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Lumiél Noir

von

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Auf- und Abstieg, Teil 2

Man hätte eine epische Geschichte daraus spinnen mögen, nicht wahr? Der einsame Wanderer, ein Bär von einem Mann, stattlich, kräftig und mit der Ausstrahlung eines unerbittlich standhaften Felsens, der mit bloßen Händen den ausgehungerten Wolf bezwang. Oh gewiss, so wurden Helden geschmiedet - im tratschsüchtigen Maul von Weibern und Säufern.

Es war nichts Heldenhaftes daran gewesen. Thorin hatte sich über eine Woche, selbst dem Hunger unterworfen, durch die Wildnis Lumiéls gekämpft. Vielleicht war es verkehrt, das Grünland als ‚Wildnis‘ zu beschreiben. Doch wer einmal versucht hatte, unter den gleichen Umständen wie der Krieger von Kal Terrika zu seinem Zielort zu gelangen, der musste feststellen, dass selbst das in Überfluss ertrinkende, grüne Herzland des Atolls seine Gefahren aufzubieten wusste.

Er hatte keinen Proviant mehr. Von einer Waffe ganz zu schweigen. Den Wolf, der ihm stattliche Kratzer und sogar ein paar Bissspuren auf seinem Panzer eingetragen hatte, diente ihm nun Stückchenweise über dem Lagerfeuer rotierend als Ersatz für zumindest das Eine. Beide waren sie keine Feinde aus persönlichen Gründen gewesen, beiden ging es nur um das Stillen eines existentiellen Bedürfnisses. Doch als der Krieger das Tier zu packen bekam, seine Kehle mit dessen muskulösem Arm abpresste, als er den Todeskampf des Wesens sah, das mit den Krallen in weichem Boden scharrte und zu entkommen, sich zu befreien, ja selbst jetzt noch nach ihm zu schnappen versuchte… es musste kein Mitleid sein. Möglicherweise aber ein gewisses Gefühl der… Verbundenheit?

Schon vor langer, langer Zeit hatte er fast alles verloren, was ihn an sein altes Leben erinnern konnte. Die Karte, uraltes Leder bedruckt mit dem Atoll selbst, eingetragene Städte und Pfade, die längst nicht mehr existiert hatten, war fort. Vielleicht existierte sie nun, um staunende Reisende an Ruinen heran oder verwilderte Schleichwege entlang zu führen. Vielleicht auch, um einem dieser verflixten Zirkelmagier zu zeigen, wo er nach Schätzen buddeln musste. Auch seinen Kompass besaß er nicht mehr. Das kleine, schlichte Holzkästchen, in dem sich die Nadel so unermüdlich bewegt hatte. Irgendwann war er nach all den Gaben, die man ihm verliehen hatte, überflüssig geworden. Und Thorin, pragmatisch wie er war, hatte keinen unnützen Tand tragen wollen. Jetzt orientierte er sich am Verlauf der Sonne, am Ort ihres Auf- und Niederganges.

Es gelang ihm, in den weiten, sich wellengleich wiegenden Grasebenen nicht die Orientierung zu verlieren. Es gelang ihm sogar, den Bruchberg großzügig zu umgehen. Ganz gleich, in welcher dieser verdammten Zeitlinien man sich bewegte, Goblins und Gnome waren nie freundlich, nie feindlich - und nie ungefährlich. Diese kleinen Winzlinge wollten das vielleicht nicht einmal unbedingt, aber man konnte ihnen und vor allem ihren herzlichen Dreingaben einfach nicht trauen. Ständig kochte, ätzte, brannte oder explodierte irgendetwas, das laut seinem Schöpfer gar nicht dafür vorgesehen war. Man hätte sie für ein gewaltiges Volk von Stümpern halten können - und wären die Goblins allein für sich gewesen, vielleicht hätte man sogar Recht behalten. Die Gnome aber, obgleich nicht mit diesem technischen Genie gesegnet, wussten mit ihrem messerscharfen Verstand all die Merkwürdigkeiten irgendwie immer zu reparieren oder sogar einem tatsächlichen Nutzen zuzuführen. Einer der Gründe, warum eine einzige Goblinhöhle, ob bewohnt oder nicht, gefährlicher war als eine ganze Zwergenlegion. Fallen, eigenständig laufende Apparaturen, elektrische, aber ungesicherte Leitungen, Dampfkessel - genug Möglichkeiten, sich um Leib und Leben zu bringen.

Irgendwo im Norden errichte er schließlich sein Ziel. Kein nennenswerter Ort. Wie das so häufig war, wenn man etwas suchte, das vermutlich sehr alt und längst vergessen galt: Es war Meilen und Meilen von der nächsten Lokalität entfernt, die man auch nur als ‚nennenswert‘ hätte titulieren können. Mitten im Nirgendwo, zwischen der nächsten Feste, ein gutes Stück im Osten, Audron weit im Norden. Die Ausläufer der gewaltigen Wälder waren bereits sichtbar, welche sich südlich der Frost- und Eisgrenze an Lumiéls Städte schmiegten. Er musste sie zu seiner Erleichterung nicht betreten - an den südöstlichen Ausläufern befand sich sein Ziel, knapp außerhalb eben jener gewaltig aufragenden, uralten Bäume.

Wie das Orakel es ihm gewiesen hatte, grub er. Was hätte er sonst tun sollen? Erst am Ort des Geschehens eingetroffen, bemerkte er sein Dilemma: Es gab tatsächlich nicht nur auf der Karte keinerlei Anhaltspunkte. Er hatte auf etwas gehofft. Irgendetwas. Vielleicht einen besonders hohen Baum, vielleicht eine merkwürdig verzerrt gewachsene, knorrige Birke, vielleicht auch ein Steinmahl mitten in der Graslandschaft.

Irgendetwas eben.

Doch hier war nichts. Nur Gras und Gras und noch mehr Gras. Der Gedanke, das Orakel mochte ihn vor seinem Tod um die erbetene, nein, schlicht abverlangte Antwort betrogen haben, war durchaus gegenwärtig. Doch er wagte nicht ihm Raum zu lassen, um auch nur aufzukeimen. Stattdessen setzte er sich nieder, mitten im Grasland, fernab aller Straßen und Dörfer, in Niemandsland, und aß die letzten Reste Wolfsfleisch. Eine Schaufel hatte er inzwischen. Sie prangerte, wo einstmals die Waffen des Kriegers ihren Platz hatten finden müssen: Auf seinem Rücken, mit einem Ledergurt festgeschnallt. Er hatte sie unterwegs… gefunden.

Geld besaß er keines mehr. Er hatte alles Alandor gegeben, fest überzeugt, es nicht mehr zu benötigen. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt auch davon ausgegangen, nicht graben zu müssen. Der Wanderhändler hatte versucht, ihm bestmöglich entgegen zu kommen. Er war kein schlechter Mensch gewesen. Genau genommen, war er gar kein Mensch gewesen. Ein rüstiger alter Zwerg, der sich mit seinem Vornamen vorstellte. Ein Kruti also, keine Frage, ein Ausgestoßener seines Volkes. Er hatte sich dennoch mit einem Stolz präsentiert, mit einem erhobenen Kinn und wohlgeflochtenem Bart, ganz so, als sei dergleichen nie geschehen. Vielleicht war er ein Revolutionär, der sich gegen die Traditionen aussprach, vielleicht diente er als Verbindung zwischen seinem Clan und der Oberwelt - was spielte es schon für eine Rolle, woher der Stolz rührte? Sie hatten einander nicht unsympathisch befunden, doch hatten sie ebenso feststellen müssen, dass der Krieger, dem die Not des Besitzes des Werkzeuges regelrecht auf die Stirn geritzt stand, einfach nichts besaß. Nichts zum Bezahlen, nichts zum Eintauschen, gar nichts.

Am Ende hatte es nur eine Lösung gegeben. Als guter, aufrechter Händler hatte der Zwerg ihm die Schaufel ja schlecht schenken können. Und als jemand, der keine Zeit zu haben glaubte, nicht wusste, wann er das nächste Mal eine Menschenseele - einen Händler zudem! - überhaupt treffen würde und ob er dann etwas von Wert besäße, hatte Thorin den Zwerg auch ebenso schlecht einfach weiterziehen lassen können.

Zumindest hatte er es kurz gemacht. Ein einziger, völlig unerwarteter Hieb streckte den Zwerg, so kräftig er auch gebaut war, schlicht nieder. Händler blieb Händler, ein Krieger hätte vielleicht nur keuchend auf die Knie brechen müssen. Der Hüne sah sich um, erblickte aber weder andere Reisende noch Bedrohungen sonstiger Art. Keine Bären, keine Wölfe, keine Zentauren, Harpyien oder Trolle. Nichts und niemand, weit und breit. Der Kurze könnte also seine Ohnmacht überwinden und in aller Ruhe wieder aufwachen und sich sammeln, ohne bis dahin gefressen oder zumindest getötet worden zu sein. Der Kahlkopf selbst indes nahm schlicht die Schaufel und ging. Es hätte mehr gegeben. Vielleicht würde er auf hartes Gestein stoßen? Dann hätte er die schwere Spitzhacke gebrauchen können.

Oder wie wäre es mit neuer Kleidung? Einem wärmenden Hut? Möglicherweise ein paar neuen Stiefeln, die seine zugegeben nützlichen, weil beim Tritt schwer austeilenden Wanderstiefel hätten ersetzen können, die inzwischen so schrecklich durchgelaufen und abgetragen waren? Allerlei Tand und Krimskrams, der möglicherweise irgendwann irgendwie Wert besessen hätte. Nicht für andere Händler, sondern für sein Vorhaben. Doch… Thorin war genügsam. Er hätte sich nicht sich selbst gegenüber damit heraus reden müssen, dass er schlicht auf seinen Ballast achtete - tatsächlich war er schlicht genügsam.

Noch so ein Punkt, welcher Alandor Lamerak erstaunt die Augenbrauen hätte heben lassen. Ein Eichenschild, so wollten dessen Erinnerungen ihm weiß machen, hatte nie genug. Gab es eine Prügelei, war er immer mittendrin und selbst, wenn er blutend und mit unzähligen Treffern sich gerade so wackelig auf die Füße stemmen konnte - selbst hätte er alle besiegt! - hätte er nach mehr verlangt. Und am Tische, bei Ceteus, da doch sowieso! Er konnte nie genug essen, trinken, nie genug Vergnüglichkeiten in sich aufsaugen und war um eine dralle kleine Hure nie verlegen gewesen.

Sie würden diese Diskussionen nie wieder führen. Er würde sie mit niemandem mehr führen müssen - eine Erkenntnis, die ihm, wann immer sie sich wieder einschlich, ein mildes Lächeln abrang. Als er sein Mahl schließlich beendet hatte, schnallte der Hüne endlich die Schaufel von seinem Rücken, erhob sich unter einem Ächzen und drückte, die Hände auf den Hüften, das Kreuz durch. Es ließ sich einfach nicht länger leugnen… er wurde alt. Jetzt erstmals und sogleich endgültig. Ein merkwürdiges Gefühl.

Vielleicht hätte er etwas sagen sollen. Ein ‚Na dann wollen wir mal‘ oder dergleichen. Aber es war ja ohnehin niemand hier, der es hätte hören können. Also hob er schlicht die Spatenkante an die Grasnarbe, setzte den Stiefel auf und rammte sie tief hinein. Vier Mal, dann hob er das erste Stück Erde aus. Das Gras bildete eine dicke, dicht verflochtene Decke, die mit der Schaufelkante zu durchbrechen weit mehr Kraft kostete, als es das eigentliche Ausheben tat. Der Boden war, wie es sich für das Grünland gehörte. Reich an allem, was Pflanzen zum Wachstum brauchten. Zwischen dem Gras fanden sich dutzende Kräuter. Inzwischen wusste der Hüne auch, welche davon sich für heilende Salben eigneten… und dank ihr wusste er auch ein paar davon, sollte je die Notwendigkeit bestehen, in absolut tödliche Salben und Tränke umzusetzen.

Doch er achtete sie nicht. Stattdessen rammte er das Werkzeug wieder und wieder in den fruchtbaren Boden und hob im Verlaufe vieler Stunden eine ansehnliche Kuhle aus. Schweiß trat ihm auf Stirn und Leib, doch nur selten gönnte er sich Pausen. Nicht, weil das Alter sie nicht gefordert hätte - er hatte keine Zeit. Nicht eine Minute, die er sich tatsächlich lassen wollte. Je schneller er vorankäme, umso besser.

Wie das Orakel ihn angewiesen hatte, grub er. Tagelang. Die Nächte waren kühl, aber nicht unangenehm. Sie sorgten dafür, dass er tief schlafen konnte, zugleich aber früh erholt erwachte und weiter machen konnte. Sein Magen dankte es ihm gewiss nicht, fortwährend ignoriert und auf ein diffuses ‚später‘ vertröstet zu werden, doch er musste graben. Weiter und weiter.

Je mehr Stunden verstrichen, wie die Tage dahin flogen, musste er einfach Raum geben. Eben diesem einen Gedanken, das Orakel hätte ihn betrogen. Hatte sie sich ihre Erlösung etwa nur erkauft? War sie es leid gewesen, anderen zu helfen und hatte ihn daher in aller Absicht in diese Gegend geschickt? Gab es hier, irgendwo, überhaupt etwas zu finden? Die Zweifel waren da und mit dem Stand der Sonne erstarkten sie mehr und mehr. Doch was verblieb ihm anderes? So sehr er es sich auch gerne anders eingeredet hätte, er hatte nur diese eine Spur, nur diese eine Chance.

Frustriert saß er an diesem Abend am Rande einer überraschend großen Mulde. Ein stattliches Gebiet, welches er umgewühlt und ausgehoben hatte. Die Arbeit von vier Mann hatte er in gleicher Zeit erledigt - und so fühlte er sich auch. Seine Hände, obgleich durch Kampf und Jahre der Arbeit und Erfahrung von Horn geschützt und gestählt, brannten wie Feuer. Kleine, blutige Blasen hatten sich daran gebildet. Sein Kreuz drohte ihn umzubringen. Es würde einfach aus dem Fleisch heraus springen und ihn mit seiner eigenen Wirbelsäule erschlagen, jawohl! Und dann war da noch immer… der Hunger.

Am Rande seiner nutzlosen Arbeit sitzend, blickte er zum Himmel auf. Eine Pause, so sagte er sich. Er machte hier nur eine Pause. Dann würde er weiter graben. Vielleicht weiter in Richtung Wald. Vielleicht auch tiefer.

Neugier war es weniger, eher eine Art von fast kaum vorhandenem Interesse, das sich einschlich, als er in der Ferne jemanden Bemerkte. Der Gestalt nach ein Mensch - oder zumindest etwas Menschengroßes. Die Silhouette kam näher und näher, im schwindenden Tageslicht einen wehenden Umhang tragend. Ein Wanderer wie er? Ein einfacher Reisender? Es galt eine einfache, wenn auch unschöne Entscheidung zu treffen.

Er saß hier am Rand der Kuhle, in welcher er nichts Nennenswertes gefunden hatte, die Schaufel neben sich und am Ort, den das Orakel ihm gewiesen hatte. Er könnte weiter graben. Tage. Wochen. Jahre. Er würde sich vielleicht etwas Wild erjagen können, dann müsste er nicht einmal verhungern. Nur graben. Er würde irgendwann sterben und hätte das größte Loch Lumiéls ausgehoben… vermutlich, ohne irgendetwas gefunden zu haben. Nun ja, nichts außer das da.

Ein abfälliger Blick streifte kurz seinen einzigen Fund, ehe er mit einem Seufzen seinen Körper in Bewegung brachte und sich auf die Füße stemmte. Er würde gehen. Das hier… das machte keinen Sinn mehr. Das Orakel hatte ihn betrogen, wussten die Götter, warum. Ja - die Götter. Nicht dieser eine, hinterhältige kleine Bastard, der sich nun feiern ließ als hätte er selbst die Welt und alles darin erschaffen. Thorin, der in alten, furchtbar lange zurück liegenden Zeiten immer nur einer Stimme gefolgt und willentlich oder nicht nur einem die Treue gehalten hatte, hätte nie gedacht, irgendwann einmal so trotzig auf das ganze Pantheon zu schwören.

Die Schaufel… ließ er liegen, als er sich dem Wanderer entgegen bewegte. Je näher er der Gestalt kam, umso mehr Details erkannte er auch in der einsetzenden Dämmerung. Man hatte sich im Grünland immerhin schon aus weiter Ferne sehen können. Der Umhang war löchrig und ausgefranzt, zweifellos uralt - und obendrein aus einfachsten Leinen. Ohnehin weniger ein Umhang, eher ein großes, breites Leinentuch, das sich der Wanderer wie ein Beduine umgewickelt hatte.

Als sie auf ein paar Meter aneinander getreten waren, lag es an Thorin. Er war derjenige, der schweigend, skeptisch und abschätzend starrte, unverhohlen und bar aller Höflichkeit - während sein Gegenüber ihn nur kurz musterte, ehe ein Lächeln auf seine Lippen zog.

„Wer hätte das gedacht! Noch ein Reisender in dieser gottverlassenen Gegend!“ grüßte der Wanderer ihn, „Was treibt euch hierher?“ erkundigte er sich und warf einen Blick vorbei an der bulligen Gestalt des Kriegers, hinüber zu dem kaum übersehbaren Loch im Boden, „Schatzsuche?“ hakte der Reisende nach und schmunzelte angesichts der offenkundig ziellosen und obendrein erfolglosen Graberei.

„So ähnlich“, gab der Hüne lediglich unter einem tiefen Seufzen zurück, „Wohin zieht ihr?“

„Ich? Hmmm. Die Frage ist… schwieriger zu beantworten, als sie vielleicht wirken mag. Ich sag euch was… wir ziehen ein Stück zusammen. Es wird ohnehin bald dunkel, dann können wir uns ein schönes Feuer machen, einen Happen essen und ich erzähle es euch. Ich… gebe zu, ich könnte vielleicht sogar etwas Hilfe gebrauchen.“

Hilfe?

Das Wort schallte in Thorins Geist wieder und wieder von den Wänden seines Kopfes zurück. Hilfe. Die konnte er ebenso gebrauchen, nur war nichts und niemand mehr fähig, ihm zu helfen. Die einzige Macht, die das vermocht hätte, war durch seine Klinge gestorben. Aber warum? Warum abseits all der Wege, warum jenseits jedes Dorfes, warum mitten im Nirgendwo, warum gerade jetzt, gerade hier?

Warum war dieser Wanderer dort vor ihm hier? Es konnte ein Zufall sein. Natürlich konnte es das. Aber wer so alt wurde wie der Kahlkopf, der begann irgendwann zu zweifeln. Sobald die Zweifel nicht mehr genügten, begann man unweigerlich den Glauben zu verlieren. Daran, dass es Zufälle denn überhaupt je gegeben hätte. Ceteus Wille? Nein, sicher nicht. Aber irgendjemandes wohl.

Der Hüne antwortete nicht, ein einfaches Nicken gereichte völlig. Zusammen und allem voran schweigsam zogen sie ein gutes Stück an der Kuhle vorbei, die sein Tagewerk bedeutet hatte und bogen schließlich in den Wald hinein ab. Die Wälder Nordlumiéls. Sie waren gewaltig, viel größer als der Stille Wald zwischen Zadiora und La Coeur, viel größer und älter als die Sumpfwälder im Osten, hinter und in denen sich die Elben von Esgaroth versteckten. Und doch schienen diese uralten Bäume nie eine Dryade besessen zu haben. Man munkelte stets, woran das läge. Geschichten gab es darüber zuhauf und manche selbsternannte Erklärung war spannender als die andere. Thorin selbst glaubte keiner davon - einfach weil keine davon gute Beweise aufbieten konnte. Nur Vermutungen und Indizien.

Als sie ihr Lager auf einer kleinen Lichtung aufschlugen, hatten sie sich bereits tief genug in den uralten Forst gewagt, um nicht mehr so einfach zwischen den Baumreihen hindurch auf das weite Grasland hinaus blicken zu können. Ebenso bildeten die gewaltig aufragenden Stämme auch einen guten Sichtschutz für sie selbst. Der König bemühte sich nach Kräften, das Land zu sichern und stabil zu halten. Politisch war vermutlich gegenwärtig ein großer Tumult ausgebrochen, Bündnisse wurden gekündigt, Neue geschlossen, die ganze Welt geriet in Unordnung, doch… auch das zählte zu den Dingen, die Thorin nicht länger interessierten. Nichts tat das mehr. Die Welt wollte unbedingt vor die Hunde gehen? Sollte sie doch. Sie wollte es nicht? Na dann sollte sie etwas dagegen unternehmen. So einfach war das… so einfach war das immer schon gewesen.

Der Reisende nahm endlich dieses vergilbte Bettlaken ab. Er lächelte entschuldigend, erklärte den Aufzug damit, dass die Kälte ihm nicht gut täte. Erst, als das Leinen fiel, erkannte der Krieger die Wahrheit darin. Sein Gegenüber war kein gewöhnlicher Reisender, er war eher… ein Großväterchen. Eine aufrechte Gestalt von durchschnittlich-gutem Bau, aber sah man das Gesicht erst einmal entblößt, so bemerkte man unweigerlich ein paar Narben, tiefe Furchen auf Stirn, um die Augen und Lippen herum. Er litt zweifellos noch weit mehr unter dem, was Thorin erst zu plagen begonnen hatte - dem Alter. Und auch erst jetzt, im Schein des Feuers und einmal darauf aufmerksam geworden, bemerkte er die Hände seines Reisegefährten. Dünner gewordene Haut, von Altersflecken gezeichnet, spannte sich über mager werdenden Fingern.

Als der Wanderer sich endlich setzte, lächelte er dem Hünen zu, kramte weiter in seinem Rucksack herum und zog ein kleines Paket hervor. Eingeschnürt und eingepackt in ein dünnes Leder, entwickelte er seinen Proviant. Wohlduftender, herzhafter Käse, ein gut abgehangener, salziger Schinken. Brot, ein Stück Fisch, aus dem Rucksack kamen ein paar Früchte hinzu. Äpfel, eine Orange, zwei, drei Tomaten. Ein kleines Festmahl. Schon beim Anblick dessen rebellierte der Magen des Kriegers, der sich viel zu lange ignoriert und vertröstet fühlte, lautstark vor sich hin. Obwohl dem Kahlkopf nichts so schnell peinlich wurde… musste er doch den Blick senken. Es grämte ihn eher, zu betteln, ohne das bewusst getan zu haben.

Einzig sein Gegenüber erlöste ihn aus dieser Zwickmühle. Einen Moment blickte der Ältere seinen Landsmann an, ehe ein mildes Lächeln die faltigen Lippen glatt zog. „Seht, ich habe einfach kein Gefühl mehr. Früher stand ich in der Küche und habe für drei Personen gekocht. Ein Vergnügen, das sage ich euch, aber man gewöhnt sich so schlecht um. Noch immer packe ich mir ständig viel zu viel ein. Wollt ihr mir nicht vielleicht helfen? Es wäre doch schade, wenn das gute Zeug verdirbt!“

Der Hüne blickte auf und fühlte sich… überrascht. Überrumpelt von der Güte, die aus den Augen dieses Alten strahlte wie das Licht der Sonne vom Himmel. Mit einem wortlosen Nicken stimmte er zu, akzeptierte die Mildtätigkeit. Es nützte niemandem etwas, hier zu diskutieren und sich unnötig zu sträuben. Zumal er tatsächlich würde bei Kräften bleiben müssen. Das Orakel war vielleicht ein Fehlschlag gewesen, aber im Namen aller Dinge, die noch heilig galten - er würde nicht aufgeben! Gut, dann würde er eben andere Wege finden. Aber es gab sie. Und er würde sie finden.

„Wer seid ihr?“ erkundigte sich Thorin, während er einen großen Bissen Brot mit einem weiteren, großen Bissen des herzhaften Käses in seinem Mund vermischte und so nur noch zuzuhören fähig war. Er versuchte, die Gier zu zügeln. Er wollte dem Alten schließlich bei aller Güte auch sein Mahl nicht gänzlich davon schlingen, „Und was treibt euch hier raus?“

„Nun ja“, hob der Wanderer unter einem leisen Auflachen an, „ich hatte es euch ja versprochen, nicht wahr? Zunächst einmal… ich heiße Wilbert. Ich bin… also nein. Ich war eigentlich Viehzüchter, drüben in Lairuinen.“

Ein Viehzüchter aus dem Norden. Der Hüne musterte den Alten erneut. Das dünne, wenige Haar, das auf dem runden Schädel verblieben war, wirkte tatsächlich, als könne es lange vor seinem Ergrauen einmal blond gewesen sein. Die Augen wirkten trotzig und eher rot - was allerdings dem Lagerfeuer zuzuschreiben war. Aber die Statur passte vielleicht zu den bärenhaften Hünen Lairuinens. Ein Viehzüchter also. Aber was trieb den hierher? Dennoch wollte der Krieger, trotz seiner sonstigen Art, nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen. Nicht zuletzt als Dank dafür, an den Reisevorräten des Wanderers Anteil haben zu dürfen.

„War?“ brachte er daher kräftig kauend hervor.

Wilbert nickte und ein kummervoller Glanz legte sich langsam in seine Augen, die bis gerade eben noch vom Lächeln seiner Lippen erfasst waren. „“War“, wiederholte er leiser, „Seht, ich verstehe all diese Dinge ehrlich gesagt auch nicht ganz recht. Ich erinnere mich daran, wie schlecht es allen ging. Es waren dunkle, grässliche Zeiten, die wir viel zu lange erduldet hatten. Furchtbar, einfach furchtbar. Aber Lairuinen hat überlebt, das tut es in solchen Zeiten meistens. Dann aber kamen die Männer des Königs. Eine Abteilung des Heeres… ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Eine Kompanie? Soldaten in ihren blitzeblanken Rüstungen, mit Schwertern, Speeren, Bögen, Armbrüsten… und Katapulten. Sie hatten Magier dabei. Die Ältesten des Dorfes verweigerten, was auch immer die Soldaten eigentlich gefordert hatten und binnen eines Herzschlages brach Chaos herein. Plötzlich waren die Soldaten überall. Sie schlachteten einfach alle nieder. Aber… wenn ihr je in Lairuinen wart, kennt ihr die Einwohner wohl. Sie leisteten Gegenwehr. Selbst das einfachste Waschweib, die Küchenmagd und die Schwangere in ihrem Bett, sie alle packten Äxte, Schwerter, Küchenmesser - was immer sie greifen konnten. Wenige Stunden und der Boden war gepflastert mit den Leichen beider Seiten, während das halbe Dorf durch den Beschuss der Katapulte in Flammen stand. Dann erst kamen die Magier. Sie sollten aufräumen. Ich hatte den Wahnsinn losbrechen gesehen, ich wusste, dass wir keine Chance hätten. Also versteckte ich meine Frau und meine Tochter im Schlafzimmer, schloss die Tür ab und hielt davor Wache. Als der Magier eintrat, warf er einen Zauber gegen mich. Ich spürte Hitze und Kälte und unglaubliche Schmerzen. Ich… ich erinnere mich noch, wie ich auf die Knie brach und sah, wie sich plötzlich alles veränderte. Etwas erfasste den Magier, es riss ihm die Haut vom Fleisch… dann das Fleisch von den Knochen, ehe selbst die irgendwie einfach abgetragen wurden. Wie Staub, den der Wind verweht. Das Haus blieb bestehen, aber ich sah Vasen samt der Blumen darin verschwinden, ich sah draußen das Licht verrücktspielen, als könne sich die Welt nicht zwischen Tag und Nacht entscheiden. Als dieser Zauber endlich aufhörte, hatte sich das ganze Haus irgendwie… verändert. Tische standen anders herum, die Stühle sahen nicht nach den Meinen aus und Gemälde, die ich gekauft und aufgehängt hatte, waren verschwunden oder durch andere ersetzt worden. Ich wusste nicht, was für fauler Zauber das war. Aber es war mir einerlei, solange ich nur hatte beschützen können, was mir wichtig war. Ich erhob mich, tastete mich ab - unverletzt, wie ihr sehen könnt. Rasch zog ich den Schlüssel aus meiner Tasche, wandte mich um und schloss, noch dabei den Namen meines Weibes rufend, die Tür auf. Aus dem Bett aber sprangen zwei Gestalten auf. Ein Weib, welches nicht das Meine war. Als sie mich erblickte, als ihr Mann meinen Namen mit solchem Entsetzen aussprach, da kippte sie einfach in Ohnmacht. Er selbst schien leichenblass kurz davor, wusste sich aber zu beherrschen. Er… er tippte mich an, hier an der Schulter. Als würde er glauben, ich sei ein Nachhang eines bösen Traumes. Erst nach und nach, als er sich um seine Frau gekümmert hatte, brachte er die Geduld auf, meine Verwirrung, meine Wut, mein Zetern und Fluchen und meine Fragen zu beantworten. Ihr… werdet mich für verrückt halten, fürchte ich. Falls ihr das nicht längst tut. Er brachte mich in sein Speisezimmer. Ja - seines. Das Haus, so erzählte er mir, gehöre seit sieben Jahren ihm. Seit die Familie, die davor dort gewohnt hätte - meine Familie - von den Truppen Phillipe des Dritten deportiert und hingerichtet worden sei. Als Verräter an der Krone, als Verschwörer. Man… man erzählte mir, das mein Heim, das noch vor wenigen Stunden mir gehört hatte, seit Jahren nicht das Meine sei. Dass das Weib, mit dem ich noch letzte Nacht das Bett geteilt hatte, tot wäre. So wie meine Tochter. Und das auch ich es eigentlich sein sollte.“

Unglaublich.

Ein Wort, das viele Bedeutungen besitzen konnte. Es war die erste und schließlich auch durchgängigste Reaktion, die sich im Geist des Hünen manifestierte, während er der Erzählung des Viehzüchters lauschte. Schon als er hörte, das Soldaten vor Lairuinen aufmarschiert wären, schwante ihm Übles - denn in dieser Welt hatte es diesen Angriff laut den Überlebenden, laut den Älteren und den Büchern der Geschichte, nie gegeben.

Und hier nun saß ein einfacher Viehzüchter, ein alter Wanderer, der seine von Alter geplagten Hände am Feuer wärmte, und erzählte ihm vom Massaker von Lairuinen. Von einer verlorenen Schlacht, die er unmöglich hatte erleben können. Von einem Geschehnis, das nicht in seinem Kopf hätte existieren dürfen. Überhaupt hätte er, seinen Worten nach, selbst gar nicht hier sitzen können. Natürlich war die Erklärung all dessen naheliegend, nicht wahr? Magie war im Spiel. Magie machte immer alles kompliziert und wirr und undurchschaubar. Der Zauberer hatte einen Spruch gegen den Viehzüchter geworfen und während er selbst den Veränderungen zum Opfer fiel, die die Zeitmagie mit sich brachte, war er von diesem Zauber, der ihn quälen und wohl auch hätte töten sollen, beschützt worden. Ein zweifelhafter Schutz, bedachte man sich das unschöne Erwachen.

Er kannte sich gut damit aus, wie es war, Weib und Kind zu verlieren. Eine Tochter vor allem. Eine Parallele in ihrer beider Leben. Der Zauber hatte ihn also geschirmt, so musste es ja sein. Welche Erklärung gäbe es sonst?

Thorin ließ die Geschichte eine Weile sinken und ignorierte dabei den ungeduldigen und zugleich hoffenden Blick des Älteren. Dessen Augen bettelten regelrecht darum, nicht für wahnsinnig erklärt zu werden und tatsächlich hatte der Kahlkopf das auch nicht vor. Nein, nichts lag ihm ferner. Er hatte diese Gräuel gesehen. Nicht, als sie geschahen… aber er war über das Feld der Leichen gelaufen. Die Straßen waren gepflastert mit den Toten beider Seiten? Der Ausdruck hatte wortwörtliche Berechtigung gehabt!

Nach einer ganzen Weile bemerkte der Hüne, wie er unabsichtlich begonnen hatte, das letzte Käsestück zwischen seinen Fingern zu zerdrücken. Die schmierige Masse wurde rasch von den Fingern genommen, ehe er sich zu einer Antwort auf diese Geschichte erhob, die jedem wüst und unglaublich vorgekommen wäre.

„Was genau habt ihr nun vor, zu tun?“ erkundigte sich der Krieger lediglich. Thorin war kein Dummkopf. Ob die Geschichte sich nun genau so zugetragen hätte oder eben auch nicht, spielte am Ende keine Rolle. Wichtig war nur, dass dieser Alte sie für wahr hielt, „Und wobei soll ich euch helfen?“ Hilfe, ja. Darum hatte er gebeten. Aber wobei sollte er ihm schon helfen? Wollte er die Gräber seiner Familie finden? Die Särge ausgraben, um hinein zu schauen, ob die geliebten Wesen darin verwesten und von Würmern zerfressen wurden? Eine schlechte Idee. Der Anblick beim Öffnen der Särge würde ihm nicht einfach nur das Herz brechen.

Wilbert nickte dankbar. Er war nicht für irre erklärt worden, Thorin war nicht panisch aufgesprungen um ihn zu erschlagen. Nein, stattdessen nahm er seine Geschichte hin. Er bestätigte sie nicht, zweifelte sie aber auch nicht an - stattdessen erkundigte er sich nach dem Naheliegenden. Ein Pragmatiker, durch und durch, daran konnte wohl kein Zweifel mehr bestehen. Abermals trat ein mildes Lächeln auf die alten Lippen, auch wenn es ob der bitteren Erinnerungen etwas schief hing.

„Ich war schockiert und entsetzt, als ich eine Schwarzkutte auf der Straße sah. Ich traute mich nicht, einen Stein zu packen und nach ihm zu werfen… was gut war. Vermutlich hätte man mich dafür eingesperrt. Ceteuspriester lehren in den Tempeln lesen und schreiben und… die Anbetung des Gottes. Des einen. Ich… erkenne diese Welt nicht wieder. Sie wirkt vertraut, aber so absurd anders. Es hat mich viel Zeit und Mühe gekostet, alles Vermögen, was ich noch besaß und jeden Gefallen, der noch offen stand. Und natürlich viele Erklärungen, warum ich noch lebte. Aber ich fand ein Buch, völlig verbrannt, auf dem auf einer Seite das Gesuchte war. Ein Hinweis auf einen Schrein unbekannter Herkunft und unbekannter Verwendung. Als ich das Symbol sah, wusste ich es einfach. Vielleicht ist es der letzte Altar in Lumiél, vielleicht der Letzte dieser Welt. Aber er ist Arimasper geweiht, dem einzigen Gott des Krieges, den es geben sollte. Ich werde ihn finden, ich werde auf meine alten, starren Knie brechen und ich werde ihn anschreien. Bis er mir antwortet, womit ich dieses grausame Spiel verdient habe.“

Arimasper.

Es verwunderte den Krieger über alle Maßen, diesen Namen zu hören. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken, doch allein, dass der Viehzüchter wusste, wie der Kriegsgott hieß… der einzig Wahre, ganz wie er es gesagt hatte… war doch wohl mehr als genug Bestätigung für seine furiose Geschichte, nicht wahr? Dennoch ließ sich ein Punkt einfach nicht von der Hand weisen:

„Ihr schreit da den Falschen an“, wandte der Krieger gegen das Vorhaben ein. Er wollte Wilbert keineswegs von seinem Plan abbringen, im Gegenteil. Hilfe oder nicht, er würde ihn begleiten. Oder notfalls alles Nötige an Wissen aus ihm heraus prügeln, alt und gebrechlich und hilfesuchend oder nicht. Nachdem das Orakel ihn betrogen hatte, war dieser Schrein der letzte verbliebene Hinweis auf die alte Zeit, die er noch hatte. Vielleicht eine Spur. Vielleicht hatte das Orakel ihn nicht einmal betrogen. Möglicherweise sollte er nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, damit er diesem Alten hier begegnen konnte? Vielleicht würde der ihn ja zu seinem Ziel bringen. Wer konnte das schon wissen - man hatte dem Orakel ja stets nachgesagt, das seine Aussagen vielfältig deutbar waren und obgleich eben schwer verständlich, doch meist zum Ziel führten.

Als Wilbert auf seinen Einwand hin merkwürdig drein sah, hob der Krieger die Hand und winkte ab. Es war einerlei, er war nun wirklich nicht erpicht darauf, in einer ‚Hallo, ich bin Thorin und habe folgende schreckliche Dinge erlebt‘ - Runde damit anfangen zu müssen, seine Version ebenso darzulegen. Es ging niemanden etwas an, kein einziges Detail davon. Entsprechend lauschte er, wofür der Viehzüchter nun eine Hilfe wünschte. Sie war denkbar einfach: Er war allein und er war alt. Vor allem aber war er quasi unbewaffnet. Sicherlich, er hatte einen Dolch dabei, aber den verwendete er eher zum Schneiden des Käses und des Schinkens. Mit nahezu allem, selbst mit Häkelnadeln, ließen sich am Ende schreckliche Wunden verursachen - aber er war kein Kämpfer, ihm fehlte schlicht Wissen und Übung für dergleichen.

Beides konnte Thorin aufbieten und so hatten sie rasch ein Arrangement geschlossen. Der Hüne stellte sich nachträglich ebenso mit seinem Namen vor und reichte seinem Landsmann die Hand. Er würde für ihn kämpfen, sollte es notwendig werden und ihn bis zum Schrein eskortieren. Im Gegenzug reisten beide gemeinsam und der Kahlkopf würde sich an den Vorräten des Wanderers mit bedienen dürfen. Gegenseitiger Nutzen, wie beide mit einem zufriedenen Lächeln befanden.

Eine Weile kehrte Schweigen ein, wärmten sie sich und entspannten ihre Glieder. Erst deutlich später, als in beiden Köpfen schon der Wunsch nach Rast und Ruhe eingekehrte, erhob Wilbert noch einmal das Gespräch zur Kür. „Und ihr? Was trieb euch in diese Gegend?“

Ein verächtliches Schnauben war die erste Reaktion, die Thorin von sich gab. Ja, was trieb ihn denn hier her? Irrsinn? Dummer kleiner Kinderglaube? Ammenmärchen? Die sogenannte Hilfe eines stümperhaften Dummkopfes von Magier? Ein gedehntes Seufzen ließ ihn all die verschwendete - möglicherweise verschwendete - Zeit Revue passieren.

„Ich suche etwas. Jemand, der schwer zu finden war und von dem ich mir klare Antwort erhoffte, schickte mich hierher und sagte, ich solle graben und würde finden, was ich suche. Ich kam hierher und grub.“ So einfach war das. Wie immer.

„Und habt ihr gefunden? Ist es das dort?“ erkundigte sich der Viehzüchter mit einem Ton, den der Krieger gallig als völlig unberechtigt hoffnungsvoll befand. Was ging es ihn überhaupt an? Schlafen sollte er! Trotzdem wollte der Hüne das frische Bündnis nicht gefährden, indem er seine maulfaule Art wieder zum Strahlen brachte. Also hob er schlicht sein einziges Fundstück und warf es dem Wanderer vor die Füße. Ein schlichtes Stück Holz. Länglich, gut gearbeitet, aber von der feuchten Erde angegriffen. Morsch, brüchig, vermutlich mit einem ganzen Wurm- und Madenstaat darin. Es hätte ein Tisch- oder Stuhlbein sein können, das ließ sich kaum noch sagen.

„Das ist mein glorreicher Fund. Und nicht, was ich suchte“, erwiderte der Krieger etwas harscher, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Wilbert nickte verstehend, hob das Stück Holz und kratzte hier und dort etwas Erde davon herab, ehe er es drehend und wendend begutachtete und Thorin schließlich zurück reichte. Der spielte einen Moment mit dem Gedanken, es ins Feuer zu werfen… doch bemerkte er während dieser Überlegung den Blick des Wanderers. So… lauernd und… ernst?

Als er das Stück wieder ablegte, schien sich Wilbert wieder zu entspannen.

„Warum geht ihr nicht zurück und fragt erneut? Nach etwas Konkreterem? Und… wenn das nicht das Gesuchte ist, warum nehmt ihr es mit?“

Das waren alles verdammt gute Fragen, nicht wahr? Abermals seufzend streckte sich der Krieger zur Gänze aus und bettete den Kopf auf seinen hinter eben diesem verschränkten Händen. „Sie ist weg. Ich kann sie nicht mehr fragen“, erörterte er zunächst, wobei er offenließ, ob sich jenes ‚sie‘ nun auf eine Frau oder schlicht auf ‚die Person‘ bezog, „Und ich schleppe es mit mir herum, weil ich töricht bin. Ich will mir nicht eingestehen, dass die Tage des ununterbrochenen Grabens, die Schwielen an meinen Händen und der unausstehliche Hunger dieser Stunden völlig für umsonst gewesen waren.“

Eine Ehrlichkeit, die den Kahlkopf selbst mindestens so sehr überraschte und beeindruckte, wie sie das auch mit Wilbert tat. Der Wanderer nickte anerkennend, ehe auch er sich, ohne weitere lästige Fragen oder ach so gut gemeinte Ratschläge, endlich zur Ruhe bettete. Thorin hielt die erste Wache dieser Nacht und das größte Übel, welches ihm begegnete, war ein Waschbär, der Wilberts Vorräte gerochen hatte und sich bedienen wollte. Irgendwann kam der Wachwechsel und der Krieger schlief binnen weniger Herzschläge tief wie ein Stein.
 

Mehrere Tage lang durchstreiften die zwei Alternden gemeinsam die Wälder. Mal mehr, mal weniger wirr. Thorin hatte längst jegliche Orientierung verloren. Hier im Wald, verborgen unter dem gewaltigen Blätterdach der hoch aufragenden, uralten Baumgiganten konnte er den Sonnenlauf schlecht einschätzen und Wilbert schien sich weniger an einer Karte, als vielmehr an rasch dahin gekritzelten Notizen zu orientieren - die sie, wie der Hüne mit Frustration bemerkte - auch manchmal zum selben Ort zurück führten.

Erst nach einer ansehnlich großen Zeit erreichten sie endlich ihr scheinbares Ziel. Sie kämpften sich gerade zwischen Büschen hervor und der Krieger wollte Wilbert schon anfahren, ob es wirklich nötig gewesen war, sich in dieses Dornengestrüpp zu werfen, als ihm die Frage prompt quer im Halse stecken blieb. Gemeinsam traten sie, ein paar letzte lästige Zweige zur Seite schiebend, auf eine Lichtung hervor. Sonnenlicht flutete durch eine scheinbare Wachstumslücke im Blätterdach diesen Ort, der ausgetreten wirkte. Als hätte hier reger Verkehr geherrscht. Es gab keine Fuß- oder Wagenspuren, aber dennoch wagte hier seltsamerweise kein Grashalm zu wachsen. Ebener, weicher Boden. Zu weich, um fortwährend von der Sonne ausgetrocknet worden zu sein. Man merkte schnell, schon an der Ausstrahlung dieses Ortes, das er… besonders war.

„Sind wir da?“ hörte sich der Krieger fragen und hätte sich dafür gut schelten können. Natürlich waren sie da. Selbst hätte er es nicht an Wilberts freudigem Gesichtsausdruck bemerkt, so stellte sich doch unweigerlich die Frage, über wie viele heilige Orte man in einem Wald wohl stolpern konnte - vor allem auf so kleinem Gebiet verteilt. Entsprechend überraschte ihn die Antwort nicht, dass dem so war. Gemeinsam schritten sie auf den Eingang einer aus dem aufsteigenden Hügelkamm ragenden Höhle zu. Massiver Granit formte kleine Quader, die einen schlicht behauen wirkenden Schlund bildeten. Der Schrein Arimaspers war also… unter Tage? In einer Höhle?

„Es reicht“, konstatierte Thorin trocken und zog den Dolch hervor. Wilbert hatte ihn Thorin überreicht, als dieser sich in einer Nacht mit einem hungrig herum streifenden Bären konfrontiert gesehen hatte und scheinbar ‚vergessen‘, ihn wieder zurückzufordern. Hier und jetzt aber, da gewahrte der Hüne keinerlei Überraschung in den Augen des Wanderers. Und er konnte selbst nicht behaupten, dass er diesen Umstand nicht erwartet hätte. „Ich bin der Spielchen überdrüssig“ schob er nach und wartete auf Antwort.

Wilbert aber neigte kurz das Haupt, abschätzend, so schien es. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet“, gab er zurück und stachelte damit einen Moment den Zorn des Kriegers an, der aus eigentlich längst vergessenem Mangel an Beherrschung heraus einen drohenden Schritt näher trat, die Klinge weiter auf den Reisenden gerichtet.

„Sie lehrte mich gut und glaubt mir, ich habe mit ihr oft und lange genug diese Art von Spielchen getrieben! Man weiß nie, wer Katze und wer Maus ist, bis einer zum letzten Stoß ausholt. Ihr seid kein einfacher alter Viehzüchter aus Lairuinen! Ihr habt auch das Massaker nie erlebt und wisst nichts von Arimasper, ihr könnt von alledem nichts wissen. Ich bin mit Magie vielleicht nicht vertraut, aber ein Dummkopf, das bin ich auch nicht. Ich wurde von den Veränderungen ausgenommen, weil ich ein Teil der Sache war, die Ceteus diente. Dieser hinterhältige Bastard hat mich ‚verschont‘, wissen die Teufel, warum, aber einfache Magie hätte euch niemals vor einem Zeitmagier beschützt - der Zauber wäre ebenso rückgängig gemacht worden. Wer also seid ihr wirklich? Woher wisst ihr all diese Dinge? Warum sind wir hier und was ist wirklich dort drinnen?“

Die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt, war der Krieger bereit, sein altes Handwerk aufzunehmen. Mit Blut und Geschrei würde er diesem Tag seinen Höhepunkt verleihen, sollte es notwendig werden. Er bezweifelte, das ‚Wilbert‘, sollte er wirklich so heißen, so harmlos und gebrechlich war, wie es den Anschein erweckte. Nein, er war etwas oder jemand anderes. Vielleicht ein Dämon, vielleicht ein Zirkelmagier, wer konnte das schon sagen? Das spielte auch alles keine Rolle.

Der vermeintliche Viehzüchter dagegen wirkte einen Moment verunsichert, rang sich ein verzerrtes, vages Lächeln ab, ehe sich abrupt alles… veränderte. Seine Miene erschlaffte, wurde reglos, starr. Emotionslos. Seine Haltung dagegen richtete sich auf, das Kreuz breit gestrafft. Ja, wahrlich - jetzt erkannte man einen Mann aus Lairuinen ohne große Mühe in ihm! Nur wirkte jetzt wiederum das hohe Alter völlig unpassend.

„Er ist Wilbert aus Lairuinen, Viehzüchter und eigentlich tot“, bekräftigte der Wanderer plötzlich von sich selbst in der dritten Person redend. Für Thorin dagegen war das das ohnehin erwartete Eingeständnis. Etwas oder jemand hatte sich also dieses Körpers bemächtigt. Vielleicht auch eines alten, halb zerfallenen Leichnams, der nun regeneriert worden war. Oder es handelte sich um eine Illusion - wen scherte das schon?

„Und du bist?“ verlangte er zu wissen, erntete jedoch nur ein breites Grinsen und ein leichtes Kopfschütteln. Stattdessen setzte der Reisende unter dem strengen, wachsamen Blick des Hünen den Rücksack ab und… zog den Stock hervor. Das morsche, madige Stück Holz, welches er vor Tagen jenseits des Waldes ausgegraben hatte. Thorin hatte es in der ersten Nacht nicht ins Feuer geworfen, nein - aber er hatte es eines Morgens, als sie aufbrachen, schlicht liegen lassen. Mit Absicht, denn er war überdrüssig geworden und seine Ansicht hatte sich verschoben. Statt nicht länger eingestehen zu wollen, dass er umsonst gegraben hatte, war er zu der Einstellung gelangt, dass er das Zeichen seines Scheiterns mit sich herum schleppte. Ein morsches Stuhlbein.

Aber hier nun stand Nicht-Wilbert und hielt ihm das Stück entgegen, als wäre es der Schlüssel zur Weisheit. „Kein morsches Stuhlbein?“ erkundigte sich der Krieger ahnend. Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter und diesmal nickte sein Gegenüber. Vorsichtig reckte der Hüne die Hand, das Messer immer zur Vorsicht hoch gehalten, griff zu und entzog dem Fremden das Stück Holz. Der angebliche Viehzüchter machte keine Anstalten, sich auch nur zu rühren. Er griff nicht an, aber er gab auch keine rechte Antwort darauf, wer er war oder was all dies hier sollte.

„Die Antworten, die du suchst - alles, was du suchst - findest du dort drinnen, Thorin Eichenschild, Ehemann, Vater, Herzträger, König der Könige, Führer der Roten Legion, Laufbursche des Ceteus. Ich werde hier warten.“

All das Wissen brandete über ihn hinweg. Er hörte, er vernahm die Worte. Doch statt sie zu begreifen, schienen sie ihn zu erschlagen. Ehemann… Vater… Herzträger? Die Rote Legion?

Thorin war es nie klar geworden. Wie sollte man sich auch des Fehlenden erinnern. Als der Schatten sie alle betrogen und Ninafer aus seinen Armen gerissen hatte, war weit mehr geschehen als nur das Offensichtliche. Er hatte ihn von ihr gestoßen, ihn gegen die Wand geschmettert und ihm Rippen gebrochen, aber der körperliche Schaden war mit nicht mit dem vergleichbar gewesen, was seinem Geist angetan wurde. Wissen und Gaben, die Ninafer ihm im Dienste der Spinne übertragen hatten, wurden brutal aus seiner Persönlichkeit heraus gerissen. Hatten sie sich anfangs gut eingefügt und viele Lücken einer versoffenen Persönlichkeit nach und nach aufgefüllt, so packte der Schatten sie nun an der Wurzel und versuchte, so viel Schaden wie möglich anzurichten, als er sich zurück nahm, was ihm allein gebührte. Viele Erinnerungen waren zerstückelt und zerrissen oder gänzlich verloren worden und hinterher… hinterher hatte sein Gedächtnis schlimmer ausgesehen als je zuvor. Während Ceteus sich seine Kräfte zurück nahm, hatte der Krieger das Vorgehen gespürt. Er hatte sich an alles geklammert, er hatte alles festzuhalten versucht und es war ihm unter der Hand hinfort gezerrt worden. Er hatte es nicht aufhalten können, also hatte er in den wenigen Sekundenbruchteilen eine Auswahl getroffen. Er hatte das Wenige erkoren, das zu schützen ihm wichtig war… während so Vieles vom Rest verloren ging.

Nun stand er hier, einem namenlosen fremden Wesen im Körper eines längst verstorbenen Mannes gegenüber und eben diese Kreatur, die ihn geblendet und mit ihm gespielt hatte… schien so viel mehr über ihn zu wissen, als er sich erinnern konnte.

Gerne hätte er gefragt. Wo wurde ich geboren? Wer waren meine Eltern? Lebte ich in einem Haus? Auf einem Hof? Was hat es mit diesem ‚Herzträger‘ auf sich? Und was war die Rote Legion?

Alle Antworten - alles was er suchte - befände sich dort drinnen.

Mit unsicher wankenden Schritten bewegte sich der Krieger voran. Der Dolch fiel achtlos zu Boden, blieb im weichen Erdreich stecken. Wilbert oder was immer er nun war, folgte ihm bis zum Eingang der Höhle und betrachtete zufrieden, wie Thorin Eichenschild, einem Traumwandelnden so ähnlich, in der gähnenden Leere verschwand.

Lange Minuten in völliger Lichtlosigkeit tastete sich der Krieger voran. Er stürzte über einen Widerstand am Boden, orientierte sich am Klang des davon klimpernden Holzstückes und fand es, auf allen Vieren kriechend und tastend, in der Finsternis wieder. Dann, just als er aufsah und sich zu orientieren versuchte, woher er gekommen war und wohin er gehen sollte, sah er Licht. Kein Tagesicht - oder zumindest nicht das der davon gefluteten Lichtung.

Er rappelte sich auf, schritt sich an der Wand entlang tastend vorwärts, bis er plötzlich aus der Wand heraus trat und sich auf einer Brücke befand. Ein steinerner Gang, kaum breit genug für zwei Mann nebeneinander, der sich in einem sanft erhobenen Bogen empor krümmte und wieder abfiel. Auf der anderen Seite hob sich eine dürre Säule aus dem nicht sichtbaren Boden der Kammer in der schwarzen Tiefe. Sie stieg empor, verschlankte sich bis zur Hälfte, verbreiterte sich danach wieder und trug direkt im Zentrum des kreisrunden Raumes eine Plattform, ein völlig ebenes Steinkonstrukt von der Fläche eines Hauses. Doch ehe er sich eben diesem Zentrum widmen konnte, fing der restliche Raum seine ganze Aufmerksamkeit ein… und sein Staunen.

Lange war es her gewesen, das Thorin über irgendetwas hatte Staunen können… doch nun begriff er. Ein Altar, ein Schrein - wahrhaftig. Moose und Farne wucherten an den glatten Wänden. Löwenköpfe - das Wappentier Arimaspers, sein Symbol - spien, das Maul weit aufgerissen, gewaltige Sturzbäche in die schwarze Tiefe unter ihm. Dort unten, irgendwo in hunderten Metern wohl, musste es einen ganzen See geben. An den Wänden aber, kreisrund verteilt im ganzen Raum, brannten gewaltige, fest in die Wand gelassene Schalen. Kohlen, Öl, was immer darin war - es hätte nie brennen dürfen. Nicht mehr. Hier war niemand sonst, wer also hatte die Feuer entzündet? Wer also gab den Flammen neue Nahrung, wenn sie alle Grundlage aufgezehrt hatten? Doch er kannte solche Flammen. Die Schreine der Götter waren immer beleuchtet gewesen. Ihr Schein strahlte weithin… und hatte nie mehr bedurft als die bloße Existenz einer Person, die an die Gottheit glaubte. Hier nun stand er - der seinen Glauben schon vor langer Zeit verloren und auch nie wiedergewonnen hatte - und starrte auf Flammen, die nicht hätten existieren dürfen.

Das flackernde Feuer beleuchtete die Löwenköpfe, beleuchtete die gewaltigen Wassermassen, die sie spien und beleuchtete den kunstvoll geschlagenen Stein der Brücke, über die er sich mit träumerisch-wandelnden Schritten bewegte, während er sich an der Glorie dieser Halle einfach nicht satt sehen konnte.

Als er die Brücke überquert hatte, blickte er erstmals auf das eigentliche Zentrum der Halle. Eine Figur aus massivem Granit ragte vor ihm auf. Arimasper selbst, gepackt in seine mächtige Plattenpanzerung, eine gewaltige Streitaxt in beiden Händen haltend, zum mächtigen Schwung erhoben. Das Gesicht, so ehern und doch zornig. Es wirkte fast lebendig.

Unter der Statue, zu Füßen ihres Sockels, lag ein kleiner Altar für Opfergaben und Spenden. Ob es hier irgendwann einmal ein Kloster gegeben hatte? Die Diener und Priester Arimaspers, so erinnerte sich Thorin vage, waren kampfgestählte Söldner gewesen, aber auch sie hatten eine tief religiöse Seite gehabt. Er hätte das nie gekonnt. Er diente Arimasper sein Leben lang durch das Vergießen von Blut und das Bringen von Tod, aber er hatte selten gebetet und ihm nie wirklich gedient. Sein Blick fiel auf das Holzstück in seiner Hand, wanderte zu dem kleinen Altar. Dort ruhten Splitter. Einen wagte er vorsichtig von der Steintafel zu nehmen. Fast hätte er sich an der Kante geschnitten - sie war noch immer messerscharf.

Dann plötzlich, in einem Moment der vagen Erkenntnis, begann er zu begreifen und ein mildes, ja fast schon erfreutes Lächeln zog auf seinen Lippen auf. „So stehen die Dinge also“, flüsterte er leise. Die Worte im Angesicht des rauschenden Wassers kaum hörbar. „Hier nun kehrst du zu mir zurück, alter Freund.“

Er senkte das morsche Holz, von Maden und Würmern zerfressen, vollgesogen von der Feuchte viel zu kühler Erde, senkte es auf den Altar mit den zahllosen Metallsplittern, die plötzlich zu leben schienen. Sie ruckelten, zuckten, vibrierten und begannen sich zueinander zu bewegen. Das Stück in seiner Linken wollte folgen, so gab er es frei - und mit einem Schlag jagten alle Bruchstücke aufeinander zu. An der Spitze des vermeintlichen Tischbeines formten sie ein altvertrautes Klingenblatt. Rote Glut ließ gleißendes Licht aus den Bruchstellen brechen, die die Kanten verschmolz, spurlos, und die Klinge erneuerte. Von seinem Arm tropfte das Wasser, welches aus dem Holz gepresst wurde, als sich der Schaft seiner alten Kriegsaxt erneuerte. Doch es endete nicht bei der Waffe.

Unter einem Aufschrei brach der Krieger in die Knie. Die Waffe ließ er nicht los, doch stützte er sich mit beiden Händen auf den Altar auf. Ein erneuter Schrei zog sich in die Länge, ließ ihn brüllen, dass man von einem furchtbaren Monstrum hätte ausgehen müssen. Seine Finger krampften gegen den Stein und die Veränderung erfasste auch seinen Körper. Etwas bewegte sich über ihn hinfort, er konnte es spüren, senkte sich auf ihn herab und noch bevor er sich versah, fegte ein Sturm alles hinfort. Die Fragen… die Zweifel… die Lücken in seinem Gedächtnis.

Gleißendes Licht barst aus den Augen des Kriegsgeborenen, als dieser sich langsam erhob. Nur langsam ließ die Intensität des Scheines nach. Thorin Eichenschild… gab es nicht mehr. Den Schild hatte er schon vor langer Zeit verloren. Es gab Thorin… nur noch Thorin.

Er blickte sich um und erkannte zufrieden diese gewaltige Kammer wieder. Alt und vertraut. Er hatte zugesehen, als sie errichtet worden war. Zu seinen Ehren.

Der Hüne wandte sich um und verließ die tiefe Kammer wieder über die Brücke. Im Zentrum des Schreines stand eine gewaltige Statue auf einem Sockel aus Stein. Ein bärbeißiger Mann mit kahlem Schädel, gerüstet in einem abgewetzten Lederharnisch und bewaffnet mit einer Streitaxt. Er stand ehern dort, das Gesicht von Zorn geprägt, während er die Klinge zum Schlag erhoben seinen Feind nieder brüllte.

Und an den Wänden der Kammer spien die Zähne fletschende Wolfsköpfe unablässig einen großen Wasserstrom in die schwarze Tiefe.
 

„Die Welt wurde um ihr Sein und ihr Schicksal betrogen. Lange habe ich gewacht und die Fäden gezogen, habe die Unwägbarkeiten zu umgehen versucht. Viel musste geopfert, manches gerettet werden und am Ende habe ich doch versagt. Es kann Tage dauern, Thorin, oder auch Jahre, aber…“ Wilbert hatte gewartet, ganz wie versprochen. Er wirkte ernst und doch drückte sein Gesicht eine gewisse… Zufriedenheit aus. „… die Welt ist bereit für ein neues Pantheon.“

„Ich habe keine Jahre“, erwiderte der Krieger lediglich starr und schritt an dem Viehzüchter vorbei, die Axt in seiner Hand fest umschlossen.

„Thorin, sei kein Narr! Niemand weiß, was jetzt geschehen wird! Wir wissen nicht einmal, was diese Veränderungen mit ihm gemacht haben, wir wissen nicht, ob er dich begrüßen, dulden oder bekämpfen wird, wir wissen zu wenig!“ ereiferte sich Wilbert in dem Versuch, seinem vermeintlichen Schützling Vernunft einzubläuen. Der Hüne aber wandte sich um, ein blutgieriges Lächeln in den Augen, welches seine Lippen nicht erreichte.

„Hüte deine Zunge, Kaleran Sturmfürst. Nichts davon ist von Belang.“

Zurück blieb der Seher der Zeiten. Machtlos gegen die Pläne desjenigen, der in den Wald schritt und seines Weges zog. Thorin wollte nicht hören und würde es auch nicht. Es hatte keine Zeit für Erklärungen gegeben und derer waren doch eigentlich so viele nötig, oder nicht?

So verblieb ihm nur das Eine: dem starrsinnigen Hünen Erfolg zu wünschen bei seiner… Suche.



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