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100 Storys - es lebe die 'Un'übersicht

von

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83. Stau

Jonathan war genervt. Ja, er war mehr als nur das! Er war stinksauer und dazu gab es auch mehr als nur einen lappigen Grund. Gelangweilt trommelte er auf dem Lenkrad seines Vierzigtonners herum und starrte weiterhin geradeaus.

Stau!

Für ihn gab es kaum etwas Schlimmeres. Außer vielleicht einen platten Reifen, aber da wusste er ja, was zu tun war und wann es in etwa weiter gehen konnte, aber bei Stau? Da wusste man nie. Das wusste der Gleichberechtigung halber keiner hier. Scheinbar unzählige Scheinwerfer... nach vorne und auch bereits hinter ihm. Von hier aus, war nichts Genaues zu erkennen. Weder was passiert war, noch wie lang der Stau vor ihm eigentlich bereits war. Es war einfach zu dunkel. Mitten in der Nacht, um genau zu sein.

Verärgert starrte er auf die Uhr. Noch zwei Stunden und dann würde er ohnehin Pause machen müssen. Schließlich musste er doch seine Lenkzeiten einhalten. Stand er wirklich schon drei Stunden hier? Was zum Geier war passiert!?

Während er seine Gedanken kreisen ließ, ging ein Funkruf ein. Jonathan meldete sich routinemäßig und sah sich um. Der Trucker, welcher den Kontakt aufgenommen hatte, stand wenige Kilometer entfernt, hinter ihm. Die zahlreichen Scheinwerfer, auf dessen Führerhaus, waren nicht zu übersehen im Seitenspiegel, da er hier mit seinem LKW in einer leichten Kurve stand. Als er bemerkt hatte, dass vor ihm nichts mehr ging, war er sofort auf den Seitenstreifen gewechselt.

„Eine Ahnung, was da vorne passiert ist?“, schnappte er schließlich auf und wand den Blick wieder nach vorne.

„Nein, tut mir leid“, gab er dem Leidensgenossen zu verstehen. „Jedoch stehe ich schon seit Stunden hier.“

Der Kerl hinter ihm sicherlich auch. So weit war er ja nicht von ihm entfernt.
 

Er hängte das Sprechgerät nach einer knappen Verabschiedung wieder an den Haken und lehnte sich gelangweilt auf seinem Sitz zurück. Wie lange das hier wohl noch dauern würde? Vielleicht sollte er sich einfach hinlegen und sein Nickerchen vorziehen? Wenn es aber dann gerade weiter ging? Er hatte einen festen Schlaf. Das wusste er. Wenn er einmal im Land der Träume war, konnte ihn nicht einmal eine Horde Elefanten wecken.
 

Jonathan nahm die Papiere zur Hand und warf einen erneuten Blick darauf. Er hatte zwar dieses Mal nichts Verderbliches geladen, aber das machte die Sache für ihn nicht besser. Wie er es hasste, im Stau stehend, Zeit zu verschwenden. Er kannte seinen Chef nur zu gut. Dieser wusste zwar, dass so etwas mit einkalkuliert werden musste, aber wenn es ums Geschäft ging, war dieser Kerl ein echter Kotzbrocken.

Das Rauschen, aus dem Radio begann ihn allmählich zu nerven. Der Trucker legte die Papiere auf den Beifahrersitz zurück und begann am Kanal herumzudrehen. Empfang gab es hier scheinbar auch so gut wie keinen. Nur das leise Flüstern einer Frauenstimme, das hin und wieder zu ihm durchdrang. Also Musik war das nicht. Nachrichten vielleicht? Er lauschte genauer. Vielleicht erfuhr er endlich, was da vorne los war? Aber nein, er irrte sich. Das wurde ihm klar, ale er halbwegs den Sender gefunden hatte.

Das was er hier heranbekam, war so eine Quasselsendung. Irgendwer rief dort an und wurde beraten. Irgend so eine Psychotante gab irgendwie Ratschläge oder so etwas und im Augenblick sprach eine junge Frau. Sie klang schrecklich aufgelöst. Sie hatte wohl in dieser Nacht ihren Bruder verloren, welcher erst heute aus dem Gefängnis entlassen worden war. Man hatte ihn erschossen in ihrer Wohnung gefunden...

„Herz Schmerz und Leid“, murrte Jonathan verärgert. „Als ob ich nicht selbst genug Sorgen hätte.“ Seine Frau hatte ihn verlassen, weil sie mit seinem Job ganz plötzlich nicht mehr klar kam. Sein Hund musste eingeschläfert werden, weil ihn irgend so ein Bekloppter angefahren hatte und er dabei zu schwer verletzt worden war. Sein großer Sohn hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen... Ellenlang schien die Liste nunmehr zu werden. Vielleicht sollte er dort anrufen? Ihnen sagen, wie bescheuert er eine solche Talkshow mitten in der Nacht fand und dass er gerade gezwungen war, sich diesen Mist anzuhören, weil er hier keinen anderen Sender hereinbekam? Fragen, ob diese Leute nichts Besseres zu tun hatten, als im Selbstmitleid zu ertrinken? Im Augenblick hatte er ohnehin Zeit. Jonathan blickte wieder gerade aus und verwarf seinen gerade gefassten Gedanken schleunigst wieder. So ein Schmarren! Bei so einer Tante anrufen und dann erkannte ihn vielleicht noch irgendwer? Ganz bestimmt nicht!
 

Mit einem Seufzen griff er sich schließlich sein Handy. Vielleicht konnte er wenigstens seinen neuen Kollegen erreichen. Da hatte ihm sein Boss aber einen Spinner an die Seite gesetzt. Eigentlich sollte er ihn ja abholen, aber so? Das dauerte sicherlich noch. Wieso er nicht eher darauf gekommen war, ihn anzurufen...

Er wählte die gespeicherte Nummer und wartete, während er wieder mit dem Finger auf dem Lenkrad herumtrommelte. Nach dem vierten Tuten ging schließlich die Mailbox ran. Er war also nicht zu erreichen. Warum nur war er nicht verwundert? Dieser Kerl war so unzuverlässig. Was sich sein Boss dabei gedacht hatte, als er ihn einstellte. Der sah aus wie ein Zuhälter. Jedenfalls für Jonathan. Überall tätowiert. Vor allem die Arme, vom Rücken ganz zu schweigen. Und diese Ohrringe erst... Gruselig. Ein besseres Wort fiel ihm dazu nicht ein. Jonathan versuchte es ein weiteres Mal, hatte allerdings auch jetzt keinen Erfolg, ihn zu erreichen. Unzuverlässig eben. Vielleicht lag dieser Spinner auch schon wieder irgendwo herum? Zugedröhnt meinetwegen. Man hatte ihm zwar bis jetzt nichts nachweißen können, doch der Gedanke, diesen Kerl seinen LKW fahren zu lassen, widerstrebte ihm. Ein paar Mal waren sie ja bereits zusammen unterwegs gewesen. Zugegeben, es war nichts passiert, aber...

Genervt legte er auf.
 

Dann würde er eben seinen Chef anrufen. Gedacht - getan. Sofort stand die nächste Leitung und hier hatte er sofort Glück. Sein Boss klang nicht gerade munter, aber wenn einer der Jungs noch unterwegs war, war dieser auch am Telefon zu erreichen.

„Ich bin es, Jonathan“, sagte er und lauschte kurz.

„Der Stau war bereits in den Nachrichten? Na super. Hier bekommt man leider keinen Radioempfang.“ Er schnaubte verärgert. Und lauschte weiter. „Nein, ich habe diesen Morrison noch nicht erreicht. Ich habe es versucht. Nicht nur einmal. Leider weiß ich auch nicht wirklich, wo ich ihn auflesen soll.“

Wieder schwieg er.

„Sie kümmern sich darum? Und der Kunde ist auch bereits informiert? Vielen Dank.“ Irgendwie erleichtert atmete er auf. Na wenigstens etwas, nach all dem Ärger. Ein Notarztwagen fuhr an ihm vorbei und Jonathan hob kurz den Blick.

„Nein, ich habe leider keine Ahnung, wie lange ich hier noch brauche. Ich rufe Sie an, sobald es weiter geht. In Ordnung.“ Dann legte er wieder auf.
 

Er warf einen prüfenden Blick in den Seitenspiegel und entschied sich umgehend, sich die Beine kurz zu vertreten. Die kühle Nachtluft machte ihn vielleicht ein bisschen munterer. Im Augenblick bewegte sich hier eh nichts und wenn es doch endlich weiterging, war er ruck zuck wieder eingestiegen und der Motor gestartet.

Ohne noch länger darüber nachzudenken, warf er sich seine Jeansjacke über und sprang aus dem LKW. Sirenengeheul war jetzt zu hören. Als er auf die Straße hinter sich blickte, durfte er feststellen, dass er nicht der einzige war, der nun hier stand. Und auch weiter vorne standen noch mehr Leute. Jonathan ließ die Hände in den Taschen verschwinden und lief schließlich nach vorne um sein Fahrzeug herum und sofort spürte er den beißenden Wind, welcher auf dieser Seite wehte. Um etwas näheres zu erkennen, war es zu finster, doch als er sich ein Stück über das Geländer beugte durfte er feststellen, dass er ausgerechnet auf einer Brücke stand. Das er dies nicht eher gemerkt hatte? Unter ihm lief eine andere Schnellstraße quer, auf dieser fuhr jedoch kaum ein Fahrzeug entlang. Hier konnte er sie nahezu zählen. Und das tat er schließlich auch, aus purer lange Weile.
 

„...drei, vier...“ Nach vorne gebeugt stand er da und zählte. Da! Ein PKW, an welchem nur ein Scheinwerfer funktionierte. „fünf, sechs, sieben...“

„NEIN! Ich bitte Sie.“

Jonathan verstummte augenblicklich, als er ein ganzes Stück neben sich die Stimme einer Frau vernahm. Langsam hob er den Blick in ihre Richtung. Sie näherte sich von hinten, kam jedoch auf dieser Seite an seiner Zugmaschine nicht vorbei, da er recht weit an der Seite stand. Sie hätte sich also durchquetschen müssen, was sie jedoch nicht tat. Am Anhängerende blieb sie stehen.

„So gehen Sie doch von der Brüstung weg. Ich bitte Sie.“

Jonathans Augenbrauen zuckten ungläubig. Was wollte die denn von ihm? Irgendwie klang sie... besorgt? Konnte das sein? Dann ging ihm ein Licht auf. Dachte sie allen erstes, er hatte Dummheiten vor? Hatte sie ihn vielleicht zählen hören?

„Sie glauben doch nicht etwa, dass ich...?“ Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Ich hatte nicht vor zu springen, Miss. Keine Angst.“

Kaum zu fassen. Diese fremde Frau machte sich tatsächlich Sorgen? Hatte sie vielleicht auch diese Quacksalbersendung gehört?

„Nicht?“ Mit ihren großen Augen musterte ihn die Unbekannte genau.

Jonathan schüttelte als Antwort den Kopf, woraufhin sie erleichtert ausatmete. Das war doch kein Abgang für einen Mann wie ihn! Ganz bestimmt nicht! Niemals! Egal, wie satt er sein Leben so manches Mal auch hatte: Dazu kam es ganz sicher nicht!

Seine schlechte Laune schien augenblicklich wie weggeblasen.

„Nein Miss. Da müssten Sie mich hier schon eigenhändig hinunterwerfen.“ Er lächelte smart und trat wieder näher an die Brüstung heran.

Ihren entsetzten Blick, auf seine Worte hin, bekam er dabei nicht mit. Dafür fiel ihm in der Ferne jetzt etwas anderes auf.

„Kommen Sie rüber“, sagte er stattdessen.

Die Unbekannte schien verwirrt, denn sie verharrte in der Bewegung. Jonathan versuchte es erneut, woraufhin sie aus seinem Blickfeld verschwand und schließlich hinter ihm wieder auftauchte.

Sie war verdammt hübsch und auch sicherlich noch recht jung. Ihre vollen Lippen gefielen ihm und ihr schwarzes, langes Haar war zu einer wilden Lockenfrisur nach oben gesteckt. Jonathan winkte sie heran und machte ihr dabei Platz, dass auch sie endlich sah, was er hier gerade zu betrachten begann. Die Sonne ging eben auf und brachte die Schluchten der Skyline der nächsten Stadt, die in nicht allzu weiter Entfernung auftauchte, zum glühen.

„Wie schön“, hauchte sie nur.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Jasmonisch
2011-08-04T18:01:52+00:00 04.08.2011 20:01
Eine hübsche Geschichte <:
Hach, im Stau standen wir wohl alle schon mal und ich wette! Wir alle hassen es. ;)
Am besten gefällt mir das Ende, wie die "Fremde Frau" glaubt, dass er sich umbringen will, das hast du schön beschrieben.
Allerdings hatte ich zwischenzeitlich auch ein bisschen Mitleid mit dem armen Kerl.
"Seine Frau hat ihn verlassen; sein Hund muss eingeschläfert werden; sein Sohn will keinen Kontakt", da tat er mir richtig leid. >3

mfg azu~
Von:  TommyGunArts
2011-05-09T14:30:24+00:00 09.05.2011 16:30
xDD Ich finds lustig.
Irgendwie hat diese Geschichte etwas sehr nachvollziehbares und eigenes. Aus der Sicht eines Truckers. Man kann sich sehr gut in Jonathan hineinversetzen, wie es ihn nervt, dass er im Stau steht und dass es einfach nicht weiter geht. Seit Stunden sitzt er schon im LKW und es gibt kein vor und kein zurück. Verdammt Öde!
Und dann noch sein Kollege, der einfach nicht ans Handy geht. Ich finde der hat auch eine eigene Geschichte verdient, z.B., warum er denn nicht dran geht, etc. Stoff ist dafür zumindest genügend vorhanden und ich würds schon gern wissen ;)
Alles in allem eine tolle Geschichte, die wirklich lesenswert ist. Sehr real gestaltet uhd wieder schöne Sätze. Auch die Gefühle von Jonathan kommen nicht zu kurz, aber das kenn ich von dir ja auch nicht anders.

Ein kleiner Tippfehler:
"Das wurde ihm klar, ale er halbwegs"
> "als" ^^

Sonst kann ich nur sagen, dass ich nichts zu meckern habe und mir diese Geschichte sehr gut gefällt. Auch das offene Ende ist schön gestaltet und wer weiß, vielleicht entwickelt sich ja eine Beziehung zwischen Jonathan und der Frau^^
Mehr von der Sorte!

lg
Schnorzel
Von:  MrsTime
2011-03-09T19:32:31+00:00 09.03.2011 20:32
Das ging aber schnell, gestern meintest du noch, du müsstest an dieser Geschichte arbeiten und Heute ist sie schon fertig und lesebereit.
Ich finde toll, wie du verschiedene Geschichte in dieser einen Geschichte vereihnst. Du baust z.B.die Geschichte "Freiheit" ein und ich finde du bietest schon einige Vorlagen für weitere Geschichten. Wie z.B. über diesen Morrison oder die fremde Frau, die um Jonathan besorgt ist. Ich könnte mir gut vorstellen, dass diese Charaktere noch ihre eigenen Geschichten bekommen, zu irgendeinem Thema und die Sicht der Dinge aus ihrer Perspektive erzählen. Ich bin mal schon gespannt, ob sich meine Vermutung möglicherweise bewahrheitet. =)

[FCY]
Von:  SamAzo
2011-03-09T17:58:39+00:00 09.03.2011 18:58
Hach ja, der gute Stau.
Beim letzten Stand ich ne knappe Stunde für einen Weg von normalerweise 5min.
Grausam...
Und bei keinem habe ich jemals jemand nettes kennengelernt.

Jonathan scheint ein netter Kerl zu sein. ^^
Und Gracy ist um die Tageszeit noch wach?
Kann nach dem erlebten wohl nicht schlafen.


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