Spiel als für jeden anderen, aber dennoch deshalb längst nicht unkompliziert. Er stellte sich vor, hieß sie willkommen, wünschte einen angenehmen Abend, schlug spezielle Speisen vor – eine Standardphrase, die er jedem Gast in stets leicht abgewandelter Form zuteil werden ließ, bis er auch die letzte Hand im Raum geschüttelt hatte – die von Iangeon Conster.

„Ich bin keiner eurer anderen Gäste, ihr müsst mir nicht die Haifischhäppchen empfehlen!“ flüsterte der Geistmagier mit verschwörerischem Grinsen. Erst da bemerkte der Hausherr, dass er auch das obskur verzerrte Äquivalent eines 'Freundes der Familie' in der gleichen Manier begrüßt hatte, wie alle anderen Gäste auch.

„Verzeiht bitte. Es ist fast wie ein Mantra. Hat man die ersten Fünf hinter sich, kommt der Satz ganz von allein wieder und wieder. Wie in Trance.“ entschuldigte sich Alandor und lud seinen Gegenüber auf einen Trunk ein. Sie genossen einen Becher warmen Met von feinster Qualität, angenehm süß, man schmeckte im Nachgang eine Spur des Alkohols, aber er war nicht aufdringlich. Für Alandor war das Maß an Alkohol für diesen Abend damit bereits erreicht – rein aus Sicherheitsgründen. Er ging lieber kein Risiko ein, schon gar nicht an einem solch gewichtigen Tag.

„Nun rückt schon mit der Sprache heraus!“ forderte Iangeon, während er mit dem Gastgeber einen kleinen Rundgang im Ballsaal machte. Ihr Weg führte sie außen herum, an den meisten Grüppchen vorbei. Sie beobachteten während ihres Spazierganges, wie die Wölfe im Saal die Beute zerrissen – sei es mit Worten, sei es mit Plänen. Immer wieder sah man geschäftige Bedienstete hier und da zwischen den Grüppchen herum huschen, von Zeit zu Zeit wurde ein Tanz angestimmt und die Menge gab sich die Ehre, ihre Künste in einstudierten Schrittfolgen zu beweisen, doch Alandor reizte dergleichen nicht. Er bot hier die Fläche, einander wie eitle Pfauen zu umgarnen, doch daran teilhaben... nicht heute.

„Was wünscht ihr denn zu wissen?“ erkundigte sich der Bannmagier und tat erfolgreich unwissend, sodass selbst Iangeon einen Augenblick verwirrt die Stirn runzelte.

„Na ihr wisst schon! Was eure große Überraschung ist!“ rückte der Geistmagier schließlich mit der Sprache heraus. Als hätte er damit ein geheimes Signal gegeben, trat ein sich aus der Menge lösender Page auf die zwei Herrschaften zu und verneigte sich huldvoll, bis Alandor ihn zum sprechen aufforderte.

„Sie wäre dann so weit.“ erklärte dieser und wurde vom Gastgeber angewiesen, sie zu holen. Daraufhin wandte er sich Iangeon zu. „Seht selbst.“ erklärte er und folgte mit zügigen Schritten dem Bediensteten bis zum Absatz der zweiten Treppe, die direkt vom Ballsaal in die oberen Stockwerke des Hauses führte.

„Werte Damen, meine Herren,“ begann Alandor laut genug, sodass die Musik verebbte und die Mehrheit der Gespräche rasch erstarb – binnen Sekundenbruchteilen war er Zentrum der Aufmerksamkeit, „ich danke ihnen für diesen Moment ihrer Aufmerksamkeit und möchte ihnen nun den Juwel dieses Hauses vorstellen.“

Bei jenen Worten trat die rothaarige Firnhexe an den oberen Absatz der Treppe heran. Hier und da hörte man, wie Luft eingesogen oder hörbar ein Atem angehalten wurde.

„Meine Verlobte, Vivica Aandergast... und in einer Woche, wenn uns das Glück hold ist, Vivica Lamerak.“

Irgendwo im Saal, ein gutes Stück hinter ihm, hörte Alandor ein Glas zu Bruch gehen. Mit Erstaunen und Überraschung hatte er gerechnet, aber das jemand vor Schreck gleich sein Glas fallen ließ...? Er sollte die Sauerei beseitigen lassen, ehe sich jemand Splitter in die Füße trat...!

Vivica schritt die Stufen herab, langsam. Es war ihr unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Dutzende Augenpaare, die aus dem unverhohlenen Gaffen nicht mehr heraus kamen. Sie war eine zierliche Gestalt, mit ihrer roten Mähne und ihren grün funkelnden Augen eine exotische Schönheit obendrein und das Kleid, obgleich von schlichtem, geradezu puritanischem Schnitt, unterstrich in seiner Form nicht einfach nur die Aspekte, die sie ohnehin auffällig machten, es umschmeichelte zudem, was sie war: Eine junge Frau, voller Reiz und Grazie. Die sanften Grüntöne, vermischt mit der Farbe der Unschuld, bildeten einen perfekten, einen geradezu gekonnt edlen Kontrast zu ihrer Frisur – es konnte keinen Zweifel geben, sie war eine Augenweide, sie war das Juwel dieses Abends.

Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und Alandor sich an ihre Seite gesellte, begann Iangeon damit, ihnen zu applaudieren. Rasch stimmten immer mehr Mitglieder der Gesellschaft ein, Damen nickten Vivica anerkennend und manches Mal auch neidvoll zu, Herren bekamen die Augen kaum von ihr gelöst – die Verlautbarung ihrer Verlobung und die Ankündigung der baldigen Hochzeit waren nach Alandors Einschätzung mehr als gelungen und dürften ohne jeden Zweifel so manches in der Stadt kursierende Gerücht über wilde Leidenschaften und haltlose Polygamie zerstören.

Doch selbst abseits der weiterhin gefestigten eigenen politischen und sozialen Position... war dies ein Schritt, den der Bannmagier schon lange im Sinn gehabt hatte. In Jegurath, nachdem sie nur knapp den dortigen Gefahren entkommen waren und deutlich wurde, dass niemand Lumiél ohne die Einwilligung seiner göttlichen Majestät verlassen würde, hatte er ihr einen Antrag gemacht – und nie hätte er damals auch nur geahnt, dass die Hochzeit im Nobelviertel Samaras stattfinden würde, dass es dazu solche Umstände gäbe.

Mit diesem Schritt... hatte er fast alles erreicht, was ein kleiner Junge, der bei Meister Halon im Erzmagierturm eingesperrt, sehnsüchtig aus dem Fenster starrte, sich einstmals gewünscht hatte. Er war ein großer Magier geworden, mächtig und wissend, er hatte eine stattliche, eigene Bibliothek, ein bezauberndes Mädchen und eine hinreißende Verlobte, ein eigenes Heim und ein gutes Ansehen. War war jemand und viel wichtiger noch – er hatte jemanden an seiner Seite, dem genau das nahezu gleichgültig war.

Für Vivica wäre er noch immer der Richtige, selbst wenn die Flucht wieder beginnen würde. Allein dieses Wissen war ihm kostbar und so kam er nicht umhin, in diesem Moment, da die Hochzeit so greifbar nahe war, so glücklich zu strahlen, wie Selina es vorhin bei Erhalt ihres Geschenkes getan hatte.

Er würde diese Frau heiraten... der bloße Gedanke, dieser harmlose Satz, ließ ihn verzückt lächeln.

Nach und nach fand die Gemeinschaft wieder zu ihren Gesprächen zurück und Alandor konnte nicht anders, als Vivica inbrünstig zu danken. Auch Iangeon trat herbei und verneigte sich huldvoll vor der Firnhexe.

„Es ist mir eine Ehre, der baldigen Braut zu dieser Verlautbarung gratulieren zu dürfen und wenn der Hausherr erlaubt, ohne mich gleich hinaus zu werfen – das Kleid ist eine Zierde an euch!“ erklärte der Geistmagier, ergriff ihre Hand und nötigte der Firnhexe einen Kuss auf Selbige.

Nach Alandors Meinung war der Tag damit ein voller Erfolg gewesen. All der Aufwand, all die Kosten, all die Mühen und Planungen – es hatte sich gelohnt. Allein schon, zu sehen, mit welcher Grazie Vivica die Treppe herab trat, sie in ihrem Kleid zu erblicken, war all das wert gewesen. Er fühlte sich... beschwingt und durchströmt von purem Glück.

Sollte der Abend nun ruhig enden. Am liebsten hätte er sie alle hinaus komplementiert und Vivica die Stufen wieder hinauf gejagt, doch... solch ein Ball verlangte ein gewisses soziales Protokoll. Ein paar Stunden würde nun alles nachwirken, die ausgelassene Stimmung würde abflauen, die Gespräche nach und nach verebben. Der Höhepunkt war erreicht und nun brauchte alles nur noch ein wenig Zeit, bis die Ersten sich zu gehen trauten und rasch der Rest der Meute folgte.

Alandor konnte gut damit leben.

Er hatte alles, was er wollte, alles, was er brauchte und selbst ihr Jäger, Meister Conster, gestand ihnen offenbar neidlos dieses Glück zu.

Es hätte nicht schöner werden können.

Und genau das war immer schon das Problem mit solchen Momenten.

Wenn man den Höhepunkt der Stimmung erreichte, was blieb dann noch anderes, als das Absinken eben jener? Es hätte der schönste Abend sein und bleiben können, doch dazu war er nicht bestimmt worden. Stattdessen folgte, was früher oder später ohnehin hätte folgen müssen – nur hatte Alandor erwartet, das Iangeon dann der Auslöser dessen sei.

Mehrere schwere Explosionen zerrissen Teile der Hauswand und ließen den Boden erzittern. Gläser stürzten um, überraschte Schreie drangen schmerzhaft schrill aus Damenkehlen und binnen Sekunden brach schiere Panik aus. Das Personal floh, genauso wie die Gäste. Sie drängten und schoben sich in aller Eile in Richtung der Ausgänge, während fremde Gesichter aus allen Türen – und davon führten so Einige zum Ballsaal – Selbigen erstürmten.

Schwerter, Bögen, Armbrüste, schäbige Lederpanzer und ein paar zerzauste Lumpen. „Rebellen!“ erkannte Alandor mehr als überrascht, ehe sein Geist einsetzte und zu schalten begann, „Vivica, bring Selina in Sicherheit!“ forderte er und deutete in Richtung der Treppe.

„Alle raus hier!“ blaffte eine weibliche Stimme. Der Bannwirker und Iangeon sahen einander an.

„Zeit zu gehen, würde ich sagen.“ meinte dieser einladend. Beide zuckten mit den Schultern. Wenn es nur um einen Raubüberfall ging, gut, dann sollten sie doch in aller Ruhe das Haus plündern! Alandor tat genau einen Schritt zum Ausgang, als ein kleines Metallprojektil die Büste direkt neben ihm in einem Regen kleiner Steinsplittern zerfetzte.

„Ihr nicht!“ tönte die Stimme eines Weibes. Alandor sah sich um, fand rasch die Quelle und hätte am liebsten lachen wollen. Was für eine überaus schlechte Parodie einer Piratin sollte das denn bitte werden? Hatte sie zu viele Ammenmärchen über romanische Seefahrten und Freibeuter verschlungen, oder war sie wirklich so närrisch?

Es vergingen einige Minuten, in denen auch die letzten Gäste durch die Türen ins Freie verschwanden. Einzig Selina kehrte zurück, drängte sich zwischen all den Flüchtenden hindurch und wurde von Vivica in die Arme geschlossen, die das Mädchen in Sicherheit brachte – hinter den zwei Magi, die ihrerseits einen Wall zwischen den Damen des Hauses und den sie umzingelnden Rebellen bildeten.

„Wie kommt es eigentlich, dass ihr an meiner Seite steht?“ erkundigte sich Alandor mehr als überrascht, dass Iangeon seine Chance auf Flucht nicht genutzt hatte. Der grinste schelmisch, wie man es von einem frechen Rotzlöffel von vielleicht zehn Sommern Alter hätte erwarten können und zuckte dann mit den Schultern.

„Wenn euch einer zur Strecke bringt, mein Freund, dann werde ich das sein, niemand sonst!“ erklärte der Geistmagier grinsend seinen Beistand und spürte, wie das Gewebe in durchdrang. Entweder hatten die Rebellen absichtlich oder unabsichtlich die Runen beschädigt oder vielleicht sogar zerstört, die ihm seine Kräfte geraubt hatten, oder aber, der Gastgeber der zersprengten Gesellschaft besaß eine Art von mentaler Kontrolle über diesen Schutzmechanismus. Ein weiteres, interessantes Detail, das Iangeon sich für später zu merken gedachte. Falls es denn ein 'später' geben würde.

Oh er zweifelte nicht daran, dass sie das hier überlebten. Alandor hätte sie alle mit einem einzigen Zauber töten können und auch Iangeon wusste, wie er die eine Hälfte dazu bringen könnte, die andere Hälfte zu erschießen und zu erstechen. Nein, die Frage war viel mehr, wie es sich in Samaras Oberschicht wohl darstellen würde, dass die Rebellen, von denen man bisher nur allerlei Gerüchte ins Nobelviertel hatte schwappen hören, ausgerechnet dieses Anwesen an diesem Abend heimsuchten.

Welches Urteil würden sich die Reichen und Schönen da wohl bilden...?

„Ich verlange zu wissen, was ihr in meinem Haus zu suchen habt!“ forderte Alandor diese Parodie einer Piratin auf, die lediglich einen Moment zornig funkelnd versuchte, ihre Lage abzuschätzen. Noch bevor sie sich jedoch tatsächlich zu Wort melden konnte, ertönte von ganz anderer Seite die verlangte Antwort.

„Verlangen? Einen Dreck wirst du!“ blaffte ein anderes Weib.

Erneut wanderten ihre Blicke. Es war überraschend, unter einer Bande von offenkundigen Bauern, denen man nur mit Notdurft erklärt hatte, wie sie sich beim Heben eines Schwertes nicht selbst enthaupteten, eine Elbe zu finden. Noch dazu eine Elbe, die die Statur und Bewegungen eines erfahrenen Kriegers und Kämpfers hatte.

Noch dazu eine Elbe, die nur ein Auge hatte.

Ob sie damit überhaupt noch etwas sehen konnte? Räumlich sehen? Und wie wollte man mit einem Schwerthieb treffen, wenn man die eigene Position in Relation zu der des Gegners falsch einschätzte? Vielleicht sollte er es einfach auf einen Versuch ankommen lassen, um diesem vorlauten Weib zu zeigen, wie überaus dümmlich es war, sich ausgerechnet am Gut und Leben eines Magiers vergreifen zu wollen.

„Die Männer und das Kind brauchen wir nicht.“ erklärte die Elbe ohne Umschweife und funkelte Alandor kalt und boshaft an. Noch bevor die Piratin eingreifen konnte, löste sich von der Armbrust eines Rebellen bereits der Bolzen und Sekunden später spürten alle im Raum, die das Gewebe wahrnahmen, das Kribbeln von Magie.

Eine kleine Bannmauer schloss sich um den Körper des Schützen und schrumpfte in Sekunden dahin – sie zerquetschte den Mann, presste ihn bis auf die Größe einer Fingerkuppe zusammen und als das Bannfeld brach, 'explodierte' der Inhalt sich rasch ausbreitend förmlich. Der Bolzen dagegen wurde von einer weiteren Bannmauer schlicht abgeschmettert.

Vivica hielt Selina weiter an sich gepresst, um zu vermeiden, dass das Kind die Sauerei mit ansehen musste, doch als ihr klar wurde, dass dieses Geschoss das Mädchen im Rücken getroffen hätte, da veränderte sich auch in ihr etwas... und es wurde kalt im Raum, kalt und kälter mit jeder Sekunde.

Magier!“ spukte Ashes angewidert und voller Hass den Begriff aus.

Abschaum!“ erwiderte der Hausherr, während kalte Berechnungen kalkulierten, wie schnell er wie viele dieser Witzfiguren töten könnte – und welche Risiken dabei für Selina und Vivica bestanden.

Alandor!“ spie plötzlich eine weitere Stimme seinen Namen. Verdutzt über den Klang eben dieser, über diesen bekannten, wohlvertrauten und verhassten Einschlag, wechselte die Aufmerksamkeit des Bannmagiers den Besitzer und er gewahrte, dass offenbar nicht alle Gäste des Balles den Saal fluchtartig verlassen hatten.

Es war schwer, die Gesichtszüge nach all den Jahren zu erkennen, doch diese Stimme...

Das verbrochene Glas, als du die Verlobung bekannt gegeben hast...

'Adamant'!“ spottete der Bannwirker zurück und wünschte sich in diesem Moment, da er Peter wieder sah und für den Angriff der Rebellen verantwortlich machte, nichts mehr, als dass er ihm damals nicht die Nase, sondern das verdammte Genick gebrochen hätte...

Langsam begann der Bannmagier seine Kräfte zu sammeln. Das statische Aufladen der Energien, abgezapft aus dem Gewebe, umgab das einstige Zirkelmitglied wie eine bedrohliche Wand, die immer härter wurde, immer stabiler, immer weiter anwuchs.

„Keiner von euch wird diesen Raum lebend verlassen...!“



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