Zum Inhalt der Seite

Zeitlos -♠-

100 Storys -1-
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Etwas kurzes zum interpretieren :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nachdem ich nun die dritte Staffel Justified gesehen habe, kann ich einfach nicht anders: In Justified tauchen so viele Bauerntölpel und deren Familienfehden auf, dass ich einfach selbst eine Geschichte über dergleichen schreiben muss.
Hier also der Auftakt einer Reihe, von der ich noch nicht weiß, wie lang sie werden wird. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier nun der zweite Teil meiner Avery-Story. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Krankheit, die sich Menschheit nennt

Brennen!

Brennen soll die ganze Welt!

Brennen sollen all diese Nichtsnutze!

Brennen sollen sie, wie Hexen!
 

Brennen!

Brennen soll ein jeden Zuhause.

Brennen sollen sie, bis die Asche nieder fällt!

Brennen sollen sie, wie trockenes Geäst!
 

Brennen!

Brennen soll die Freiheit!

Brennen sollen auch all ihre Anhänger!

Brennen sollen sie, wie Höllenfeuer!

Brennen!

Brennen!
 


 

Verbrennen wir die ganze Welt,

damit nichts mehr still an seinem Platze steht!

Unter Flammen soll ein jeder zugrunde gehen,

zusehen, wie die Welt krepiert!
 

Verbrennen wir ein jeden Zuhause,

weil ein Zuhause uns nur quält!

Sie sollen zusammenfallen wie Kartenhäuser,

damit am Ende etwas fehlt.
 

Verbrennen wir die Freiheit,

damit ein anderer Gesetze stellt!

Unmündig lebt es sich leichter,

weil man keine Entscheidungen mehr fällt.
 

Verbrennen wir, was übrig bleibt,

verbrennen wir, was brennen kann.

Verbrennen wir, was wir nicht brauchen,

verbrennen wir uns lieber selbst.
 

Verbrennen wir die Eitelkeit,

verbrennen wir die Traurigkeit,

verbrennen wir die Treue und den Hass,

verbrennen wir den letzten Spaß!
 

Denn brennen muss alles,

was wir haben,

brennen muss alles,

was unsere Rasse retten könnte,

denn Selbstzerstörung ist unser Ziel.

Ja, die Erde wird brennen,

wird an der Menschheit noch verrecken!

An der Gier und an dem Verlangen,

an der menschlichen Überheblichkeit!

Weil wir verbrennen, was nur geht!
 

Wir verbrennen, weil es einfach ist,

weil ein Streichholz alles ist,

was nötig ist, um zu zerstören.

Und weil wir nichts anderes kennen,

als zerstören,

tun wir das, was wir nur können.
 

Verbrennen...

Zerstörer des Verstandes

Zahlen. Nichts als Zahlen und Fakten. Immer das Gleiche. Monoton!

Clete saß in seiner Zelle und tat so, als würde er die Zeitung lesen, doch seine Gedanken schweiften ab. Immer wieder diese Zahlen. Er hatte sie satt! Überall tauchten sie auf und prägten die letzten Tage seines erbärmlichen Lebens. Einst hatte Clete nach der einzig Wahren und existierenden Freiheit geforscht, doch er hatte die Hoffnung vor langer Zeit aufgegeben, selbst frei zu sein. Stattdessen tummelten sich nun Zahlen in seinem Verstand.

Zahlen.

Immer diese Zahlen.

Sie verfolgten ihn und ließen ihm keine ruhige Minute mehr. Nein, sie hetzten ihn! Es begann alles mit seiner Geburt. Er war ein Kind von dreien. Dann begann er zu leben, feierte Geburtstage, wurde älter und das Verhängnis der Zahlen nahm seinen Lauf. Er wurde drei Jahre, vier Jahre, achtzehn Jahre, dreißig Jahre. Mit sechsundzwanzig tötete er zum ersten Mal einen Menschen. Doch bei einem blieb es nicht, nein, er versuchte sich an einem weiteren und an noch einem, bis er schließlich zwölf auf dem Gewissen hatte. Dafür wurde er ein Mal verurteilt.

Zahlen.

Immer diese Zahlen!

Zehn, fünfzig, sechsundsechzig! Noch fünfundvierzig Tage hatte er auszustehen, bis er schließlich dem elektrischen Stuhl begegnete. Ja, noch gottverdammte fünfundvierzig Tage, bis er sterben würde!

Zwei Wachposten bewachten seine Zelle, weil sie Angst hatten, er könne ein viertes Mal versuchen auszubrechen. Als Clete die Zeitung las, überflog er über neun verschiedene Artikel. Ohne diese Artikel weiter zu betrachten, schlug er die Zeitung zu und warf sie in die dreckige Ecke in der elf Käfer nach Nahrung suchten. Er hatte nicht die Kraft, sich von den Zahlen loszureißen, die in seinem Verstand wüteten.

Zahlen!

Nichts als Zahlen!

Clete ließ sich auf seine Pritsche fallen und starrte an die rissige Decke, von der der Putz hinab fiel. Vier mal zwei, geteilt durch die Wurzel von 5!

Rechnungen waren nicht mehr, als aneinandergereihte Zahlen. Manch kluger Kopf hätte diese Formeln als unverzichtbar erklärt.

Er drehte sich zur Seite und schloss die Augen. In seinen Gedanken schwebte ihm ein Datum vor: 27.09.1999. Wieder diese Zahlen! Zahlen mit einer Bedeutung. Cletes Todesdatum. Er hatte nur noch fünfundvierzig Tage zu Leben. Aber was waren schon Zahlen? Nichts weiter als Worte, die man in einer Kurzform schreibt. 18,50, 8, 44, 37. Nichts weiter!

Er kam sich seltsam vor. Schließlich war alles, worauf er noch wartete eine Zahl, die ihn noch nicht erreicht hatte. Verkümmert! Aufgegeben. Unverstanden.

Clete hatte nichts mehr, nur noch seine Zahlen, die ihn verfolgten, um ihm schließlich den Tod zu bringen. Und dann schrien ihn auch noch seine Gedanken an.

Zweihundertsechsundreißig! Zweieinhalb, Dreiundfünfzig, vier Viertel! Sieben, Eins! Achtundsechzig! Geteilt durch fünf, plus vier, multipliziert mit sechshundertzwölf!

Konnte dies ein Mensch ertragen? Konnte ein Mensch die Gedanken von Zahlen ertragen, die sein Leben prägten? Rechnungen, die ihre Sinnlosigkeit verbreiteten? Clete hatte das Gefühl, sein Hirn schmore bereits, auch ohne den elektrischen Stuhl.

Zahlen!

Diese skrupellosen Zahlen!

Zerstörer des Verstandes, waren sie! Und Clete wusste es. Er stand von seiner Pritsche auf und ging zum Gitter hinüber. Mit beiden Händen umklammerte er den kalten Stahl. Wie er sie hasste, diese gottverdammten Zahlen! Wie sie ihn quälten und leiden ließen. Für ihn war es mehr, als nur unerträglich. Zahlen helfen, Dinge zu verstehen und sie sind Lösungen, meinte damals die breite Masse der Menschheit. Doch so oft Clete es auch versuchte, eine Lösung blieb ihm immer verwehrt. Wutentbrannt sah er an die vollgeschriebene Wand, die mit Formeln nur so übersät war.

Zweihundertsechsundreißig! Zweieinhalb, Dreiundfünfzig, vier Viertel! Sieben, Eins! Achtundsechzig! Geteilt durch fünf, plus vier, multipliziert mit sechshundertzwölf!

Doch so oft er es auch versucht hatte, er hatte keine Antwort gefunden. Nicht durch diese Zahlen, die doch Lösungen sein sollten!

Zahlen!

Zahlen!

Zahlen!

Ich verabscheue euch Zahlen!

Verzweifelt legte er seine Stirn gegen die Gitterstäbe. Er wollte doch bloß eine Antwort. Eine einzige! Es waren keine drei, fünf oder sechzehn. Es war bloß eine. Er musste sie einfach finden, die Zahl, die Antwort auf dir eine Frage, die er vor seinem Tode noch zu beantworten hatte, um zu wissen, wie lange es dauern würde.

Leise flüsterte er in sich hinein »Wie lang ist eine Ewigkeit? «

Doch die Zahlen blieben stumm.

Zerbrechlich

Da saß ich also, auf dem Thron, der mir rechtmäßig zustand. Ich, der berühmte Jean Stath auf dem Thron, der mir die Macht zusprach, das ganze Königreich zu regieren. Auf meinem Haupt die gläserne Krone der Unsterblichkeit. Doch anstatt mich zu freuen, zerbrach ich innerlich. Nie hatte ich dieses Leben gewollt, nicht eine einzige Sekunde in meinem Leben. Und niemand wollte mich hier. Nicht einer meiner Untertanen wollte mich auf ihrem Thron. Ich war kein Herrscher und sie wussten es. Was hatte denn jemand wie ich auf diesem Platz zu suchen? Was sollte jemand wie ich mit all dieser Macht?

Stillschweigend saß ich also da und starrte geradeaus. Mein Blick war steif auf den Thronsaal gerichtet, doch ich sah ihn nicht. Vielmehr hatte ich mich in meinen Gedanken verloren, in meinen wunderbaren Erinnerungen an die Zeit, bevor ich mich entschloss, zurückzukommen und meinen rechtmäßigen Platz an der Spitze einzunehmen. Ich war niemals dafür bestimmt, an einem Ort zu bleiben. Nein, ich war fürs Reisen geboren und nicht um zu regieren.

Meine langen, filzigen, braunen Haare hingen mir die Schultern hinunter. Sie passten genauso wenig an diesen Ort, wie ich. Die gläserne Krone gehörte nicht zu mir. Vielleicht hatte sie zu meinem ehrenwerten Vater gehört, aber zu mir nicht. Ich war ein freier Mann. Ein freier Mann auf der Flucht vor seinem eigenen, königlichen Blut.

Ich senkte meinen Kopf.

»Euerer Hoheit beliebt es nicht nach einem Lächeln?«, sprach mich plötzlich Lotani, der Hofnarr, an, während er mit seiner Glockenmütze vor mir herumtanzte.

»Nein, Lotani. Mir ist nicht nach einem Freudensprung.«

Er verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse, doch ich starrte einfach an ihr vorüber und träumte vor mich hin. »Düngt es Euch nach einem Festmahl, mein König?«

Nein, ich wollte kein Festmahl. Ich konnte diese Verschwendung von Nahrung nicht gut heißen, also wollte ich sie selbst auch nicht begehen.

Lotani verschränkte die Arme vor der Brust und sah mir in die Augen. »Mein Herr, wenn ihr erlaubt?« Ich nickte kurz und er fuhr fort: »Eure Augen sprechen Trauer. Verzeiht, Euer Hoheit, aber ihr wirkt niedergeschlagen.« Da hatte er recht. Das war ich in der Tat. Ich nahm die Krone von meinem Haupt und fuhr mir mit der Hand durch meine filzigen Haare. Ich war neunzehn Jahre und hatte alle Macht der Welt. Doch wie diese gläserne Krone war auch mein Innerstes zu Glas erstarrt.

»Euer Hoheit? Kann ich Euch irgend behilflich sein?«

»Nenn mich nicht so Lotani. Spar dir deine Höflichkeiten für einen richtigen König.«

»Ihr seid doch der König, Herr.«

Ich begann zu lächeln, doch meine Augen blieben trüb. »Nein, Lotani. Ich bin kein König. Vater war einer, vielleicht auch Großvater, aber nicht ich. Ich bin Pirat, aber niemals ein Herrscher.« Ja, ich war nicht nur ein gottloser Pirat, sondern auch noch der Kapitän eines großen Schiffes. Auf meinen Kopf waren schon einige Goldmünzen ausgesetzt und ein Gesuchter, wie ich, war kein König. Und ich wusste, dass ich auch niemals ein König sein würde, egal wie königlich mein Blut auch war. »Weißt du, Lotani?«, besänftigte ich den nun verwirrten Hofnarren, »Ich brauche meine Freiheit. Das hier ist kein Ort für mich.« Sehnsuchtsvoll blickte ich hinauf in den Himmel, der von der Decke des Saals verdeckt wurde. Doch ich hatte das Gefühl, das Blau des unerreichbaren Himmels sehen und spüren zu können. Mir war mehr als nur bewusst, dass jeder weitere Tag auf diesem Thron ein weiterer Tag in meinen Käfig aus Glas war. Die gläserne Krone war der erste Baustein zu diesem Käfig gewesen und auch mein Innerstes war bereits erobert. Doch weiter sollte es nicht kommen.

Schwerfällig richtete ich mich auf. Ich wollte keine Festmähler mehr, keine Narren, keine Bitten der Bauern und keine Macht. Ich wollte nur dieses unendliche Glas loswerden. Noch einmal sah ich die Krone in meiner Hand an. Mein Vater hätte nicht gewollt, dass es so käme.

»Wo wollt Ihr denn hingehen, Euer Majestät?«, fragte Lotani mit gesenktem Kopf.

»Ich gehe nach Hause, mein Freund«, entgegnete ich und ließ die Krone zu Boden fallen. Mit einem lauten Klirren zersprang sie in tausende und abertausende Splitter.

Dann verließ ich den Königssaal und setzte meinen Weg neu. Dieses Mal war ich mir sicher, dass es das war, was ich wollte: Ein Leben als gesetz- und gottloser Pirat.

Das Glas glänzte noch einen Moment lang und versuchte seine Schönheit preiszugeben, doch von der Krone waren nur noch scharfe Splitter geblieben, die nur noch existierten, damit sich jemand daran schnitt. Doch mich, mich sollte sie niemals mehr schneiden und mein innerstes vergiften.

Niemals.

Gelöschte Welt

Ein lautes Knacken ertönte und brach die ewige Stille. Die Lampe an der alten Klapperkiste leuchtete für einen Augenblick auf, erlosch dann aber wieder. Erneut knackte es. Ein leises Wispern erklang, das sich schließlich zu einem Lied entwickelte, welches in der Unendlichkeit spielte.

Get up! Get up! Get up! , hallte es in der leeren Hütte wider. Die Musik wurde lauter und auch das kleine Lämpchen brannte wieder.

Drop the Bombshell!

In der Luft lag ein fauliger, abstoßender Gestank. Der Fußboden, welcher einmal Laminat gewesen war, wurde von Büchern, Papier, Tellern und Dachpfannen gepflastert. Die Wände der Hütte waren komplett eingerissen, sodass nicht einmal mehr ein Fundament zu erkennen war.

Get up! Get up! Get up!

Bilder lagen am Boden und verteilten sich über die umgekippten Regale, Sitzmöbel und Tische. Sie erzählten kleine Geschichten, die niemand hören würde, über die Zeit von Früher.

Drop the Bombshell!

Alles zerstört.

Get up!

Niedergestampft.

Get up!

Verbrannt und vernichtet.

This is out of control!

Auch außerhalb der Hütte stand alles in Schutt und Asche. Kein Leben mehr, nicht eine Menschenseele.

Die gelöschte Welt stand still in der Erniedrigung des Krieges.

Keine Überlebenden.

Einsam und allein spielte das Radio in die Stille hinein. In die Stille des Abgrundes und der Vernichtung. Niemand würde hören, was das Radio noch spielte. Eine Existenz in der gelöschten Welt gab es nicht.

Get up! Get up! Get up! Drop the Bombshell!

Get up! Get up! This is out of control!

Das Lied spielte noch eine Weile, bis der Strom endgültig aufgebraucht war und auch das Radio den Geist aufgab.

Omertà

Never open your mouth, unless you’re in the dentist’s chair.
 

»Du hast dagegen verstoßen!«, polterte Mc. Fady und versetzte seinem Gegenüber einen kräftigen Schlag ins Gesicht.

»Bitte Fred, bitte tu das nicht!«, jammerte das erbärmliche Geschöpf aus Fleisch und Blut, welches auf dem Boden herumkroch und vergeblich nach einem Ausweg suchte. Mc. Fady sah überhaupt nicht ein, dieses kriechende Bündel gehen zu lassen. Das kam definitiv nicht in Frage!

»Du hast gegen unsere wichtigste Regel verstoßen, Hodge! Du glaubst du hättest das Recht dazu?«, meinte Mc. Fady in bitterem Tonfall und zückte seinen Revolver. »Du hast die Familie in Gefahr gebracht! Und das mit voller Absicht!« Mc. Fady lächelte schief und drückte Hodge seine Waffe an die Stirn. Das winselnde Wesen am Boden wand sich und zuckte vor Angst zusammen. Er hatte es nicht mehr verdient, weiter zu leben. »Es war deine Pflicht, zu schweigen, doch du, Hodge, du hast diese Pflicht wissentlich missachtet und deinem erstbesten Amigo alles erzählt, was es über uns zu wissen gibt. Du hast die Schweigepflicht der Omertà gebrochen. Du weißt, was darauf steht!«

Seine Augen wurden groß und größer, doch er machte keine Anstalten mehr zu entkommen, denn er wusste genau, dass Mc. Fady ihn niemals davonkommen lassen würde. Wer redete war tot. So war das nun mal.

Mc. Fady betrachtete noch einmal den verkümmerten Haufen am Boden, bevor den Abzug tätigte. Dann verließ er Hodges Haus, ohne den Leblosen auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Für Fady hatte dieser keine Würde mehr besessen, seit er die Familie verraten hatte. Bei diesem Gedanken zuckte er instinktiv mit den Schultern.

Wer redet ist tot. Ganz einfach!

Die Kälte der Nacht schlug ihm ins Gesicht, als er draußen angelangte, doch er störte sich nicht weiter daran. Er knöpfte sich den langen Mantel zu und zog sich seinen schwarzen Hut tief ins Gesicht um sich vor dem Wind zu schützen. Schließlich verschwand er in der Dunkelheit, still und schweigsam. Wortlos. Denn er hatte nicht vor, zu enden wie Hodge.

Aufgegeben

Ich kann nichts sehen.

Etwas trübt meine Sicht.

Nur vage Konturen im dunklen Licht,

doch ich erkenne weiteres nicht.

Alles so unscharf und unbedeutend.

Mein Lachen zerbricht

und ich sehe die Hand vor Augen nicht.

Tiefschwarze Leere frisst sich in mich hinein,

und lässt mich nicht einmal traurig sein.

Und ich bin immer noch allein,

selbst wenn hunderte um mich weilen.

Mein Herz ist zerrissen,

ich fühlte nicht mehr.

In meiner Seele nur dieses Nebelmeer.

Kein Ziel vor Augen,

keine Freude,

kein Leid,

weil der Nebel, strotzend vor Neid,

mir meine Wünsche und Träume verwehrt,

und ich, blind und entehrt,

habe die Hoffnung schon lange aufgegeben,

auf ein schöneres, besseres Leben...

Jason Scraps "Intelligenz"

Jason Scrap war wieder einmal mit einer völlig sinnlosen Aufgabe betreut worden. Genervt hockte er in einem Gebüsch am Straßenrand und musste die Käfer erdulden, die seine mechanischen Beine hinauf krabbelten.

»Beschatte die Frau eines alten Mannes und sieh nach, ob sie ihm fremdgeht!«, murmelte der Roboter und verschränkte die Arme vor der Brust. »So ein Blödsinn!«

Er fühlte sich mehr als nur unterfordert. Schließlich war er der intelligenteste und mit Sicherheit auch der beste Privatdetektiv, den es auf der gesamten Welt gab. Und da musste er im Gebüsch hocken und durch die Fenster eines großen Hauses starren, bis mal irgendwann etwas passierte, wenn überhaupt etwas passierte. So sicher war er sich da nicht.

Wie erniedrigend es doch für Scrap war, solch einen geradezu lächerlichen Auftrag erfüllen zu müssen. Mit dem unendlichen Wissen, das in den tiefen seiner Technik ruhte, hätte er jeden noch so komplizierten Fall lösen können, doch das sahen diese Kreaturen von Menschen nicht ein. Wäre dies wenigstens der einzige Auftrag gewesen, der absolut unter seinem Niveau war, hätte er es verkraften können. Allerdings bekam er schon seit Monaten Aufträge dieser Art.

»Mr. Scrap«, äffte er seine Kunden nach, »Können Sie mein Kaninchen finden? Es ist mir gestern weggelaufen. Oh, Mr. Scrap, mein Nachbar hat mir meinen Toaster gestohlen, können Sie mir helfen? Guten Tag Mr. Scrap. Sie wissen doch sicherlich, wie man einen verlorenen Ehering wiederfindet, nicht wahr?«

Er seufzte hörbar und senkte den Kopf. Seine langen, blauen Kabelhaare hingen ihm vor den Augen. Wie satt er dieses Leben doch hatte! Jetzt verbrachte er schon geschlagene vier Stunden in diesem Busch und zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Wütend drückte er auf einen Knopf an seiner Schläfe und ein Regenschirm erhob sich aus seinem Kopf und spannte sich schützend auf. Wenn er jetzt noch mit Rost an seinen Gliedmaßen zu kämpfen gehabt hätte, dann wäre er vollends ausgerastet. Die momentanen Umstände reichten ihm vollkommen. »Könnt ihr nicht wo anders rumkrabbeln?«, blaffte er die Käfer auf seinen Beinen an und stieß sie von sich.

Plötzlich bemerkte er eine männliche Gestalt, die sich dem beschatteten Haus näherte. Schnell duckte er sich und versteckte seinen mechanischen Körper im dichten Gesträuch. Der Mann schlenderte die Einfahrt entlang und steuerte direkt auf Scraps Versteck zu, bis er schließlich genau vor ihm stehen blieb. Zu seinem Entsetzen stellte Scrap fest, dass der Fremde seinen Hosenstall öffnete. Der hat doch nicht ernsthaft vor hier hin zu pinkeln, dachte er geschockt. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, spürte er auch schon die warme Flüssigkeit, die auf seine Beine traf. Den Mund sperrangelweit offen musste der hochintelligente Jason Scrap zusehen, wie er –im wahrsten Sinne des Wortes- angepisst wurde.

Das reichte aus, um das Fass zum überlaufen zu bringen. Wutschaubend verließ er das Gebüsch, um dem Mann eins über die Rübe zu ziehen. Dieser hatte nicht damit gerechnet, dass plötzlich ein 190cm großer Roboter aus dem Pinkelbusch gesprungen kam, der mit Schimpfwörtern und Flüchen nur so um sich warf. Folgedessen schrak er zurück, nahm seine Beine in die Hand und rannte verängstigt davon, ohne einzupacken, was er ausgepackt hatte, um Scrap voll zu urinieren. Als der Roboter bemerkte, dass der Mann flüchtete, sprintete er diesem hinterher. Währenddessen ließ er seine laute Blechstimme und seinen überaus ausgeprägten Wortschatz walten und beschimpfte den Flüchtigen aufs übelste.

Die Verfolgungsjagt führte ihn quer durch die ganze Stadt. Noch nie hatte Scrap jemanden in so einem rasenden Tempo laufen gesehen und ihm wurde allmählich klar, dass er kaum eine Chance hatte, ihn einzuholen. Der Mann war wahnsinnig schnell. Vielleicht wurde er von der Angst, Scrap würde ihn zu Brei verarbeiten, wenn er ihn zu fassen bekäme –was dieser auch vorhatte- angetrieben.

Sie bogen in eine enge Straße ein, die von etlichen weiteren gekreuzt wurde. Mit einem Mal entdeckte der Privatdetektiv einen älteren Herrn, der gerade die Straße überquerte.

»Aus dem Weg!«, schrie der Roboter verzweifelt, weil er genau wusste, dass sein Körper etwas Zeit brauchte, um anzuhalten. Rannte er erst einmal, dann war es schwer ihn wieder zu stoppen. Der Herr jedoch nahm die Warnung zu spät wahr und so krachten Mensch und Maschine unvermeidlich zusammen. Scrap legte einen Überschlag vom feinsten hin, landete auf dem Bauch und rutschte noch einige Meter über den Asphalt. Der ältere Herr, der zu seinem Glück sehr korpulent gebaut war, landete auf seinem weichgepolsterten Gesäß. Der Roboter rappelte sich hoch und stellte ärgerlich fest, dass er in einer riesigen Pfütze gelegen hatte, welche –oh Wunder!- die einzige ringsum war. Der Mann, den er verfolgt hatte, hatte die Gunst der Sekunde genutzt und war nun über alle Berge. Da er jetzt ohnehin nichts mehr zu tun hatte, entschloss er sich dazu, dem korpulenten Herrn auf die Beine zu helfen.

»Sie!«, fauchte der Alte, der sich bereits von selbst aufgerappelt hatte und deutete Grundlos auf den Metallmann. »Was machen Sie denn hier, Sie unfähiger Idiot? Sollten Sie nicht meine elende Frau beobachten und darauf achten, ob sie mir fremd geht, Mr. Scrap?«

Die Verkettung unglücklicher Zufälle hörte einfach nicht auf. Scrap schlug sich die Hand vor die Stirn, als er seinen Kunden erkannte. »Ich hasse mein Leben!«, grummelte er in sich hinein und trat langsam auf den Alten zu. Dummerweise hatte sein Kunde ihn dabei ertappt, wie Scrap seinen Arbeitsplatz –wenn man ein mit Käfern überfüllten Busch so nennen konnte- verlassen hatte. Somit versuchte er es mit einer Entschuldigung, die jedoch nicht die gewünschte Wirkung erzielte.

»Glauben Sie bloß nicht, dass Sie damit durchkommen! Das hat ein Nachspiel Mr. Dämlich Scrap!« Das dämlich vor seinem Namen hätte er sich sparen können. Der Roboter fand dieses Wort ziemlich erniedrigend, vor allem, weil er selbst nicht im Geringsten dieser Auffassung war. Dämlich… Er war das intelligenteste Wesen und wurde als dämlich bezeichnet? Er konnte sogar die Zahl π komplett aufsagen!

»Ihre Dummheit, Mr. Scrap, Ihre Dummheit wird Ihnen zum Verhängnis!«

Dummheit? Der Maschinenmann konnte es nicht fassen! Wenn ihm etwas zum Verhängnis wurde, dann waren es seine menschliche, gottverdammte Seele und die Tatsache, dass er zu rosten beginnen würde, wenn er mit Wasser in Berührung kam, so wie an diesem Tag. Aber dumm?

»Ich werde Ihnen das Leben zur Hölle machen!«, rief sein Kunde noch und zog ab. Scrap ballte die Hand zur Faust. Seine unterdrückte Wut ließ ihn zittern. »Vergessen Sie es!«, schrie er dem Herrn hinterher, »Mein Leben ist schon die Hölle! Ich hasse es! Tun Sie mir einen Gefallen und bringen Sie mich lieber gleich um!« Doch der Herr reagierte nicht mehr darauf.

»Lecken Sie mich!«

Mit diesen Worten marschierte auch der depressive und höchst aggressive Roboter davon. Er trug das Wissen in sich, das Ganze, das gesamte Wissen der Welt und des unendlichen Universums.

Doch was hat man davon, alles zu wissen, wenn es niemanden interessiert?

Stadium: Fortgeschritten

Diagnose: Gehirntumor

Stadium: Fortgeschritten

Aussicht auf Heilung: Keine
 

Der Arzt hatte sie nur mitleidig angesehen und gesagt, dass es keine Möglichkeit gab, den bösartigen Tumor zu entfernen. Und sie hatte nur dagesessen und ins Leere gestarrt, fernab von der Realität. Sie hatte ihm nicht einmal weiter zugehört, als er ihr die Maßnahmen nannte, um ihren Tod hinauszuzögern. Es hatte keine Bedeutung mehr für sie. Es war ihr egal gewesen, was er erzählte. Es würde ja doch nichts ändern.

Und jetzt stand sie hier an der Straßenkreuzung. Ihr quietsch gelbes Kleid wehte fröhlich in der sommerlichen Brise, doch es wirkte falsch an ihr. Es war zu fröhlich und zu gelb! Ganz im Gegenteil zu ihrer schwarzen Leere im Innern ihrer Seele.

»Wie lange habe ich noch? «

»Vielleicht eine Woche, vielleicht aber auch nur noch einen Tag. «

Sie stand einfach nur da, in der Pracht des Sommers. Ihre langen, schwarzen Haare lagen ihr sanft um die Schulter. Um sie herum lachten Kinder, die gerade Fangen spielten und wild umher liefen. Nur sie konnte nicht lachen.

Stadium: Fortgeschritten.

Das 18-jährige Mädchen stand einfach nur da. Zwei Jugendliche gingen kichernd und freudestrahlend an ihr vorbei. Sie waren kaum jünger als sie selbst, doch im Gegensatz zu ihr, hatten die Jugendlichen ihr ganzes Leben noch vor sich. Die beiden konnten noch leben und sich einige schöne Tage machen. Nur sie konnte das nicht.

»Kann man es irgendwie heilen? «

»Ein Eingriff hätte eine Erfolgschance von 9%. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es gibt keine Möglichkeit. «

Die Straßenkreuzung war kaum befahren. Auf den Bürgersteigen tummelten sich fröhliche Menschen, die mit ihren Hunden spazieren gingen oder sich mit anderen unterhielten. Sie fühlte sich so fehl am Platz, zwischen all diesen glücklichen Leuten. Alle waren guter Laune und voll Hoffnung, nur sie nicht. Alle, nur sie nicht.

Diagnose: Gehirntumor

Stadium: Fortgeschritten

Aussicht auf Heilung: Keine

Sie stand einfach nur da, hier, mitten auf der Straßenkreuzung, in ihrem quietsch gelben Kleid. Ihr war etwas genommen worden, was andere noch hatten: Ein Hoffnungsschimmer. Für sie gab es so etwas nicht. Sie war bereits tot gewesen, als sie die Arztpraxis betreten hatte. Keine Chance.

Sie sah sich um und betrachtete die vier Richtungen, die sie wählen konnte, doch sie wusste nicht, wohin es sich noch zu gehen lohnte.

Ausweglos!

Es war, als gäbe es keinen Weg mehr für sie, auch wenn vier zur Auswahl standen. Vielleicht gab es auch nur noch einen. Vielleicht aber auch, führten alle Wege zum selben Ziel. Sie wusste es nicht. Ihrer Meinung nach, spielte es ohnehin keine Rolle mehr. Es würde aufs selbe hinaus kommen, ob sie nun hier stehen blieb und auf ein zu schnelles Auto wartete, oder auf ihren schmerzhaften und unvermeidlichen Tot. Sie hatte den Kampf ums Überleben bereits aufgegeben, weil der Gegner viel zu stark war. Er hatte sie in die Knie gezwungen und holte nur noch zum endgültigen Schlag aus.

Diagnose: Gehirntumor

Stadium: Fortgeschritten

Aussicht auf Heilung: Keine

Aus und vorbei…

Zeitlos (Geschichten eines Aussteigers)

Far away. Timeless. Alone.

To find yourself you have to forget what you have been one day.
 

Manchmal wissen die Menschen nicht, wer oder was sie sind. Sie verstecken sich in der Masse und tauchen unter. Einer ist nur ein Teil von Allen und Alle sind nur ein Teil von Einem. Es besteht kaum mehr ein Unterschied. Sie vergessen sich selbst und richten sich stattdessen nach anderen. Geprägt und beeinflusst durch die Gesellschaft weilen sie, als einer von vielen. Unerkannt.
 

Welcher Tag war heute? Welches Jahr? Was für ein Monat?

Fred wusste es nicht. Er konnte nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war es Mai oder Juni, was er aufgrund der Wärme vermutete. Die Pflanzten grünten und die Sonne schien hell und richtete ihre Hitze gen Boden. Doch die Baumkronen warfen ihre Schatten und ließen somit die Temperatur niedriger erscheinen, als sie es tatsächlich war. Folgedessen konnte Fred sich im Punkt Monat nicht sicher sein. Das Jahr? Es musste um die 1998 sein, vielleicht ein Jahr mehr oder weniger. Und der Tag? Es hätte jeder sein können.

Fred war schon eine ganze Weile unterwegs und hatte die Tage und Nächte schon lange nicht mehr mitgezählt. Mal war es Winter gewesen, dann wieder Frühling, Sommer und Herbst. Mal war es bitterkalt in den fernen Wäldern, in denen er sich herumtrieb, sodass er beinah erfror. Manchmal war es auch so heiß, dass er fürchtete in Flammen aufzugehen. Doch er ließ sich nicht davon einschüchtern. Er wollte nicht zurück in die Gesellschaft, ganz egal, wie es ihm hier auch erging. Unter keinen Umständen! Außerdem würde er sich in dieser Außenwelt nicht mehr zu Recht finden. Schließlich hatte er schon seit einer Ewigkeit mit niemandem gesprochen. Nein. Für ihn stand es fest: Er würde lieber einsam in diesen Wäldern krepieren, als zurück in diese Welt der Unfreiheit zu gehen.

Er saß mit dem Rücken an einem Baum und blickte, während er nachdachte, auf den großen Fluss vor sich. Dieser war glasklar und schimmerte im Licht der Sonne. Die kleinen Wellen brachen sich an seinen Füßen, die er ins Wasser streckte. Er war froh darüber, damals gegangen zu sein. Beinah hatte Fred das Gefühl, es wäre nie anders gewesen, er hätte schon immer in dieser Einsamkeit gelebt. Die Menschen in den Städten hätten ihn dafür verachtet, dafür, dass er anders war. Ein Aussteiger. Doch es interessierte ihn nicht mehr, was andere von ihm hielten. Schließlich hatte er sich von der Gesellschaft, von der Masse, abgehoben und hatte nach sich selbst gesucht, nach seinen Ansichten und seinem eigenen Leben, fernab von allem. Dafür musste er seinen Geist und seinen Körper an ihre Grenzen treiben und weit weg gehen. Er musste alles zurücklassen, was er liebte und schätzte. Alles was er bei sich trug war ein großer Rucksack mit Messern und anderen Werkzeugen, ein Schlafsack, zwei, drei Bücher und eine Taschenuhr.

Ja, seine kleine Taschenuhr. Es war einst ein Geschenk von seinem Großvater. Fred konnte sie einfach nicht zurücklassen. Wehmütig sah er in seine Hände, in denen sie lag. Dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Einen Moment lang dachte er an seinen Großvater, an seine kleine Schwester, an seine liebevollen Eltern und seine großartigen Freunde. Das war einmal. So sehr Fred sie auch vermisste, er konnte nicht zurück, nicht, bevor er gefunden hatte, was er suchte: sich selbst.

Er hatte sein Ziel genau vor Augen, doch etwas stand ihm bis jetzt noch immer im Weg. Die letzte Erinnerung an sein Zuhause: Die silberne Taschenuhr in seinen Händen.

Um sich selbst zu finden musste er sie zerstören, so sehr er es auch versucht hatte zu vermeiden.

Er öffnete die Augen wieder, stand auf und packte seine wenigen Habseligkeiten, um weiter zu ziehen. Er blieb nie lange an einem Ort. Noch einmal sah er sich um. Die kleine Lichtung, der große, schimmernde Fluss, das Unterholz, das weiche Gras, die Vögel, die Rehe und die großen Bäume. Es sah fast aus, wie überall in diesen Wäldern, doch Fred wusste, dass dieser Ort immer etwas besonderes, anderes sein würde. Schließlich warf er noch einen Blick auf die Taschenuhr, die in seiner Hand ruhte. Es war genau 12Uhr. Dann klappte er sie zu und ließ sie fallen.

Zeit und Erinnerungen dürfen mir nicht im Wege stehen!

Mit diesem Gedanken trat er auf die silberne Uhr, sodass ihr Glas zersplitterte. Dann verließ er die Lichtung. Erinnerungslos. Zeitlos. Identitätslos. Frei.

Die Suche nach seinem Selbst hatte gerade erst begonnen.

HalfWay (Geschichten eines Aussteigers)

Fred atmete tief durch. Er stand ganz oben auf einem Berg und konnte von dort aus seine Umgebung betrachten. Um ihn herum war alles still und das einzige, was er hörte, war sein eigenes atmen. Mit Zufriedenheit blickte er hinab auf das riesige Waldstück, welches er bereits durchquert hatte. Seine braunen Haare waren lang geworden und hingen ihm jetzt ständig in den Augen. Er schob sie mit der Hand zurück. Der Berg, auf dem er nun stand, hatte ihm einige Mühen abverlangt, als er diesen erklomm, und seine Kräfte vollends verbraucht. Doch so schweißgebadet er auch war, in ihm herrschte absolute Zufriedenheit. Er hatte eine weitere Hürde auf seiner Suche nach sich selbst überwunden und das erfreute ihn. Mit einem Lächeln schaute er hinunter und stellte fest, wie weit er bereits gegangen war. Er konnte kaum das Ende des Waldstückes sehen. Dann drehte er sich um und sah in die entgegengesetzte Richtung. Ein ebenso weites Waldstück erstreckte sich vor ihm und ihm wurde bewusst, dass er es noch zu gehen hatte. Doch er fasste es mit Freude auf. Schließlich hatte er schon die Hälfte geschafft.

Ermüdet legte er seinen großen, grünen Rucksack ab, trank einen Schluck aus der Feldflasche, die an seinem Gürtel befestigt war und ließ sich in das weiche Gras fallen. Plötzlich tippte ihm etwas auf die Schulter. Fred schrak auf, denn das letzte, womit er gerechnet hatte war ein menschliches Wesen, hier, an diesem verlassenen Ort.

»Du sitzt auf meiner Saat!«, meinte der alte Greis, der soeben hinter Fred aufgetaucht war.

»E- Entschuldigung!«, stammelte er und stand verwirrt und zügig auf. Der alte Mann reichte Fred die Hand zum Gruß und meinte freundlich: »Peter Stenson.«

»Angenehm. Fred O´Neil.«

Der Alte lächelte und zeigte alle seine Falten. Fred versuchte ebenfalls ein Lächeln, während er seinen Rucksack aus der Saat hob und ihn erneut schulterte.

»Komm doch mit hinein«, begann Peter und deutete in Richtung Osten, wo eine kleine Holzhütte stand, »Du siehst aus, als könntest du einen Tee gebrauchen.«
 

So fand sich Fred auf einer schlecht gepolsterten Bank im Innern der Hütte wieder. Er nippte genüsslich an seinem Pfefferminztee. Fred und Peter unterhielten sich angeregt, sprachen über dies und das. Der Alte berichtete von seinen Beeten, seiner Saat und der Ziege, die er sich als Nutz- und Haustier hielt. Fred hatte das Gefühl, er spräche mit seinem Vater, nicht mit einem alten Greis, den er soeben erst kennengelernt hatte.

»Also, Fred, was sucht so ein Jungspund wie du am Ende der Welt?«, fragte Peter plötzlich.

Der 26-Jährige stellte seine Tasse ab und sah seinen Gegenüber fragend an. »Das Gleiche könnte ich Sie fragen«, entgegnete er und hob die Augenbrauen. Der Alte räusperte sich und strich sich durch seine kurzen, grauen Haare.

»Nun ja. Ich habe einst beschlossen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich glaubte mal, ich könne mich selbst wiederfinden, wenn ich nur weit genug von allem Einfluss weg ging. Doch irgendwann landete ich hier, auf diesem wunderschönen Berg. Und ich brach meine Suche ab und wurde sesshaft.«

»Sie haben aufgegeben?«, fragte Fred erstaunt und nahm einen weiteren Schluck Tee. Peter zuckte mit den Schultern, doch sein trauriger Gesichtsausdruck verriet, dass er tatsächlich aufgegeben hatte.

»Als ich 34 Jahre war ging ich fort, mit dem unsterblichen Glauben, ich könnte es schaffen. Doch dies war nur eine Illusion. Sechs lange Jahre bin ich umhergereist, aber irgendwann ist mir aufgefallen, dass meine Knochen müde wurden. Ich konnte nicht mehr weiter gehen und heute bereue ich, dass ich mich nicht doch dazu durchgerungen habe. Nun bin ich 65 und für mich steht fest, dass ich diesen Berg niemals mehr verlassen werde. Der Abstieg wäre tödlich.« Der Alte sah zu Boden. Seine faltigen, zitternden Hände umklammerten die Tischkante. Fred wusste nicht, was er sagen sollte. Peter tat ihm aufrichtig leid, doch wie sollte er, der kleine, junge Aussteiger ihm helfen?

»Und was suchst du hier, Jungspund?«

Ich suche das, was Sie nie finden konnten, dachte Fred, sprach es jedoch nicht aus, sondern formulierte es anders. »Dasselbe, was Sie damals versuchten zu finden.«

Der Alte nickte anerkennend und lächelte matt. Dann erhob er sich mühselig und ging zu einer kleinen Kommode neben dem Esstisch. Er öffnete die oberste Schublade und kramte darin. Mit zittrigen Fingern nahm er einen handgroßen Gegenstand heraus, schloss die Schublade wieder und setzte sich erneut zu Tisch. In seiner Hand befand sich, wie Fred erkannte, ein uralter Fotoapparat.

»Damals habe ich meine Reise auf dieser Fotokamera festgehalten«, begann Peter und schob das Gerät über den Tisch in Richtung Fred, »Ich konnte den Film leider nie entwickeln lassen. Außerdem sind noch dreizehn Fotos übrig, die noch gemacht werden können.«

Der Alte senkte den Kopf und Fred bemerkte, dass er an seine Reise zurückdachte. Für einen kurzen Moment funkelten seine Augen auf, als wünschte er sich, wieder jung und abenteuerlustig zu sein. Doch das Funkeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.

»Ich möchte, dass du die Fotos für mich entwickeln lässt und den Zweiten Teil deiner Reise, den ich nie gehen konnte, auf diesem Film festhältst.«

Fred nahm die Kamera entgegen und betrachtete diese. Dann stellte er sie zurück auf den Tisch und meinte »Warum tun Sie es nicht selbst? Ich kann doch nicht den letzten Teil Ihrer Reise fotografieren!«

»Es ist auch deine Reise, die du festhalten sollst, nicht mehr meine. Außerdem weißt du ja gar nicht, wie schmerzhaft es für mich ist zu gehen, Jungspund! Ich bin froh, wenn ich es zu meinen Beeten hinüber schaffe, aber diesen Berg hinunterklettern? Unmöglich!«

Der 26-Jährige wollte etwas erwidern, ein paar aufmunternde Worte sagen, doch er wusste, dass Peter Recht hatte.
 

Die Nacht über blieb er in Peters Behausung. Nach langem schlief er endlich wieder auf einem weichen Untergrund. Am nächsten Morgen schien die Sonne hell und warm durch ein kleines Fenster. Fred war schon auf den Beinen, packte seine Habseligkeiten zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Als er die Hütte verließ, entdeckte er Peter einige Meter weiter, der mit einer aus Steinen und Stöcken gebauten Hacke auf die Erde einschlug. Er legte anscheinend ein neues Beet an. Fred schlenderte zu ihm herüber. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht, sodass er die Augen zusammenkneifen musste, um Peter zu sehen. Schließlich war er neben ihm angelangt und legte dem Alten seine Hand auf die Schulter. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. Der Alte drehte sich langsam um, setzte ein Grinsen auf und entgegnete mit traurigem Unterton: »Ja, ich weiß. Und dieser Ort soll dich nicht aufhalten. Nicht so, wie den alten Peter!«

»Eines Tages werde ich zurückkommen und Ihnen die Fotos bringen.«

Fred wandte sich zum Gehen, doch dann sah er noch einmal zurück. Der alte Mann stützte sich auf seine Hacke und winkte. Seine grauen Haare glänzten im Sonnenlicht. Es fiel Fred schwer, ihn zurückzulassen, doch er wusste auch, dass Peter den Abstieg des Berges nicht überleben würde.

Er kramte in seiner Hosentasche und zog die Kamera hervor. Und er machte ein letztes Foto von Peter.

»Wir sehen uns, mein Freund!«, rief Fred noch, bevor er den steilen Berg hinunterkletterte und den alten Greis zurückließ.

Hure

Ihr rotes Kleid strahlte im matten Licht. Es machte sie schön und unwiderstehlich. Es war ihrem Körper perfekt angepasst, gerade so, als sei es nur für sie bestimmt, das rote Kleid. Bis zu den Knien reichte es ihr und der Ausschnitt war tief. Ihre Figur wurde betont und schrie geradezu nach verlangen. Auch ihre roten Lippen wirkten anziehend und schön.

Wie sie sich bewegte, in ihrem roten Kleid, mit ihrem roten Lippenstift. Es war beinah, als würde sie jeden Schritt tanzen, so elegant spazierte sie den schmalen Weg bis ins Hinterzimmer entlang. Ihre langen, dunklen Haare fielen ihr locker über die Schultern. Dann drehte sie sich um, lächelte und sagte »Herein spaziert«, während sie die große Holztür offen hielt. Doch in ihren Augen spiegelte sich etwas wie Traurigkeit, etwas wie Sehnsucht wider. Doch wie jeder andere, konnte auch ich ihrem roten Kleid, ihrem roten Lippenstift und ihrem Charme nicht widerstehen. Sie zog mich magisch an. Selbst wenn ich jetzt hätte gehen wollen, ich konnte es nicht. Auch wenn ich sie auf ihre Traurigkeit hätte ansprechen und ihr helfen wollen, die Gelüste des menschlichen Körpers ließen dies nicht zu. Also trat ich ein, so wie all die anderen Männer auch, die sie zu Genüge bei sich hatte. Und auch ich sah über ihre Gefühle hinweg. Genau wie all die anderen.

Blutleer

Das Blut in meinen Venen

Fließt still und stetig hin und her.

Es ist warm und doch eisig,

bleibt stehen,

hält mich am Leben

und bringt mir den tot.

Fließt weiter und weiter

Durch mich hindurch,

und transportiert

was es zu transportieren gibt.
 

Es frisst mich auf,

innerlich,

schmerzt und vergeht,

erneuert sich nicht.

Mit jedem gottverdammten Atemzug

Strömt es durch meine Venen

Und hält mich dennoch nicht

am Leben.

Nein!
 

Es ist die Wut und der Hass,

die Tränen, das Leid,

die unvergessene Traurigkeit.

Jeder Herzschlag bringt mich

Dem Ende etwas näher.

Es ist mein Lebenselixier,

und doch tötet es mich

mehr und mehr.
 

Verseucht ist es

Durch eine Krankheit

Die mir die Kräfte nimmt.

Blutleer stehe ich am Abgrund,

unter mir die kalte Leere.

Mit einem Bein im Totenreich,

das andere an der Erde.

Die Leukämie wird mich hinab ziehen

Und mir alle meine

Wünsche nehmen.

Bis ich nichts mehr spüre.

Leere Seiten

Ich schlug das Buch auf, doch die Seiten waren leer.

Wie jeden Tag.

Immer waren sie nur weiß und leer. Kein Wort. Ich wusste, welche Geschichte auf ihnen stehen sollte, auf diesen Seiten, doch sie stand nicht dort. Nein. Die Worte, die Buchstaben, die ich auf dieses Papier bringen wollte schrieben sich einfach nicht. Sie schreiben sich nie.

So wie jeden Tag.

Die ganze Handlung hatte ich in meinem Kopf, jedes noch so kleine Detail, doch meine Gedanken wollten nicht raus, mein Innerstes nicht verlassen. Und somit blieben die Seiten auch heute stumm. Weiß, leer und stumm.

So wie jeden Tag.

Ich schlug das Buch wieder zu und legte es zurück auf den Holzschreibtisch. Es mangelte mir doch nicht an Inspiration! Warum war ich dann nicht in der Lage, diese Worte zu schreiben, diese Geschichte zu schreiben? Vielleicht mangelte es mir doch an Inspiration. Vielleicht aber auch nur an Willenskraft.

So wie jeden Tag.

Wen interessierte das schon? Dieses Buch hatte nur leere Seiten und niemand würde sie je lesen, weil es nichts zu lesen gab. Nur eine Geschichte in meinen Gedanken. Unwichtig. Nur eine Geschichte auf leeren Seiten. Uninteressant. Nur eine Geschichte, die es wert gewesen wäre, geschrieben und gelesen zu werden. Egal.

Ich lehnte mich zurück und gab es für diesen Tag auf. Heute hätte ich nicht ein Wort zustande gebracht. Nicht eines.

So wie jeden Tag.

Und weil alles so blieb, wie es war, blieben auch die leeren Seiten, wie sie waren: leer.

Geschichten, die das Leben schreibt

Früher warst du das Licht in meiner Seele. Du hast mich erfüllt mit Leben, hast mir gezeigt was Liebe ist. Als ich am Ende war, da hast du mir die Hand hingehalten und mir Hoffnung gegeben. Als ich vor Schmerzen drohte zu vergehen, hast du mir gezeigt wie man Lacht und Probleme beseitigt. Du hast mich gelehrt über Dinge hinwegzusehen, zu lächeln und zu sagen »Das wird schon wieder! « Mit deiner Lebensfreude hast du mir ein Stück meiner Selbst geschenkt, welches ich vor langer Zeit einmal verloren hatte. Wenn ich reden musste, dann konnte ich dir alles erzählen. Denn du hast mich nie verurteilt, sondern mich so angenommen, wie ich war.

Du warst es, die mir zeigte wie man anderen vertraut. Durch dich habe ich wieder etwas gefühlt, nachdem ich Jahrelang gefühllos war. Du gabst mir Kraft und eine Perspektive, hast mich zu einer Lebenden gemacht. Aus meiner tiefschwarzen Leere hast du mich genommen und in ein Blumenmeer gebettet. Briefe hast du mir geschrieben, in denen du mir sagtest, was für ein wundervoller Mensch ich sei und wie sehr du mich liebtest. Und ich freute mich über jede deiner Handgeschriebenen Zeilen. Ich war immer so dankbar für alles, was du mir gabst und ich versuchte dir eine ebenso wunderbare Freundin zu sein, wie du mir.

Doch dann…

Dann sah ich dich mit ihm. Und meine Welt, die du so mühevoll aufgebaut hattest, brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Mein Herz brach in seine Einzelteile und wieder schloss sich tiefschwarze Leere um mich. Ich nahm all deine Briefe, Fotos, all deine Zeichnungen und verbrannte sie. Noch heute sehe ich unsere lachenden Gesichter in Flammen stehen.

Ich gab dich auf, meine Liebe.

Einige Monate später erfuhr ich, dass ich dich nie an ihn verloren hatte, sondern an den Schnee. An das weiße Pulver, welches du mehr liebtest und noch heute liebst, als irgendjemand sonst. So sehr ich mich auch bemühte dich davon abzubringen, du wolltest und konntest den weißen, reinen Schnee nicht verlassen, auch wenn du genau wusstest, dass er all deine Gefühle lahmlegen würde. Du gingst für alle Zeit von mir und was du hinterließt, war mein Leben.

Was bin ich jetzt noch? Ohne dich?

Was bist du jetzt noch? Ohne mich?

Als du dich damals für das Koks, für den weißen, reinen Schnee entschiedest, da wusste ich noch nicht, dass ich nicht nur dich, sondern auch mich selbst verloren hatte.

Was würde ich nur dafür geben, dich noch einmal küssen zu dürfen, noch einmal deine sanfte Haut zu berühren, dich lachen zusehen, in deinen großen Augen die Fröhlichkeit zu sehen und deine Liebe zu spüren? Fakt ist, ich würde alles dafür geben. Nur für einen solchen, winzigen Moment mit dir.

Denn ich weiß, dass ich dich noch immer liebe…
 

Und ich kann dir nicht zusehen, wie du dich umbringst!

Auf Wiedersehen, Daddy

»Mummy, warum ist Daddy da drin? «, fragte Amy ihre Mutter und deutete auf eine Holzkiste. Susanna nahm ihre Tochter auf den Arm und hielt sie fest.

»Und warum weint der Himmel? Ist etwas Schlimmes passiert? «

Susanna sagte nichts. Sie konnte nichts sagen. Ihre Kehle war staubtrocken und ihre Stimmbänder verkrampft. Der Regen trommelte auf den Regenschirm, den sie in der Linken trug. Er spielte eine grausame Melodie der Trostlosigkeit.

»Mummy, warum tragen diese Männer Daddy weg? « Amys Augen waren groß und leuchtend blau. Susannas hingegen waren geschwollen und rotunterlaufen vom vielen weinen.

»Halt, Mummy! Sag den Männern sie sollen Daddy nicht in das Loch stecken! «

Die Sargträger ließen den Sarg in das Grab ein und senkten traurig ihre Köpfe.

»Dein Daddy ist im Himmel, mein Schatz. «, flüsterte Susanna unter Tränen und inneren Schmerzen. Der Regen prasselte unablässig auf den Schirm und spielte nun die Melodie der Toten. »Wir werden ihn irgendwann wieder sehen. Aber noch nicht. « Susanna presste Amy fest an sich. »Noch nicht. «

»Bleibt Daddy lange da unten? «, fragte die Tochter und rümpfte die Nase. Susanna schüttelte den Kopf und versuchte ihre Trauer zu unterdrücken, doch die Tränen liefen unaufhaltsam ihre Wangen hinunter, wie die Regentropfen vom Schirm. Die junge Mutter konnte es nicht fassen, dass sie Clay, ihren geliebten Ehemann, niemals mehr wiedersehen würde. Sie konnte es nicht wahr haben, dass er nun zu Grabe getragen wurde. Und sie konnte nichts tun, konnte die Zeit nicht zurückdrehen, konnte ihn nicht retten, nicht beschützen und nicht vor dem Jetzt bewahren, sondern einfach nur dastehen und zusehen, wie ihr Mann in der tiefen Erde für immer verschwand.

Mit dem Regen fielen auch die Tränen und mit den Tränen auch die Rosen, die die Angehörigen bei sich trugen. Susanna und Amy sahen noch einmal hinab. Regen. Kälte. Regen. Tod.

Und bevor Susanna sich unter Qualen abwandte flüsterte sie ihrer Tochter etwas ins Ohr. Diese winkte freundlich und lachend und rief mit ihrer lauten Kinderstimme »Auf Wiedersehen, Daddy! «

S.T.A.L.K.E.R.

Sie steht mal wieder panisch vor dem Ticketautomaten, um sich eine U-Bahnfahrkarte zu holen. Mal wieder vergisst sie das Restgeld zu entnehmen, in ihrer Eile davon zu laufen. Doch noch ist die U-Bahn nicht da, sondern trifft erst in zwei Minuten ein. Wie immer ist sie zu früh.

Sie wirft einen Blick zurück, weil sie befürchtet verfolgt zu werden. Zu Recht! Und wieder versucht sie in der Menge unterzutauchen, die am Bahngleis steht und auf den Zug wartet. Doch es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich beobachtet und sieht wie immer in alle Richtungen, darauf hoffend ihren Verfolger ausfindig zu machen. Aber wie immer scheitert sie. Sie weiß, dass jemand da ist der sie anstarrt und jeden ihrer Schritte sieht. Jemand, der sie nicht eine Sekunde alleine lässt. Und wie immer perlt schon der erste Schweiß von ihrer makellosen Stirn. Angst durchströmt ihren gesamten Körper. Sie will nur fliehen, doch sie kann niemals entkommen.

Die U-Bahn rollt ein. Beim Einsteigen schaut sie sich hektisch um. Ohne Erfolg. Und jetzt klammert sie sich wieder an die Stangen zum Festhalten und glaubt, diese könnten ihr Schutz bieten; Schutz vor meinen Blicken und meinem ganzen Ich. Schutz vor mir, ihrem Verfolger und Beobachter. Doch sie sollte wissen, dass ich sie nie aus den Augen lasse. Ich kenne sie mehr als sie sich selbst. Ich weiß, wer sie ist, was sie gerne macht, was ihr Lieblingsessen ist, wovor sie Angst hat und wie schnell sie laufen kann. Ich weiß alles über sie, jedes noch so kleine Detail. Sie weiß, dass jemand sie anstarrt, Tag für Tag, Stunde um Stunde, doch sie weiß nicht, dass ich es bin. Ich, der ganz normale Durchschnittsbürger. Der nette Mann, den sie auf offener Straße immer gerne grüßt. Der einfache Typ, der in der U-Bahn neben ihr steht und auf der Arbeit neben ihr sitzt. Niemand besonderes. Normal. Zu einfach. Uninteressant. Sie vermutet nicht mich, nein, ich bin viel zu unauffällig. Sie sucht jemanden mit Muskeln und einer breiten Statur, der es auf ihren wunderschönen Körper abgesehen hat. Aber ich, der kleine, schmächtige Mann, passe nicht in ihr Profil eines Täters.

Ein Lächeln huscht über meine Lippen, als sie sich wieder panisch umschaut, weil sie weiß, dass Blicke auf ihr haften. Und dabei kann sie sich noch so viel umsehen, sie wird mich nie als das erkennen, was ich bin. Für sie bin ich einfach nur ein ganz normaler Durchschnittsbürger. Unauffällig. Uninteressant. Unsichtbar.

Fall ins Leere (Menschlich Mechanisch -1-)

Sin erhob sich langsam und spähte zu Calea hinüber. Die schöne Nachtelfe drehte ihre blauen Dreads zu Knoten zusammen, während sie gebannt auf die Umgebung hinabsah. Sie machte einen ruhigen, ja beinah zu ruhigen, Eindruck im Angesicht dieser misslichen Lage. Doch Sin wusste, dass Calea nicht so ruhig war wie sie wirkte. Ganz im Gegenteil. Ihre Augen versprühten ein hektisches Funkeln, was sie nur taten, wenn sie in echte Bedrängnis geriet.

»Was sollen wir denn jetzt nur tun?«, fragte Sins Bruder Scott und tippte nervös mit dem Fuß auf und ab.

»Geh mir nicht auf die Nerven!«, blaffte Sin ihn an und kratzte sich mit seiner Metallhand am Kopf. Wie der Cyborg es doch hasste während des Nachdenkens unterbrochen zu werden.

»Aber… Aber…«, jammerte sein kleiner Bruder und hüpfte auf und ab. Wahrscheinlich hatte er sich mal wieder zu viele dieser seltsamen Blüten rein gepfiffen. Eines Tages würden diese Drogen ihm noch das Hirn zermahlen!

»Hab ich nicht gesagt du sollt die Schnauze halten?« Sin war definitiv nicht in der Stimmung sich jetzt noch mit Scotts dämlichen Fragen nerven zu lassen. Calea hatte dies natürlich mit angehört und musste –ach war sie ein nettes Wesen- Scotty in den Arm nehmen und trösten. Sins Meinung nach war dieser alt genug um auf sich selbst achtzugeben. Er war schließlich schon 18 Jahre. Aber Calea hielt es wie immer für angebracht ihn zu bemuttern. Der28-jährige Cyborg rümpfte die Nase und versuchte sich wieder zu konzentrieren. Er musste sie irgendwie aus dieser misslichen Lage befreien, die auf dem Erdboden auf sie wartete.

»Warum mussten wir auch das Raumschiff nehmen und in diese gottverlassene Gegend reisen?«, kam es nun von Ronny, der seine spitzen Fangzähne bleckte. »Ich war ja von Anfang an dagegen, dass wir das tun! Und jetzt? Man sieht ja, was wir nun davon haben!« Ronny der Wolfsmensch war immer mies gelaunt und suchte nur so nach Gelegenheiten, diese an seinen Mitwesen auszulassen. Für ihn kam diese Situation wie gerufen um an allem möglichen rumzunörgeln. »Und warum muss ausgerechnet ich dieses Mistding fliegen wenn wir unter Beschuss stehen? Warum kannst du das nicht machen, Sin? Sonst kannst du doch auch alles!«

Sin war klar, dass er den dringend benötigten klaren Kopf fürs erste vergessen konnte und somit zog er nur die Mundwinkel nach unten und erwiderte »Weil du der Pilot bist, ganz einfach!«

»Aber es war doch nicht meine Idee mal wieder durch die Zeit zu reisen!«, rechtfertigte er sich und steuerte das Schiff in eine scharfe Linkskurve, sodass alle Bordmitglieder zur Seite geschleudert wurden.

»Halt endlich deinen Rand und flieg uns hier raus! Glaubst du ich habe damit gerechnet, dass wir plötzlich in einen Krieg zwischen Ogern und Karaliern geraten?«

»Das hättest du vielleicht einkalkulieren sollen, Boss! «

Es folgte eine scharfe Rechtskurve und Sin wurden die Beine –eines davon menschlich, das andere mechanisch- vom Boden entrissen, sodass er für einen Sekundenbruchteil glaubte zu schweben, bis er schließlich hart mit dem Kopf am Pilotensitz aufschlug. Als wäre nichts gewesen schüttelte er sich und richtete die Metallplatten an seinen Fingern, die sich beim Aufschlag verbogen hatten. Dann sah er zu Calea hinüber, die Scotty fest in ihren Armen hielt, damit ihm nichts passierte. Aus der Küche kam plötzlich Musik.

»Wie kann der nur in dieser Situation auf seiner Flöte spielen?«, fragte Ronny entgeistert und warf Sin einen fragenden Blick zu, bevor er sich wieder der Rettung des Schiffs widmete. Der Cyborg hob seine eine noch vorhandene Augenbraue und setzte sich in Bewegung Richtung Fynn, der anscheinend nichts Besseres zu tun hatte, als auf dieser Flöte zu dudeln. Prompt schlug Sin die Tür auf und entdeckte den Ziegenmann, der seelenruhig auf der Arbeitsplatte thronte und auf dieser Krachmaschine spielte. Als dieser seinen Boss bemerkte fiel ihm vor Schreck die Flöte aus der Hand und seine bauschigen, behaarten Ohren schnellten in die Höhe.

»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«

»Ich dachte ihr könntet da draußen etwas aufmunternde Musik vertragen«, meinte die Ziege und zuckte verlegen mit den Schultern, als wäre es das normalste der Welt, nervende Musik zu spielen, während die Mannschaft versucht am Leben zu bleiben. Natürlich, dachte Sin bitter, natürlich können wir Musik gebrauchen. Aber wenn wir erst einmal unter der Erde liegen bringt uns das auch nicht mehr viel.

»Mach gefälligst was sinnvolles und leg diese Bastarde da unten um, die uns für ihre Feinde halten! Sonst holen die uns jeden Moment vom Himmel, falls dir das nicht aufgefallen ist!« Aus einer seiner Hosentaschen zog Sin eine Laserpistole hervor und warf sie dem Ziegenmann entgegen. Dieser starrte ungläubig auf die Waffe in seinen Händen, stand dann jedoch auf und machte sich an die Arbeit. »Scotty!«, schrie der Cyborg und winkte seinen Bruder zu sich. Als er zitternd und mit weit aufgerissenen Augen vor ihm stand erkannte Sin, dass er Angst hatte. Dicke Augenringe zeigten, dass Scott mal wieder zu wenig geschlafen hatte und somit sicherlich nicht fit für eine derartige Situation war. Seine roten Haare standen in alle Richtungen ab und seine Finger tippten unruhig auf seinen Oberschenkeln. Sin senkte den Kopf und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Meinst du, du kannst unser Schnellreisesystem wieder reparieren?« Scott nickte, doch in seinem Blick konnte Sin Fehler ausmachen, die sein Bruder begehen würde. Mit schwerem Herzen kramte er schließlich erneut in seinen Hosentaschen und zog eine Schachtel hervor. Er öffnete diese. Darin befanden sich neun Tabletten in allen Formen, Größen und Wirkungsweisen.

»Hier!«, sagte Sin und gab ihm die rote Pille, »Die ist gegen die Angst« Mit zitternden Händen nahm Scott sie entgegen und schluckte sie direkt hinunter. »Und jetzt geh hinunter in den Kontrollraum und versuch alles erdenkliche, um dieses verdammte Schnellreisesystem wieder in Gang zu bringen! « Kaum hatte Scott diese Worte aufgenommen und verarbeitet, so war er auch schon unterwegs. Sin sah seinem kleinen Bruder noch einmal hinterher, wandte sich dann jedoch dem Geschehen am Boden zu und sah aus dem Fenster. Aus der Luft sahen die Oger und die Karalier aus wie kleine Ameisen, die sich auf einem Schlachtfeld tummelten. Trotz, dass sie sehr hoch flogen, musste Ronny ständig irgendwelchen Geschossen ausweichen, denn wie jeder wusste waren die Karalier einwandfreie Schützen. Sie verfehlten selten ihr Ziel und wenn sie erst einmal eines hatten, dann würde es definitiv sterben. Früher oder Später. Leider war das Raumschiff in dem Sin und seine Leute sich aufhielten ihr neues Ziel. Und der Cyborg hatte nicht die geringste Lust sich mit seinen 28-Jahren in die tiefen Abgründe des Dunkels befördern zu lassen. Dafür hielt er sich entschieden zu jung. Doch es würde darauf hinauslaufen, wenn Scott nicht baldig das Schnellreisesystem reparierte, damit sie diesem Krieg entfliehen konnten in den sie dummerweise geraten waren. Und als wollte jemand Sins Gedanken nur noch bestätigen, traf eines der Geschosse das Schiff. Der Laser-beam verkohlte die gesamte linke Seite und ließ ein großes Stück der Außenwand schmelzen.

»Scheiße!«, schrie Ronny und riss am Steuerknüppel. Vergeblich. Die Nase des Schiffes richtete sich nach unten. Für einen Moment fühlte Sin sich schwerelos und frei. Doch dann Kippte das Schiff nach vorn –die Besatzung ebenfalls- und fiel mit rasender und unerträglicher Geschwindigkeit gen Boden. Sin erkannte schnell die drohende Gefahr und hielt sich an einem im Boden verankerten Stuhl fest. Der Rest der Mannschaft, abgesehen von Ronny, der sicher im Pilotensitz saß, wurde brutal in den vorderen Bereich des Schiffs geschleudert. Calea schlug hart an der Sichtscheibe auf und blieb reglos am Boden lieben. Fynn, der sich zum Feuern mit der Laserpistole aus dem Fenster gelehnt hatte wurde jetzt von den Füßen gerissen. Ihn ereilte das gleiche Schicksal wie Calea. Scott war nicht in Sichtweite, doch Sin vermutete, dass sein kleiner Bruder keine Gelegenheit hatte sich rechtzeitig festzuhalten und somit quer durch den Maschinenraum fliegen musste.

Von jetzt an ging es Bergab.

Inständig hoffte Sin, dass Scott es bereits geschafft hatte, das Schnellreisesystem wieder in Gang zu bekommen. Es war während der Zeitreise beschädigt worden. Doch es war auch unersetzlich in einer Situation wie dieser. Das Schnellreisesystem durfte nur im absoluten Notfall verwendet werden, weil es ähnlich wirkte wie eine Teleportation. Man wusste zwar, dass man an einem anderen Ort irgendwo in der Galaxis herauskommen würde, doch wo und in welchen Zustand, das war eine andere Frage. Sin hatte schon von einigen abstrusen Fällen gehört. Manchen seien plötzlich die Arme oder Beine abhanden gekommen oder hatten einfach kein Gesicht mehr oder hatten zwölf Augen oder… Diese Liste war endlos. Trotzdem war es eine sehr schnelle und einfache Art des Reisens, gerade dann, wenn man seinem Schicksal entfliehen und am Leben bleiben wollte. Und ja, Sin wollte leben!

Die Macht der Schwerkraft riss das Raumschiff nach unten und jede Sekunde die verstrich und Sin seinem Ende ein bisschen näher brachte, kam ihm vor wie eine nie endende Ewigkeit.

Eins, zwei, drei…

Ronny versuchte immer noch vergeblich, das Schiff wieder in seine Gewalt zu bringen.

...vier, fünf…

Calea und Fynn waren bewusstlos und ihre Körper wirbelten durch den ganzen Raum. Sie würden von ihrem Tod nicht einmal etwas mitbekommen.

…sechs, sieben, acht…

Sin erblickte den Knopf am anderen Ende des Raumes, der das Schnellreisesystem auslösen würde. Er musste nur irgendwie dort hingelangen.

…neun…

Sein halbmenschliches Herz raste in einem seltsamen und falschen Rhythmus und seine ebenfalls halbmenschliche Kehle schnürte sich zu, als er sich mit aller Kraft am Stuhl hochzog.

…neun…

Er stützte seine Füße auf die Lehne und streckte sich nach dem Knopf aus.

…neun…

Beinah konnte er ihn erreichen. Nur wenige Millimeter lagen zwischen dem Knopf und Sins Metallhand. Nur wenige Millimeter, die zwischen Leben und Sterben entscheiden sollten.

…neun…

Sin biss sich auf die Unterlippe. Er hatte keine Zeit mehr, das wusste er, doch er wollte nicht Aufgeben, wollte nicht am Boden zerschellen und wollte vor allem nicht, dass seine Mannschaft starb, weil er es nicht geschafft hatte sie vor ihrem Schicksal zu retten.

…neun…

Mit letzter Kraft streckte er sich und glaubte, den Knopf zu erreichen. Doch dann wurde es Schwarz um ihn herum.

…zehn!

Die Mächte des Schicksals meinten es nicht gut mit ihm.
 


 


 

Schwärze umgab Sin, als er zu sich kam. Wo war er? War er noch am Leben? Wenn ja, wie hatte er es geschafft? Oder befand er sich bereits im Dunkel? Sin hustete schwer und versuchte sich aufzurichten, weil er vermutete zu liegen, was er jedoch nicht wirklich sagen konnte. Vielleicht schwebte er auch oder stand auf dem Kopf. Fakt war jedoch, dass er seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte, weder den menschlichen, noch den mechanischen Teil. Nur sein Gesicht reagierte halbwegs auf die Befehle seines Gehirns.

»…W-Wo… bin… ich?«, quälte er die Worte aus seinem Mund, obwohl er nicht glaubte eine Antwort zu bekommen.

Überraschenderweise kam diese doch. Eine tiefdunkle Stimme mit hallendem Echo flüsterte »Willkommen im Dort«

Das Dort (Menschlich Mechanisch -2-)

»…W-Wo… bin… ich?«, quälte er die Worte aus seinem Mund, obwohl er nicht glaubte eine Antwort zu bekommen.

Überraschenderweise kam diese doch. Eine tiefdunkle Stimme mit hallendem Echo flüsterte: »Willkommen im Dort.«

»W-Wer…ist da?«, keuchte Sin.

Keine Antwort. Nur Stille, Leere und Schwärze. Es war erdrückend und kalt. In diesem unglaublichen Nichts der Finsternis gab es keinen Laut. Plötzlich erhob sich aus der ewigen Dunkelheit ein Lichtschimmer.

»Hallo?«, versuchte Sin es erneut und spähte zu dem Lichtkegel hinüber, der sich langsam auf ihn zubewegte. Er wirkte etwas bedrohlich. Als er nah genug war erkannte der Cyborg die Umrisse einer Gestalt, die eine alte Petroleumlampe in den Händen hielt. Doch er konnte nichts als die Silhouette des Geschöpfes erkennen. Dann verschwand das Licht so schnell, wie es erschienen war. Verwirrt sah Sin sich um, doch er konnte nichts als Schwärze ausmachen. Unter Höllenqualen gelang es ihm sich aufzurichten, sofern er überhaupt gelegen hatte. Sein Kopf schmerzte unerbittlich und sein Körper schien ihm fremder als je Zuvor. Was ging hier nur vor sich?

»Guten Tag, Sin«, ertönte die tiefdunkle Stimme erneut, doch dieses Mal war sie direkt hinter ihm. Er erschrak und wandte sich blitzschnell um. Vor ihm stand ein großes Wesen, das die Petroleumlampe zwischen seinen grauen, beinah schwarzen Klauen hielt. Das fahle Licht beleuchtete das Wesen nur matt, doch genug, sodass Sin mehr als nur Konturen sehen konnte. Die Haut seines Gegenübers war schwarz-grau und es trug schwarze, zerfetzte Kleidung und lange, weiß-graue Haare. Über sein Gesicht verteilten sich tiefe Narben und dunkle Bänder. In seinem Mund blitzten scharfe Zähne und unter den Haaren lugte ein blutrotes, angsteinflößendes Augenpaar heraus.

»Verzeiht«, begann das Wesen, welches einer Rasse angehören musste, von der Sin nicht einmal im Entferntesten etwas gehört hatte, »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Es lächelte und ließ seine Fangzähne aufblitzen. »Nennt mich Schattengänger.«

Sin verzog das Gesicht und sah den Schattengänger abwertend an. Er erinnerte mehr an den Sensenmann, als an irgendetwas anderes. Dann hob er die Augenbraue und fragte tonlos: »Wo bin ich hier?«

»Im Dort, werter Herr«, kam prompt die Antwort des seltsamen Wesens. Der Cyborg hatte noch nie etwas von einem Dort gehört. Er rümpfte die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was soll das sein? Ein solcher Ort ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«

Der Schattengänger hatte immer noch dieses grausame Lächeln aufgesetzt und entgegnete: »Das Dort liegt zwischen Hier, Da und Daneben. Ihr nennt es wahrscheinlich anders. Da und Daneben sind dasselbe wie Himmel und Hölle. Und das Hier ist wohlmöglich etwas wie eure Planeten und Welten. Eben das, auf dem Ihr Ungötter lebt.«

Sin sah den Schattengänger verwundert an, auch wenn er so etwas wie Verwunderung nicht zu fühlen in der Lage war. »Ist es hier immer so dunkel?«, fragte er dümmlich und sah sich noch einmal um, doch es blieb immer noch alles in Schwarz.

»Möchtet Ihr etwas mehr Licht, werter Herr Sin?«

Sin bejahte und kaum hatte er dies getan wurde das Dort in Licht getaucht. Sins menschliches Auge verkraftete diesen Umschwung nicht und sah nur noch verschwommen. Doch das mechanische Auge konnte ungehindert sehen. Buntes Gelächter von tausenden Farben zog durch die Umgebung des Dort. Vor Sin ersteckte sich ein Ort, von dem er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Er fühlte sich wie Alice im Wunderland, nur dass dieses Wunderland noch weitaus mehr zu bieten hatte als das von der kleinen Alice. Bäume mit silbrig glänzenden Baumkronen und Blumen in einer seltsamen Farbe, die Sin noch nie zuvor gesehen hatte, Gräser in einem unermesslichen Farbspektrum. Der Cyborg konnte es kaum glauben.

»Das ist… wunderschön…«, sagte eine vertraute Stimme und Sin sah sich um. Neben ihm stand Scott, der vor Staunen die Augen weit aufgerissen hatte. Die tiefen Ringe wirkten gar nicht mehr so schlimm, wie zuvor, bevor sie…

Bevor sie was?

Sin versuchte sich zu erinnern. Wie war er hier hergekommen? Warum war sein Bruder auch hier und was… Was war mit Calea, Fynn und Ronny geschehen? Er konnte sich nicht erinnern. Der Schattengänger schien Sins Gedanken gelesen zu haben und meinte schließlich: »Es ist ganz normal, dass man vergisst.«

Sin schüttelte den Kopf und versuchte krampfhast sich zu konzentrieren. »Nein, ich vergesse nie! Niemals!«

»Das liegt an dem Dort. Es ist der Ort des Vergessens. Je länger Ihr hier seid, desto mehr werdet Ihr vergessen, werter Herr, bis Ihr Euch eines Tages an nichts mehr erinnern könnt.«

Sin starrte den Schattengänger ungläubig an. Was hatte er da gesagt? Auch Scott sah ihn entgeistert an und schrak schließlich zurück, als er bemerkte, dass da noch jemand außer Sin war.

»Was ist denn das?«, brachte Sins Bruder heraus und riss panisch die Augen weit auf. Nervös zuckten seine Mundwinkel.

»Ich muss doch sehr bitten! Ich bin doch kein Gegenstand! Ich bin der Schattengänger, werter Herr Scott.«

Scotts Mund stand sperrangelweit offen, als er in die blutroten Augen des Schattengängers blickte. Er schien mehr als nur Angst vor diesem seltsamen Wesen zu haben und die Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben. Doch Sin war es schon gewöhnt, seinen Bruder so panisch zu erleben. Eigentlich war das ein Dauerzustand. Und wieder einmal bedauerte der Cyborg, dass sein kleiner Bruder den Liphialen, den Blüten mit der Wirkung von Drogen, verfallen war. War er doch, oder?

Sin schüttelte sich, weil er allmählich das Gefühl bekam nicht mehr klar denken zu können. Alles erschien ihm so falsch und unwirklich. Lag das auch daran, dass er sich im Dort befand?

»Wie dem auch sei«, meinte der Schattengänger und entblößte mit einem Lächeln erneut seine scharfkantigen Zähne. Scott wich leicht und kaum merklich zurück.

»Wie kommen wir hier raus und wo finde ich den Rest meiner Mannschaft?«, fragte Sin beiläufig. Inzwischen ließ ihn die Schönheit und Faszination der Umgebung völlig kalt. Er hatte nicht die Absicht in diesem seltsamen Dort alles zu vergessen, was er je wusste. Ihm war klar, dass er so schnell wie möglich hier weg musste, um bei klarem Verstand zu bleiben, sofern das Stimmte, was das Wesen von sich gab.

Plötzlich brach der Schattengänger in ein schallendes Gelächter aus. Scott zuckte zusammen und Sin blickte verdattert und angewidert zu dem Wesen in schwarz hinüber. Auf die Frage, was denn so ungemein Lustig sei, antwortete der Lachende: »Ihr glaubt Ihr kommt hier raus? Werter Herr, bei allem Respekt, aber das ist absolut unmöglich! Noch niemals ist jemand wieder herausgekommen aus dem Dort! Wisst Ihr das nicht? Ach herrje, Ihr seid ein Witzbold, werter Herr Sin!«

»Was heißt das, wir kommen hier nicht raus?«, wollte Scott wissen. »Wo sind Calea, Fynn und Ronny?«

Der Schattengänger drückte die Flamme der Petroleumlampe mit seinen dunklen, rissigen Fingern aus und sah Sin und Scott bedrohlich an. Für einen kurzen Moment funkelten seine Augen auf und Sin glaube, ein Blutstropfen liefe aus ihnen heraus. Doch das Wesen antwortete nicht auf die Fragen, sondern lächelte nur sein fieses Lächeln. Dieses Geschöpf war Sin nicht geheuer. Es versprühte eine dunkle und furchteinflößende Atmosphäre. Und dieses dauerhafte Lächeln auf seinem Gesicht zeugte von mörderischer Natur. Schließlich stellte es die Lampe beiseite und flüsterte bitter: »Eure Gefährten sind gerade auf dem Weg hierher. Versucht nur zu fliehen, werte Herren, kämpft um euren Verstand, aber denkt daran: Dies ist mein Reich und ich allein habe die Macht darüber!«

Sin verlor die Geduld, packte den Schattengänger an der Kehle. Seine Metallhand musste dem Wesen förmlich die Blutzufuhr abschnüren, so fest drückte er dessen Hals. »Hör endlich auf mit deinem sinnlosen Geschwafel und drück dich ordentlich und verständlich aus! Sag und, wie wir hier rauskommen und ich lasse dich am Leben du niederträchtiger Wurm!«, drohte Sin mit emotionsloser Stimme.

Das Wesen keuchte nicht, schnappte nicht nach Luft und lief auch nicht blau oder grün an, obwohl ihm gerade eine Hand kräftig den Hals zerdrückte. Es machte nicht den Eindruck, als leide es. Stattdessen grinste es breit. Erst jetzt fiel Sin auf, dass der Schattengänger sich allmählich auflöste. Erst verschwanden seine Füße und Finger, dann Arme und Beine, dann der Oberkörper, bis schließlich nur noch das glühende, blutrote Augenpaar zu sehen war. Doch auch dies erlosch nach kurzem und wurde zu Schatten, so wie der Rest des Wesens auch.

»Was zum…?«, fragte Sin irritiert und starrte auf seine leere Hand.

In der Ferne ertönte die tiefdunkle Stimme: »Ihr könnt nichts töten, werter Herr Sin, was nicht lebt!«

Dann war es still.

»Was soll dieser Unfug?«, schrie Sin in die Leere hinein, die sich um ihn ausgebreitet hatte. Doch nach wem oder was rief er schon? Nach einem Wesen, dass so falsch und inexistent war, wie er es sich nicht einmal hätte erträumen können.

Plötzlich bemerkte der Cyborg eine dreiköpfige Gruppe, die sich aus der Schönheit der Umgebung erhoben und schnellen Schrittes auf ihn und Scott zuhielten: Calea, Fynn und Ronny. Scott strahlte vor Freude sie zu sehen und lief ihnen entgegen. Auch Sin machte sich auf den Weg und bewegte sich in ihre Richtung. Als sein Bruder sie fast erreicht hatte rief er ihre Namen und hüpfte aufgeregt wie ein kleines Kind herum. In diesem Moment zückte Fynn seine Laserpistole und richtete sie auf Scotty.

»Wer immer du auch sein magst und woher auch immer du unsere Namen kennst, kleiner Wicht, komm bloß keinen Schritt näher!«, fauchte Ronny und bleckte seine Fangzähne.

Scott zuckte zusammen und erstarrte. »Was soll denn das? Erkennt ihr mich denn nicht?«

Calea warf sich schwungvoll ihre langen, blauen Haare über die Schulter und entgegnete mit ihrer glasklaren Stimme: »Tut mir aufrichtig leid, Kleiner, aber ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Und nun erweise einer Nachtelfe die Ehre und lass sie vorbei!«

Jetzt erreichte auch Sin den Ort des Geschehens. Doch im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder machte er nicht halt, sondern hielt geradewegs auf sie zu. »Lasst gefälligst diesen Humbug!«, blaffte er und warf ihnen einen warnenden Blick zu.

Kaum hatte er die unsichtbare Grenze überschritten, hielt Calea ihm auch schon ein Schwert an die Kehle. Der glänzende und überaus scharfe Stahl der Elfen, das Meisterwerk unter den Schwertern kam nur knapp einen halben Zentimeter vor Sins Kehlkopf zum stehen.

»Mach keine Mätzchen, Cyborg!«

»Ihr seid doch vollkommen übergeschnappt!«, stellte Sin gelassen fest und stieß in einer schnellen und geübten Bewegung die Klinge in den Boden ohne sich einen Kratzer zuzufügen. Doch schon waren Fynn und Ronny zur Stelle. Der Ziegenmann drückte Sin die Laserpistole an die Stirn und der Wolfsmensch presste ihm einen Dolch an die Halsschlagader. Wieder einmal war der Cyborg überrascht, wie wendig und routiniert die beiden doch zusammenarbeiteten und wie gut sie ihren Feind im Griff hatten.

Kein Wunder, schoss es ihm durch den Kopf, schließlich sind es zwei vollends ausgebildete Kämpfer, die Jahrelang zusammen in die Schlachten zogen und nun unter meinem Befehl stehen. Er verbesserte sich innerlich. Sie standen ja anscheinend nicht mehr unter seinem Befehl. Sie hatten sich gegen ihren Boss gewandt. Sogar die liebevolle Calea hatte nichts mehr für ihn übrig. Es schien, als hätten sie vergessen, wer Scott und er waren.

Plötzlich erinnerte er sich an das, was der Schattengänger gesagt hatte und ihm wurde einiges klarer.

Dies ist der Ort des Vergessens… Je länger Ihr hier seid, desto mehr werdet Ihr vergessen, werter Herr, bis Ihr Euch eines Tages an nichts mehr erinnern könnt.

Doch dass Calea, Fynn und Ronny so schnell vergessen würden, das hätte Sin beim besten Willen nicht gedacht.

Fixiert

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Doc und richtete seine Runde Brille.

»Wie ich mich fühle?« Die einundzwanzigjährige hob skeptisch die Augenbrauen. Sie wirkte als wolle sie sich gerade eine passende Lüge aus dem Ärmel ziehen, doch Doc kam ihr zuvor. Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte ernst: »Und bitte seien Sie ehrlich zu mir, Miss Connery.«

Doc wusste, dass sie alles daran tun würde, um die Wahrheit, die ganze, wirkliche Wahrheit zu verschleiern. Sie würde ihm nicht das erzählen, was er sich immer und immer wieder erhoffte. Nein, das würde sie nicht.

»Wie ich mich fühle?«, fragte sie wieder, »Soll ich Ihnen jetzt abkaufen, dass Sie sich ernsthaft für meine Gefühle interessieren? «

Jetzt geht das wieder los, dachte Doc und verdrehte innerlich die Augen. Wie oft hatten sie dieses Thema schon durchgekaut?

»Sie interessieren sich genauso wenig dafür, wie all die anderen Ärzte und Menschen!« Inzwischen war Wut in ihr aufgekocht, die ihre Stimme zittern ließ. »Und selbst wenn ich es Ihnen erzählen würde, Sie hätten nicht die geringste Ahnung wie es ist, so zu fühlen, wie ich es tue!«

»Wenn Sie mir sagen würden, was Sie fühlen, dann könnte ich es vielleicht nachvollziehen.«

Doc blieb ruhig und seine Stimme behielt noch immer denselben Tonfall. Doch sein Innerstes schrie auf. Er hatte schon viele seltsame Patienten gehabt. Viele aggressive, viele depressive und viele mit Persönlichkeitsstörungen. Seine Aufgabe war es immer gewesen, den Patienten eine Weile zuzuhören und ihre Akten zu lesen, um dann die bestmöglichen medikamentösen Behandlungen vorzuschlagen. So war es jedes Mal, ganz egal, wie Krank die Menschen waren, die zu ihm kamen. Doc blieb immer ruhig, unparteiisch und kompetent. Doch dieses Mal war es anders. Seit Miss Connery eingeliefert worden war drehte sich sein Magen stetig um. Wenn er sie sah, dann wollte er nichts lieber, als sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles gut werde. Er wollte ihr dann alles erzählen, ihr alles erklären. Und mehr als alles andere wünschte er sich, dass sie dann lachen und ihm berichten würde, dass sie ihn nur an der Nase herumgeführt hätte und sie gar nicht krank sei. Dann würde er ihr einen Kuss auf die Stirn geben und ihr sagen, wie sehr er sie liebte.

Doch er würde ihr nicht sagen, wie sehr er sie liebte und er würde sie nicht auf die Stirn küssen, weil sie niemals lachen und ihm berichten würde, dass sie ihn nur an der Nase herumgeführt hätte und gar nicht krank sei. Denn er würde ihr nicht alles erzählen und ihr alles erklären, weil er sie nicht in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass alles gut werde. Denn er war Psychiater und er wusste, dass nicht alles gut werden würde.

»Sie sind doch nur so ein scheiß Arzt, der mir ebenso wenig zuhört, wie all die anderen! «, fauchte Miss Connery bitter.

Nein, dachte Doc, nein, das bin ich nicht.

Er wollte weinen, schreien und all seine Trauer und Wut zeigen. Aber das durfte er nicht. Wenn er weiterhin in ihrer Nähe sein wollte, dann musste er ruhig, unparteiisch und kompetent sein. Und er musste schweigen.

Er musste schweigen, um ihre ohnehin geringen Genesungschancen nicht noch weiter zu verringern und er musste sie behandeln, wie alle anderen Patienten auch, damit ihr kein anderer Psychiater zugeteilt wurde.

Kaum merklich senkte er seinen Blick, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie so zu sehen; an ein Bett fixiert. Er spürte, dass er es nicht mehr lange aushalten würde, das alles. Doch er würde nicht aufgeben. Dafür liebte er sie viel zu sehr. Und auch, wenn sie vergessen hatte, wer Doc eigentlich war, er würde es ihr nicht übel nehmen, sondern alles daran setzen, ihr ihre Erinnerungen zurückzugeben. Und ihr Leben.

Eine Träne bahnte sich in seinen Augen an und er drehte sich weg zum Fenster. Wie sehr es doch schmerzte. Seine Eingeweide schienen auseinanderzuplatzen und sein Herz schien zu zerreißen. Wäre ihr Mann nur nicht gestorben, dann wäre jetzt noch alles wie Früher. Dann hätte sie nie einen Nervenzusammenbruch erlitten und sie wäre nicht in sich gekehrt. Und auch die Persönlichkeitsstörung wäre ausgeblieben und sie wäre nie in die Psychiatrie eingeliefert worden. Sie hätte dann nicht versucht sich das Leben zu nehmen und sie hätte jetzt nicht fixiert auf dem Bett gelegen.

Doch…

Doc hielt sich die Hand vor den Mund, um ein lautes Schluchzen zu verhindern. Dicke Tränen rollten nun seine Wangen hinab. Hätte er doch nur früher erkannt, wie schlecht es um sie stand. Dann hätte er ihre Krankheit stoppen können.

Er biss sich in die Hand, um einen lauten Schrei zu unterdrücken. Seine Gedanken kreisten und sprangen wild umher, machten ihm Vorwürfe und erniedrigten ihn. Was hatte er nur getan? Als Susanna Connery ihn am meisten gebraucht hatte war er nicht bei ihr gewesen.

Man sagt, das Schlimmste für Eltern sei, das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen. Doc schluchzte erneut, denn er wusste, dass seine Tochter tot war, wenn auch auf eine andere Art. Und er hatte sie in das tiefdunkle Grab aus Fixierung und Psychopharmaka tragen müssen. Und dieses hatte etwas mit einem richtigen Grab gemein: Susanna Connery, seine geliebte Tochter, würde diesen Ort niemals verlassen.

Dies war der Moment, in dem Doc zusammenbrach und auf den kalten Fliesen aufschlug. Denn ihm war bewusst, dass er die ganze Zeit über nur einen hoffnungslosen Rettungsversuch unternommen hatte.

Hoffnungslos...

Und vor seinen Augen wurde es schwarz.

La Carta

Geliebte Diane.

Dreckig. Alles ist dreckig: Meine Hände, mein Gesicht, meine Kleidung.

Dreckig. Alles ist dreckig: Der Tag, die Nacht, die nicht enden wollenden Stunden.

Dreckig. Alles ist dreckig: Das Wasser, das Essen, der nicht vorhandene Schlaf.

Dreckig. Alles ist dreckig: Die Träume, die Wünsche, die sterbende Hoffnung.

Dreckig. Alles ist dreckig: Die Tränen, das Leid, die dröhnenden, ohrenbetäubenden Schreie.

Dreckig. Alles ist so fürchterlich dreckig!

Habe ich das so gewollt, Liebling? Wollte ich wirklich in diesem Schlamm liegen, auf dem Bauch kriechend und mit zitternden Fingern am Abzug meines Gewehrs? Als wir damals loszogen, da hatte ich mir etwas anderes unter Krieg vorgestellt. Etwas Gutes und Ruhmreiches verband ich damit. Aber… Aber die Wahrheit habe ich nun erkannt und glaube mir, sie ist grausam. Der Krieg zerreißt alles Menschliche und jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer, den man wagt zu hegen. Es ist, als läge ich inmitten von schreiender Leere. Um mich herum ist nur der Tod und ich kann nichts anderes hören, als die verzweifelten Hilferufe meiner sterbenden Freunde.

Erinnerst du dich noch an Charlie? Er ist gestern gefallen… Eine Splittergranate zerfetzte seinen Körper, sodass am Ende nur noch unkenntliche Teile seiner Gliedmaßen in der Gegend verstreut lagen.

Der Krieg ist so verdammt dreckig, Diane! Wäre ich doch nur niemals hierher gegangen…

Aber auch, wenn es dich jetzt sehr traurig macht, so muss ich dir beichten, dass ich nicht damit rechne, zu dir zurückkehren zu können. Und glaube mir, Liebling, es wäre besser so. Denn auch meine Seele ist mit der Zeit verdreckt und du wirst mich nichtmehr wiedererkennen. Du liebst den Mann, der damals mit Freude in den Krieg zog. Aber nun ich gebrochen und geschunden. Aus mir ist ein Mann geworden, den du niemals lieben kannst…

Bitte verzeih mir, wenn ich dir dies sagen muss, aber es geht nicht anders.

Ich werde dich niemals vergessen.

In endloser Liebe zu dir,

Craig

Doch dieses Mal war es anders -1-

Es war eine kühle Nacht gewesen. Und eine lange. Der achtundvierzig Jahre alte Pete O´Neil rieb sich müde die Augen. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und streckte seine Arme und Beine aus. Sechs quälende Stunden hatte er den Papierkram bearbeitet und nun war er vollends erschöpft. Ausgelaugt. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ein wenig zu schlafen. Doch immer wenn er die Augen für einen Moment schloss, tanzten grausame Bilder in seiner Gedankenwelt, die ihn am Einschlafen hinderten. Sie überkamen ihn urplötzlich und nahmen ihm alle Ruhe. Und auch dieses Mal schossen ihm wieder diese Bilder in den Kopf. Diese Bilder… Diese Bilder von Christopher Doyle, der in dem elektrischen Stuhl saß, mit diesem emotionslosen Blick. Wie er Pete ansah, als wollte er ihm damit sagen, dass es nur seine Schuld war. Und dann öffnete er den Mund und flüsterte: »Ich danke dir, Pete.«

Pete riss die Augen auf. Das durfte nicht wahr sein! Nicht einmal jetzt konnte er sich ein wenig ausruhen, wo er doch ein wenig Zeit dafür gehabt hätte. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Christopher ließ ihm einfach keine Ruhe. Pete musste sich eingestehen, dass er Angst vor dem heutigen Tag hatte, denn heute war Christophers letzter Tag. Und Pete würde es zu Ende bringen müssen.

Schnell schüttelte er diesen Gedanken ab. Zumindest versuchte er es. Es schmerzte ihn zu sehr, daran zu denken, wie es enden würde. Schließlich waren Christopher und er im Laufe der Jahre, die er in diesem Todestrakt verbracht hatte –und Chris war schon etliche Jahre dort- gute Freunde geworden. Eine etwas merkwürdige und eigentlich nicht erlaubte Freundschaft zwischen Gefängniswärter und Sträfling, aber Pete war es immer egal gewesen. Er persönlich hielt Christopher sogar für unschuldig. Leider hatte das Gericht ein anderes, schrecklicheres Urteil gefällt. Lange, unendlich lange hatte Chris auf den Moment seiner Erlösung warten müssen, aber in wenigen Stunden sollte dieser gekommen sein. Pete hatte den elektrischen Stuhl selbst „hergerichtet“, damit sein Freund am Abschluss seines Lebens wenigstens keine Schmerzen, aufgrund von technischen Defekten, erleiden musste. Wenigstens das hatte er tun können.

Pete ließ den Kopf in seine Hände fallen und wischte sich die Tränen weg, die sich ungefragt über seine Wangen schlichen. Er durfte jetzt nicht schwächeln! Er musste stark sein. Außerdem hatte er doch schon einige Menschen auf den elektrischen Stuhl gebracht und sie dort verenden sehen. Doch dieser Gedanke änderte nichts daran, dass es dieses Mal anders war. Ganz anders…

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: 05:30Uhr.

In ein paar Minuten geht die Sonne auf, dachte er und erhob sich langsam und schwermütig. Und in zwei Stunden geht Christophers Sonne für immer unter. Einfach so.

Plötzlich überkam ihn Übelkeit. Der Raum begann sich zu drehen und von ihm fortzubewegen. Mit einem Mal fühlte er sich allein. Verwirrt strich er sich durch die Haare und blinzelte heftig. Sein Arbeitszimmer nahm wieder seine normale Form an und hörte auf sich zu drehen. Doch genau in diesem Augenblick überkam Pete das Bedürfnis zu Chris zu gehen, auch wenn es ihm strengstens untersagt war. Aber das kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er nahm den großen, silbernen Schlüssel vom Schreibtisch und ließ ihn in seiner Hand klimpern, während er sein Büro verließ und durch den grauen Korridor ging. Dieses Geräusch dröhnte laut in seinen Ohren, doch er beachtete es nicht. Auch der Korridor erschien ihm sehr viel länger als gewöhnlich, doch auch das versuchte er zu ignorieren. Ohne Vorwarnung breitete sich etwas für ihn unbekanntes in seinem Kopf aus. Es war nicht die Leere oder die Verzweiflung, nicht die Angst oder die Traurigkeit, die ihm in diesem Moment so zu schaffen machten. Natürlich wollte er nicht, dass Chris sein Schicksal ereilte, doch er wusste auch, dass er niemals mehr normal leben könnte, selbst wenn er unerwarteter Weise doch noch eine Begnadigung erhielt. Nein, nicht nachdem er Jahrelang in diesem Trakt gesessen hatte.

Doch das war es nicht, was Pete nun so bewegte. Vielmehr fragte er sich, was er sagen sollte, wenn er Christophers Zelle betrat. Sollte er ihm Mitleid schenken, oder ihm ein paar aufmunternde Worte entgegen bringen? Sollte er kalt bleiben und ihm bloß den Fakt nennen, dass er in zwei Stunden nicht mehr existieren würde? Oder sollte er ihm Hoffnungen machen, dass es im Himmel für ihn besser sei? Er wusste nicht was das Beste war oder ob er überhaupt die Möglichkeit hatte etwas Treffendes zu sagen. Etwas Richtiges… Er wusste es nicht.

Und auch, als er vor Christophers Zellentür angelangt war, wusste er es nicht. Er atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. Vergeblich. Alles was seine Gedanken beherrschte waren diese Bilder. Diese grausamen Bilder, die ihn einfach nicht nachdenken ließen. Es war ihm unmöglich herauszufinden, was er sagen konnte, was er sagen sollte. Er schüttelte seinen Kopf und hoffte, dadurch die Bilder abschütteln zu können, doch noch immer sah er Christopher auf dem elektrischen Stuhl vor sich.

»Was ist nur los mit dir?«, fragte er sich selbst und biss sich auf die Unterlippe um einen Tränenausbruch zu verhindern. »Reiß dich verdammt nochmal zusammen!«

Noch einmal atmete er langsam ein und aus und steckte dann den Schlüssel ins Schloss. Doch sein Herzschlag beschleunigte sich plötzlich, als er den Schlüssel umdrehte.

Was soll ich sagen?

Was kann ich sagen?

Was…

In seiner Kehle breitete sich Trockenheit aus und er begann leicht zu zittern, als er vorsichtig die schwere Tür öffnete.

Reiß dich zusammen!

Sag einfach das, was dir gerade in den Sinn kommt!

Sag das, was du in Christophers Situation hören wollen würdest!

Und…

»Und tu gefälligst das Richtige!«, ermahnte er sich selbst mit scharfem Ton. »Bitte tu das Richtige, Pete.«

Dann betrat er die Zelle seines Freundes.

Doch dieses Mal war es anders -2-

Petes Blick fiel auf den Mann am hinteren Ende des kleinen Raumes. Dieser hatte dem Wärter den Rücken zugekehrt und es schien, als starre er die alte graue Wand an. Er hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt, als Pete eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Stattdessen stand er regungslos da.

»Hallo Pete«, sagte Chris mit rauer Stimme, jedoch ohne sich umzudrehen.

»Chris…«, begann Pete und suchte nach den passenden Worten. Doch Chris unterbrach ihn.

»Du brauchst mir dein Mitleid nicht entgegenbringen. Ich weiß, dass es bald für mich zu Ende gehen wird. Und das ist Okay.«

»Aber Chris…«, setzte der Wärter erneut an.

»Kein aber! So ist es nun mal und so kommt es nun mal. Ich habe mich damit abgefunden. Ich habe es akzeptiert.«

Pete senkte den Kopf und blickte unschlüssig zu Boden. Aber ich habe es nicht akzeptiert, dachte er und biss sich auf die Unterlippe. Er konnte selbst nicht erkennen, warum ihn das Ganze so emotional berührte. Das hatte es doch sonst auch nie getan.

»Zwölf Jahre«, flüsterte der Gefangene und es schien, als würde er nach oben blicken, »habe ich hier zugebracht. Hier in diesem siffigen, nassen Raum, der nichts weiter bietet als nacktes Gestein und ein quietschendes Bett! Zwölf lange Jahre, mit einer flackernden Neonröhre als Sonnenersatz, die nur auf meine 6m² scheint.« Er machte eine Pause und begann sich langsam umzudrehen. Jetzt konnte Pete sein Gesicht sehen. Es wirkte alt und rissig und der wuchernde Bart und die langen Haare ließen ihn noch verwegener erscheinen. Chris hatte schon lange nicht mehr nach einer Rasur verlangt, auch wenn er sie stets kostenlos erhalten hätte. Vielleicht hatte er seinen inneren Verfall nach außen hin sichtbar machen wollen? Vielleicht interessierte ihn sein äußeres aber auch einfach nicht mehr. Genau konnte Pete das nicht sagen. Er konnte nur vermuten.

»Pete…«, riss er den Wärter aus seinen Gedanken. »Ich weiß, du hast mir schon unendlich viel geholfen, hast mir das Leben hier so erträglich wie nur möglich gemacht, hast um meine Freilassung gekämpft und schon so oft deinen Job für mich riskiert. Niemals werde ich dir das zurückzahlen können. Nicht mal ansatzweise!« Er lachte leise. »Und ich danke dir für jeden gottverdammt verschissenen Tag, den du mich nicht im Stich gelassen hast. Und eigentlich ist es dumm, dich jetzt noch um etwas zu bitten. Aber bitte lass mich noch ein einziges Mal die Sonne sehen, die richtige Sonne, bevor ich sterbe.«

Das »bevor ich sterbe« traf Pete wie ein Schlag ins Gesicht. Wie trocken und gleichgültig er es gesagt hatte. Als wäre es nichts anderes als ein Spaziergang, etwas vollkommen normales. Etwas, dem man auch mit Gleichgültigkeit gegenüberstehen kann. In Petes Magen rumorte es wie wild. Er glaubte, seine Milz würde sich umdrehen.

»Ich weiß nicht, ob ich das…«, setzte Pete an, doch die Worte blieben ihm bitter im Hals stecken. Denn er erkannte, dass er den Wunsch seines Freundes erfüllen wollte. Natürlich, er würde seinen Job endgültig verlieren, wenn er dabei erwischt würde, würde eine hohe Geldstrafe erhalten und vielleicht sogar selbst für ein paar Tage ins Gefängnis kommen. Aber war es nicht egal, im Angesicht dessen, dass sein Freund nur noch wenig Zeit hatte, auf dieser Welt zu weilen? Konnte man einem Sterbenden seinen letzten Wunsch verwehren?

Ungeachtet der Konsequenzen, die es nach sich ziehen würde, flüsterte Pete: »Was soll´s! Komm mit!« Dann öffnete er die Zellentür und geleitete Chris nach draußen in den langen Korridor. Der Wärter ging voraus und hoffte inständig, dass niemand vorbei kommen und sehen würde, dass Chris ihm folgte, zumal dieser nicht einmal Handschellen trug. Und sie hatten Glück. Die Gänge waren wie leergefegt. Schließlich erreichten sie die große Eisentür, die in den Innenhof führte. Pete entriegelte die Tür und öffnete sie. Herein kam grelles Licht, das direkt auf Chris schien, der die Augen schloss und die Sonnenstrahlen auf sich wirken ließ. Pete sah ihm zu, wie er die Arme ausbreitete und freudig nach draußen ins Freie trat. Der Wärter ging ebenfalls hinaus, lehnte die Tür leicht an und trat zu seinem Freund, der der aufgehenden Sonne entgegenblickte. Pete wollte etwas sagen, stockte jedoch, weil er den Moment nicht zerstören wollte. Den Moment des Friedens. Ja, das war es, ein Moment des Friedens, fern von Trauer und Schmerz. Ein Augenblick, in dem nur das Sonnenlicht existierte, das auf Chris und Pete herab schien. Da war es nebensächlich, dass sie beide sich auf dem Grundstück des Gefängnisses befanden. Denn wie Pete jetzt erkannte, schien die Sonne sogar hier, an dem Ort, an dem es nichts weiter als den Tod gab.

»Pete…«, sagte Chris leise und wandte sich dem Wärter zu. »Ich danke dir!« Kaum hatte Christopher diese Worte ausgesprochen, umarmte er Pete. Etwas irritiert starrte der Wärter ihn an, wollte ihn erst von sich stoßen. Doch als er sah, wie glücklich Chris wirkte, ließ er die Umarmung zu.

»Es tut mir leid, Kumpel«, flüsterte Chris ihm plötzlich ins Ohr. Pete jedoch verstand nicht ganz und hob fragend die Augenbrauen. »Was tut dir leid?«

Chris atmete tief ein und schluckte hörbar. »Eine ganze Menge, mein Freund. Es tut mir leid, dass ich dich all die Jahre belästigt habe. Dass du so oft versucht hast, mich vor dem Tod zu bewahren. Dass…«, meinte er, doch Pete unterbrach ihn und fauchte: »Das ist meine Sache und hat dir nicht leid zu tun!«

Mit einem Mal begann Chris zu lachen, dass es Pete erschauern ließ. Es war ein leises Lachen, jedoch schrill und falsch. Unpassend.

»Ich meine, dass es mir leid tut, dass du alles für mich getan hast«, antwortete er noch immer lachend, »und ich dir als Dank so in den Rücken falle!«

Noch bevor Pete begriff, was gerade gesagt ward, schlossen sich die kräftigen Hände seines Freundes um seine Kehle und drückten zu. Was für einen fatalen Fehler er begangen hatte wurde ihm erst jetzt bewusst, als Chris ihm die Luft abschnitt. Blind hatte er ihm vertraut, hatte geglaubt ihn zu kennen, geglaubt, er sei unschuldig und würde zu Unrecht verurteilt. Lüge! Das war alles eine Lüge! Dieser Heuchler hatte ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Und nun offenbarte sich ihm sein wahres Gesicht. Chris´ hässliche, grausame Seite. Er schlug Petes Kopf hart gegen die Betonwand und drückte ihm weiter die Kehle zu. Hilflos umklammerte der Wärter die Hände seines Freundes und versuchte sie von sich zu reißen, doch es gelang ihm nicht.

»Lass es einfach geschehen, Kumpel, sonst tut es nur unnötig weh!«, hörte er Chris´ Worte leise und hallend, als befänden sie sich in einem großen, leeren Saal. Und plötzlich fühlte er sich fern, als würde er irgendwo schweben. Seine Glieder spürte er nicht mehr und auch der Druck auf seiner Kehle wurde schwächer. Die Welt um ihn herum tanzte und verschwamm, als hätte er zu viel Alkohol getrunken. Und schließlich gab sein Körper auf und sackte zusammen. Pete merkte nicht mehr, wie Chris ihn losließ und sein Körper auf dem Boden aufschlug. Und er sah auch nicht mehr, wie Chris ihn durchsuchte, ihm die Schüssel und die Pistole abnahm und verschwand. Nein, alles, was er erblickte, war das Sonnenlicht, hell und grenzenlos, bevor sich die ewige Schwärze vor seine Augen legte.

Pause

»Jayden Archer, FBI Datenanalyse«, meldete sich der einunddreißigjährige Mann am Telefon und verdrehte sogleich die Augen, als er erkannte wen er am Apparat hatte. Warum nur rief sie ihn ständig auf der Arbeit an und belästigte ihn mit Belanglosigkeiten?

»Nein, Schatz, ich kann jetzt nicht eben mal so nach Hause kommen!« Er atmete tief ein und ließ die Worte seiner Frau über sich ergehen. »Nein, Schatz!«, fauchte Jayden nun und stützte genervt den Kopf auf seine Hand, »Frag doch deine Schwester ob sie die Spinne auf der Arbeitsplatte entfernt, wenn du es selbst nicht möchtest, aber ich werde sicherlich nicht zu dir hinfahren und das erledigen!«

Sein Kollege Taylor Jones sah von seinem Bildschirm auf und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Wie Jayden es hasste, dass alle seine Kollegen darüber Bescheid wussten, dass Grace jeden Tag anrief und ihn irgendeinen Blödsinn fragte. Und er hasste es, dass sie anrief. Wenn sie wenigstens wegen Wichtigkeiten anrufen würde… Stattdessen waren es jedoch Nichtigkeiten, mit denen sie Jayden den Tag vermieste und ihn unnötig von der Arbeit abhielt. Nach einigen Minuten hatte Grace wutentbrannt aufgelegt, nachdem sie nicht erreicht hatte, was sie zu erreichen gedachte, nämlich, dass Jayden zu ihr am und die Spinne beseitigte. Anfangs hatte er ihr immer nachgegeben und war nach Hause gefahren, doch inzwischen konnte er es sich nicht mehr erlauben. Schließlich wollte er keine Verwarnung erhalten oder gar gekündigt werden.

Erschöpft und genervt stand er auf und wandte sich an Taylor: »Ich brauch ´ne Pause!«

»Grace?«, fragte er. Und obwohl Jayden genau wusste, dass sein Kollege die Antwort bereits kannte nickte er.

»Willst du eine Zigarette?«

Jayden bejahte und nahm dankend den Glimmstängel entgegen.

»Wenn sie noch einmal anruft, dann drück sie weg, ja?«, sagte er und Taylor hob die Hand, um ihm zu zeigen, dass er es tun würde.

Dann verschwand er zur Vordertür hinaus in den Raucherbereich. Die kühle Luft, die ihm draußen entgegenschlug ließ ihn frösteln, doch es fühlte sich gut an. Er hatte das Gefühl, die Kälte würde ihm die Sorgen nehmen, die ihn einmal wieder überrannten. Dies war nicht wirklich der Fall, doch das wollte er sich selbst nicht eingestehen. So konnte er sich wenigstens einreden, dass es etwas bewirkte und ihn wieder hochzog. Ein wenig traurig betrachtete er den weißen, grellen Schnee, der sich über ganz Washington DC gelegt hatte. Wie ruhig er dalag und die Hauser, Straßen und Bäume zudeckte. So sanft und rein. So unschuldig. Genau wie seine Frau.

Er zündete sich die Zigarette an und nahm einen heftigen Zug, der ihm sogleich in der Lunge brannte. Doch das störte ihn nicht. Vielmehr half es ihm endlich abzuschalten. Zumindest ein bisschen. Dennoch zermarterte er sich das Hirn darüber, wie er seiner Frau endlich helfen konnte, ohne immer bei ihr zu sein. Er liebte sie und daran bestand kein Zweifel, doch andererseits konnte er seinen Job nicht aufgeben. Wer sollte denn dann das Geld in Haus bringen, wenn sie schon nicht arbeiten gehen konnte? Jayden senkte den Kopf und zog erneut an dem Stummel. Warum nur hatte es ausgerechnet sie erwischt? Warum nur wurde ausgerechnet Grace von dieser psychischen Krankheit geplagt? Warum die Paranoia? Warum die Panikattacken? Warum die starken Depressionen? Hätte es nicht irgendjemand anders treffen können? Noch ein Zug. Er atmete weißen Rauch aus, der noch einen Moment in der Luft schwebte, bevor er mit dem Wind verschwand.

Pause, dachte er, ich brauche mal ´ne Pause. Eine Pause von diesem ganzen Mist! Eine Pause von seinen Kollegen, die ihn immer wieder schief ansahen, wenn er seine Frau am Telefon hatte. Eine Pause von der stumpfen Arbeit eines Datenanalysten, auf die er sich kaum mehr konzentrieren konnte. Eine Pause von den Problemen seiner Frau. Eine Pause von Grace selbst. Und vor allem brauchte er eine Pause von seinen Gedanken, die ihm keine Ruhe ließen.

Er zog an der Zigarette, atmete tief ein und genoss für einen winzigen Moment die Stille, die hier draußen herrschte. Beinah glaubte er, er habe eine solche Pause gefunden. Doch sie hielt nur für einen winzigen, fast ungreifbaren Augenblick an, bis ihn seine Gedanken aufs Neue quälten. Er nahm einen letzten Zug. Dann trat er den Glimmstängel aus, sah noch einmal auf den glänzend weißen Schnee und ging wieder hinein.

Mit der Gewissheit, dass Grace ihn wieder anrufen würde.

Vail (Der Spinner und ich -1-)

»Warum, Vail?«, fragte ich nüchtern, aber doch leicht besorgt.

»Warum?«, entgegnete mein stämmiger Freund und zuckte die Schultern, »Ganz einfach! Weil ich sie liebe!«

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete das Lagerfeuer, wie es stetig vor sich hin flammte und sich an dem Holz nährte. Wie es seine Flammen hungrig nach allen Seiten ausschlug, in der Hoffnung etwas Essbares zu finden. Doch die Steine, die in einem Kreis um es herumlagen ließen dies nicht zu.

Wieder schüttelte ich den Kopf, aber diesmal, weil meine Gedanken mit mir durchgingen. Jetzt dachte ich schon ausgiebig über das Feuer nach.

»Weißt du, Travor«, begann Vail und band sich seine langen weißen Haare zu einem Zopf zusammen, »Es ist so ein unbeschreibliches Gefühl, das mich überkommt, wenn ich sie sehe… Es ist wahrlich das Vollkommenste und Schönste, was ich jemals gefühlt habe.«

Ich seufzte und stocherte mit einem Stock im Lagerfeuer herum. Vail würde es nie begreifen. Er würde nie begreifen, dass sein Job es ihm nicht erlaubte Gefühle wie Liebe zu anderen Personen zu hegen. Und er würde auch nie begreifen, dass er nur eins haben konnte: Entweder seine Liebe, oder seinen Job. Und dennoch, obwohl ich wusste, dass es nichts an seiner Meinung ändern würde, klärte ich ihn ein weiteres Mal über die Folgen auf: »Du bringst damit nicht nur dich selbst, sondern auch sie in Gefahr. Du wirst dich entscheiden müssen, Vail. Wenn du sie wirklich liebst, dann musst du es.«

Doch als ich geendet hatte grinste Vail bloß und ich sah das Funkeln in seinen kalten, grauen Augen, das mir sagte, dass er sich niemals entscheiden würde. Und wie zur Bestätigung streckte er mir die ungesund wirkende, hellrote Zunge raus und entgegnete: »Ich muss mich nicht entscheiden! Ich bin Magier, Travor, schon vergessen? Was glaubst du wohl, wer es wagen würde sich mit mir anzulegen? Cath wird absolut nichts passieren!«

Wohl war, dachte ich und stocherte weiter im Feuer herum. Vail war wahrhaftig einer der Mächtigsten. Ihm war das Magier-Dasein mit in die Wiege gelegt worden. Seine Eltern waren beide ebenfalls Zauberer und hatten somit einen Großteil ihres Erbguts an meinen Freund weitergegeben. Er hatte auch schon früh mit dem Lernen begonnen, hatte seine Fähigkeiten ausgebaut und verbessert. Heute war er definitiv nicht mehr so leicht unterzukriegen. Aber er hatte sich selbst einen Schwachpunkt verschafft, den er sich eigentlich nicht leisten durfte, weder als großer Magier, noch als Assassine. Und er war beides. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis jemand auf die glorreiche Idee kam sich Vails Schwachpunkt zunutze zu machen.

»Du musst dich wirklich entscheiden!«

Kaum merklich zogen sich meine Augenbrauen zusammen, als ich mit Unbehagen daran dachte, dass Vail sich niemals hätte verlieben dürfen. Ich hatte mir nie einen solchen Schwachpunkt zugezogen. Nein, ich hatte nachgedacht und mich für eine Seite entschieden: Für die Seite der Assassinen. Und damit musste ich nun leben. Doch Vail…

Ich stand auf und warf den Stock ins Feuer. Dann sah ich auf meinen Freund hinunter, der vor mir auf dem Waldboden hockte. Sein weißes Haar schimmerte rot im Schein des Feuers. Seine Haut war absolut rein. Ich konnte nicht einen winzigen Makel entdecken, schon gar nicht in seinem Gesicht. Er trug eine graue Lederweste und darunter ein schmutziges, weißes Hemd. Daran waren Bänder und Gürtel befestigt, an denen allerhand Dolche und Messer hingen. Auch seine schwarze, mit Löchern übersäte Hose war mit kleinen Waffen bespickt. Sogar in seinen ebenfalls schwarzen Stiefeln befanden sich Dolche. Um genau zu sein wirkte Vail mehr ein Waffenlager, als wie ein Magier.

Plötzlich verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und summte leiste eine Melodie. Es war die Melodie einer dieser komischen Balladen, die wir uns manchmal gezwungener Maßen anhören müssten, wenn wir in einer Taverne saßen und uns betranken. Schließlich wurde aus seinem Summen ein Murmeln und aus dem Murmeln wiederrum wurde ein Gesang.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte ich stutzig, doch Vail ging voll und ganz in seinem ohrenbetäubenden Gesang auf.

»Denn wenn die Welt sich dem Ende neigt, wenn weder Stein noch Tier verweilt, meine Liebe, werden wir gemeinsam untergehen, weil das der Sinn ist, der dahinter schwebt. Von Drachen verbrannt, von Menschen gebrochen, von Henkern gejagt und von Königen verbannt!«

Ich pfiff laut durch meine spitzen Zähne, in der Hoffnung er würde dieses Krächzen lassen. Leider vergeblich. Ich konnte Musiker und vor allem Balladensänger nicht im Mindesten leiden, doch Vails „Gesang“ war mehr als nur grauenvoll. Er war wahrlich unzumutbar! Jedes normale Wesen würde sich lieber auf der Stelle dem Henker ausliefern, als Vail ein paar Sekunden zu lauschen. Zum Dunkel mit diesem Narr, dachte ich und versuchte erneut ihn zu stoppen, »Sag mal! Kannst du vielleicht damit aufhören?« Doch der Bleiche trällerte unaufhaltsam weiter. Ich hatte allmählich Angst, meine Ohren könnten zu bluten beginnen, wenn ich sie noch weiter dieser Lärmbelästigung aussetzen würde. Zum Glück wusste ich, dass sich das Lieb allmählich dem Ende neigte. »Und wenn die Welt in Schutt und Asche liegt, mein Fräulein, dann nehme ich dich huckepack und trag´ dich einfach weg!«

Endlich, dachte ich und ließ mich erleichtert zu Boden sinken. Es war, als würde mich ein Stein von den Ohren fallen, der mutwillig auf sie eingeschlagen hatte.

»Jetzt höre ich dir zu«, verkündete mein Freund und nahm einen großen Schluck von dem Zwergenschnaps, den wir letzte Woche von einem Händler entwendet hatten. Ich hob die Augenbrauchen, wollte aussprechen, was ich zu sagen hatte, öffnete den Mund und stoppte. Was wollte ich eigentlich sagen? Sein Gesang hatte mich so niedergeschmettert, dass ich gar den Faden verloren hatte. »Das ist nun nicht mehr von Belang«, meinte ich, ohne zeigen zu müssen, dass ich vergessen hatte, was ich sagen wollte, »Du solltest jedenfalls eine Entscheidung treffen. Und das sage ich dir als guter Freund, Vail. Also denk darüber nach.«

Er sah nach oben in den Himmel, den man zwischen den Baumkronen erkennen konnte. Seine Augen glänzten im Licht des Feuers. »Ich habe mich doch bereits entschieden«, flüsterte er, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden, »Hast du mit denn nicht zugehört, als ich gesungen habe?«

Bei der Erinnerung an den Gesang musste auch ich unweigerlich zum Schnaps greifen und mir einen großen Schluck davon einverleiben. Außerdem hatte ich das dumme Gefühl die Worte bereits zu kennen, die er als nächstes auszusprechen gedachte. »Ich habe mich dazu entschieden, nicht zwischen Cath und meinem Job zu wählen!« Dann lachte er, zuckte kurz mit den Schultern und warf mir den Korken der Flasche an den Kopf, als wollte er damit sagen, dass ich sie verschließen sollte. Ich nahm den Korken zur Hand und senkte den Kopf und beließ es einfach bei Vails Worten, Ich hätte ihn ohnehin nicht mehr umstimmen können, das war mir bewusst. Nach einem weiteren Schluck des scharfen Gebräus steckte ich den Korken auf die Flasche und stellte sie beiseite. Wie eine Flasche voller Alkohol, dachte ich, Liebe ist wie eine Flasche voller Alkohol. Anfangs freundlich und wohltuend, doch später, bei zu großem Genuss kann sie tödlich sein. Es bereitete mir Sorgen, dass Vail sich so entschieden hatte, doch was sollte ich noch tun? Ich konnte bloß das Beste daraus machen und versuchen ihn irgendwie zu beschützen, vor dem Unheil der Welt und vor der Gier eines jeden Wesens. Nur das, mehr nicht. Plötzlich beugte er sich zu mir herüber, direkt über die Flammen des Lagerfeuers, sodass sein schneeweißes Haar beinah Feuer fing. »Was ich dich noch fragen wollte«, begann er im Flüsterton und grinste breit, »gefällt dir mein Gesang nicht?«

»Nein! «, stellte ich klar, »Und ich schwöre dir, wenn du noch einmal anfängst zu trällern, dann erlebst du dein blaues Wunder!«

Stillschweigen (Der Spinner und ich -3-)

Trüb. Meine Seele ist getrübt.

Jeder weitere Schnitt, den sie an mir ausführen trübt sie um ein weiteres mehr. Ich kann nicht klar sehen, nicht klar denken. All mein Sein scheint im Endlos der Zeit dahin zu schmelzen. Und jeder weitere Schlag, den sie an mir ausführen scheint in weiter Ferne. Ich spüre es kaum mehr, fühle kaum mehr die Schmerzen. Es ist, als hätte man mein Selbst am Horizont befestigt, von dem aus ich auf das Geschehen hinabblicke. Teilnahmslos.

»Wo ist dieser Vail? «, fragen sie, doch ich bleibe stumm. Gebe keinen Laut von mir. Kein Weinen, kein Schluchzen, kein Schreien. Kein Wort.

»Travor! «, schreien sie mich mit ihren tonlosen Stimmen an, »sagt uns, wo hält sich Vail auf? « Doch ihre Rufe nehme ich nur am Rande wahr. Sie sind dort unten und ich bin hier oben. Mein Zustand ist schwerelos. Schwerelos und trüb. Alles was sie sagen zersplittert. Es zersplittert in tausende Einzelteile, die nur als zusammenhangslose Bruchstücke bei mir angelangen. Ich kann sie nicht deuten, nicht verstehen, was sie wirklich bedeuten. Ich weiß, ich will Vail nicht verraten. Kann es nicht. Nicht einmal wenn ich es wollen würde, wäre ich jetzt noch in der Lage dazu es zu tun. Denn ich bin nicht mehr Herr meines Körpers. Bin nicht… Nicht…

Die Folter war vor Sekunden noch unerträglich. Jetzt ist es, als hätte sie nie stattgefunden und würde in diesem Moment nicht stattfinden. Und egal, was sie mit mir noch anstellen werden, wie sehr sie meine Gliedmaßen auch zerstückeln, ich werde schweigen. Ich werde kein Wort verlieren. Keinen Laut.

Denn meine Seele ist trüb, so unendlich trüb.

Zu trüb um zu fühlen…

Nicht mein Tag

Ich sitze unbehelligt auf der kalten Bank und warte darauf, dass dieser verdammte Bus endlich kommt und mich mitnimmt. Die ganze verschissene Nacht warte ich schon in dieser beschissenen Eiseskälte. Und langsam wird es Zeit, dass dieses Mistding von öffentlichem Verkehrsmittel eintrudelt, damit ich im Warmen sitzen und nach Hause fahren kann. Aber nein! Es kommt einfach nicht. Nervös und genervt gucke ich auf die große, schmuddelige Uhr an der Haltestelle und stelle fest, dass der Bus schon vor drei verkackten Stunden hätte da sein sollen. Und es hält hier auch niemand für nötig mal einen Besen und einen Wischlappen zur Hand zu nehmen und diesen verdreckten Busbahnhof zu säubern. Machen diese Stadtidioten das mit Absicht? Die wollen bestimmt nur, dass sich solche Spinner wie ich darüber aufregen und trotzdem sitzen bleiben, auch wenn sie die Möglichkeit hätten diesen Drecksort zu verlassen. Bestimmt! Diese scheiß Stadt ist so zum kotzen! Ich beginne allmählich ihr keinen Hass mehr, sondern Verachtung entgegenzubringen. Und dann rollt da noch diese Papiertüte über die tote Straße. Es sieht aus wie diese beknackten Bälle –was weiß ich wie die Teile heißen- die in Wetsernfilmen immer kurz vor einer Schießerei zwischen zwei Revolverhelden daher rollen. Soll wohl die Stimmung verdüstern. Tut´s nur nicht. Interessiert mich auch gar nicht, dieser Schwachsinn! Viel mehr interessiert mich wann dieser abgefuckte Bus endlich einfährt und ich meinen gefrorenen Arsch auf einen dieser hartgepolsterten Sitze schwingen kann, damit er auftaut. Wieder sehe ich zur Uhr hinauf. Jetzt sind es schon drei Stunden und zehn Minuten, die das Scheißding Verspätung hat! Ich kriege einen Kotzkrampf, wenn ich daran denke, wie lange ich hier wohl noch aushalten muss. Ja, ohne frage, ich bin angepisst! Ich bin angepisst, aber kann diese verschissene Situation ertragen. Geradeso!

Plötzlich kommt ein Typ um die Straßenecke, taumelt von einer Seite zur anderen und singt irgendeinen Schwachsinn vor sich hin. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ein sturzbesoffener Kerl, der hundertprozentig vorhat mich vollzusülzen mit seinem Müll. Und wie es nicht anders kommen kann, kommt es, wie es kommen muss und er fängt an zu labern. Erzählt mir, dass er Kopfschmerzen hat und dass seine Frau eine Hure ist. Erzählt mir von seinem verlausten Kater und seinem toten Sohn. Ich drehe den Kopf zur Seite, weil seine ekelhafte Fahne droht mich zu ersticken. Doch ich rieche es immer noch, habe noch immer diesen Gestank in der Nase. Wie eine Mischung aus Hundescheiße und Gammelfleisch. Widerlich! Ich fordere ihn freundlich, aber energisch auf mich in Ruhe zu lassen und sich zu verpissen. Doch er fängt lieber davon an, dass ich ihn diskriminieren würde, weil er ein Obdachloser sei. Labert mich voll ich sei ein unsozialer Penner, der in seinem eigenen Geld ersäuft. Labert mich voll ich sei einer von diesen Neureichen. Glaubt er könne mich belehren in dem was ich bin. Da hat er sich überschätzt. Ich bin weder so ein verschissener Neureicher, noch jemand, der andere wissentlich diskriminiert. Und schon gar nicht ersaufe ich in Geld. Viel eher in Schulden! Aber dieser Typ hat einfach keine Ahnung und weiß wahrscheinlich gar nicht, was er da in seinem Suff so alles von sich gibt. Würde er nicht so unerträglich stinken und so laut schreien, dann wäre er mir egal. Aber so langsam kann ich es nicht mehr aushalten. Und dass er nun anfängt an meiner Jacke und meinen Haaren rumzufummeln macht es nicht besser. Kein Stück!

»Lassen Sie mich jetzt verdammt nochmal in Frieden?«, schreie ich ihn an, doch er macht ungerührt weiter. Dieser Arsch geht mir gewaltig auf die Nerven! Ich sollte ihn abknallen, wegpusten und irgendwo im Straßengraben verbuddeln! Ja, das sollte ich!

»Ich gebe dir einen gutgemeinten Rat, Kumpel: Leg dich nicht mit mir an, ich bin heute echt genervt! Ich hatte einen miesen Tag, ok, also lass mich einfach in Ruhe!« Aber er will ja nicht hören.

»Was soll an deinem Tag schon so schrecklich gewesen sein, du Neureicher?«

Er provoziert mich! Ich sollte einfach meine 9mm Pistole aus der Jackentasche ziehen und diesem Volltrottel das Hirn wegblasen. Dann wüsste er, dass es falsch ist mir so auf die Nerven zu gehen. Aber so freundlich wie ich bin lasse ich die scheiß Knarre stecken und versetze ihm stattdessen einen harten Schlag auf die Nase. Er taumelt, fängt sich wieder und keift mich an, dass es ihm schmerzen würde. Kein Wunder, ich habe ihm ja auch gerade das Nasenbein zertrümmert. Dann faselt er etwas von wegen so ein Dreckssack wie ich würde seine Frau Zuhause verprügeln, wenn sie nicht das täte, was ich wollte. An diesem Punkt ist für mich endgültig Schluss! Ich lasse mir doch nicht von einem wildfremden Besoffenen unterstellen meine Frau zu schlagen! Das geht eindeutig zu weit! Dafür breche ich ihm seinen linken Arm. Und weil mir das nicht genügt, schupse ich ihn zu Boden, kralle mir auch seinen rechten Arm und biege ihn so weit, dass es laut knackt. Dann trete ich mit voller Wucht auf seinen Ellenbogen. Mehr als nur einmal gebrochen. Nun hängt sein Unterarm wie ein nasser Sack an dem Rest seines Armes. Der wird eine Weile nicht mehr zu gebrauchen sein.

Dieser miese Wichser! Jetzt jammert er auch noch rum und meint, es täte ihm alles so leid. Von wegen! Ich weiß, dass er es ernst meinte. Ich weiß es! Er wird schon sehen, was er davon hat. Routinemäßig packe ich ihn am zotteligen Haar und hämmer seinen scheiß Schädel auf den harten Beton. Auch das spritzende Blut, das den Boden befleckt, hält mich nicht davon ab, seinen Kopf weiterhin zu zertrümmern.

»Was an meinem Tag so beschissen war? Du hast ja gar keine Ahnung, du Mistkerl!«, fauche ich ihn an ohne damit auszuhören, seinen Schädel zu Brei zu verarbeiten, »Erst wurde ich gefeuert, weil jemand mich nicht mehr als Polizist sehen wollte. Dann wurde ich von meinen eigenen Leuten verfolgt, weil sie glaubten ich wäre in einen Drogendeal verwickelt. Mein Auto war mit Sprengsätzen besetzt und ich wäre beinah draufgegangen, ok? Ich musste vor den Polizisten fliehen und vor den Drogendealern, denen ich auf der Spur war auch! Dann wollte ich Geld abheben und einfach nur nach Hause und meine Sachen packen, um unterzutauchen. Da stelle ich fest, dass das ganze scheiß Geld nicht mehr da ist! Und zu allem Überfluss sitze ich schon die ganze abgefuckte Nacht auf dieser vollgepissten Bank und warte auf diesen beschissenen Bus, der seit über drei Stunden hätte da sein sollen! Und jetzt unterstellst du Wichser mir noch, ich würde meine Frau schlagen? Weißt du was? Fick dich einfach!« Noch ein letztes Mal lasse ich seine aufgeplatzte Stirn den Beton küssen. Dann lasse ich von ihm ab und setze mich zurück auf die Bank. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Ich lege meinen Kopf in meine Hände und schließe die Augen für einen kurzen Moment. Plötzlich höre ich ein mir bekanntes Geräusch. Ich sehe auf und erspähe zwei grelle Lichter, die sich mir langsam nähern, bis sie direkt vor mir zum stehen kommen. Verdattert blinzle ich, weil ich meinen Augen kaum trauen mag. Und dann öffnen sich die Türen des Busses.

Lichtlos

Mit deinen rauen, dreckverschmierten Händen nimmst du eines der alten Streichhölzer und entzündest es. Die Flamme lodert auf. Mit einer raschen Bewegung hältst du das Streichholz an den Docht der großen, weißen Kerze. Du erweckst sie zum Leben und gibst ihr einen Platz auf dieser Welt. Der eben noch kalte Wachs erwacht. Es ist nicht länger starr und leblos. Nein, er beginnt wirklich zu existieren. Die kleine Flamme ist das Elixier der Kerze und lässt sie das sein, was auch immer sie sein will. Eben war sie noch so friedlich brennend auf dem Nachttisch gewesen, doch du nimmst sie auf und führst sie auf eine kleine Reise. Du nimmst sie mit durch das Schlafzimmer, durch die fernen Welten des Wohnzimmers, hindurch durch die Traumlandschaft der kleinen Küche. Sie erfreut sich daran, nicht mehr die ganze Zeit an einem Fleck zu sein, sondern mehr zu sehen, von dem Ort, an dem sie erwachte. Doch der Weg, den du mit ihr gehst ist voller Gefahren. Ein Windzug, der unter der alten Holztür hindurch gelangt, droht sie auszupusten. Schützend hältst du die Hände vor die flackernde Flamme und rettest die Kerze vor dem sicheren Untergang. Und sie spendet dir dafür Licht und etwas Wärme. Sie gibt dir einen Grund, nicht aufzugeben und zu fliehen, denn sie leuchtet dir deinen Weg. Ohne dieses warme Licht wärst du verloren an einem dunklen Ort wie diesem, sieh es ein! Und sie wäre verloren, wenn du sie allein lassen und sich selbst überlassen würdest. Denn ohne deine schützenden Hände würde sie vergehen. Und ihr Licht würde erlöschen.

Doch du passt auf und lässt sie nicht im Stich.

Oder?

Oder…

Eine unachtsame Bewegung deinerseits. Noch im Fallen erlischt ihre Flamme und als sie auf dem harten Steinboden aufkommt besudelt sie alles mit weiß-grauem Wachs. Verendet liegt sie dort, in ihrem eigenen Blut. Nur weil du nicht hingesehen hast. Nur weil du eine Sekunde lang unaufmerksam warst! Du hast sie einfach fallen lassen. Hast mich einfach fallen lassen. Der Wachs, das Kerzenblut, bedeckt die Stelle zwischen dir und mir, als würde er uns beide trennen. Ich sehe in deinem Blick, dass du es nicht wolltest. Aber du hast es getan. Und du sollst es wissen.

»Du hast mich getötet, Mami…«

Vergib mir

Halten.

Ich will dich halten.

Will dich in meiner Nähe wissen,

dich an meiner Seite spüren.

Will jede Sekunde bei dir sein,

jeden Gedanken zu dir wenden.
 

Halten.

Ich muss dich halten.

Muss dich stützen,

dich vor dem Fall bewahren.

Muss dich tragen,

bis du wieder selbst gehen kannst.
 

Halten.

Ich habe Angst, dich zu halten.

Angst, dass ich es nicht schaffe,

dass ich dich fallen lasse.

Angst, dass ich nicht stark genug bin,

dich zu halten.
 

Halten.

Ich will, ich muss, ich habe Angst.

Schon eine Ewigkeit,

hängt dein Schicksal am reißenden Faden.

Noch halte ich deine Hand,

bewahre dich vor dem Sturz in die Tiefe,

doch du versuchst nicht einmal,

dich wieder hochzuziehen.

Ich sehe in deine tiefbraunen, leeren Augen

und erkenne,

dass du dich schon längst aufgegeben hast.

Sag mir,

wie soll ich dich retten,

wenn du gar nicht gerettet werden willst?

Du rutschst ab.

Ich spüre es.
 

Halten.

Ich will, ich muss, ich habe Angst.

Du entgleitest meiner Hand.

Halten.

Ich will, ich muss, ich habe Angst.

Doch ich kann dich nicht mehr halten…

Vergib mir.

Grau

Ich... Ich verliere sie. Kann sie nicht halten. Sie reißt sich fort von mir, wandelt hinab in eine dieser Tiefen, in einer dieser Abgründe. Gegen meinen Willen entschwindet sie, geht und geht. Ich strecke die Hand nach ihr aus, will sie retten, will sie bei mir haben, doch ich habe keine Chance, keine Möglichkeit. Ich sehe, wie die Farben schwinden, wie sie verenden. Sie schreien nach mir, wollen, dass ich helfe. Doch ich kann nicht. Die Macht, die sich dort zusammenbraut und gegen die Farbe angeht, die habe ich selbst zu verschulden. Und sie hat zu viel Stärke, hat mehr Kraft, als ich. Zu viel. Ich kann sie nicht mehr stoppen. Diese Macht ist schon zu weit vorgedrungen. Sie überrennt das Schlachtfeld, in dem die Farben um ihr Leben kämpfen. Doch letztendlich siegt der Feind: Das Grau.

Niedergeschlagen lasse ich den Pinsel fallen und betrachte die zunichte gemachte Arbeit, an der ich Wochen -nein, Monate-, gesessen hatte. Nun ist sie fort. Das Bild nur noch eine Monotonie aus Grau. Nur weil ich diesen verdammten Farbeimer umwerfen musste!

Marionettenlied


 

Umziehen,

rumziehen,

wegziehen,

ausziehen.

Abziehen,

durchziehen,

rausziehen,

aufziehen.

Reinziehen,

nachziehen,

verziehen,

entziehen.

Abdrehen,

abgehen,

abstehen,

aufstehen.

Durchdrehen,

durchgehen,

durchstehen,

draufgehen.

Umsehen,

aufsehen,

wegsehen,

schwarz sehen.

Fallen,

aufgeben,

ahnen.

...Gefangen auf schiefen Bahnen...
 

Remember (Grey Mr. Grey)

Vorab eine kleine Einführung in den Charakter:

Stix Grey gehört der Rasse der Menschen an und ist ein sechsundreißig Jahre alter Ermittlungsbeamter. Für gewöhnlich ist er aufmerksam und in der Lage, gut zu kombinieren und Zusammenhänge zu erfassen. Doch die Tatsache, dass er nur die Fälle bearbeiten kann, die ihm aufgetragen werden, macht ihm zu schaffen. Er als Bewohner der Unterstadt, in der es mehr als nur grausam zugeht, sieht das Elend auf der Straße und ist unfähig etwas zu verändern. Deshalb flüchtet er sich an einen Ort fern der Realität, den er Mittels diverser Drogen erreicht. So beginnt Stix Grey physisch und psychisch zu zerfallen.
 

Remember

Gerade, als ich mir ein bisschen Traumpulver durch die Nase zog erschallte das laute Rufen einer Frau, die sich direkt neben mich gestellt und mir eher ins Ohr, als in das leere Wartezimmer geschrien hatte. »Mr.Grey!«, rief sie erwartungsvoll an die leeren Stühle gewandt. Vor Schreck ließ ich das Tütchen fallen, das zu meinem Glück auf meinem Schuh weich landete. Erleichtert wischte ich mir den Angstschweiß von der Stirn und ließ das Traumpulver mit einer geschickten Bewegung in meiner Jackentasche verschwinden, ohne dass die Alte es bemerkte. Dann lächelte ich, machte ihr klar, dass ich der aufgerufene Herr sein musste und stand auf.

»Hier entlang!«, kreischte sie und setzte ihren massigen Ogerkörper in Bewegung. Mit einem flauen Gefühl im Magen und zittrigen Beinen folgte ich ihr, ungewiss was mich erwarten würde. Was hatten sich meine Vorgesetzten auch für eine schäbige Praxis ausgesucht? Überall blätterte der Putz von den Wänden und Schimmel machte sich an der Decke breit. Hatten die hier niemanden zum Aufräumen? Und überhaupt, wer hatte die Inneneinrichtung zu verschulden? Die war mehr als nur grottig! Keine Blumen, keine Bilder, keine ordentlichen Holzstühle, nicht einmal ein bisschen Dekoration, um den Patienten wenigstens etwas das Unbehagen zu nehmen. Wer mochte er wohl sein, dieser schlechte Inneneinrichtungstyp? Oder war es eine Frau? Hatte er/sie Kinder?

Schon alleine die Tatsache, dass ich mich so einen belanglosen Unfug fragte verriet mir, dass das Traumpulver zu wirken begann.

»Platznehmen!«, fauchte die Alte wieder und zeigte schnaubend auf eine weiße Liege, in einem mausgrauen Raum. Weil ich der Ogerfrau nicht widersprechen wollte, tat ich, was sie verlangte und pflanzte mein Gesäß auf die harte Liege. Eigentlich hatte ich immer geglaubt, Oger seien freundliche und fürsorgliche Wesen. Hatte man mir da Märchen erzählt oder hatte die Alte einfach nur einen schlechten Tag?

»Dr. Mylassia kommt gleich. Wehe Sie packen hier irgendetwas an!«, warf sie mir noch entgegen, bevor sie die Tür mit einem lauten Rums ins Schloss fallen und mich allein in diesem trostlosen Zimmer ließ.

Ich sah mich um, und während ich mich umsah, fielen mir so unendlich viele Details auf einmal auf, die diesen Raum schmückten: Da war z.B. dieser lange, aber sehr feine Riss an dem kleinen und klapprigen Holzstuhl, der wohl dem Doktor einen Platz schenkte. Oder der winzige Rostfleck an einem der vorderen Beine der Liege. Die Tintenflecken auf den Fliesen, die Brotkrumen auf der schmutzigen Fensterbank oder der leichte Schimmel an der Decke. Auch der Schreibtisch fiel mir auf. Dieser hatte einen großen Kaffeefleck auf seinem edlen Holz, was darauf schließen ließ, dass der Doktor zum einen gerne Kaffee trank, zum anderen aber auch eine ungeschickte Hand hatte.

Natürlich hätte man mich nun berichtigen und sagen können: »Und wenn die Alte mit ihrem massigen Körper dagegen gestoßen ist?« Da die Ogerdame das Zimmer eben auch nicht betreten hatte - sie hatte förmlich genau an der Schwelle halt gemacht - könnte ich annehmen, dass sie das nie tut, also zweifellos nicht an dem Kaffeefleck verschuldet sein kann. Der Tisch zeigte außerdem Einkerbungen, die sich tief ins Holz gruben und von wütenden Messerstichen zeugten. Also entweder war einer der Patienten ausgetickt oder - was wahrscheinlicher war - der Doktor hatte ein leichtes Problem, seine Kraft und Aggressionen zu kontrollieren.

Oh scheiße, dachte ich und musste wohl kreidebleich geworden sein. Und von so einem lasse ich mich durchchecken? Von einem Typen mit motorischen Schwierigkeiten? Ich schluckte schwer und versuchte meine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Z.B. auf die Spritzen, die allesamt unsortiert und keinem erkennbaren Muster zufolge auf einem kleinen Metalltisch lagen. Es war deutlich zu sehen, dass die meistens davon schon einmal verwendet worden waren und, anstatt sie zu entsorgen, zum nochmaligen Gebrauch parat standen. Und wenn ich nicht schon bleich war, dann wurde ich es spätestens jetzt, als ich erkannte, mit was für einem Arzt ich es zu tun hatte. Er musste nicht nur unordentlich und unhygienisch sein, sondern einen Dreck auf die Gesundheit seiner Patienten geben.

»Es ist nur ein Check, Stix«, versuchte ich mir gut zuzureden. »Nur ein gottverdammter, ganz normaler Check, für den der Arzt weder eine ruhige Hand, noch Spritzen braucht.«

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mein ohnehin schon angespannter Zustand verstärkte sich noch, als ich die Gestalt erblickte, die allem Anschein nach den besagten Doktor darstellen sollte. In weißem Kittel, einem Kaffeebecher in der Hand und mit Stethoskop um den Hals, stand eine überdimensionale Eidechse mit aufrechtem Gang und Schlangenkopf vor mir. Von solchen Wesen hatte ich zwar schon gehört, aber bislang hatte ich es für ein Gerücht gehalten, dass sie überhaupt existierten.

»Hmmm… Ja… Schönen guten Tag«, brachte die Echse lispelnd hervor, starrte auf eine der Akten, die sie unterm Arm trug und fügte hinzu: »Detective Grey. Ich bin Doktor Mylassia.«

Ich brachte keinen Ton heraus. Stattdessen nickte ich kurz und deutete somit eine Begrüßung an.

»Oh… Wie ich sehe haben Sie eine Aufforderung vom Boss erhalten«, stellte der Doktor während er las fest und kicherte leise. »Hat die Spezialeinheit Zweifel an Ihren Fähigkeiten als Ermittler? Na dann wollen wir der Sache doch mal auf den Grund gehen.«

Wollten wir das? Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich das wollte.

»So… Dann stellen Sie sich doch zuerst einmal auf die Waage.«

Ich atmete tief durch und stand mit wackligen Beinen auf. Wiegen konnte doch nicht so schlimm sein. Und tatsächlich war die Waage wie jede andere.

»Fünfundsiebzig Kilogramm. Hmm... ein bisschen wenig für Ihre Größe, was?«, meinte die Echse und begann an meinen Armen rumzufummeln. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. Das Vieh war mir nicht geheuer. »Na, jetzt zieren Sie sich doch nicht so! Ich überprüfe lediglich Ihre Muskelbeschaffenheit«, fauchte der Arzt und ließ seine gespaltene Zunge hervor lugen.

»Doktor«, begann ich etwas zurückhaltend aber inzwischen schon sicher genug, um überhaupt etwas zu sagen, »ich weiß wirklich nicht, was ich hier bei Ihnen verloren habe. Wirklich, ich bin kerngesund und wohlauf in allen Hinsichten. Können Sie mir nicht einfach diesen Wisch unterschreiben, dass ich hier war und mich wieder gehen lassen?« Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen setzte ich die freundlichste und schönste Mine auf, die meine Visage aufbringen konnte.

Unerwarteter Weise nickte der Arzt und meinte: »Sie sehen mir auch sehr gesund aus, Detective. Und ich bin gewillt Ihnen da entgegenzukommen. Auf den ersten Blick könnte ich auch nicht sagen, warum Ihr Boss Sie zu dieser Untersuchung beordert hat. Sie sind vielleicht ein bisschen nervös, aber im Anbetracht der Lage ist dies ganz natürlich. Hier steht, Sie wären manchmal nicht ganz bei der Sache. Lassen Sie uns schnell die Standardfragen durchgehen. Wenn Sie die bestehen, können Sie von mir aus gehen.«

Standardfragen… In diesem Wort steckt ungeheuer viel Grausames. Es sind nämlich eben diese Fragen, bei denen es nur eine richtige Antwort gibt und nicht mehrere Möglichkeiten. Genau die Fragen, die einem am Ende das Genick brechen. Aber es war besser, nur diese hinter sich zu bringen, anstatt noch eine Reihe von Tests zu machen. Von daher gesehen sollte ich mich glücklich schätzen. Jetzt musste ich bloß noch einen klaren Kopf bewahren und nüchtern auf jede seiner Fragen antworten.

»Wie alt sind Sie, Detective?«

»Sechsunddreißig Jahre«, antwortete ich schnell.

»Sie kommen aus…?«

»Ursprünglich aus den Fernen Landen. Aber vor einundzwanzig Jahren zog ich hier nach Valsia.«

Der Doktor zischelte mit seiner Zunge, setzte sich auf seinen Stuhl und schrieb etwas in meine Akte. Dann blätterte er eine Seite weiter und fragte: »Oh, Sie waren beim Militär?« Versuchte die Echse absichtlich die Frage beiläufig klingen zu lassen? Als hätte er sie gerade erst gesehen und nicht von dem Fragebogen abgelesen, den er vor mir verborgen zu halten versuchte. Doch meinem wachsamen Auge entging nichts. Und jetzt, wo ich auch noch unter Einfluss des Traumpulvers stand, erst recht nicht.

»Jawohl!«, entgegnete ich, mich an meine Dienstzeit erinnernd. »Sechster Bodentrupp, Einheit 62 im Jahre 901. Ich kämpfte an der Front gegen die Severen.«

Oh ja, die Severen. Ein Volk, das hauptsächlich aus Orks besteht und - man mag es kaum glauben - mehr Verstand als Kraft besitzt. Die Orks sind mit Abstand die intelligentesten Wesen unter uns. Ihnen haben wir viele technische Geräte zu verdanken, aber auch eine ganze Menge Zauber. Letztendlich gewannen sie damals auch die Schlacht und ließen uns dumme Menschen zu Hauf krepieren. Ich schluckte schwer, als ich mich daran erinnerte, dass ich als einziger aus meiner Einheit laufen gelassen wurde, nachdem meine Kameraden vor meinen Augen abgeschlachtet wurden.

»Sie haben als einziger aus ihrer Einheit überlebt. Warum?«, stocherte der Doktor in tiefen Wunden. Er wollte herausfinden, ob ich es verkraftet hatte. Ob ich damit leben und vor allem, ob ich damit arbeiten konnte. Was für ein verlogener Dreckshund er doch war!

»Weil die Severen jemanden brauchten, der der Außenwelt von ihrer Macht und ihrer Grausamkeit berichtet«, quetschte ich es unter zusammengebissenen Zähnen hervor. »Nur deshalb lebe ich noch. Weil ich zufällig ausgewählt wurde.«

»Gut« Die Echse blieb vollkommen nüchtern. Absolut unberührt von meiner Geschichte, die mir schon alleine beim daran zurückdenken die Tränen in die Augen zwang, als wäre ich ein kleines, heulendes Kind. Doch ich riss mich zusammen. Was blieb mir auch anderes übrig?

»Als Ermittlungsbeamter haben Sie schon eine ganze Reihe von Fällen bearbeitet. Sind Ihnen einige davon besonders im Gedächtnis geblieben?«

In diesem Moment bemerkte ich, dass sich etwas verändert hatte. Denn die Echse löste sich vom Fragebogen und wechselte auf eine psychologische Ebene. Er versuchte mich zu ergründen, versuchte hinter meine Fassade zu blicken. Wollte sehen, was unter meiner aufgesetzten, lächelnden Maske steckte, die ich ihm entgegen streckte.

Ich dachte kurz nach, erinnerte mich meiner endlosen Fälle. Doch die prägnantesten waren jene, die niemals zu Fällen wurden. Jene, die ich nie bearbeitet habe, weil sie niemals aufgenommen wurden.

Ich erinnerte mich an einen dieser Regentage, an dem ich durch die Unterstadt streifte und in einer Gasse auf eine Kinderleiche stieß. Der leblose Körper des kleinen Mädchens zeigte schwerste Verletzungen auf, die ihm höllische Qualen bereitet haben mussten, als es noch gelebt hatte. Ihre leeren, gebrochenen und von allem Glanz beraubten Augen werde ich niemals vergessen.

Ich sah sie direkt vor mir, erblickte ihren zarten Körper, der von Schnittwunden übersät war. Es war, als stünde ich wieder neben ihr, wie damals, als ich sie in der kalten, dreckigen Gasse am Boden liegend fand. An ihrer rechten Hand fehlten alle Finger und eine linke Hand gab es nicht. Rücken und Gesicht wiesen starke Verbrennungen auf, die ihr Fleisch zum Kochen gebracht haben mussten. Und von ihrem Bauch, von ihrem kleinen Kinderbauch, hatte man die Haut komplett abgezogen, wie bei einem Rindvieh. Aus ihrem Mund quoll Blut, in dessen Lache ihre langen schwarzen Haare und ihre abgetrennte Zunge lagen. Und weil es sich hier nur um ein gewöhnliches Unterstadtkind handelte, das unwichtig für die Spezialeinheit war, hatte ich niemals die Gelegenheit bekommen, herauszufinden, wer ihr das angetan hatte. Eben, weil es niemanden interessierte!

»Mr. Grey?«, rissen mich die zischelnden Worte der Echse aus meinen Erinnerungen und ich schrak auf. Ich war nassgeschwitzt und zitterte plötzlich am ganzen Körper. Vielleicht hätte ich mir doch kein Traumpulver reinziehen sollen, dachte ich jetzt, als ich bemerkte, wie sehr ich in meine Erinnerung eingetaucht war.

Ich atmete tief und geräuschvoll ein und flüsterte mit heiserer Stimme: »Bitte… Kann ich jetzt endlich gehen?«

Meine Hände waren meiner Kontrolle entglitten und zitterten nun unaufhörlich. Auch meine Zähne hatten sich gegen mich verschworen und klapperten wie wild aufeinander. Mir war selbst klar, was für einen grottigen Eindruck ich auf den Doktor machen musste. Verkümmert, wie ein Häufchen Elend.

Der Arzt schüttelte sachte den Schlangenkopf und schrieb etwas in die Akte. Dann legte er seinen Stift weg und betrachtete meine Wenigkeit mit seinen kleinen, aber erkennenden Augen. »Natürlich können Sie gehen, Mr. Grey, aber ich denke, dass Sie eine Weile nicht mehr arbeiten sollten. Es wäre wirklich besser für Sie, wenn sie sich ein bisschen ausruhen und Zeit nehmen würden, um mit der Vergangenheit, die sichtbar auf Ihnen lastet, abzuschließen.«

»Ich«, stammelte ich, »Ich brauche mit nichts abzuschließen!«

Doch der Doktor schüttelte bloß wieder den Kopf und winkte ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren Lügen, Mr. Grey. Ich weiß, dass sie mehr als nur eine Last der Vergangenheit mit sich herumtragen. Und von Ihrem Konsum diverser Drogen weiß ich ebenfalls. Also versuchen Sie gar nicht erst, mir etwas vorzumachen. Legen Sie Ihren Stolz doch einfach mal zur Seite und entlasten Sie ihre Seele.«

»Ich brauche mich nicht ausruhen und Ihren dummen Rat brauche ich auch nicht!«, fauchte ich, verletzt in meinem Stolz und meiner Privatsphäre.

Von wegen, er will mir entgegenkommen! Pah! An der Nase herumgeführt hatte er mich, damit ich mich fälschlicherweise in Sicherheit wiegte.

»Ausruhen!«, schnaubte ich. »Mir geht es bestens, ich brauche mich nicht ausruhen!« Ich schrie ihn beinah an, während ich wütend und gekränkt das Sprechzimmer verließ und die Tür laut zuschlagen ließ, wie ein aufgebrachtes Kind, doch mit der Seele eines alten Mannes, dem die Kraft fehlt, standzuhalten.

Das kleine Biest (Grey Mr. Grey)

»Der reißt dir gleich nen Arm ab!«, warnte Thomas.

»Und wenn schon«, entgegnete ich meinem Partner Thomas Cip und begutachtete das Tierchen, das vor uns in einem dreckigen Käfig hauste. Es war nur so groß wie eine Ratte, besaß jedoch insgesamt sechs Beine, die mit scharfen Krallen gespickt waren. Umgeben war das Wesen von samtenem, weißen Fell, das glatt über seinen Körper verlief. Wären da nicht das kantige Gesicht mit den leeren Augenhöhlen und das Maul mit den unzähligen, messerscharfen Zähnen gewesen, so hätte man es beinah für niedlich halten können. Sogar das leise Fauchen, dass es jedes Mal ausstieß, wenn ich mich dem Käfig um ein Weiteres näherte, erinnerte eher an ein heiseres Schnurren.

Dieses Tier faszinierte mich irgendwie, was mich dazu bewegte, weiter darauf zuzugehen.

»Verdammt, Stix, lass den Scheiß!«, versuchte mich Cip zurückzuhalten, doch ich setzte unbeirrt einen Fuß vor den anderen. Was sollte so ein Winzling denn schon anrichten? Da konnten die Zähne noch so spitz sein – wenn sich das Maul nicht um das Dreifache vergrößerte, so würde das Biest kaum Schaden bei mir anrichten.

Von wegen »er reißt dir den Arm ab!« Ha! Mit was denn bitte? Dem Kiefer, der nicht größer war als eine Kupfermünze?

»Was tust du denn da?« Cip war außer sich und begann wild mit den Armen herumzufuchteln, wie es sich für einen guten Ermittlungsbeamten gehört, wenn er seinen Partner auf eine nicht vorhandene Gefahr hinzuweisen versucht. »Das gehört gar nicht zu unserer Aufgabe, Stix! Wir sollen hier bloß ein bisschen rumschnüffeln, uns aber doch nicht von einem verdammten Pilian fressen lassen!«

Ich ignorierte Cip gekonnt und ging stattdessen noch näher an den Käfig heran, sodass ich beinah die Gitterstäbe mit der Nasenspitze berührte. Der kleine Pilian hatte sich in die hinterste Ecke verdrückt und zitterte am ganzen Leib. Er hatte ohne Zweifel Angst.

Klar hatte ich davon gehört, dass diese kleinen Wesen ganze Menschenmengen ausrotten könnten. Auch gab es immer mal wieder Gerüchte darüber, dass sie einen Oger innerhalb einer halben Stunde auffressen könnten, wenn sie niemand daran hindere. Aber wie gesagt, das waren Gerüchte. Und wenn man diesen immer Glauben schenken würde, so müsste ich ein Monster sein, wie es schlimmer in keinem Märchen auftaucht, geschaffen, um willkürlich zu morden. Und da ich wohl selbst von mir behaupten kann, dass ich erst zwei Menschen in meinem ganzen Leben ermordet habe, wovon ein Mord ein Versehen war, kann ich auch sagen, dass die meisten Gerüchte eben nur Gerüchte sind, ohne Hand und Fuß.

»Komm mal wieder runter! Das sind nichts weiter als Geschichten, die sich die Leute ausdenken. Das trübt deine Sicht«, sagte ich und begann die Käfigtür zu öffnen.

Erneut ließ Cip sein »Was tust du denn da?« erklingen. Dann packte er mich an den Schultern und zog mich zurück. Da sich mein Finger noch am Türchen befand, ruckelte dieses kräftig als ich nach hinten gezogen wurde, und sprang schließlich auf. Meinem Partner entglitten die Gesichtszüge. Er riss die Augen panisch weit auf, stieß einen heiseren Schrei aus und floh ans andere Ende des Zimmers, um dort, wie ein Kaninchen im Lichtschein, zu erstarren. Ich seufzte und versuchte ihn zu beruhigen und ihm zu zeigen, dass seine Angst völlig unbegründet sei. »Sieh ihn dir doch nur mal an. Der Kleine hat mindestens so viel Angst wie du, Thomas!«

»Von wegen!«, schrie er und presste sich noch dichter an die Wand. »Der tut nur so unschuldig, um gleich das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben, wenn er über uns herfällt!«

»Du glaubst auch alles, was die Leute erzählen«, warf ich ihm vor, ging wieder zum Käfig und streckte dem Pilian die Hand entgegen. Ich gebe zu, ein bisschen mulmig war mir schon zumute. Was, wenn die Schwätzer mit ihren Gerüchten doch recht hatten? Was, wenn mir das Biest tatsächlich den Arm abreißen konnte? Was, wenn es wirklich nur so ängstlich tat?

Aber wenn ich mir das kleine, zitternde Knäul so ansah, konnte ich mir das kaum vorstellen. Ich warf einen flüchtigen Blick über den Käfig und stellte plötzlich fest, dass er nicht nur pottendreckig war, sondern weder Wasser noch Futter beinhaltete. Armes Ding! Seinem Besitzer schien ja nicht gerade viel an ihm zu liegen.

»Ich tu dir nichts, Kleiner«, sagte ich mit möglichst sanfter Stimme und streckte meine Hand noch weiter aus.

War ich jetzt von allen Guten Geistern verlassen? Wie kam ich überhaupt auf diese dämliche Idee, dem Vieh einfach die Hand entgegenzustrecken? Wenn es tatsächlich ausgehungert war, dann würde es ohne weiteres über meine so freundlich gereichte Hand herfallen und womöglich nichts davon übrig lassen. Ich bot ihm ja förmlich an, sich daran gütlich zu tun.

Ganz ehrlich, das war die dümmste und unüberlegteste Handlung, die ich seit Langem tat. So zugedröhnt war ich doch heute überhaupt nicht. Oder doch?

Ich überlegte kurz, wie viel Traumpulver ich mir reingezogen und wie viel G-X ich geraucht hatte. Es musste doch mehr gewesen sein, als ich anfangs dachte, denn ich wusste auf die Frage »wie viel?« keine richtige Antwort. Ich konnte bloß grob schätzen. Während ich nachdachte und mit den Zahlen jonglierte, bemerkte ich nicht, wie der Pilian erst an meiner Hand schnupperte und schließlich mit einem Satz auf sie sprang. Ich erschrak und zog reflexartig den Arm zurück, blieb jedoch am Käfig hängen und riss ihn um. Unterdessen hatte das muntere Tierchen seine Krallen in meinen Mantel gebohrt und hangelte sich daran empor. Wie ein Blitz jagte es auf meinen Kopf zu. Cip mit seiner Pilian-Phobie kam mir natürlich nicht zu Hilfe geeilt, wie man es normalerweise von einem guten Partner erwartet, sondern schlug die Eingangstür auf und rannte davon.

Ich schüttelte meinen Arm und versuchte somit dieses verdammte Biest loszuwerden, das es anscheinend auf meine Kehle abgesehen hatte. Doch es ließ einfach nicht locker!

Es war so leicht, dass ich es kaum auf mir spürte, aber dennoch zweifelte ich keine Sekunde mehr daran, dass es mir den Arm abreißen konnte, so flink und gezielt, wie es sich bewegte.

Einen letzten Versuch, den Pilian loszuwerden, unternahm ich, indem ich wahllos auf meinem Arm einschlug. Dabei machte ich Ausfallschritte nach links, rechts, vorn und hinten, drehte mich förmlich im Kreis und hüpfte sogar auf und ab. Von weitem musste es wie ein irrer Tanz mit mir selbst ausgesehen haben. Nach kurzer Zeit verlor ich nicht nur das Biest aus den Augen und den Hut vom Kopf, sondern auch das Gleichgewicht. Genauer gesagt verlor ich es eigentlich erst, als ich über den umgestürzten Käfig stolperte.

Ich schlug hart am Boden auf. Für einen Moment tanzten Schwärze und Sternchen vor meinen Augen, bis sie vom Sonnenlicht, das durch ein Zimmerfenster schien, abgelöst wurden. Benommen richtete ich mich auf und rieb mir den Kopf, um wieder zu Verstande zu kommen. Die Wirrnis hatte mich für sich eingenommen, ließ mich aber schnell wieder los, sodass ich einen klaren Gedanken fassen konnte.

Sogleich fiel mir der Pilian wieder ein und ich begann hektisch meinen Körper abzutasten. Als ich nichts ertastete, atmete ich erleichtert auf. Vielleicht habe ich ihn ja zerquetscht, hoffte ich inständig. Vorsichtshalber sah ich mich noch einmal im Raum um.

»Scheiße!«, entfuhr es mir. Erst jetzt bemerkte ich, dass das Zimmer, das Cip und ich eigentlich hatten durchsuchen sollen, ohne Spuren zu hinterlassen, nun aussah, als hätte eine Horde Orks eine Party vom feinsten veranstaltet. Der Käfig, den ich umgeworfen hatte, war so gut und hatte noch einen Tisch und die darauf stehenden Vasen mitgerissen, deren Inhalt sich nun auf dem teuren Teppich verteilte. Auch Cip hatte bei seiner Flucht einiges gerammt und zu Boden geworfen.

Ich schluckte schwer. Das würde definitiv Ärger geben!

Doch jetzt musste ich in erster Linie zusehen, dass ich hier wegkam, bevor mich jemand neugieriges sah, der den Lärm, den wir veranstaltet hatten, gehört hatte und nun der Ursache auf den Grund zu gehen gedachte. Nicht umsonst sollte es eine Verdeckte Ermittlung sein. Also schnappte ich mir meinen Hut, zog mir schnell noch ein bisschen Traumpulver durch die Nase – ich gebe zu, es war weder der optimale Zeitpunkt noch Ort, aber irgendwie musste ich ja mein rasendes Herz beruhigen! – und verschwand zur Tür hinaus, durch die auch Cip verschwunden war.

In meiner Eile bemerkte ich nicht, dass ich vergessen hatte die Manteltasche zu durchsuchen, in der sich nun der leichte Pilian versteckt hielt und mich nach Hause begleitete.

Wettlauf

Aus der Ferne wurde ein Geräusch an mein Ohr getragen. Es war beinah nicht zu hören, doch leise konnte ich den Laut vernehmen. Ich kannte diesen Laut. Jeder kannte ihn. Schließlich handelte es sich hierbei um die Sirene eines Krankenwagens, die die Stille der Dunkelheit durchbrach. Jedes Mal lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich sie hörte, denn ich wusste, dass irgendjemand mit dem Tod rang. Jemand würde sterben und die Notärzte würden ihr Bestes geben, um dies zu verhindern. Sie würden quer durch die Stadt eilen, mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene durch die Straßen jagen, wie ein Luchs auf Beutefang. Würden das Gaspedal durchdrücken und versuchen, nicht zu spät zu kommen. Würden versuchen das Rennen gegen den Tod zu gewinnen.

Zu oft vergeblich.

Dieser markerschütternde Ton kam einem Schrei gleich, einem Hilfeschrei. Dem Hilfeschrei des Verunglückten, der irgendwo am anderen Ende der Ortschaft lag und versuchte am Leben zu bleiben. Versuchte, nicht zu sterben. Die Chancen, dass er es schaffte standen vielleicht gut. Vielleicht aber auch nicht. Das kam immer ganz darauf an. Heute standen sie eher schlecht.

Mein Blick schwenkte hinüber zu der Frau, die von oben auf mich hinabblickte. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide und ihre Augen gefüllt mit Tränen. Wer war sie wohl, diese Frau? Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Sowohl ihre klaren, blauen Augen waren mir fremd, als auch das hellblonde Haar, das leicht über ihre Schultern fiel.

»Bitte bleiben Sie wach, Mister!«, vernahm ich ihre zitternde Stimme. Eine schöne Stimme. »Man wird Ihnen gleich helfen.«

Doch mir half niemand mehr. Denn ich spürte bereits, wie mein Ich seinen Körper verließ und emporstieg. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, ja, vielleicht fantasierte ich. Dennoch war es, als würde ich meine sterbliche Hülle verlassen und auf sie hinabsehen. Als würde ich mich selbst aus den Augen der fremden Frau erblicken. Ich sah mich, wie ich am Boden lag, den Kopf getaucht in eine tiefrote Pfütze. Neben mir entdeckte ich das Fahrrad, mit dem ich auf dem Weg nach Hause gewesen war. Und mir wurde klar, dass ich es nicht mehr bis dahin schaffen würde.

Ein letztes Mal stieß die Sirene ihren hilfesuchenden, verzweifelten Schrei aus, bevor sie erstickte.

Dann umgaben mich Stille und Finsternis.

Heute hatten die Notärzte das Rennen gegen dem Tod verloren.

Mitternacht

»Was tust du denn noch so spät hier, Jeffrey?«, fragte die Alte und sah zu dem Jungen vor ihr.

Jeffrey war ein höflicher, junger Bursche. Er war gerade einundzwanzig Jahre geworden, doch in seinem Gesicht spiegelte sich noch immer das Kindliche. Seine krumme Nase erinnerte an einen Hügel zum Schlitten fahren, doch meistens achtete man nicht darauf, weil seine strahlend blauen Augen und das freundliche Lächeln jeden in den Bann zog.

»Guten Tag, Madame Stue.« Höflich zog er den zu großen Hut.

»Guten Tag? Es ist mitten in der Nacht, mein Junge. Nun ja, egal, komm rein und mach es dir bequem. Für einen netten Burschen wie dich habe ich immer ein Plätzchen frei.«

Wohl wahr: Alle liebten den kleinen Jeffrey. Er war im Fußballverein und weit und breit bekannt. In seiner Freizeit, neben seinem Medizinstudium, ging er ehrenamtlicher Arbeit nach und kümmerte sich um Kranke und sozial Schwache. Sprich, er half wo er kann, trug der Nachbarin den Müll raus oder nahm des Nachbars Hunde in Pflege. Niemals sagte er nein. Keine Bitte schlug er ab. Und dafür liebten ihn die Leute so.

»Es ist eine kalte Nacht, finden Sie nicht auch, Madame?«

»Bitterkalt! Bitterkalt!«, betonte sie, während sie Jeffrey ins Wohnzimmer geleitete. »Aber was red´ ich da? Möchtest du was trinken, mein Junge? Ich habe noch kühles Bier im Keller.«

Jeffrey setzte sein bestes Lächeln auf und winkte höflich ab.

»Oder kann ich dir etwas zu Essen bringen? Ich hatte heute Abend Schweinebraten.«

»Bitte, nein«, lehnte er ab und ließ seine weißen Zähne blitzen. »Machen Sie sich doch keine Umstände, Madame. Ich bin bloß hier, um Sie zu erschießen.«

Madame Stue lachte noch gellend auf, über Jeffreys kleinen Scherz, der keiner war, bevor Jeffrey ihr die Pistole an die Stirn presste und abdrückte. Ohne mit der Wimper zu zucken sah er sich das Blutbad an, das sich vor ihm gebildet hatte. Langsam steckte er die Waffe wieder weg, beugte sich zu Madame Stue hinunter und streichelte ihr über die zarten Arme. Sein Lächeln wurde breiter, bei dem Anblick aus roter Suppe, der sich ihm bot.

Es faszinierte ihn immer wieder. Ja, es faszinierte ihn, wie schnell doch alles zu Ende sein konnte. Eben noch hatte man gelacht, im nächsten Moment war man tot. Das eine erlebt man noch, das andere schon nicht mehr. Faszinierend, wie schnell es doch immer ging. Von jetzt auf gleich, von einer Sekunde auf die nächste.

Jeffrey kramte in seiner Umhängetasche und zog eine schwarze Spraydose heraus. Dann ging er zu der weißen Wand, hängte die Fotos von Madame Stues Kindern, Ekeln und anderen Verwandten ab und benetzte die Wand mit schwarzer Farbe. Als er fertig war ging er ein paar Schritte zurück, um mit kindlicher Begeisterung sein Werk zu betrachten. Er konnte zufrieden mit sich sein.

Lächelnd steckte er die Sprühdose ein, warf Madame Stue mit herauslaufendem Hirn noch eine letzte Kusshand zu und verließ den Tatort mit dem Wissen, dass niemand ihn, den netten, beliebten Jungen, der eigentlich noch ein Kind war, für diesen Mord verdächtigen würde. Morgen würde die Polizei nur wieder eine Leiche finden und die Worte »Um Mitternacht starb Nummer 4« an der Wand entdecken, die Jeffrey eigens für sie platziert hatte, um ihnen zu zeigen, dass es noch nicht vorbei war, dass noch mehr Opfer folgen würden. Denn er liebte das Gefühl der Macht über Leben und Tod einfach viel zu sehr, als das er es aufgeben würde.

Freundlich lächelnd verließ er das Haus und begab sich in die kühle Nacht, die ihn mit einer eisigen Umarmung begrüßte. Und in Gedanken malte er sich schon aus, wen er als nächstes besuchen würde.

Niemand

Niemand ging die vom Regen glänzende Straße entlang, die so verlassen war, wie die in einer Geisterstadt. Der glitschige Asphalt zeugte von einem heftigen Schauer, der erst vor kurzem die Gegend geflutet haben musste. Niemandes Füße zogen sich schwer und träge die Straße entlang, an den leer stehenden, toten Häusern vorbei, die Niemand mit ihren leeren und zersplitterten Augen anstierten. Niemand keuchte leise, bei jedem Schritt, den er tat. Es war nicht das erste Mal, dass Niemand einer solchen Anstrengung ausgeliefert war, doch heute traf sie ihn ganz besonders, weil er ohnehin schon in geschwächtem Zustand war. Seit einiger Zeit hatte er nichts mehr gegessen und nur von Wasser wurde er nicht satt. Deshalb kostete es Niemand eine so große Überwindung, überhaupt noch weiter zu gehen, seinen torkelnden Gang weiter fortzusetzen, weiter zu gehen, bis er einen Ort der Zivilisation und somit Hilfe erreichte. Jedes vorziehen des Beines zerrte an Niemandes Kräften. Am liebsten hätte er einfach aufgegeben, sich hingelegt, von ihm aus auch in dem Schmutz der Straße, und einfach nur einen Moment die Augen geschlossen und geschlafen. Sich ausgeruht von den Strapazen der letzten Stunden. Aber er musste weiter gehen. Musste, wenn er leben wollte – und das wollte er!

Also ging er, zwang seine Beine, nicht nachzugeben und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Niemand wollte nicht hier bleiben. Nicht hier, an diesem grausamen, gottverlassenen Ort. Nicht hier, wo es nur noch Rauch, Regen, Asche und Tote gab. Nicht hier, wo ihm der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase stieg, das von den Menschen stammte, die von den Bomben erwischt wurden. Nicht hier, wo die Schreie der Sterbenden längst verstummt waren.

Niemand blieb stehen und sah sich einen Moment um. Es kribbelte auf seiner Haut und er spürte, dass da etwas an seinem Leben zerrte. Er blickte zum Horizont, an die Stelle, an der er vor ein paar Stunden dieses Monster gesehen hatte, diesen riesigen, feuerroten Pilz, der sich aus dem Boden erhoben hatte, um seine Umgebung zu verschlingen. Erst hatten die Flieger ihre totbringenden Bomben abgeworfen, die alles hier in Schutt und Asche legten, und dann das Ding, das diesen Pilz erschuf, dieses Etwas, das sich überall hineinfraß. Das sich jetzt versuchte in Niemandes Haut rein zu fressen und ihn mitzunehmen, auf die andere Seite. Niemals hätte Niemand geglaubt, dass es eine Waffe wie diese gab, die sich so schön und doch so furchteinflößend am Horizont aufbaute, die mörderischer war, als alles, was Niemand je gesehen hatte.

Niemandes Knie versagten plötzlich und er sackte zusammen. Er wusste nicht, was es war, dieses neue Ding, dieser Pilz, aber er wusste, dass er ihn töten würde. Wusste, dass das leuchtende Monster ihm das Leben nehmen würde, so wie all den anderen. Wusste, dass es sinnlos war, weiter zu gehen, versuchen, vor etwas zu fliehen, vor dem man nicht fliehen kann.

Heiße Tränen stiegen Niemandem in die Augen, denn ihm wurde klar, dass er einer von vielen Niemanden war, die heute starben, ohne zu wissen, warum oder durch was.

Krok

Diese Geschichte ist zu der existierenden Todesdroge namens Krokodil geschrieben, die vor einigen Jahren erstmals in Russland auftauchte. Ich habe versucht mich an der Wirkungsweise der Droge entlangzuhangeln und einen kleinen Einblick in ihre Grausamkeit zu geben.

Insgesamt versuche ich hiermit, auf diese Droge aufmerksam zu machen und davor zu warnen, denn es gibt sie noch, und sie wird noch immer in Mengen hergestellt.
 

Deshalb nun hier meine kleine Geschichte:
 


 

Jeder vernünftige Mensch, der eine einigermaßen gute Bildung genossen hat, kann erschließen, dass eine Mischung von codeinhaltigen Schmerztabletten, Benzin, Farbverdünner, Salzsäure und Phosphorsäure nicht dazu gedacht ist, um sie sich zu injizieren. Jeder dieser Menschen wüsste, dass das Produkt absolut giftig und tödlich ist. Nehmen wir allein die Salzsäure. Wer damals in Biologie aufgepasst hat, der weiß, dass das Zeug absolut ätzend ist und eigentlich nur in der Chemie benutzt oder eben als Ätzmittel verwendet wird. Wer sich das freiwillig spritzt, der muss doch einen Schaden haben!

Aber nein, bei Salzsäure allein bleibt es ja nicht. Kommen wir zum Benzin. Jeder kennt es, die meisten tanken es. Aber es sich ins Blut schießen? Der reine Menschenverstand sagt schon von allein, dass das total irrsinnig wäre. Es ist ein Fall bekannt, bei dem einem Patienten eines Krankenhauses versehentlich Benzin injiziert wurde. Dieser litt kurze Zeit später an Schmerzen in der Brust und einem Druck im Kopf. Es kam zu einer Sauerstoffunterversorgung und der arme Typ verlor das Bewusstsein. Weiterhin traten Muskelstarre und tonisch-klonische Anfälle auf. Auch war wohl blutiger Speichel zu beobachten. Nun ja, der Kerl hat´s überlebt, aber auch nur geradeso.

Gut, so haben wir also schon eine Mischung aus Benzin und Salzsäure, die einen direkt ins Jenseits befördern sollte. Und auch der Farbverdünner macht es nicht besser. Dazu brauche ich wahrscheinlich nichts sagen!

Dann widme ich mich nun also der wunderbaren Phosphorsäure, die die schönste Aufgabe übernimmt. Spritz dir das Zeug und du erleidest eine Nekrose, bei der deine Knochen porös werden und deine Haut beginnt zu zerfallen. Fabrikarbeiter, die in früheren Zeiten in Streichholzfabriken arbeiteten, erlitten oft solche Nekrosen, weil sie eben mit dem Phosphor arbeiten mussten, schließlich bestehen die Zündköpfchen aus nichts anderem. Denen sind dann förmlich die Kiefer zerbröckelt.

Nun überlege man selbst, was passiert, wenn man sich das Zeug in die Venen leitet.

So, nachdem nun also der leckere Cocktail aus Benzin, Farbverdünner, Salzsäure und Phosphorsäure gemixt ist, fehlen noch die codeinhaltigen Schmerztabletten. Diese sorgen zum einen dafür, dass du in eine vollkommen andere Welt abdriftest und all dein Leid vergisst, du die schönste Reise deines Lebens machst und dich mit Glück überschüttet siehst. Und zum anderen überdecken sie die Schmerzen, die dir der Rest der Mischung zufügt.

Letztendlich nennen wir das, was am Ende, nachdem wirklich jede Zutat beigemischt ist, dabei herauskommt, Krok. Krok ist die Kurzform von Krokodil - und diese Droge hat ihren nahmen wahrlich verdient.

Als ich mir diesen billigen Heroinersatz damals das erste Mal durch die Adern jagte, fand ich schnell heraus, was diesem Zeug seinen Namen eingebracht hatte. Denn es dauerte nicht lange, da verfärbte sich meine Haut rund um die Einstichstelle schwarz und grün und wurde schuppig, wie die Haut des gleichnamigen Reptils. Da meine Venen am Arm bereits vom Heroin zu saßen, musste ich auf das Bein ausweichen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das leichte Kribbeln, das durch meine Adern schoss, anfangs noch kitzelte, sich aber schnell zu einem brennen ausdehnte, von dem ich glaubte, mir würde etwas die Haut versengen. Und so falsch lag ich ja auch gar nicht.
 

»Mr. Evans?«, ertönt die Stimme des Arztes, der mich seit einigen Jahren schon begleitet und reißt mich somit aus meinen Erinnerungen. Doktor Jacobs kommt gut gelaunt den gepflasterten Weg entlang und in seiner Gangart liegt, wie es mir schon oft aufgefallen ist, eine Leichtigkeit, die ihn erscheinen lässt, als würde er hüpfen. Das leichte Wippen seines weißen Kittels sieht witzig aus und gibt ihm die Erscheinung eines kindlichen Erwachsenen.

»G-Guten Tag, Doktor«, stottere ich, weil mir die Drogen wahrscheinlich einen Teil des Sprachzentrums im Gehirn zerstört haben oder so ähnlich. So genau kann ich mir das nicht merken, weil auch mein Gedächtnis ziemlich unter dem Konsum gelitten hat.

»Wie geht es unserem Bein?«, fragt er und ich muss unweigerlich lachen. Seit meinem Konsum kommt allerdings eher ein Glucksen heraus, das schnell in ein Gurgeln übergeht.

»W-Welches m-meinen Sie?«, frage ich und deute auf meine beiden Beine, von denen weder das rechte, noch das linke existiert. Ein bitterer Scherz, den der Doktor und ich uns jeden Tag erlauben, damit ich lerne, das Ganze mit Humor zu nehmen. Und ich muss ehrlich zugeben, es funktioniert! Es ist besser, darüber zu lachen, als daran zu ersticken, dass sie mir beide Beine amputieren mussten, weil das gute Krok sie voll und ganz zerfressen hatte.

Jacobs löst die Bremse des Rollstuhls und fährt mich ein wenig im Park der Klinik spazieren. Das ist immer das Beste des Tages. Ich liebe die Natur und habe das grausame Gefühl, vorher nie wirklich auf sie geachtet zu haben. Dafür tue ich es nun umso mehr. Heftig atme ich die frische Frühlingsluft ein und nehme den Duft von Flieder wahr, der in der Parkanlage zu Hauf vertreten ist.

»K-K-K… K-Kann ich e-eine B-B-Blume pflü-ücken?«, frage ich den Arzt und deute mit meiner bandagierten Hand auf eine Rose, die rot und schön aus einem Beet schießt. Sie gefällt mir, deshalb möchte ich sie haben. Sie soll ein bisschen Farbe in mein Zimmer bringen, soll das Weiß durchbrechen, in dem ich die meiste Zeit der letzten drei Jahre bereits verbracht habe. Und sie soll das Weiß des Zimmers durchbrechen, in dem ich auch die nächsten drei Jahre verbringen werde.

Doktor Jacobs navigiert den Rollstuhl ganz nah an das Beet, sodass ich mich leicht vorbeugen und die Rose mit ungeschickter Handbewegung pflücken kann.

Ich drücke die piekende Blume fest an mich, weil sie mir ein kleiner Hoffnungsschimmer ist und mir zeigt, dass das Leben schöne Seiten an sich hat. Und ich will lachen und mich bei Jacobs bedanken, aber anstatt zu lachen, gluckse ich und anstatt mich zu bedanken, stottere ich das D vor mich hin, weil ein Danke zu schwierig für mich ist. Ich kann es zwar denken, aber nicht sagen.

Aber Jacobs ist ein guter Arzt und ein noch besserer Betreuer und ich wüsste nicht, wo ich heute ohne ihn wäre, weil er weiß, dass ich mich bedanken wollte und weil er ohnehin immer weiß, was ich sagen möchte und weil er mir, wie die Rose, ein kleiner Hoffnungsschimmer ist. Weil er mich nicht als hoffnungslosen Fall aufgibt, sondern mich Tag für Tag in seiner Pause besuchen kommt und mit mir durch den Park fährt. Weil mich das verdammte Krok nicht getötet, aber verkrüppelt hat und weil Jacobs das weiß und weil er auch weiß, wie sehr ich mir manchmal wünsche, es hätte mich nicht verkrüppelt, sondern getötet. Und weil ich erst einundzwanzig bin und eigentlich viel zu jung zum sterben, aber auch zu jung, um verkrüppelt zu sein. Und weil es mich wahnsinnig macht, dass ich so stottere und nicht immer das sagen kann, was ich sagen will und weil ich einfach nicht so normal bin, wie die anderen jungen Männer in meinem Alter, die noch laufen und sprechen können und noch zwei Beine haben. Und weil ich niemals mehr aus dieser sterilen, weißen Klinik entlassen werde und mein einziger Trost die Spaziergänge mit Jacobs durch den Park sind. Weil er mich als einziger, wie einen Menschen behandelt und nicht wie ein hässliches Tier.

»Ist schon in Ordnung, Mr. Evans. Wir haben alle unsere Fehler«, sagt er, als ihm die Tränen auffallen, die meine Wangen hinab laufen. Sanft legt er mir die Hand auf die Schulter und das beruhigt mich. Es beruhigt mich immer.

Der Arzt schiebt den Rollstuhl neben eine grüne Bank, auf der er Platz nimmt. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Sein Blick ist auf den kleinen Teich gerichtet, vor dem andere Patienten stehen und die Fische füttern.

»Heute ist ein guter Tag, Mr. Evans. Sehen Sie? Die Sonne scheint und der Himmel ist vollkommen wolkenlos. Das ist doch schon mal was, oder?«

Ich nicke heftig und schiele zum Himmel hinauf. »J-Ja, Sie haben R-Recht. Aber auf sch-schönes Wetter f-fo-olgt auch wieder R-R-Regen. Den mag i-ich nicht.«

»Ja, natürlich folgt auf Sonne Regen. Aber auf Regen folgt auch wieder Sonne. Das ist ein ewiger Kreislauf. Und ich glaube, dass es in dem Leben eines Menschen ähnlich aussieht. Manchmal regnet es lange Zeit, aber dann nur, damit der darauffolgende Sonnenschein noch schöner ist. Ja, genau das glaube ich. Finden Sie nicht?«

Ich lache. Und dieses Mal lache ich wirklich und gluckse nicht nur. Und es fühlt sich unheimlich gut an. Jacobs sieht mich an und auf seinem mit leichten Falten durchzogenem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus und er zuckt mit den Schultern und sagt: »Also bei mir scheint gerade die Sonne!«

Und für einen Moment fühle ich mich wie ein richtiger Mensch, wie völlig normal und nicht wie ein Krüppel und entgegne, fast ohne zu stottern: »Bei mir auch.« Nur bei dem a hake ich leicht, aber das fällt weder mir noch Jacobs wirklich auf.
 

_________________________________________________________________________

Glossar

tonisch-klonische Anfälle - Die häufigsten generalisierten Anfälle sind die generalisierten tonisch-klonischen Anfälle, oft noch als Grand-Mal-Anfälle bezeichnet, sie laufen häufig folgendermaßen ab:

Manche Patienten erleben ein vages, schlecht beschreibbares Vorgefühl, aber die Mehrzahl verliert das Bewusstsein ohne Vorboten. Beginn mit einem plötzlichen Bewusstseinsverlust, verbunden mit einem gepressten Schrei. Bei aufrechter Körperhaltung kommt es zu einem Sturz, wobei sich der Patient verletzen kann.

Im tonischen Stadium zeigt sich eine Versteifung sämtlicher Gliedmaßen, der Gesichts-, Hals- und Rumpfmuskulatur, die etwa 10 bis 30 Sekunden lang anhält.

Im darauffolgenden klonischen Stadium treten generalisierte symmetrische Zuckungen auf, die besonders an Kopf, Armen und Beinen sichtbar sind und etwa 40-60 Sekunden andauern.

Zu Beginn des Anfalls zeigt sich ein Atemstillstand, später eine verlangsamte und erschwerte Atmung. Es wird schaumiger Speichel abgesondert, der im Falle eines Zungenbisses blutig verfärbt ist. Die Gesichtsfarbe ist anfangs blass, später leicht bis stark bläulich verfärbt.

Die tiefe Bewusstlosigkeit während des Anfalls geht gleitend in einen tiefen Nachschlaf über, der bei einigen Patienten nur sehr kurz anhält, bei anderen aber einige Stunden andauern kann. Patienten, bei denen der Nachschlaf nur sehr kurz ist oder ganz fehlt, zeigen stattdessen häufig einen Verwirrtheitszustand mit einer Bewegungsunruhe, Verkennen von Ort und Personen sowie dem Drang, ziellos davon zu laufen. (http://www.epilepsie-informationen.de/Anfallsformen.htm#Tonisch-klonische Anfälle)

Memoria

»W-Was ist d-das?«, frage ich und fahre sanft mit den Fingerspitzen über die Einkerbungen im Beton, während Doktor Jacobs meinen Rollstuhl langsam vorwärts schiebt.

»Das sind Namen, sehen Sie, Mr. Evans?«, sagt der Doktor und deutet auf die beinah unlesbaren Buchstaben, die zusammen das Wort >Steve< ergeben. Ich betrachte >Steve< aufmerksam, sehe die Kerben im Beton, die diesen Namen ergeben. Dann sehe ich auf.

Die anderen Patienten, die ebenfalls an diesem kleinen Ausflug teilnehmen, sind teilweise verwirrt, teilweise verängstigt und teilweise wütend auf etwas, das ich nicht erkennen kann. Einer steht neben mir und schreit >Steve< an. Doch schnell kümmert sich ein Arzt um ihn und er verschwindet aus meinem Blickfeld.

Warum stehen all diese Namen da?, will ich in Erfahrung bringen, aber die Worte kommen nur abgehackt und falsch aus meinem Mund. Doch weil Jacobs ein guter Doktor ist, weiß er, was ich sagen will und antwortet deshalb: »Wissen Sie, dies ist eine Gedenkstätte. Im Krieg starben hier einst viele Menschen. Und zur Erinnerung haben die Angehörigen die Namen der Verstorbenen in diese Tafel geritzt, damit sie für die Ewigkeit bestehen bleiben.«

Er lässt mir ein paar Minuten, um darüber nachzudenken und das Gesagte zu verarbeiten. Mein Hirn ist nicht mehr das Beste. Dann schiebt er mich ein Stück weiter, sodass ich hinter die Wand aus Beton sehen kann, hinter die Wand der Millionen Namen.

»Und dies«, setzte Jacobs fort, indem er auf die unzähligen blauen Blumen zeigt, die sich vor mir auftun, »gehört ebenfalls zu dem Denkmal. Denn zu jedem Namen gehört auch eine dieser Blumen. Insgesamt werden hier also Tod, Leben und Ewigkeit miteinander vereint: Die Blume lebt, wird aber irgendwann verwelken. Aber die Namen auf dem Beton, die bleiben für immer. Und für immer ist auch die Erinnerung an all diese Menschen, die den Krieg nicht überlebten. Und man sagt ja schließlich, dass ein Mensch erst dann wirklich stirbt, wenn er vergessen wird. Und wie Sie sehen, Mr. Evans, vergessen wir nicht so schnell.«

Er wirft mir ein Lächeln zu, weil er weiß, dass ich der einzige Patient bin, der noch genug Verstand besitzt, um zu begreifen, was er sagt.

»Das ist saurig«, sagte ich, obwohl ich traurig meine.

Jacobs nickt, betont aber noch einmal, wie wunderschön die Gedenkstätte ist und macht noch einmal auf die Ewigkeit der Namen aufmerksam, bevor er mich weiter schiebt, fort von dem Betonklotz der Erinnerung. Ich sehe die anderen Patienten geordnet und gesittet durch die Parkanlage gehen, sich umsehen und sogar lachen. Aber mir steckt ein Kloß im Hals, denn ich weiß etwas, was all die anderen Patienten nicht wissen und von dem Doktor Jacobs nicht weiß, dass ich es weiß. Denn selbst wenn Menschen erst sterben, wenn sie vergessen werden, wenn nichts mehr auf ihre Existenz hinweist – eines Tages wird auch der Betonklotz nicht mehr sein und somit die Namen und die Leben mit sich reißen.

Hätte Jacobs gewusst, dass ich noch genug Verstand besitze um das zu begreifen, hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt.

Sherlock Holmes - Drei Wochen

Als Dr. Watson das Zimmer betrat entfuhr ihm ein Seufzen. Der Raum war durch einige Vorhänge abgedunkelt, doch es war kein Licht von Nöten, um zu sagen, was er hier vorfinden würde. Er konnte mit Gewissheit festhalten, dass Schränke, Stühle und Tische sich von ihrem rechtmäßigen Plätzen entfernt und wild in der Gegend verteilt hatten. Auch wusste er, dass sein Partner und Freund Sherlock Holmes sich irgendwo in diesen vier Wänden befand und laut und heftig atmend Geige spielte.

Erneut seufzte Watson, stellte das Tablett, das er bei sich trug, am dreckigen Boden ab und bahnte sich seinen Weg in Richtung der Vorhänge, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Da er es bereits gewohnt war, stellte das Chaos, das er vorfand, keinen allzu großen Schreck dar. Er hatte sich in den vielen Jahren, in denen Holmes und er sich die Miete teilten, an die Fehler seines Freundes gewöhnt, hatte gelernt mit dem Geigenspiel mitten in der Nacht zu leben, mit dem Chaos und dem Dreck. Und das gelang ihm am besten, indem er es nicht beachtete.

»Ist ihnen bewusst, dass Sie Mrs. Hudson endgültig vergrault haben?«, fragte der Doktor, während er einen Tisch beiseite schob, der ihm den Durchgang zum nächsten Vorhang versperrte. Die Geige gab einen schrillen und klagenden Ton von sich, als das Licht das Zimmer flutete.

»Ich habe sie von ihrer Arbeit entbunden, weil sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgegangen ist. Sehen Sie sich um, Doktor. Hier wurde nicht ein einziges Mal sauber gemacht in den letzten drei Wochen.«

Watson kämpfte mit einem Bücherregal und entgegnete: »Natürlich nicht, Holmes! Sie haben ja jedes Mal einen Wutanfall bekommen, sobald Mrs. Hudson sich Ihrem Zimmer genähert hat.« Er wies auf das gesplitterte Holz der Tür. »Mit einem Knüppel haben Sie wie ein Babar auf die Einrichtung eingeprügelt. Und da verwundert es Sie, dass Mrs. Hudson die Räumlichkeiten, in denen Sie hausen, nicht betreten und säubern möchte?«

Holmes schloss die Augen und verlangte seiner Geige drei weitere dramatische Klänge ab, bevor er das Gesicht verzog und entgegnete: »Sie ist eine Ziege!«

»Sie ist eine liebenswerte Dame.«

»Eine Giftschlange!«

»Eine gutherzige Vermieterin und Haushälterin, die Sie trotzdem hier wohnen lässt, obwohl Sie mit allen Mitteln gegen sie arbeiten und dieses Haus von Ihrem Wahn und Chaos beherrschen lassen.«

»Mein Wahn?« Holmes hob überrascht die Augenbrauen.

»Würden Sie sich ab und an selbst reflektieren, so wüssten Sie davon. Betrachten Sie sich doch nur einmal. Ihr Bart gleicht einem Urwald und Ihre Augen zeugen von wenig Schlaf, viel Alkohol und wenig Licht. Sie tragen noch immer die Selben Lumpen, die Sie auch vor drei Wochen trugen, als Sie sich in diesem Zimmer selbst isoliert haben. Ich frage mich schon eine ganze Weile, was der Auslöser dieses Verwesungsgeruches ist und glaube, ich habe ihn gefunden.« Er trat an seinen Partner heran, der auf seinem dreckigen Bett saß, beugte sich zu ihm hinab und roch an ihm. »Sie sind es.«

Holmes starrte gekränkt auf einen nur für ihn ersichtlichen Punkt zwischen einem Schmierfleck an der Wand und dem Boden, spielte auf seiner Geige und tat, was er in unangenehmen Situationen immer tat: Er ignorierte seine Umgebung.

Wieder seufzte Watson. Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und zog einen Brief hervor. »Dieser hier ist an Sie andressiert, Holmes.« Er bewegte den Brief leicht von einer Seite auf die andere, wodurch ein schwappendes Geräusch entstand. »Ich habe keine Ahnung, was sich darin befindet, aber ich weiß, dass es flüssig ist und höchst wahrscheinlich ekelig.« Mit diesen Worten übergab er den Brief.

Holmes schien überrascht. Wahrscheinlich hatte er sich eigentlich vorgenommen seiner Umwelt weiterhin keinerlei Beachtung zu schenken, doch der Brief hatte sichtlich sein Interesse geweckt. Mit neugierig weit aufgerissenen Augen, die auf dem Stück Papier mit seltsamem Inhalt hafteten, legte er die Geige neben sich aufs Bett und riss den Umschlag an sich. Er betrachtete ihn und ließ seinen Inhalt hin und her schwappen.

»Zum Teil flüssig, zum Teil fest. Beinah zwei verschiedene Substanzen, die hier aufeinandertreffen, vereint in einem Stück Papier, das extra hierfür angefertigt sein muss, da es die Flüssigkeit nicht entweichen lässt. Interessant«, stellte der Detektiv fest, ohne den Blick von dem Objekt zu nehmen. »Was könnte das sein, Watson? Gift in zwei Aggregatzuständen? Wohlmöglich ist dort auch Gas enthalten… Jemand möchte mich umbringen?«

Watson achtete nicht auf das wirre Geschwafel seines Freundes, sondern begann das Zimmer aufzuräumen.

»Wer könnte ein Interesse an meinem Ableben haben? Und wer wäre dazu in der Lage mir ein Gift zu senden, das sowohl flüssig, als auch fest und gasförmig ist? Oder sind es drei verschiedene Gifte, um ganz sicher zu gehen?«, spekulierte Holmes weiter. Dann wandte er sich der geschwungenen Schrift zu. »Ich kenne diese Schrift…«

»Sie haben mir meine Schuhe gestohlen, Holmes?«, rief Watson aus dem Gewühl, in dem er verschwunden war, erhielt jedoch keine Antwort.

»Moment! Es ist ein Rätsel!«, stieß Holmes aus. »Zwei kleine Punkte am rechten Briefrand und ein Pfeil. Kommen Sie in mein Bett, Watson!«

Erschrocken wollte der Doktor vom Boden aufsehen, stieß sich jedoch den Kopf an der Tischkante, unter dem er seine Schuhe gefunden hatte. »Ganz bestimmt nicht!«, fauchte er.

»Ich insistiere.«

»Ich werde trotzdem nicht in Ihr Bett kommen.«

»Watson, das müssen Sie sich ansehen!«

Watson rieb sich die Stirn und bereute, das Zimmer überhaupt betreten zu haben. »Und genau davor habe ich Angst.« Dennoch stand er auf und trat an das Bett heran, auf dem sein Partner sich bereits ausgebreitet hatte und an die Decke starrte.

»Legen Sie sich neben mich, Watson! Das müssen Sie sehen!«

Erneut seufzte der Doktor hörbar, folgte dann aber dem Befehl. Er sah zur Decke hinauf und sah nichts, was in irgendeiner Weise interessant war.

»Und nun?«, fragte Watson und begann durch den Mund zu atmen, um dem Verwesungsgeruch zu entgehen.

»Der Pfeil auf dem Brief zeigt an die Decke«, erklärte Holmes und deutete dann auf die zwei Punkte an der Seite. »Und diese Punkte finden sich ebenfalls an der Decke wieder. Das ist ein Rätsel, Watson. Ein Rätsel! Und dies ist unser erster Anhaltspunkt. Vielleicht führt es uns zu verborgenen Welten. Vielleicht ein Hinweis auf kommende Morde?«

»Wissen Sie, Holmes, Ihre Denkweise ist beinah…«

»Idealistisch?«

»Idiotisch!«, verbesserte Watson, entriss Holmes den Brief und fügte hinzu: »Er ist von mir. Kein Gift, kein Rätsel. Bloß ein Brief von Ihrem geschätzten Freund John Watson. Sie können ihn also gefahrlos öffnen.«

Holmes kratzte sich am Bart und schien angestrengt nachzudenken. Dann sagte er: »Ausgefeilt... Und die Punkte?«

»Ein Versehen. Tintenspritzer meiner Feder.«

»Aber der Pfeil, der zur Decke zeigt?«

»Er zeigt nicht zur Decke, sondern auf Sie, Holmes. Sie haben den Brief nur falsch herum gehalten.«

Holmes setzte sich auf und zuckte mit den Schultern. »Auch ein Meister kann sich irren.«

Genervt drückte Watson ihm den Brief in die Hand und befahl ihm erneut, ihn zu öffnen.

Mit einem letzten verwirrtem und fragendem Blick öffnete Holmes den Brief mit dem seltsamen Inhalt. Verdutzt sah er hinein. Dann rümpfte er die Nase und schaute zu Watson auf.

»Ein rohes Ei?«

»Ein drei Wochen altes, rohes Ei«, korrigierte der Arzt.

Holmes spitzte die Lippen. »Sie vergleichen mich mit einem stinkenden, rohen Ei?«

Watson musste unwillkürlich grinsen. »Es soll Ihnen nur zeigen, wie Sie inzwischen von der Außenwelt gesehen werden.«

Holmes drückte dem Doktor den Brief wieder in die Hand, griff nach seiner Geige und zupfte heftig an den Saiten. Er setzte seinen Sie-sind-doch-nicht-nur-gekommen-um-mich-zu-demütigen-Blick auf und starrte erneut den imaginären Punkt an der Wand an. Beleidigt verfiel er ins Schweigen und wartete darauf, dass der Doktor das Wort ergriff.

Dieser erhob sich vom Bett, nahm die gestohlenen Schuhe an sich und bewegte sich zum Ausgang. In der Tür blieb er noch einmal stehen, deutete auf das Tablett und sagte: »Der Tee ist für Sie, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Und dann sollten Sie sich waschen und Ihre Kleidung wechseln.«

Holmes erwiderte nichts, sondern ignorierte den Arzt weiterhin. Erst als Watson das Zimmer verließ, wurde er hellhörig. Denn auf seinem Weg nach draußen ließ er beiläufig fallen: »Schließlich haben wir einen neuen Fall.«

Sonnenbad

»Ich kann es echt nicht mehr ab!«, fauchte Elisabeth wütend und schlug mit der Faust auf den Esstisch, sodass die Suppe von meinem Teller schwappte. Ich ging zur Spüle und holte einen Lappen. Währenddessen wetterte sie weiter: »Den ganzen Sommer! Den ganzen verdammten Sommer! Ich kann es echt nicht mehr sehen!«

Ich seufzte, wischte die Suppe vom Tisch und entgegnete: »Schatz, dann sag es ihnen. Sag ihnen, dass es dich stört.«

Sie fuchtelte wild mit den Armen, schnitt ein paar Grimassen und deutete dann wutentbrannt aus dem großen Fenster. Auf unseren Ausblick, den wir beim Essen genossen.

»Ich hasse diese verdammten Boisenbergs! Und wie bitte soll ich denn da rüber gehen? Die liegen doch den ganzen verdammten Tag auf ihren penibel geputzten Liegestühlen, in ihrem vorzeige Garten, auf ihrem verdammten gepflegten Rasen! Und solange sie da liegen kann ich nicht zu denen gehen!«

Ich zuckte mit den Schultern. Mir war das eigentlich ganz egal. Ich hatte kein Problem mit den neuen Nachbarn. Zwar hatte ich noch nie ein Wort mit ihnen gesprochen, seit sie hier eingezogen waren, aber darüber war ich auch ganz froh. Ich brauchte den Kontakt zu den Nachbarn noch nie.

»Dann geh halt zu ihnen rüber, wenn sie die Liegen verlassen und ins Haus gehen«, schlug ich vor. Doch dieser Vorschlag wurde mit einem entsetzten Blick und einer abwinkenden Hand zunichte gemacht. »Ich soll mich allein in die Höhle des Löwen vorwagen? Hast du sie noch alle?«, kreischte sie. Jetzt begann der Zeitpunkt, wo sie mich für alles verantwortlich machen würde. Aber was konnte ich denn dafür?

»Wenn du es nicht ertragen kannst, dass unsere Nachbarn halt gerne nackt sind…«, versuchte ich es auf diese Weise, wurde jedoch sofort unterbrochen.

»Halt gerne nackt? Ha! Ich habe sie noch nie angezogen gesehen! Dass sie sich auf ihren Liegen nicht gegenseitig vernaschen ist auch alles! Und das ist unser täglicher Ausblick beim Essen! Findest du das nicht abartig?«

»Mein Gott, in der Steinzeit waren die Menschen auch so gut wie nackt! Das ist doch normal.«

»Leben wir in der Steinzeit?«, setzte sie erneut dagegen und ich wusste, dass diese Diskussion entweder schlecht oder gar nicht enden würde.

»Weißt du was?«, sagte ich und stand auf. »Entweder du gehst da rüber und regelst das oder du bleibst hier und musst es ertragen. Aber dann darfst du dich auch nicht beschweren, wenn sich nichts ändert. Ich bin weder dein Vater noch dein Vormund oder gar dein Sklave und brauche deshalb auch nicht deine Angelegenheiten regeln. Wenn du es nicht änderst, dann ändert es niemand!«

Mit diesen Worten verließ ich die Wohnung. Ich brauchte jetzt etwas frische Luft.

Ausgeweidet -> Krimi-Aktion

Als Detective Eli Peers am Tatort eintraf, hatten seine Kollegen ganze Arbeit damit geleistet, jegliche Spuren zu verwischen. Sie waren einfach kopflos drauf losgerannt, waren mit ihren dreckigen Straßenschuhen über das Laminat gesprintet, in Eile und Panik, und hatten somit der Spurensicherung einen freien Tag verschafft, denn diese hatte nun nichts mehr zu sichern. Hier und da hatte sich jemand übergeben müssen, weshalb es nicht nur unerträglich nach Blut, sondern auch nach Erbrochenem stank. Aber weil dies noch nicht schlimm und dumm genug gewesen wäre, hatte einer der Neuen plötzlich das Gefühl gehabt, die von oben bis unten aufgeschlitzte Frau, deren Gedärme sich im ganzen Raum verteilten, könnte noch am Leben sein, war zu ihr gehechtet und hatte sie sowohl angepackt, als auch hin und her bewegt. Nun fragte sich Eli, was er hier noch tun sollte, schließlich hatte er keine brauchbaren Hinweise mehr.

»Leute!«, hatte er beinah geschrieen, als er das Elend gesehen hatte. »Wie stellt ihr euch das vor? Sollen wir jetzt raten, was geschehen ist? Wild spekulieren? Wir haben nichts mehr, außer einer verstümmelten Leiche, an der jetzt deine DNA klebt, Jonny!«

Der kleine Jonny zuckte zusammen. Er war noch in der Ausbildung, hätte aber genug Verstand besitzen müssen, um zu wissen, dass man eine Leiche nicht bewegt, und dass eine Frau, deren Organe überall verstreut sind, für gewöhnlich nicht mehr leben kann.

Eli atmete tief durch und begann dann in ruhigem Ton: »Gut, damit müssen wir nun irgendwie zurechtkommen. Fangen wir mit der Frage an, die wir vielleicht sogar klären können: Wie ist sie gestorben?«

Sein Team sah ihn erst verwundert an, blickte zur Leiche, dann zu den Gedärmen. Schließlich ergriff einer von ihnen – der erfahrene Tom - das Wort: »Die Schnittwunden deuten darauf hin, dass sie mit einem sehr scharfen Messer – mein Gott, vielleicht sogar mit einem Schwert – aufgeschlitzt wurde. Die Schnitte sind tief und fein, deshalb denke ich an einen schwertähnlichen Gegenstand. Wären die Wunden ausgefranst, müsste der Gegenstand stumpf sein, aber die Schnitte sind absolut sauber, beinah skalpellartig.«

Eli nickte. Das war schon einmal ein Anfang. »Aber die Tatwaffe habt ihr noch nicht entdeckt?«

»Nein, Boss. Zur Zeit klappern wir noch die Mülltonnen der Umgebung ab«, warf der schwitzende Jonny stotternd ein.

Wieder nickte Eli. Dann machte er ein paar vorsichtige Schritte um die Leiche herum.

»Wissen wir schon, wer die Gute ist?«, fragte er beiläufig, während er die Schnittstellen inspizierte. Sie waren tatsächlich absolut sauber, was untypisch für einen Mord aus Affekt war. Es musste sich also um einen geplanten Mord handeln. Einen Mord aufgrund von jahrelangem Hass vielleicht.

»Ja, ihr Name ist Jennifer O´Neil, sie ist 25 Jahre und dies ist ihre Wohnung. Sie lebt allein, hat keine Verwandten und arbeitet…«, Tom stoppte kurz und blätterte eine Seite seines Notizblocks weiter, »im Städtischen Krankenhaus als Assistenzärztin. Die Nachbarn haben beobachtet, wie sie öfter mit einem Mann von der Arbeit nach Hause kam. Bei diesem handelt es sich scheinbar um den Chefarzt der Chirurgischen Abteilung. Die Nachbarn haben auch bemerkt, dass es in letzter Zeit öfter zu Spannungen zwischen den beiden gekommen ist.«

Und da hatten sie den ersten Verdächtigen. Das Skalpell konnte er von der Arbeit problemlos mitgenommen haben und ein Motiv hatte er auch. Hach, Liebe war doch immer ein Motiv!

»Wurde der Verdächtige schon festgenommen?«

»Ja, Boss. Zurzeit sitzt er in Untersuchungshaft. Aber er weinte und beteuerte er sei es nicht gewesen, als wir ihn mitnahmen«, meldete sich nun der großgewachsene Simon zu Wort, der bislang geschwiegen hatte.

»Natürlich heult er! Das lenkt den Verdacht doch von ihm – meint er jedenfalls!«, widersprach Tom und machte ebenfalls ein paar Schritte um den Leichnam.

»Richtig. Alles deutet auf ihn hin«, pflichtete auch Jonny stotternd bei. Der Anblick der Leiche schien ihn wahrhaftig mitzunehmen. Er schwitzte permanent und wusste auch nicht recht, wohin mit seinen Händen. Mal hatte er sie in der Hosentasche, dann vor der Brust verschränkt.

»Wir sind nicht hier, um Verdächtige schuldig zu sprechen! Außerdem bleibt ja noch immer die Möglichkeit, dass er es gar nicht war, ihr Schlauberger! Was ist, wenn…« Eli brach mitten im Satz ab. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Bislang hatte er angenommen die Gedärme seien aufgrund der Schnitte herausgefallen. Doch die Verteilung ebendieser sagte ihm, dass sie vielmehr herausgezogen worden waren.

»Sie ist ausgeweidet worden«, stellte er erschrocken fest und rieb sich die Stirn. »Vermutlich war sie schon tot, als man ihr die Gedärme aus dem Leib zog. Zumindest muss sie betäubt gewesen sein. Simon, lass einen von diesen DNA-Spinnern kommen. Der soll einen Toxikologischen Test machen und ein paar Proben wegen fremder DNA und so weiter mitnehmen. Dann bitte ich um eine Gelelektrophorese usw. Das volle Programm halt! Ach, der weiß schon, was er zu tun hat!

Jonny und Dan, ihr beiden geht von dem Chirurgen eine DNA-Probe einholen und bringt die dann zu dem Fritzen, der hier gleich antanzen wird, wenn Simon den denn mal anruft. Worauf wartet ihr noch?«, fauchte Eli und die drei zogen ab. »Und dich würde ich bitten die Telefonate der Frau zu checken. Prüf die Nummern, die Nachrichten, lass ihren PC überprüfen, frag die Nachbarn nach Besuch. Und ich will jeden, der Verdächtig erscheint und ein Motiv hat auf dem Revier sehen! Bring mir was brauchbares, Kumpel.«

Tom nickte, klopfte Eli auf die Schulter und verließ den Raum.

Eli machte sich daran, die Wohnung zu durchsuchen, fand jedoch nichts außer jeder Menge Schlaftabletten und eine Hand voll Valium. Wenn der nette Chirurg sie schon nicht ermordet hatte, dann hatte er sie zumindest mit Pillen versorgt.

Was für ein Arschloch!, dachte er. Nutzt ihre Sucht, um sie ins Bett zu kriegen. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln.
 

Im Laufe des Tages war der DNA-Spinner eingetroffen und hatte die Proben entnommen. Eli durchsuchte die Leiche, um auch die restlichen nutzlosen Spuren zunichte zu machen, fand aber nichts. Trotzdem hatte er beim Betrachten der verstümmelten Frau das Gefühl, etwas fehlte, doch er wusste nicht was. Als wollten ihre verkrampften Finger ihm etwas sagen, was er nicht verstand.

Drei Stunden, nachdem Eli sein Team losgeschickt hatte, rief Tom an.

»Ich habe hier einen wütenden Ex-Freund, der ihr schon seit Jahren immer wieder aufgelauert hat. Ein typischer Stalker, der nie verkraftet hat, dass sie ihn abserviert hat.« Tom lachte leise. »Dann wäre da noch eine Krankenschwester, der unser Opfer das Leben anscheinend schwer gemacht hat. Unsere Leiche ist wohl auch nicht so unschuldig. Naja, jedenfalls ist mir zu Ohren gekommen, dass die Krankenschwester schon eine ganze Weile auf Rache aus ist und ihr der Tod von Jennifer O´Neil nur Recht wäre. Aber jetzt halt dich fest!« Er machte eine dramatische Pause und leitete seine folgenden Worte mit einem kleinen Trommelwirbel ein. »Sie war auf einer Sexseite angemeldet, so ein SM-Kram. Da hat sie öfter mit jemandem gechattet, der sich >EvilYoung22< nennt. In seinen Nachrichten sagte er, er wolle sie bei lebendigem Leibe aufschlitzen. Sieht nach unserem Mann aus, was?«

»Weißt du schon, wer sich hinter dem Namen verbirgt?«, wollte Eli wissen, der sich gerade auf den Weg zum Revier machte.

»Nein, ich hab Steve die Aufgabe zugeteilt, weiter nachzuforschen. Ich fahre jetzt aufs Revier. Vielleicht kriegen wir ja aus den Verdächtigen was raus.«

»Gut, wir sehen uns gleich.« Eli legte auf und fuhr los.
 

Tom war etwas eher da als Eli und erwartete ihn schon am Haupteingang. »Da bist du ja endlich! Ich dachte schon ich muss die Verdächtigen alleine befragen. Sind ja inzwischen alle da. Vielleicht ist ja auch der gute >EvilYoung22< unter ihnen. Wer weiß?«

Eli schwieg einen Moment und sie gingen hinein. »Dieser Fall geht mir auf die Nerven. Ich habe das Gefühl es fehlt etwas.«

Tom strich sich über sein kurzgeschorenes Haupt und rückte die schmale Brille zurecht. Dann warf er seinem Freund einen verwunderten Blick zu. »Wie meinst du das?«

»Vielleicht haben wir etwas übersehen?«

»Vielleicht aber auch nicht. Ich habe alles genau gecheckt. Die Nachbarn haben nur den Stalker gesehen, die Kollegen nur das mit der Krankenschwester. Und Telefonate hatte sie auf ihrem Haustelefon nur zwei geführt und die mit dem Chirurgen. Wie auch immer, ich habe jedenfalls veranlasst, dass die Verdächtigen alle in einen Raum kommen. Dann will ich sie mit der SM-Seite konfrontieren und ihre Reaktionen sehen. Vielleicht bringt uns…«

»Moment!«, unterbrach Eli ihn und blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Was ist mit ihrem Handy? Jede Frau in ihrem Alter hat ein Handy. Und ich wette darauf, dass auch sie eines hat! Der Tox-Test wird mit Sicherheit ergeben, dass sie unter Valium stand, das ich in der Wohnung gefunden habe. Und weil sie zu zugedröhnt war, um sich zu wehren, musste sie sich anderweitig helfen und griff zum Handy.« Deshalb auch die gekrümmten Finger. Nur weil die Leiche bewegt worden war, konnte er nicht mehr erkennen, dass die Hand eigentlich in der Hosentasche gewesen war, um das Mobiltelefon herauszuangeln.

»Das bedeutet, dass der Mörder das Handy vom Tatort entfernt hat… Ich werde die Nummer herausfinden, dann können wir es hoffentlich orten«, meinte Tom und machte sich an die Arbeit.

Finde das Handy und du findest den Mörder, dachte Eli, während er in Richtung Cafeteria ging. Die Verdächtigen sollten ruhig noch ein wenig ausharren, sich vielleicht sogar gegenseitig zur Wahrheit drängen, aber er brauchte jetzt erst einmal einen schwarzen Kaffee und eine kleine Auszeit. Den Kaffee bekam er, die Auszeit nicht, denn seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er ging noch einmal die Verdächtigen durch: Der Chirurg, der die süchtige Jennifer O´Neil höchstwahrscheinlich mit Pillen versorgt und im Gegenzug das Ausleben seiner (kranken) Fantasien verlangt hatte; der Stalker, der es nicht ertragen konnte, den Chirurgen bei seiner Geliebten zu sehen und nicht sich selbst; Die Krankenschwester, die immerzu gemobbt wurde und zu guter Letzt der geheimnisvolle >EvilYoung22<, der eine ganz eigene Person sein konnte, oder einer von den bereits genannten.

Doch noch bevor Eli sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, tauchte Tom in der Cafeteria auf. Verdutzt stand Eli auf. »Du bist schon fertig?«

»Jap! Ich habe die Nummer. War ganz einfach. Komm mit, wir gehen zu den Verdächtigen.«

Eli Peers trank den letzten Schluck Kaffee und machte sich dann auf den Weg. »Ich befrage, du guckst dir die Reaktionen an?«

Tom nickte, kramte nach seinem Handy und tippte die Nummer von einem Zettel ein, den er in Händen hielt. Eli wusste, dass dies die Nummer des gesuchten Handys war. Und er wusste auch, dass das Mobiltelefon für die Ortung eingeschaltet sein musste, was Tom gerade testete.

Inzwischen hatten sie den Verhörraum erreicht, in dem sich die Verdächtigen befanden. Dan und Jonny hatten sich ebenfalls in dem Raum eingefunden und nahmen gerade DNA-Proben. Tom hielt sich das Telefon ans Ohr und bedeutete Eli mit einem Nicken, er könne schon eintreten.

Als er hineinkam trafen ihn verwirrte, wütende und verängstigte Blicke. Doch alle schwiegen sie, wartend auf das, was Eli zu sagen hatte.

»Guten Tag. Mein Name ist Detective Peers und ich trage die Ermittlungen in dem Fall O´Neil. Meine Kollegen haben Sie sicher schon informiert, warum Sie hier sind. Ich bitte Sie um Ihr Verständnis, aber wir müssen Sie vorerst in Gewahrsam nehmen.

Des Weiteren sind wir auf neue Erkenntnisse gestoßen. Unter anderem sind wir an…« Er stockte. Er warf Tom einen Blick durch das Spiegelglas zu. Und ohne sein Gesicht zu sehen, wusste er, dass dieser erschrocken und mit offenem Mund dastand, denn das hatten sie beide nicht erwartet. Leise, aber gut Hörbar ertönte das Klingeln eines Handys. Eines Handys, das allen bei der Aufnahme auf dem Revier hätte abgenommen werden müssen.

Jetzt wussten sie, wer der Mörder war.
 

__________________________________________________________________
 

Und allmählich begann das alles auch einen Sinn zu ergeben. Die ersten, die am Tatort waren, waren die Mitglieder seines Teams gewesen, die es geschafft hatten, die größten Spuren unbrauchbar zu machen. Und einer seines Teams, der junge Jonny, hatte geglaubt die Tote würde noch leben. Eli hatte es auf seine Unerfahrenheit geschoben, doch in Wahrheit gehörte dies zu Jonnys Plan. Er hatte in seiner Eile die Frau zu töten und dem Wahn vergessen, dass er das Handy am Tatort gelassen hatte. Er hatte es ihr zwar entrissen, dann aber am Boden liegen gelassen. Wahrschein waren darauf noch Nachrichten gespeichert, die ihn enttarnt hätten, wäre das Handy in die Hände der Polizei geraten. Deshalb machte er einen kleinen Aufstand und steckte unbemerkt das Handy in die Tasche, aus der es nun anfing zu Klingeln. Wegen des Valiums konnte sie kaum reagieren und hatte deshalb auch später noch die Hand in der Tasche gehabt, bis Jonny schließlich ihre Leiche bewegt hatte.

Jonny, der noch gar nicht wusste, wie ihm geschah, wurde verhaftet. Es dauerte nicht lange, da gestand er den Mord. Er berichtete davon, dass er eigentlich auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer war, nur, dass das Sexuelle ihn später nicht mehr interessierte, da die Gewaltfantasien ihn viel mehr befriedigten. Und als die Fantasien ihm nicht mehr genügten brach er bei Jennifer O´Neil ein, deren Adresse er über die Polizei ermitteln konnte. Er wusste anfangs nicht recht, was er mit ihr tun wollte, doch als er sie high auf dem Boden liegen sah, war ihm klar, dass er sie töten würde. Das Skalpell, das er auf dem Nachttisch in einem kleinen Koffer fand, der dem Chirurgen gehörte, diente ihm dabei als Mordwaffe.

Nah

Im tiefdunklen Schacht einer alten Mühle, deren bröckelnde Fassade jeden Moment drohte einzustürzen, lag mein Leben zum Greifen nah. Meine Finger hatten es beinah berührt, es fehlten nur noch wenige Zentimeter, die mir vorkamen wie ein riesiger Spalt.

Ich kam nicht dran und ich wusste, ich würde niemals mehr dran kommen, aber der Wille, der sich in meinem Innersten eingenistet hatte wie ein Parasit im Fell seines Wirts, war zu stark, als dass ich es nicht wenigstens versuchen wollte. Also schob ich meinen schlaffen Körper noch etwas weiter über den staubbedeckten Boden. Doch mein Arm war und blieb zu kurz, ganz egal, wie sehr ich ihn streckte. Ich stöhnte laut auf, als mein Ellenbogen den rostigen Nagel am Rand des Schachts traf und sich tief in mein Fleisch bohrte. Mit einem Ruck zog ich ihn hinaus, spürte wie warmes Blut bis zu meinem Handgelenk hinunterlief, und versuchte erneut mein Leben zu erreichen.

Doch der Wille allein reicht nicht immer, das war mir jetzt klar. Manchmal sind es ein paar winzige Zentimeter, die zwischen Leben und Sterben entscheiden. Ein schmaler Grat, eine kaum sichtbare Linie, an der man scheitert. Eine Daumenbreite, die dich in die Knie zwingt.

In diesem trostlosen Moment, inmitten meines staubigen Seelebgefängnisses, starb ich.

Denn im tiefdunklen Schacht einer alten Mühle, deren bröckelnde Fassade jeden Moment drohte einzustürzen, lag mein Leben unerreichbar nah.

Vom Sterben und Scheitern

Es war ein regnerischer Tag. Aber wenn ich heute zurückdenke, habe ich das Gefühl, an diesem Tag habe die Sonne geschienen.

Ich weiß nicht recht, warum ich mit diesem Tag – dem Tag an dem der größte Teil meines Ichs brach - die stahlende Wärme der Sonne assoziiere. Vielleicht weil ich glaube, dass die Sonne hätte scheinen müssen, um der traurigen Nachricht etwas Bitteres anhaften zu lassen, sie irgendwie in den Dreck zu ziehen. Sie lächerlich wirken zu lassen, bedeutungslos. Sie hätte mir zeigen sollen wie idiotisch es ist zu weinen, wie dumm und kindisch. Hätte mir zeigen sollen, dass es weiter geht, dass sie trotzdem scheint, auch wenn die Seele sich in der Dunkelheit für immer verirrt. Dass es deswegen noch lange nicht vorbei ist. Dass es gar nicht auffällt, wenn ein Mensch stirbt.

Und ja, ich hätte damit leben können, wenn an diesem verdammten Tag die Sonne geschienen hätte, weil ich dann gewusst hätte, wie wertlos wir alle sind. Weil ich dann in meiner Annahme bestätigt worden wäre. Weil ich dann gewusst hätte, dass weder ich das Interesse dieser Welt wecke, noch irgendjemand sonst!

Aber an diesem Tag schien nicht die Sonne.

Es regnete. Der Himmel schüttete literweise Wassertropfen auf das Dach unseres Autos. Auf die Windschutzscheibe. Auf den Lack. Auf die glühenden Scheinwerfer. Nur nicht auf mich.

Als würde der Himmel das weinen, was ich in diesem Moment weinen wollte, aber nicht imstande war zu weinen, weil der Schock des Gesagten alles lähmte. Als würde ein Teil von mir unwiederbringlich meinen Körper verlassen, hinaufsteigen zu den Wolken und von dort aus den Sturzbach aus Tränen regnen zu lassen. Um meinen Part zu übernehmen.

Und dann, gerade als ich dachte, ich würde nie wieder weinen können, blinzelte ich. Die erste und einzige Träne an diesem Tag, und in den Jahren danach, kullerte langsam meine Wange hinab. Ich blieb stumm. Verlor nicht einen Laut. Kein Schluchzen, kein Wimmern. Da war nur das Trommeln des Regens, der nicht nur für mich zu weinen, sondern auch zu schreien schien.

Eigentlich wusste ich schon, dass er tot war, noch bevor es ausgesprochen wurde. Noch bevor ich in das Auto gestiegen war. Noch bevor es all die anderen wussten. Die Gewissheit war da gewesen, von Anfang an. Die Nachricht, überbracht von einem unsichtbaren Boten. Tief in meinem Inneren war ich mir schon eine ganze Weile sicher gewesen. Und dennoch war es ein heftiger Schlag, es aus dem Mund eines anderen zu hören. Denn mein Gefühl hätte mich trügen können – und ich hatte mir nichts mehr gewünscht, als dass es mich trügt. Aber als der alles vernichtende Satz ausgesprochen wurde, da gab es keine Zweifel mehr.

In nur einer Sekunde verlor die Welt ihr Gesicht.

Und ich den Bezug zur Welt.

Vielleicht war das der Anfang von meinem Ende. Vielleicht war dieser Tag der Grund für mein späteres Scheitern.

Jason Scraps "Schlabbermaul"

Der Roboter Jason Scrap hatte schon immer das Gefühl, seine Intelligenz wäre sein Verhängnis. Sie war präsent, immer. Er konnte sie nicht abschalten, niemals. Und genau das war sein großes Problem. Ganz egal, was er tat, er konnte nichts  tun, ohne eine Reihe von Berechnungen anzustellen, diverse Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, einige davon auszuschließen und neue zu erarbeiten. Er war wie ein Hochleistungsrechner, nur besser.

Heute war es wieder soweit, dass er an dieser Bürde zerbrach, an dem, was andere so gern hätten. An dem, was sie alle so sehr wünschten.

Scrap war zu schlau für diese Welt, zu gut informiert und viel zu gut organisiert. Eigentlich fristete er sein Dasein als Privatdetektiv. Früher hatte er sich mal erhofft, das wäre es, was seine überragende Intelligenz fordern würde. Und tatsächlich hatte es den einen oder anderen Fall in seinem Leben gegeben, der ihn bis an seine Grenzen geführt hatte. Aber das war lange her. Heutzutage gab es keine derart verzwickten Aufträge mehr, sondern nur sinnlosen und langweiligen Müll, den es zu bearbeiten galt.

Deshalb war er genervt, gelangweilt und übertrieben patzig, als er seinem neuen Klienten, der ihm gegenüber saß, verkündete, er würde seinen Fall nicht bearbeiten. »Ich werde mich nicht um Ihren Schrott kümmern, vergessen Sie’s! Ich bin Privatdetektiv, Sie Schlabbermaul, kein Schrotthändler!«

Da hatte ihm der Mann doch tatsächlich den Auftrag gegeben, seinen Vorgarten von Schrottteilen zu befreien, unter denen angeblich die Leiche seines Nachbarn lag. Scrap war klar, dass der Herr nur eine billige Ausrede anbrachte, um endlich seinen Garten wieder sauber zu haben. Und wer war da besser geeignet, als das Genie Jason Scrap?

Der fleischige Trottel, aus dessen Mundwinkel stetig Speichel lief, war ärgerlich. Sein dicker Bauch schwabbelte auf und ab, als der Mann aufgeregt und wütend auf seinem Stuhl herumrutschte. »Wissen Sie was?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich lasse mich nicht von einer Maschine beleidigen!«

»Na dann können Sie ja gehen«, meinte Scrap, der ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen trug und ein besonders freundliches »Tschüssi!« hinterher setzte.

Der Dicke stand empört auf, lief zweimal das Büro auf und ab, blieb dann stehen und sagte: »Mein Nachbar ist verschwunden, ist Ihnen das eigentlich bewusst?«

»Natürlich. Und es langweilt mich. Ist Ihnen das eigentlich bewusst?«

Ein wütendes Schnauben erklang und Scrap fürchtete schon, Schlabbermaul habe seine Spucke im ganzen Raum verteilt. Wenn er später allein war, nahm er sich vor, würde er sein Büro vollständig reinigen und desinfizieren lassen.

»Mein Nachbar war ein freundlicher älterer Herr, dem ich immer morgens das Essen brachte. Ich habe ihn immer bombenmäßig gemocht

Scrap entfuhr ein Lachen. Der Dicke war der reinste Witz. »Bombenmäßig?«, kicherte der Roboter und musste sich an den Stuhllehnen festhalten, um nicht in seinem Lachanfall zu Boden zu fallen. »Sie sind ja ein richtiger fesher Babo!«

Jetzt wurde Schlabbermaul erst richtig böse. Mit einer immensen Kraft schlug er mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch, sodass Scraps Öl-Kaffee mitsamt der Tasse in die Luft flog und sich über die gesamten Unterlagen ergoss. Der Kaffee lief über Papier, über seine externen Festplatten, seine Micro-Chips – über sein ganzes, erbärmliches Leben.

Egal, dachte Scrap, den Scheiß hatte ich ja eh aussortiert.

»Und jetzt hören Sie mir mal zu!«, schrie der Dicke nun und beugte sich über den Schreibtisch, so nah an Scrap heran, dass er ihm mit jedem Wort seine Sabber ins Gesicht schleuderte. »Vor drei Tagen verschwand mein Nachbar ohne jede Spur. Seine Wohnung ist leer, ich habe nachgesehen. Dann steht gestern plötzlich ein Grabgesteck vor seiner Tür auf dem steht: Im stillen Gedenken an Horst Wallbach. Das ist sein Name. Und heute finde ich den Schrotthaufen in meinem Vorgarten und diesen Brief hier.«

Er übergab dem vollgespuckten Scrap, der sich gerade das Gesicht mit einem Taschentusch abwischte, das Kuvert. Scrap besah es sich: Unauffällig, weiß, schnöde, langweilig. Dann öffnete er es und las das, was in schnörkeliger Schrift auf dem grellweißen Papier geschrieben stand: »Die mechanische Kutsche bremst. Aber nicht für jeden.«

Langweilig!, dachte Scrap und gab den Brief zurück. Dann beschloss er: »Na gut, ich kümmere mich darum. Schreiben Sie mir nur schnell Ihre Adresse auf.«

Er schob einen Zettel über den Tisch. Als dieser bei Schlabbermaul ankam, war er mit Öl-Kaffee getränkt, doch das war nicht wichtig. Für Scraps vorhaben würde er auch in diesem Zustand genügen.

Der Dicke nahm einen Kugelschreiber aus der Stiftbox, die seinen Wutausbruch unbeschadet überstanden hatte und begann zu schreiben.

Für den Detektiv war es ein leichtes, etwas, das nur einen Bruchteil seines Könnens erforderte. In seinem Kopf ratterte es kurz und schon hatte er, wonach er gesucht hatte: Die Übereinstimmung.

Der Roboter erhob sich. Jetzt war er es, in dem es zu lodern begonnen hatte. Er baute sich vor seinem Klienten auf, machte sich größer, als er war und schrie seinem Gegenüber ins Ohr: »Verpissen Sie sich!«

Dem Dicken entglitten die Gesichtszüge. Er wusste nicht wie ihm geschah, als Scrap ihm in den gepolsterten Bauch trat und ihn somit zur Tür hinaus schleuderte.

»Für wie dämlich halten Sie mich? Sie haben den Brief selbst geschrieben. Sie dachten wohl, ich hätte keine Software dafür, um Handschriften zu vergleichen, was? Suchen Sie sich jemand anders, der Ihren Schrott wegräumt!« Mit diesen Worten warf Scrap die Bürotür zu und schloss sie ab.

Dann setzte er sich wieder auf den Stuhl und lehnte sich zurück. Schloss die Augen. Wie satt er es hatte, von aller Welt als Idiot wahrgenommen zu werden. Er war das Beste, was diese Welt zu bieten hatte. Er war perfekt, fehlerfrei, genial. Und niemand wusste das zu würdigen.

Plötzlich leuchtete ein rotes Warnsignal vor seinen Augen auf.

»Schrift-Vergleichs-Software nicht auf dem neusten Stand. Update wird heruntergeladen.«

Als das Update installiert war, verfluchte er sich selbst dafür, dass er so ein unausstehlicher Mistkerl war. Seinem System war ein Fehler unterlaufen. Und ihm unterliefen nie Fehler!

Der Brief war nicht von dem Dicken verfasst worden, mit dem er es sich soeben versaut hatte.

Die Schrift, in der der Brief geschrieben war, gehörte jemandem, den er gut kannte. Jemandem, den er besser kannte, als alle anderen.

Verblüfft und ratlos, starrte er auf das neue Ergebnis der Analyse. Das konnte nicht sein. Das war einfach unmöglich!

Er wiederholte den Test, zweimal, dreimal, aber das Ergebnis blieb das Selbe. Seine Berechnungen waren richtig, absolut richtig.

Es war seine Schrift. Die Schrift von Jason Scrap, dem Roboter, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Anflug von Angst verspürte.

Einander betrachten. Einander verachten - Jitterbug 1

Avery Bradbury hockte auf dem Scheißhaus und ließ gerade »den Braunen raus«, in seiner Hand ein Buch, das er allerdings nicht lesen konnte, weil er nie lesen gelernt hatte. Hier und da stach ihm ein Wort ins Auge, das er irgendwann einmal gesehen hatte. Die Leute sagten, lesen entspanne und beim Kacken wäre es genau das richtige, damit auch alles schön flutsche. Was für ein Blödsinn! Avery hatte es versucht, hatte auf die Leute gehört und sich mit einem Buch auf den Pott gesetzt. Aber was zur Hölle sollte daran entspannend sein, sich einen Haufen ineinandergewurschtelter Buchstaben anzuschauen, w      enn man sie nicht verstand?

Genervt schlug er die nächste Seite auf und versuchte dort die besagte Entspannung zu finden. Er sah das Wort Ah und dachte: Hey, das kenne ich! Durch diesen Erfolg aufgebaut lehnte er sich auf der Toilette zurück und blätterte weiter. Seine ungewaschenen Haare klebten in seinem Nacken. Er dachte kurz darüber nach, mal wieder unter die Dusche zu springen, roch an seinen Achseln und sagte dann laut zu sich selbst: »Scheiße, das geht noch!« Er hatte ohnehin keine Lust, die Wasserpumpe zu reparieren, also verschob er diesen Termin im Geiste auf Ende nächster Woche. »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, hatte seine Mutter immer gesagt. Avery schloss daraus, dass er sich an den Dreck und den alten Schweiß auf seiner Haut gewöhnen würde, wenn er nur lange genug damit herumlief.

Er blätterte um und wollte sich gerade wieder seiner Lektüre widmen, als die Tür mit einem Knall aufgerissen wurde. Vor Schreck ließ Avery das Buch los. Es rutschte ihm förmlich aus der Hand, nur um im nächsten Moment seine Schenkel zu streifen, daran entlangzugleiten und schließlich im Plumpsklo zu landen.

»Verdammt, Hy, siehst du nicht, dass ich am Scheißen bin?«, schrie Avery seinen älteren Bruder an. Der Hüne von Bruder hatte die Oberarme eines Bären. Sein ganzer Körper schien aus einem einzigen Muskelstrang zu bestehen, der alles und jeden unter sich zermalmen könnte. Nur der kleine Kopf wirkte etwas deplatziert auf diesem steinigen Berg.

»Ich muss mal«, sagte Hy, der leicht auf und ab hüpfte.

»Scheiße! Kann das nicht warten, bis ich fertig bin?«

»Nein, Ave, kann es nicht!«

Avery hob erstaunt die dürren Arme, als er feststellte, dass sein Buch in der Toilette gelandet war. Etwas hilflos zeigte er mit den Fingern zwischen seine Beine, ohne dass sein Bruder verstand, worauf er hinaus wollte. »Geh in den Wald oder sonst wohin, aber hier bin ich, eh?«

Hys Miene verfinsterte sich. Seine linke Hand schnellte vor, packte den hageren Avery am Kragen, zog ihn von der Toilette und schleuderte ihn mit heruntergelassener Hose zur Tür hinaus.

»Scheiße!«, brüllte Avery, als er sich aufrappelte und die Hose hochzog. »Du schuldest mir ein neues Buch, du Pisser!« Er trommelte noch zwei, drei Mal fest mit der Faust gegen die Holztür, ließ es dann gut sein und schlenderte über den Rasen Richtung Haus.

Avery hatte in seinen vollen achtunddreißig Jahren noch nichts erreicht. Er hatte kein eigenes Haus, sondern wohnte noch immer bei seinem Vater, seiner Stiefmutter und seinem Bruder. Er hatte keine Frau – eigentlich hatte er auch noch nie eine Freundin gehabt – er hatte keine Bildung und keine andere Kleidung, als jene, die er jeden Tag trug: Ein stinkendes Paar braune Sneakers, das er bestimmt schon seit zehn Jahren hatte, eine Jeans, die ihm drei Nummern zu groß war und die deswegen halb unter dem Hintern saß statt auf der Hüfte, und ein löchriges Hemd mit aufgestickten Kirschen und Erdbeeren, das er nur trug, weil es ein Geschenk von seiner Stiefmutter war. Er wollte dieses hässliche Ding am liebsten auf den Boden schmeißen, so lange darauf schießen, bis ihm die Munition ausginge, dann den Flammenwerfer aus der Abstellkammer holen und das Früchtehemd abfackeln und wenn er es abgefackelt hätte, dann würde er noch die Asche verbrennen, damit nichts mehr davon übrig bliebe. Aber seine Stiefmutter war eine rabiate Frau Mitte Sechzig, die Averys Kopf eigenhändig abhacken würde, wenn dem Hemd dergleichen wiederführe.

Während Avery durch den Garten ging, wurde er das Gefühl nicht los, er habe sich in die Hose geschissen. Gewissermaßen stimmte das sogar, denn sein lieber Bruder hatte ihm nicht die Gelegenheit gegeben, sich den Hintern abzuwischen. Aber da seine Körperhygiene ohnehin mangelhaft war, war der braune Streifen in der Hose nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Avery betrat das Haus, das schäbig und alt auf einem kleinen Hügel stand, ringsherum nichts als Wiesen, Felder und Wald. Die Haustür schob sich mit einem Knatschen auf und vor Avery breitete sich das Wohnzimmer aus. Auf dem Sofa saß seine Stiefmutter und häkelte, als wäre sie die liebenswerteste und ungefährlichste Person auf Erden. Doch das war die alte Hexe gewiss nicht. In ihr steckte mehr Boshaftigkeit als in jedem Schwerverbrecher.

»Madison«, begrüßte er seine Stiefmutter und lächelte sein freundlichstes Lächeln, das er so sehr verinnerlicht hatte, dass es oft nicht mehr freundlich, sondern schon beinah mörderisch wirkte.

»Zieh dir die verdammten Schuhe aus, Ave!«, fauchte die Alte und warf ihm eine Häkelnadel an den Kopf. »Du machst mir die ganze Wohnung schmutzig!«

»Natürlich, Madison«, entgegnete Avery noch immer lächelnd, zog sich die Schuhe aus und stellte sie vor die Tür. Dann hob er die Häkelnadel auf und gab sie an die alte Hexe zurück, die dick und schnaufend mit der Hand darauf zeigte.

»Übrigens«, knurrte sie, »die Elvens sind oben in deinem Zimmer und erwarten dich.«

»Die Elvens?« Avery wusste, ab jetzt würde der Tag endgültig den Bach runter gehen. Es war erst acht Uhr morgens, die Sonne war vor zwei Stunden aufgegangen und Avery wünschte sich den ersten Whiskey herbei. »Ohne Scheiß? Die Elvens? In meinem Zimmer?«

Madison nickte.

»Oh Gott!« Avery fuhr sich entsetzt über den Bart, den er seit zwei Wochen konsequent züchtete. »Warum hast du die reingelassen?«

Die Alte legte die Häkelsachen beiseite und sah ihren Stiefsohn mit dem liebevollen Blick einer Mutter an. Ihre langen Locken schimmerten silbern in der frühen Sonne, die durch das Wohnzimmerfenster brach. In ihren mandelförmigen Augen hing eine Wärme, die so nah schien, dass Avery sie zu spüren glaubte. Sie wirkte so weich und zerbrechlich, so friedlich und unschuldig, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass diese Frau schon mehrere hundert Knochen gebrochen hatte. Unwillkürlich tastete Avery nach der Narbe an seinem linken Ellenbogen. Es hatte Jahre gedauert, bis der Trümmerhaufen verheilt war. In diesem Moment, in dem sie ihn so ansah, brauchte er die Gewissheit, dass die Narbe existierte, denn sonst hätte er nicht für möglich gehalten, dass sich ein Monster hinter der herzensguten Fassade von Madison verbergen könnte.

Avery hatte Angst vor ihr – besser gesagt den größten Respekt. Madison war gut in dem, was sie tat. Sie hatte sich ein kleines Imperium aufgebaut, hatte sich ein Machtmonopol verschafft, das ihr so schnell niemand streitig machte. In ganz Alborne war Madison die einzige, die Medikamente besaß. War jemand krank, dann musste er zu allererst bei ihr antanzen. Und Madison wäre nicht Madison, wenn sie die Bedürftigen einfach freundlich mit Medis versorgte. Sie verteilte die Medikamente für horrende Summen. Wer kein Geld hatte, der stand in ihrer Schuld. Und das war weitaus schlimmer, als dafür Geld zahlen zu müssen.

Madisons Mitarbeiter erhielten pünktlich ihren Lohn und wurden anständig behandelt, sodass sich niemand beklagen konnte. Aber wenn sie hintergangen wurde oder jemand – wie Avery schon ein paar Mal – einen Auftrag verpatzte oder sich zu viel Ärger einhandelte, verwandelte sich die Alte in eine Bestie, die einem Menschen die Haut abziehen konnte ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du solltest den Streit mit den Elvens endlich beenden, Ave.«

Avery seufzte. Dann nickte er Madison freundlich zu und stieg die Treppe empor zu seinem Zimmer.

Außen an seiner Zimmertür hing noch immer dieses grausame Bild von einer leichtbekleideten Blondine, die sich erotisch auf einem Auto räkelte. Darüber hatte jemand mit schwarzem Filzstift die Worte »Hier geht’s steil« geschrieben, die Avery zwar nicht lesen konnte, von denen er aber oft genug gehört hatte, dass sie da waren. Das Poster hing seit seinem achtzehnten Lebensjahr dort, angepinnt im Vollrausch. Bis jetzt hatte er es nicht geschafft, es abzunehmen. Es war ihm fast ein bisschen peinlich, dass die Elvens dieses Relikt aus seiner Jugend zu Gesicht bekommen hatten.

Avery atmete tief ein. Er wappnete sich innerlich gegen das Bevorstehende, straffte sein hässliches Früchtehemd, setzte das gewohnt nette Lächeln auf und trat ein.

Sein Zimmer war überschaubar – sowohl in der Größe als auch in Punkto Einrichtung. Links neben der Tür befand sich eine hellbraune Kommode, die der Grund des Modergeruches war, der einem mit dem Eintreten entgegen kam. Dahinter stand ein Schreibtisch, den Avery noch nie benutzt hatte. Die Bücher, die darauf lagen und inzwischen von einer dicken Staubschicht überzogen wurden, hatte er nicht mehr in Händen gehalten, seit er es damals aufgegeben hatte, Lesen zu lernen. Hinten rechts lag die Matratze mit der Blümchenbettwäsche, darauf zwei Gestalten, die sich dort breit gemacht hatten und rauchten. Eine dritte Person saß in dem klapprigen Schaukelstuhl an der rechten Wand.

»Die Elvens«, sagte Avery und machte eine ausladende Handbewegung.

Christine Elven, die auf seiner Matratze rumlungerte, hatte die Beine demonstrativ gespreizt und ließ einen Blick auf ihr blaues Höschen zu, das unter ihrem Minirock hervorlugte. »Wo warst du so lange, Schwuchtel? Kühe ausmisten?«, fragte sie, während sie den Zigarettenrauch inhalierte.

Avery lächelte unbeirrt weiter und antwortete: »Christine Elven und ihre scharfe Zunge…« Er sah auf den Boden, als er weiter sprach, ließ das Lächeln aber nicht von seinem Gesicht weichen: »Hättest du deine verquollenen Augen aufgesperrt, dann wäre dir nicht entgangen, dass das hier kein Bauernhof ist. Wir haben hier keine Kühe, keine Ziegen und auch keine Schweine, abgesehen von denen, die mein Zimmer ohne meine Erlaubnis betreten haben und mein Kopfkissen als Aschenbecher missbrauchen.« Er ließ seine Worte kurz wirken, bevor er fortfuhr: »Aber ich nehme dir deine Dummheit nicht übel, Christine. Wenn es sich bei den Eltern um Bruder und Schwester handelt, ist es schwierig, etwas intelligentes zu produzieren.«

Anstatt auf seine Provokation einzugehen und auszuflippen, blieb sie ruhig, wenngleich sie die Wut in ihren Augen nicht verbergen konnte.

Die Elvens waren alle drei Geschöpfe, mit denen man im Zirkus hätte Geld verdienen können. Christine war die Älteste und Schlimmste des Dreigestirns: Die Missbildung in Person. Ihre kleinen Brüder sahen nicht viel besser aus, doch Avery hatte das Gefühl, dass die beiden etwas weniger Opfer des Inzests waren, als Christine. Christine musste in Averys Alter sein, sah aber deutlich älter aus. Ihre Schulterlangen braunen Haare waren mit dicken grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht mit Pickeln gespickt und ihre Nase so schief wie der Turm von Pisa. Die Schminke hatte sie dermaßen dick aufgetragen, dass Avery sich fragen musste, ob darunter noch Haut zu finden war oder ob sie ihr bloßes Skelett mit Make-up bedeckt hatte. Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine abgemagerte Hure, auf den zweiten nur wie eine Hure. Sie war zwar dünn, aber nicht untergewichtig, sondern vermutlich genau im Normalbereich. Aber das auffälligste an ihr waren die Augen, die wie die Krater des Mondes tief in ihrem Gesicht lagen. Schwarz und kalt und irgendwie leer.

Chris und Christian Elven wirkten deutlich weniger abstoßend, was sie aber gewiss nicht zu Schönheiten machte. Zwei milchweiße Bubis, die statt Anfang dreißig auch fünfzehn hätten sein können. Kein Bart, keine Beinbehaarung und das typische Pickelgesicht der Elvens.

»Avery…«, begann Christine mit ihrer rauen Alkoholikerstimme und ließ erneut Asche auf das Kopfkissen fallen. »Avery ist ein Mädchenname. Warum haben dir deine Eltern einen Mädchennamen gegeben?«

»Ich würde sagen eure Eltern waren ebenfalls nicht sehr kreativ, was die Namensgebung anbelangt«, konterte Avery. Er schloss die Zimmertür, steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gegen die Kommode.

Christine drehte gedankenverloren ihre Haare zwischen den Fingern. »Ich verstehe das nicht ganz… Bist du eine Frau?«

Avery lächelte breiter und noch freundlicher, hielt den Blick aber gen Boden gerichtet als er sagte: »Wie wäre es, wenn ich meinen Lümmel auspacke und du mir einen bläst? Dann kannst du dich selbst vergewissern.«

Christine sah angewidert an ihm herab und tat, als wollte sie sich erbrechen.

Nach einer kurzen Schweigepause, in der es niemand für nötig hielt etwas zu sagen, ergriff Avery erneut das Wort: »Also, liebe Elvens. Es freut mich ja, dass ihr hier seid, aber bitte, könntet ihr mir erklären, warum?«

Christine spreizte die Beine noch etwas weiter, sodass Avery erkennen konnte, dass sie sich nicht gut rasiert hatte. »Weißt du, Ave«, röchelte sie während eines Hustenanfalls. »Ich denke, du schuldest uns noch Geld.«

»Ich glaube, da irrt ihr euch. Nach meinem Stand habe ich alle Schulden bei euch getilgt, eh?«

»Oh, ich spreche von Schutzgeld, nicht von Schulden im direkten Sinne.« Einer der Bubis drehte sich einen Joint. Der andere schien tot zu sein, so wenig, wie er sich bislang bewegt hatte. Christine stieß weißen Rauch aus. »Wir bekommen noch 4.000 Dollar von dir. Ansonsten kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren, wenn du das nächste Mal unten in Hells Morth arbeitest. Bezahl das Geld und niemand von unseren Leuten wird dir etwas antun. Wenn nicht… Das weißt du selbst.«

Avery begann zu weinen, die Tränen rollten ihm bitter die Wangen hinab. Er hatte den Ausdruck puren Verzweifelns aufgesetzt, nur um gleich darauf in schallendes Gelächter zu verfallen. »Woa, Moment!«, sagte er und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. »Ihr drei Flitzpiepen kommt hier reinspaziert, in mein Haus – in mein Zimmer – und droht mir?« Er prustete los, hielt sich an der Kommode fest, damit er nicht vor Lachen umfiel und zog dabei die oberste Schublade leicht auf. Mit der Hand fuchtelte er wild in Richtung der drei und kicherte: »Ihr seid doch wirklich mit Dummheit gestraft! Angenommen…« Er machte eine Kunstpause. »Angenommen ich schlage das Angebot aus, was dann? Wollt ihr einen Krieg anzetteln? Wollt ihr euch mit uns anlegen, eh?«

Christine drückte ihre Zigarette auf dem Kopfkissen aus. Der Bubi im Schaukelstuhl zündete sich den Joint an und meinte seinen Senf dazugeben zu müssen: »Dein Vater und Madison sind raus aus der Sache. Wir haben sie gefragt und nein, Kumpel, sie stehen in dieser Sache nicht hinter dir. Du hast uns ganz schön verarscht und das gehört sich nicht.«

Averys Lachen erstarb nicht. »Scheiße, ich glaub’s ja nicht! Ihr seid wirklich strohdoof, wenn ihr glaubt, dass ihr auch nur im entferntesten damit durchkommt!« Seine Hand glitt in die Schublade und ertastete die Pistole. Sein Lachen wurde schwächer und das gewohnt freundliche Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Er entsicherte die Waffe, holte sie aus der Schublade und schoss ohne zu zielen auf den Jointraucher. Die erste Kugel traf sein Bein, die zweite seinen Hals und die dritte seinen Kopf. Dann erschoss er den anderen Bruder, der vermutlich schon längst tot war. Er traf zwei Mal in die Brust und einmal in den Bauch. Für Christine hatte er keine Kugel mehr übrig, also schlenderte er lässig auf sie zu, packte sie am dünnen T-Shirt und zerrte sie auf die Beine. Dass das Magazin leer war, wusste Christine nicht, weswegen Avery ihr die Pistole an den Kopf drücken und sie damit einschüchtern konnte. Ohne diesen Waffenvorteil hätte sie ihn leicht überwältigen können, denn sie war erstens einen Kopf größer als er und hatte zweitens deutlich mehr Kraft und Muskeln. Doch Avery wusste, dass der Schein nach Außen manchmal mehr wert war, als das tatsächliche Sein.

Avery lächelte weiter, trat ein paar Schritte von Christine zurück und auf das Fenster hinter dem Schaukelstuhl zu.

»Wir machen jetzt Folgendes«, flüsterte er und deutete auf das Fenster. »Du machst das Fenster auf und springst raus und wenn du das ganze überlebst, dann hole ich dir einen Krankenwagen.«

Sie wich zurück und schüttelte energisch den Kopf.

»Na los, Christine. Es ist ganz einfach: Du springst raus und bist entweder tot oder verletzt. Aber wenn ich dir direkt eine Kugel in den Schädel jage, gibt es kein >oder< mehr. Dann bist du definitiv tot.«

Sie schluckte, trat an das Fenster heran und sah in die Tiefe. Vorsichtig und quälend langsam öffnete sie es.

Avery roch seinen eigenen Schweiß, der ihm bitter und stechend in die Nase kroch. Er sollte doch langsam duschen gehen.

»Ich zähle bis drei. Wenn du dann nicht springst, erschieße ich dich! Letzte Chance, meine Liebe.«

Christines Augen waren geweitet und für einen kurzen Moment erspähte Avery einen Funken Schönheit in ihr. Ein kindliches Glühen in den tiefschwarzen Pupillen, das das einzig Natürliche an ihr zu sein schien.

»Eins.«

Sie sah noch einmal hinunter, den Moment des Schmerzes hinauszögernd.

»Zwei.« Ihre Hände umklammerten den Fenstersims. Sie warf einen Blick zurück auf ihre toten Brüder, deren Blut das Zimmer ertränkte und machte instinktiv einen Schritt auf sie zu.

Avery setzte ihr den Lauf der Pistole an den Hinterkopf und drückte sie sanft zum Fenster zurück.

»Wehe, du holst mir keinen Krankenwagen!«, zischte sie und begann hinauszuklettern.

»Und die letzte Zahl ist…«, wisperte Avery, »drei.«

Christines Schrei war schrill und ungewöhnlich klar, als sie sprang. Nur der Aufprall war dumpf. Als würde man einen nassen Lappen zu Boden werfen.

Avery legte die Pistole zufrieden zurück in die Schublade und verließ sein mit Hirnmasse und Blut bedecktes Zimmer.

Unten saß noch immer Madison, die stumpf weiterhäkelte, als wäre es das normalste der Welt, wenn sechs Schüsse im Zimmer des Stiefsohnes fallen und eine Frau aus dem Fenster stürzt. Das einzige, was sie sagte war: »Du hast das Problem aus der Welt geschafft, wie ich sehe.«

»Scheiße, ja!«, entgegnete Avery, der sich eilig die Schuhe anzog.

Madison häkelte weiter, ohne noch etwas zu sagen.

»Falls ihr mich sucht, ich bin im Krankenhaus«, fügte Avery noch hinzu, bevor er nach draußen ging und das röchelnde Etwas, was von Christine noch übrig war, auf den Rücksitz seines Wagens warf.

Einander erkennen. Einander verbrennen - Jitterbug 2

Natürlich fuhr Avery nicht ins Krankenhaus. Madison wusste es. Sein Papa würde es wissen und die vier Vollidioten, die Madison als Wachposten vor ihr Haus gestellt hatte wie Pappfiguren, wussten es auch. Jeder war sich dieser Tatsache bewusst, mit Ausnahme von Christine selbst, die keuchend und hustend auf den Rücksitzen lag. Sie hatte sich alles Mögliche gebrochen und litt höchstwahrscheinlich an inneren Blutungen. Hatte einer der Knochen vielleicht ihre Leber durchbohrt? Oder die Milz? Oder eines der anderen Organe, die da irgendwo in der Bauchregion saßen?

Avery sah in den Rückspiegel und erfreute sich an dem Anblick der ekelhaft verdrehten Beine. An Christines linkem Fuß sah er ganz deutlich den hellen, rotgetränkten Knochen, der so unglücklich aus dem Fleisch hervorstach, dass man sogar als Laie feststellen konnte, dass diese Frau in den nächsten Monaten keinen einzigen Schritt tun würde. Aber diese Chance wollte Avery ihr ohnehin nicht gewähren.

Er drehte die Musik auf und fuhr knapp eine Meile, bis er die ersten Häuser erreichte. Dann bog er ein paar Mal ab, fuhr einen Berg hinunter und später an einer anderen Stelle wieder hinauf. Er bretterte über einen Feldweg, der in tiefes Waldgebiet führte, und hielt an dessen Ende an. Sobald die Radiomusik erstarb, ging das Geröchel wieder los. Avery verdrehte die Augen. Das war ja vielleicht nervig!

Er sieg aus dem Wagen, öffnete die Hintertür und zerrte das gekrümmte Bündel Mensch heraus. Die Hure war schwerer als erwartet. Erst versuchte er, sich Christine über die Schulter zu werfen, stellte dann aber fest, dass er dafür zu schwach und zu dünn war. Beinah hätte er sich selbst unter ihr begraben. Also entschied er sich für Plan B, packte sie an den Handgelenken und schleifte sie über den laubbedeckten Waldboden.

Nach etwa fünfzig Schritten war er so aus der Puste, dass ihm der Schweiß in die Augen perlte. Er musste sich eine Weile ausruhen, bevor er sie weiter zerren konnte.

Schließlich erreichte er die kleine Holzhütte, die sich im Wald versteckte und die niemand kannte, der nicht durch Zufall daran vorbeigelaufen war oder Averys Familie angehörte.

Sein Vater hatte sie vor Jahren selbst gebaut, als Ruhepunkt in seinem Leben. Manchmal kam er hierher und setzte sich auf die Veranda. Er saß dann einfach nur da, den Hut tief ins Gesicht gezogen und ließ sich von dem Wind und der Stille und dem Vogelgezwitscher in den Schlaf wiegen. In diesem Teil Albornes war niemand, die Gegend wie ausgestorben. Deswegen kam sein Vater so gerne her. Früher aus anderen Gründen als heute. Früher kam er, um seinen Söhnen zu zeigen, dass das Leben auch ohne die geliebte Mutter weiter geht. Heute, um Abstand zu bekommen von Madison, Hy, Avery, den Mitarbeitern, die ständig ums Haus herumliefen und Wache hielten, der Arbeit und seinem eigenen Zorn.

Als Kind war Avery oft hier gewesen. Sein Vater hatte ihn, Hy und Cousin Robert immer mitgenommen, war mit ihnen Angeln gegangen oder Jagen oder hatte sie einfach nur spielen lassen. Ein Stückweit tat es Avery leid, dass er diesen schönen Ort, an dem so viele verblasste Erinnerungen hingen, entweihen würde. Entweihen mit Christine. Mit der Frau, die er nur am Leben gelassen hatte, um sie töten zu können.

Avery schleppte das leise wimmernde Bündel in die Hütte, hievte es in einen Stuhl – in den Stuhl – und fesselte es mit Klebeband aus der Küche. Als er fertig war betrachtete er sein Werk und fand sich und seine Leistung erstaunlich gut.

»Weißt du wo wir sind, Christine?« Averys Frage war unnötig. Natürlich wusste Christine es nicht und selbst wenn sie es wusste, so bekäme er nur ein nichtssagendes Röcheln als Artwort. »Das hier ist die Hütte, von der dir mein Cousin Robert nie erzählt hat. Sie ist hübsch, eh? Als Kinder waren wir total begeistert davon, ganz besonders Cousin Robert. Er hat immer auf diesem Stuhl gesessen, auf dem du heute sitzt. Das war sein Platz.«

Er sah sich in der Ein-Raum-Hütte um. Küche, Wohn- und Esszimmer in eins, nur die Toilette befand sich wie gewohnt draußen.

»Wenn wir übers Wochenende hier waren, dann haben wir alle auf dem Boden geschlafen, genau hier.« Er deutete – erneut unnötiger Weise – auf den Bereich zwischen dem breiten Sofa und dem Esstisch, vor den er Christine gesetzt hatte. Wie schön es damals noch war. So ungezwungen und leicht. Averys Mutter hatte diese Hütte und die Freiheit, die sie bot, nicht mehr miterleben können, aber er war sich sicher, dass sie es hier gemocht hätte.

Avery war in Plauderlaune. Er hatte das unbändige Bedürfnis von seiner Kindheit zu erzählen. »Weißt du eigentlich«, berichtete er, während er durch die Hütte schlenderte, »dass Roberts Eltern sehr früh starben? Deswegen hat er lange Zeit bei uns gelebt. Meine Mama hat ihn geliebt, den kleinen Robert, aber nachdem auch sie starb, da kam Madison. Und Madison hasste Robert.« Avery dachte zurück. »Manchmal hat Madison ihn in die Kühltruhe gesperrt. Manchmal hat sie abends die Haustür verschlossen, obwohl sie wusste, dass er noch da draußen war.«

Christines Augen waren zugefallen. Langweilte Avery sie etwa? Letztendlich war ihm egal, ob sie zuhörte oder nicht, er wollte einfach nur reden.

»Jedes Mal, wenn ich Cousin Robert durchs Fenster reinlassen wollte, stand Madison hinter mir und hat es verboten. Ich weiß noch, wie er bei Gewitter und Starkregen draußen war. Er hat sich vor Angst eingeschissen. Von Oben bis Unten! Er hat sich an die Haustür geklammert und geheult. Das war die Zeit in der Papa zu viel gesoffen hat. Er hat die Schreie von Cousin Robert nie mitbekommen.«

Christine bewegte sich auf dem Stuhl. Sie rutschte etwas nach vorn, soweit es das Klebeband zuließ und sah Avery mit ihren Krateraugen an. »Da… Davon hat er mir… nie erzählt.«, flüsterte sie keuchend. Avery hatte weder damit gerechnet, dass sie zuhören, noch damit, dass etwas dazu sagen würde. Das hatte ihn rausgebracht und jetzt wusste er nicht mehr recht, was er erzählen wollte. Irritiert blieb er bei dem Sofa stehen. War das Absicht gewesen? Hatte sie tatsächlich vorgehabt, ihn zu verwirren?

Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf.

»E… Erzähl weiter…«

Ihm fiel auf, dass das eingebrannte Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden war. Und das gefiel ihm nicht. Es lag an Christine. An dieser dämlichen Hure, die ihn unterbrochen hatte, dreist und feige. An dieser Tussi mit den Mondkrateraugen und der schiefen Nase. Erst jetzt bemerkte Avery, wie sehr er Christine verabscheute.

Plötzlich vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Er holte es hervor und sah auf den Display. Die schwarzen Zahlen hoben sich deutlich von dem hellerleuchteten Hintergrund ab und zeigten die Kombination »2249«. Da Avery nicht lesen konnte, hatte er seine Handykontakte mit Nummern versehen, sodass jede Person nicht mehr als eine Zahlenkombination darstellte. Mit Zahlen konnte er schon immer gut umgehen, weshalb es Avery leicht fiel, jedem Kontakt eine Nummer zuzuschreiben und diese anschließend zu behalten. »2249« war Hy.

»Eh?«, meldete er sich betont genervt, nachdem er den grünen Hörer gedrückt hatte.

»Wo steckst du, Ave?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Du hast die Elvens getötet!«

»Und wenn schon.«

Die Stimme am anderen Ende klang mechanisch und rostig. Aber die Aufgebrachtheit, die Hy in seine Worte legte, war dennoch deutlich zu hören: »Ich war in deinem Zimmer, Ave. Da liegen zwei Tote, verdammt! Chris hast du den Kopf weggeschossen! Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht? Hast du überhaupt gedacht?«

Avery zuckte die Schultern, als ob sein Bruder das hätte sehen können. »Reg‘ dich nicht auf, Brüderchen. Es sind nur die Elvens, eh? Das war schon langsa…«

»Du hast Christine aus dem Fenster geschubst!«, unterbrach ihn Hy. Sein Tonfall hatte sich innerhalb der letzten Sekunden noch stärker ins Negative gewandelt.

»Sie ist von selber gesprungen!«

»Ja klar! Nachdem du ihr die Knarre an den Kopf gehalten und ihr die Wahl gelassen hast? Ich weiß, wie du arbeitest.«

Avery schwieg. Egal was er darauf geantwortet hätte, es wäre falsch gewesen. Also wartete er darauf, dass sein Bruder weiter sprach.

»Wo ist Christine?«

Avery schwieg.

»Wo ist sie, Ave?«, fauchte Hy mit etwas mehr Nachdruck.

»Ich wollte sie ins Krankenhaus bringen, aber sie ist Unterwegs gestorben. Hab sie vergraben.«, log er.

Avery hörte, wie Hy den Kopf schüttelte und einen Schluck trank. Vermutlich Whiskey.

»Himmel Herrgott, Avery! Ich bete für dich, dass du dir diesen Scheiß gut überlegt hast. Jetzt schwing dich ins Auto und komm gefälligst nach Hause. Wir müssen nach Chestersill und für Papa und Madison ein paar Pillen ausliefern. Also komm her und hol mich ab, klar?«

Avery verdrehte die Augen. Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Dann ging er auf Christine zu und beugte sich über sie. Ihr Blick war müde und ihr Geröchel nicht mehr so laut wie zuvor. Es war eher zu einem Hintergrundgeräusch geworden. Eintönig. Langweilig. Gewöhnlich.

»Hübsch hierbleiben, Christine. Ich komme bald wieder.«

Er kontrollierte, ob das Klebeband fest saß und ging anschließend zur Tür.

»Avery!«, rief Christine hinter Avery her, wobei es eher als ein leises Wispern an sein Ohr drang. »Mit diesem… Hemd… siehst du aus… wie ein… überdimensionaler Fruchtspieß.« Sie rang sich ein glucksendes Lachen ab, das so gar nicht zu ihrem schmerzverzerrten Gesicht passen wollte.

Avery winkte ihre Worte ab und ging.

 

Kaum war er Zuhause vorgefahren, da zerrte ihn Hy vom Fahrersitz und murrte, er solle sich gefälligst auf den Beifahrersitz setzten und den Mund halten.

»Ich fahre!«, protestierte Avery.

»Du hast nicht einmal einen Führerschein, Ave. Und jetzt halt die Klappe!«

Hy ließ den Wagen an und fuhr los. Er war hochgradig angespannt und kurz davor, wütend zu werden. Das erkannte man an der kleinen Ader an seiner Schläfe, die immer dann anschwoll, wenn er sich aufregte.

Avery verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.

Nachdem sie ein paar Meilen schweigend hinter sich gebracht hatten, konnte Hy es nicht mehr ertragen und durchbrach die Stille: »Was hast du eigentlich mit den Elvens? Niemand von uns hat ein Problem mit ihnen, abgesehen von dir. Erst leihst du dir einen Haufen Geld von ihnen, dann verkaufst du ihnen Medikamente, die du anschließend klaust, was definitiv nicht Sinn des Ganzen ist, und jetzt ballerst du wild um dich und bringst gleich drei von ihnen ins Grab! Ich weiß wirklich nicht, was mit dir nicht stimmt, Ave.«

Avery kicherte. Sein Lächeln war zurückgekehrt und es tat gut, es wieder auf seinem Gesicht zu wissen. »Ich verstehe nicht, wie dich das alles so kaltlassen kann, Brüderchen.«

Hy hob fragend die dichten Augenbrauen. »Ist es wegen Cousin Robert? Kannst du die Elvens deswegen nicht leiden?« Der lebensgroße Muskelstrang trat aufs Gas und beschleunigte leicht.

»Und du findest es in Ordnung, eh?«, bemerkte Avery und starrte aus dem Fenster.

Hy nahm den Blick von der Straße und betrachtete seinen kleinen, ausgemergelten Bruder. »Du hast Christine nie gesehen, nachdem Cousin Robert sie verprügelt hat, Ave.«

»Sie hat ihn doch geheiratet!«, knurrte Avery und rieb sich die Stirn. »Scheiße, vielleicht steht die Hure auf Schläge! Aber das rechtfertigt nicht, dass sie Cousin Robert mit Benzin übergießt und anzündet, eh?«

Hy schüttelte den Kopf und bog nach links ab. Der Wagen polterte über eine Bodenwelle.

»Cousin Robert hat viel zu gerne viel zu viel getrunken. Du kennst ihn ja. Aber wenn er abends von der Kneipe nach Hause kam, dann hatte er nichts Besseres zu tun, als seine arme Frau krankenhausreif zu prügeln«, meinte Hy. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sie das irgendwann nicht mehr ausgehalten hat. Ich finde, das ist menschlich.«

»Du erzählst Scheiße!«

Hy antwortete mit dem Mittelfinger.

Avery senkte den Kopf und sah beim Sprechen in den Fußraum. Schlechte Angewohnheit, die er nicht loswurde. »Sie hätte einfach gehen können. Stattdessen fackelt sie ihn ab, als wäre er ‘ne verschissene Kerze. Hast du ihn mal im Krankenhaus besucht?«

Hy verneinte.

»Scheiße, er sieht echt kacke aus. Er hat ein total verkohltes Gesicht, Mann, und das Obwohl er schon zwanzig Operationen – oder so – mitgemacht hat. Der kann wahrscheinlich nie wieder richtig laufen.«

»Er kann froh sein, dass er noch lebt.«

Avery hob verständnislos die Arme. »Cousin Robert gehört zur Familie, eh? Ist dir das egal? Ich verstehe nicht, warum du überhaupt hinter der Hure stehst.«

Hy holte aus und schlug seinem Bruder mit übertriebener Sachlichkeit die Faust ins Gesicht. Dann packte er ihn an den fettigen Haaren und ließ Averys Stirn mit dem Armaturenbrett kollidieren.

Während Avery sich den schmerzenden Schädel hielt und wimmerte, sein Bruder hätte ihm mindestens den Wangenknochen zertrümmert, beschloss Hy: »Wenn du noch einmal so über Christine redest, dann werfe ich dich durch die Frontscheibe und überfahre dich!«

Avery konnte den Mund nicht halten. »Hast du sie gefickt oder warum stehst du plötzlich hinter ihr?«

Hys Hand schloss sich erneut zur Faust. Avery kroch in die letzte Ecke des Autos, schmiegte sich dicht an die Beifahrertür und entging somit Hys nächstem Schlag.

»Scheiße! Flipp mal nicht gleich so aus! Ist doch eine berechtigte Frage, oder Brüderchen? So etwas muss ich doch wissen.«

Hy holte wieder aus und traf auch diesmal nicht. Stattdessen verzog er das Lenkrad und der Wagen polterte über einen Grünstreifen.

Avery fuchtelte wild mit den Händen und deutete vage auf die Straße. »Woaa! Pass doch auf wo du hinfährst.«

Mit einem Schlenker steuerte Hy den Wagen zurück auf die Straße. Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Die Wut-Ader wurde kleiner und verschwand nach dem vierten tiefen Atemzug. Er lehnte sich etwas zurück und entspannte sich. Jetzt konnte auch Avery aus der Ecke hervorkommen und sich vernünftig auf den Sitz setzen.

Sein Gesicht pochte. Er konnte spüren, wie es langsam anschwoll. Aber er war es gewohnt, jede Menge Schläge zu kassieren.

Avery war ohnehin schon immer der Arsch vom Dienst gewesen. Aus der Familie Bradbury war er der einzige, der nicht vollständig in die Geschäfte von Madison und seinem Vater eingeweiht war. Er durfte nicht an wichtigen Gesprächen teilnehmen, sondern musste draußen vor der Tür warten, durfte sich nicht mit neuen Medikamentenlieferungen beschäftigen oder gar die Bestandslisten prüfen. Man hatte ihm nicht einmal einen eigenen Aufgabenbereich zugeteilt, um den er sich hätte kümmern können. Hys Bereich war z.B. die Logistik: Wo wird was wie gelagert und wie kennzeichnet man das ganze am besten, damit man es schnell wiederfindet oder so ähnlich. Was machte Avery hingegen? Er fuhr mit einem Aufpasser, der meistens auch Hy war, zu diversen Kunden und sah dabei zu, wie sein Bruder die Leute zum Kauf der Medis bewegte. Manchmal erlaubte ihm Hy, sich am Überreden zu versuchen oder er durfte ein paar Leute einschüchtern, die auf eigene Faust Medikamente horteten und diese billiger unter dem Ladentisch verkauften. Dieser Teil gefiel Avery besonders und er wünschte sich, dass Madison und sein Vater ihm eines Tages zugestanden, den Bereich selbst zu übernehmen. Aber bis dato musste er sich wohl noch gedulden und sich weiterhin von seinem Bruder herumschubsen lassen.

Hy bog irgendwann nach rechts ab und fuhr eine lange Einfahrt entlang. Avery hatte inzwischen keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden. Und das kleine Haus, vor dem Hy den Wagen parkte, sagte ihm ebenfalls nichts.

Avery wartete geduldig darauf, dass sein Bruder den Anfang machte und ausstieg, doch dieser regte sich nicht. Er blieb einfach sitzen und starrte nachdenklich auf das Haus, das sich weiß und leicht heruntergekommen vor ihnen erhob.

»Soll ich schon mal die Pillen holen?«, fragte Avery und deutete mit dem Daumen zum Kofferraum.

»Nein«, antwortete Hy kurz. »Das mache ich gleich schon selber.«

»Dann gehe ich vielleicht schon mal rein?«

Hy schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich zu Avery und sah ihn ernst und durchdringend an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er befahl: »Gib mir deine Hand, Ave!«

Mit einem Mal wurde Avery mulmig zumute. Misstrauisch beäugte er den lebenden Muskelstrang, der eine Art von Körperkontakt von ihm verlangte, die Avery ganz und gar zuwider war. Händchenhalten? Was zur Hölle?

Da war etwas in Hys Blick, in diesen kleinen dunkelbraunen Augen, das Avery nicht genau identifizieren konnte. Etwas, das der Grund für sein Unbehagen war.

»Ich fordere dich kein zweites Mal dazu auf, Ave.«

Widerwillig und sehr langsam wanderte Averys linke Hand von seinem Körper weg und Richtung Hy. Und gerade, als er es sich anders überlegt hatte und die Hand zurückziehen wollte, ergriff Hy sein dünnes Handgelenk.

»Scheiße! Was soll denn das?«, fluchte Avery, der vergeblich versuchte, seinen Arm zurückzuerobern.

Der Hüne kramte mit der freien Hand in seiner Jackentasche und holte ein silberglänzendes Handschellenpaar hervor. Das eine Ende umklammerte Averys linkes Handgelenk, das andere das Lenkrad. Entgeistert starrte Avery auf die Handschellen, die ihn unweigerlich an das Auto fesselten.

»Wenn ich hier warten soll, dann mache ich das freiwillig, Mann! Du brauchst mich doch nicht hier mit diesen Dingern festhalten!« Dergleichen hatte er noch nie mitmachen müssen. »Scheiße, jetzt mach mich wieder los! Ich bin doch kein scheiß Köter den du einfach anbinden kannst, wenn du einkaufen gehst.«

Hy erwiderte nichts. Er ließ den Kleinen quatschen, überhörte gekonnt jeden seiner Sätze, die vorzugsweise alle mit »Scheiße!« begannen, und stieg aus. Avery sah, wie er sein Handy aus der Tasche holte und eine Nummer wählte. Aus dem Auto bekam er nicht viel mit, doch das Telefonat gestaltete sich äußerst kurz. Und kaum hatte Hy aufgelegt, ging er unbeirrt die Einfahrt in die Richtung entlang, aus der sie gekommen waren.

»Scheiße, Mann, komm zurück!«, schrie Avery und drückte mit der freien Rechten auf die Hupe. Als er merkte, dass das nicht den gewünschten Effekt erzielte, kurbelte er das Fenster runter und brüllte so laut er konnte hinter Hy her.

Plötzlich sah er etwas aus dem Augenwinkel. Eine Regung an dem Haus. Er hörte auf, seinem Bruder hinterherzurufen und wandte stattdessen den Kopf nach vorn. Die Haustür war aufgegangen und auf der Veranda fanden sich nun einige Gestalten ein.

»Gottverdammte Scheiße!«, entfuhr es Avery, der jetzt erkannte, in was für einem Schlamassel er gelandet war. Panisch rüttelte er an den Handschellen, versuchte sich irgendwie zu befreien, doch das einzige, was er erreichte war, dass er sich das Handgelenk wundschürfte. Er schlug auf das Lenkrad und die Hupe ein und bog seine Hand zusammen, dass es schmerzte. Er musste da rauskommen, irgendwie diese verdammten Schellen loswerden, die sich jedes Mal tief durch seine Haut bohrten, wenn er sich losreißen wollte.

Draußen sah er sechs Personen stehen, die nun mit bedächtigen Schritten auf ihn zukamen. Jemand löste sich von ihnen und ging etwas schneller als die anderen, sodass er wenige Sekunden eher die Beifahrerseite des Autos erreichte. Er sah Avery durchs offene Fenster mürrisch an. Sein pickliges Gesicht war von Falten durchzogen und die Hasenscharte war nur eine seiner vielen Entstellungen.

»Avery Bradbury«, flüsterte der alte Knacker, der so unglaublich viel Ähnlichkeit mit seiner Tochter Christine hatte, dass es schon beinah gruselig war. Er legte seine Hände auf das halb heruntergekurbelte Fenster und beugte sich zu Avery hinab. Papa Hasenscharte-Elven betrachtete Avery einen Moment aufmerksam. Dann zückte er wortlos sein Handy und tippte ein wenig auf dem Touch-Display herum, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er drehte den Bildschirm zu Avery. Mit zusammengekniffenen Augen, weil die Sonne blendete, begutachtete er das Foto, das ihm Hasenscharte-Elven zeigte. Durch die Lichtreflexion konnte er es nicht direkt erkennen, doch nach genauerem Hinsehen, erkannte er sein Zimmer. Das Foto zeigte die blutige Szene, die Avery erst vor ein paar Stunden – wenn überhaupt – angerichtet hatte.

Averys Hände begannen zu zittern. Seine Kehle wurde trocken und seine Beine schlaff. Er hatte das Gefühl, alles in ihm würde zu Staub zerfallen.

Papa Hasenscharte-Elven steckte das Handy weg und beugte sich noch tiefer zu Avery.

»Du hast meine Kinder getötet«, stellte er nüchtern fest, als wäre das eine lächerliche Kleinigkeit. »Jetzt bist du am Arsch!«

Avery wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Also sagte er nichts darauf, sondern schrie wie am Spieß nach seinem Bruder, der ihn nicht nur im Stich gelassen, sondern regelrecht ausgeliefert hatte. Ausgeliefert an die vermaledeiten restlichen Elvens, die wie wilde Hunde in einer Schar auf ihn zukamen, um ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.

In seiner Angst kurbelte Avery das Fenster hoch, bedachte dabei aber nicht, dass der Wagen an sich nicht abgeschlossen war. Sogleich öffneten sich Fahrer- und Beifahrertür und jemand – vermutlich ein Cousin oder ein Onkel – pflanzte sich neben Avery auf den Fahrersitz. Der Kerl grinste breit und entblößte seine gelben Zähne, als er den Schlüssel, den er zwischen seinen Fingern tanzen ließ, in das Handschellenschloss steckte und das eine Ende vom Lenkrad löste.

Jetzt, wo er wieder halbwegs frei war, startete Avery einen weiteren Fluchtversuch, wurde aber von Hasenscharte-Elven am Genick gepackt und in seine Schranken gewiesen.

Jetzt ist es vorbei, dachte Avery, dessen Halswirbel knirschten. Die Elvens würden ihn fertig machen. Sie würden mit ihm das gleiche machen, was er mit Christine vorhatte. Sie würden ihn Stück für Stück auseinandernehmen, wenn er nicht…

Die Elvens scharten sich um ihn und betrachteten ihre Beute mit gierigem Wahn. Wohin Avery auch sah, er erblickte nichts als die grausamen Fratzen der Elvens, eine entstellter als die andere. Und nachdem sie ihn eingehend gemustert hatten, warfen sie sich auf ihn, wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe, bereit, ihn in Fetzen zu reißen.

Er erhielt einen kräftigen Schlag in die Magengegend und ging zu Boden. Und jetzt, wo die wütende Meute erst einmal Blut geleckt hatte, traten sie ungebremst auf ihn ein. Aus allen Richtungen schnellten Schuh- und Stiefelspitzen hervor und zielten vor allem auf seinen Kopf. Ein ohrenbetäubendes Knacken signalisierte, dass Averys Nase brach. Heißes Blut strömte über sein ebenso heißes Gesicht. Es schoss wie ein Sturzbach aus seiner Nase. Schützend hielt er die Hände davor, erntete dadurch aber nur mehr Tritte ins Gesicht. Erneut ertönte ein krachendes Geräusch, als ihn ein Stiefel in die Rippen traf.

Avery spuckte Unmengen von Blut. Auf dem Erdboden befand sich inzwischen so viel von dem roten Lebenselixier, dass man glauben musste, die Elvens hätten dort jemanden abgeschlachtet. Und schlachten würden sie ihn, das stand fest! Wenn er nicht…

»Sie lebt!«, schrie er Blut spuckend und mit aller Kraft. Die Tritte stoppten so schnell, wie sie begonnen hatten. Avery holte noch einmal tief Luft und spie den Elvens seine Lebensversicherung entgegen: »Christine lebt noch!«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (123)
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11...12]
/ 12

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Veboshi
2014-07-20T09:18:12+00:00 20.07.2014 11:18
Du mit deinen schrägen Geschichten... :,D Ich hab ja auch M.A.D bisschen mitverfolgt, bin aber irgendwann nicht mehr durchgestiegen und das mit dem Maden wurde mir dann auch all zu eklig xD

Will heißen, ich lese sowas normalerweise nicht, aber du schreibst echt fesselnd!
Der Anfang schockiert sofort, vor allem da du im ersten Teil sehr oft das Wort "Scheisse" verwendest. xDD

Das mit dem "toten" Bruder fand ich allerdings irgendwie komisch... Es war zwar seine persönliche, sarkastische Interpretation eines stumpfsinnigen Taugenichts, aber irgendwie erschien es mir etwas zu harmlos. Gut, vielleicht hegte er gegen ihn auch nicht wirklich einen Groll sondern fand ihn einfach überflüssig wozu diese Beschreibung dann wieder ganz gut passt. x)

Ich hab auch noch ein paar Fehlerchen entdeckt:

[...], hatte sich ein Machtmonopol verschafft, das ihr so schnell niemand streitig machte.
-> erschaffen

Sein Zimmer war überschaubar – sowohl in der Größe als auch in Punkto Einrichtung.
-> in puncto

Er hatte den Ausdruck puren Verzweifelns aufgesetzt, nur um gleich darauf in schallendes Gelächter zu verfallen.
-> purer Verzweiflung
Von: abgemeldet
2014-06-29T09:03:02+00:00 29.06.2014 11:03
Huhu. :)
So, jetzt habe ich das hier endlich gelesen. Ich würde dieser Geschichte allerdings einen eigenen Umschlag gönnen, und nicht zu all den älteren Geschichten stecken. ;)

Also man ist deutlich angeekelt und geschockt, was du aber auch erzielen wolltest, oder?
Besonders die Ironie, dass er am Ende selbst die Menschen verletzt, obwohl er Madison als so grausam darstellt, ist ein großer Pluspunkt für die Geschichte. Ich mag es, wie du das Leben dieses Mannes beschreibst, und dein Schreibstil gefällt mir gut. :) Genau richtig für den Rahmen.
Nur bei der Sache mit den Schüssen, ich habe das oft, dass mir das zu schnell geht, wenn alle sofort erschossen werden. Ist keine wirklich Kritik, mir ist das nur so aufgefallen, weil das oft so ist. :)

Avery hockte auf dem Scheißhaus und ließ gerade »den Braunen raus«, in seiner Hand ein Buch, dass er allerdings nicht lesen konnte, weil er nie lesen gelernt hatte.
-> Buch, das

Hier und da stach ihm ein Wort ins Auge, dass er irgendwann einmal gesehen hatte.
-> Auge, das

Der Hüne von Bruder hatte die Oberarme eines Bären.
-> Hühne

Während Avery durch den Garten ging wurde er das Gefühl nicht los, er habe sich in die Hose geschissen.
-> ging, wurde

Die Haustür schob sich mit einem knatschen auf und vor Avery breitete sich das Wohnzimmer aus.
-> Knatschen

Ihre langen locken schimmerten silbern in der frühen Sonne, die durch das Wohnzimmerfenster brach.
-> Locken

In ihren mandelförmigen Augen hing eine Wärme, die so nah schien, das Avery sie zu spüren glaubte.
-> schien, dass

Madison war gut in dem was sie tat.
-> in dem, was

Darüber hatte jemand mit schwarzem Filzstift die Worte »Hier geht’s steil« geschrieben, die Avery zwar nicht lesen konnte, aber von denen er oft genug gehört hatte, das sie da waren.
-> hatte, dass

Sein Zimmer war überschaubar – sowohl in der Größe als auch im Punkto Einrichtung.
-> in Punkto

Anstatt auf seine Provokation einzugehen und auszuflippen blieb sie ruhig, wenngleich sie die Wut in ihren Augen nicht verbergen konnte.
-> auszuflippen, blieb

Christine war die älteste und schlimmste des Dreiergestirns:
-> Älteste
-> Dreigestirns

Die Schminke hatte sie dermaßen dick aufgetragen, dass Avery sich fragen musste, ob darunter noch Haut zu finden war oder ob sie ihr bloßes Skelett mir Make-up bedeckt hatte.
-> mit Make-up

Schwaz und kalt und irgendwie leer.
-> Schwarz

»Ich denke du schuldest uns noch Geld.«
-> denke, du

»Ich glaube da irrt ihr euch.
-> glaube, da

Dass das Magazin leer war wusste Christine nicht, weswegen Avery ihr die Pistole an den Kopf drücken und sie damit einschüchtern konnte.
-> war, wusste

Avery setzte ihr den Lauf der Pistole an den Hinterkopf und drückte sie sanft zum Fenster zurück.
-> Sie hat sich doch gar nicht bewegt, sondern nur umgesehen?

»Und die letzte Zahl ist…«, wisperte Avery, »drei«
-> drei.«


Unten saß noch immer Madison, die stumpf weiterhäkelte, als wäre es das normalste der Welt, wenn sechs Schüsse im Zimmer des Stiefsohnes fallen und eine Frau aus dem Fenster stürzt.
-> das Normalste
-> fielen
-> stürtzte

Lg
November
Antwort von:  TommyGunArts
29.06.2014 11:14
xDDD omg wie viele Fehler?!
Überkrass! Und dann auch noch so dämliche dass das Fehler... Ich mache das immer richtig und jetzt?! xDD Entweder muss ich mit Brille schreiben oder generell mal wieder öfter. Dann könnte man ja fast meinen, ich wäre der kleine Avery der nicht schreiben und lesen kann^^
Oh herjeh, danke dass du mir die ganzen Fehler ausgelistet hast, das ist echt super lieb und toll. So kann ichs sehr einfach korrigieren.
Und ja, es ist Absicht, dass man Avery ekelig findet :D Ich wollte so gerne mal einen Charakter erschaffen, den man einfach nur widerlich und komisch findet.
Danke also für deinen lieben und sehr ausführlichen Kommentar ;) Da muss ich wohl nochmal ran und überarbeiten!
<3
Antwort von: abgemeldet
29.06.2014 11:17
Ach quatsch, ich finde nur meist (fast) alle Fehler, weil ich dafür nen Blick habe, will nicht grundlos Lektrin werden. ;)
Deswegen gerne doch. ^^
Ist mal was anderes. :D
Antwort von:  TommyGunArts
29.06.2014 18:23
Total gut! Vielleicht sollte ich dich öfter zu Rate ziehen xD
Du hast wirklich einen guten Blick für sowas!
Von: abgemeldet
2014-06-14T17:30:52+00:00 14.06.2014 19:30
Hallo, ich bin zur Zeit zwar krank, aber bei deinem lieben Kommi musste ich einfach schon mal schauen, was mich erwarten könnte, wenn ich bei dir lese. ^^
Und ich finde, du wählst klare Worte, und man kann das Ganze flüssig lesen.
Deswegen werde ich mich, sobald ich wieder mehr machen kann, auch dem, womit du geworben hast, "Einander betrachten. Einander verachten", zuwenden. Es ist allerdings etwas verwirrend, dass du das alles so aneinander hängst. Hat das einen Grund? :)

Brennen soll ein jeden Zuhause.
-> eines

weil man keine Entscheidungen mehr fällt.
-> Entscheidung im Singular klänge besser

Lg
November
Antwort von:  TommyGunArts
14.06.2014 19:37
Danke für deinen lieben kommentar obwohl du krank bist :) ich habs mir grad selbst nochmal durchgelesen und omg ist das kacke xD danke, ich muss es auf jeden fall nochmal überarbeiten.
Ich wünsche dir eine gute Besserung :)
Von: abgemeldet
2014-01-10T14:14:45+00:00 10.01.2014 15:14
~ Kommentarfieber ~

Guten Tag,
es ist schon lange her, dass ich hier etwas gelesen habe. Aber der Name Jason Scraps kommt mir sofort wieder bekannt vor. ^^ Roboter mag ich ja eigentlich, also bin ich sofort neugierig geworden, was es Neues gibt.

Es liest sich sehr amüsant, wenn ein fleischiger Trottel und ein Roboter sich zanken. Dem Detektiv ist ja beinahe so langweilig wie Sherlock. ;)
Für Scraps vorhaben würde er auch in diesem Zustand genügen. -> Vorhaben (groß geschrieben)

Ha! Das ist mal ein überraschendes Ende. Wann geht es weiter?

Also an diesem Text finde ich nichts weiter zu bemängeln. Technisch und stilistisch ist hier alles im grünen Bereich. Zudem geriet ich beinahe sofort in den Lesefluss und fühlte mich wunderbar unterhalten. Scraps ist sympathisch, auf seine Weise, was ihn interessant macht. Mal abgesehen davon, dass er ein Roboter ist. Und soviele Emotionen hat, wie sonst kaum ein Charakter.
Das kleine Duell mit dem Dicken fand ich lustig. Vor allem, weil er sich damit selbst in die Pfanne gehauen hat.

Was bleibt mir zu sagen? Hier komme ich gerne mal wieder vorbei, um etwas zu lesen.

Liebe Schreibziehergrüße,
abgemeldet
Von:  sunshishi
2014-01-04T17:06:45+00:00 04.01.2014 18:06
Ui, zum Ende hin wird es ja richtig spannend^^
Jetzt würde mich ja echt mal interessieren, wie das passiert ist, ohne dass Scrap etwas davon weiß.
Egal, ich hoffe, das kommt irgendwann noch^^
Die drei ausgewählten Sätze: Hast sie gut umgeschrieben - war sicher nicht einfach.

LG
SuShi
Antwort von:  TommyGunArts
05.01.2014 18:35
:D Ja, wird wohl eine Fortsetzung geben müssen^^
Und ehrlich gesagt fand ich die Monatsaufgabe alles andere als einfach. Ziemlich schwer sogar. Aber gerade deswegen wollte ich mich dran versuchen^^
Danke für deinen Kommentar :)
Von:  DemonhounD
2013-07-05T09:50:12+00:00 05.07.2013 11:50
Whooo. Da ich derzeit viel Fallout spiele musste ich mir direkt diese distopische Welt vorstellen und es gefällt mir insgesamt alles an diesem Text. - Die komplette Zerstörung der Menschheit... warum nich? Spielt ein Radio, wenn man es nicht hört überhaupt? Wer weiß.
Ein kurzer aber sehr schöner Text. Was mich interessieren würde ist, ob der Liedtext den du zitierst von einem existenten Song ist, oder ob du ihn dir ausgedacht hast. Ersteres würde mir sogar noch besser gefallen, aber Zweiteres würde dem Text selbstverständlich keinen Abbruch tun.
Schreibfehler hab ich dieses Mal nicht aktiv gesucht und auch passiv nicht gefunden.
Ich bin begeistert! ^^
Antwort von:  TommyGunArts
06.07.2013 12:41
xD Um ehrlich zu sein habe ich sogar Fallout als Vorlage gehabt. Ich hatte das auch eine ganze Weile gespielt und auch öfter durchgespielt und da war ich irgenwie noch so drin^^
Und ja, das ist ein existierender Song. Der heißt "Bombshell" und ist von Powerman 5000. Von der Melodie und der Schnelligkeit passt er vielleicht nicht, aber ich finde, dass der Text absolut passend ist ;)
Danke für dein Lob :)
Antwort von:  DemonhounD
06.07.2013 22:32
Whohoooo! Endlich hab ich mal eine Referenz erkannt. Ah! Ich liebe Fallout. Vor allem das (gern auch kritisierte) New Vegas... ich habs noch nie durchgespielt, weil ich immer bei den Nebenmissionen kleben bleibe und mir dann und wann einen neuen Chara mache. ^^
Antwort von:  TommyGunArts
07.07.2013 11:15
New Vegas hab ich leider noch gar nicht gespielt. Aber wenn du sagst, dass es gut ist ;)
:D Immer diese Nebenmissionen. Kenn ich nur zur gut^^
Von: abgemeldet
2013-06-26T18:57:46+00:00 26.06.2013 20:57
hast dir wohl zum Ziel gesetzt mich zum Heulen zu bringen, was?
wenn ja, hast du Erfolg damit.
Antwort von:  TommyGunArts
26.06.2013 20:59
:o Oh mein Gott, bitte nicht.
Das war eigentlich nicht meine Absicht...
Antwort von: abgemeldet
26.06.2013 21:04
doch heul grad Rotz und Wasser.
Es ist zwar nicht viel, aber es geht mir trotzdem recht nahe. Ich denke... da finden sich einige Menschen wieder, die bereits einen ihrer Lieben verloren haben.
Wobei mich gerade im Augenblick etwas anderes daran bewegt hatte.
Eher dieses Gefühl. Dass es weder die Welt, noch sonst jemanden es schert, wie es einem geht, das einfach alles seinen normalen Gang weiter läuft, auch wenn für einen selbst die Welt unter geht.

Antwort von:  TommyGunArts
26.06.2013 21:15
Ich muss ehrlicher Weise gestehen, dass ich hier versucht habe eine meiner Erinnerungen zu rekonstruieren und zu verschriftlichen.
Und für mich war es damals so, dass ich genau dieses Gefühl hatte; dass es im Endeffekt nicht auf einen einzelnen ankommt. Und es ist ja auch so, dass während für den einen ein Leben beginnt, das eines anderen endet. Und ob es nun jemanden interessiert, letztendlich kommt es doch immer auf das Subjektive an, auf das eigene Erleben und Empfinden...
Antwort von: abgemeldet
26.06.2013 21:18
JA, und gerade darum, geht es einem so nahe.zum einen, weil es einfach so ist, zum anderen, weil deine Emotionen da mitschwingen.
Ich finde es jedenfalls... schön ist nicht das richtige Wort... bewegend.
Antwort von:  TommyGunArts
26.06.2013 21:22
:D Ich finde, dass es immer sehr hilfreich ist, vergangene Momente zu verschriftlichen und sich noch einmal mit allem auseinanderzusetzen. Und dann freut es mich natürlich auch, wenn es ankommt ;)
Danke dir <3
Von: abgemeldet
2013-06-03T08:04:46+00:00 03.06.2013 10:04
WARRR! Night_walker!
was bist du heute wieder deprimierend, und das ausgerechnet heute, wo mich doch grad auf die Hinterbeine gestellt habe, um mein eigenes Leben aus dem finsteren Loch zu holen! Geh und schäm dich ;D

Aber um bei dem Gedankenbild zu bleiben:
Was hätte der Protagonist noch versuchen können, was wäre vielleicht seine Rettung gewesen?
Mir fallen auf Anhieb 3-4 Sachen ein, die ihm/ihr vielleicht hätten helfen können.
Aber es stimmt, nicht für jeden gibt es Rettung. Aber es ist allemal besser zu kämpfen, bis zum Schluss, anstatt sich hinterher, kurz vorm Ende, zu fragen: Hätte ich es vielleicht doch geschafft, als ich noch mehr Kraft hatte, wenn ich es nur versucht hätte?

kleiner Rechtschreibfehler aufgefallen
Vorletzter Satz: Seelengefängnisses

Ansonsten ein sehr schöner Text, der zum Nachdenken anregt. Kurz aber prägnant.
Von:  w-shine
2013-01-07T18:35:10+00:00 07.01.2013 19:35
Hallöchen :)

Ich wollt ja eigentlich deine neue Geschichte lesen, aber die ist momentan wieder weg (mal schauen, wann sie wieder von den Freischaltern entlassen wird^^").
Da dachte ich mir, dass ich doch mal schaue, was der Herr Grey sonst so macht. Heimlich Piliane klauen z.B. ;) Ein bisschen tollpatschig scheint er auch zu sein^^ Muss ja ein richtiger Dominoeffekt gewesen sein, als er da für sich hinstolpert.
Insgesamt hat mir die Story gut gefallen, liest sich angenehm und Fehler sind nicht auch nicht aufgefallen. Piliane scheinen ja interessante Zeitgenossen zu sein, da würd ich ja mal gerne ein Bildchen zu sehen. Das Ende wirkt auf mich allerdings ein bisschen unfertig. Der Pilian sitzt nun in seiner Tasche - und dann? Was passiert, wenn er mit dem Tierchen zu Hause ankommt?
Die Beschreibung der beiden agierenden Personen ist hier quasi nicht vorhanden, ist aber in einer Kurzgeschichte auch nicht nötig - wird ja hoffentlich in der längeren Geschichte dann genauer kommen :)
Dann freu ich mich schon mal darauf, dass dein neues Werk wieder freigeschaltet wird und ich mehr über den Herrn Grey erfahren werde!

LG Shine
Von: abgemeldet
2012-12-08T13:51:48+00:00 08.12.2012 14:51
Eine sehr interessante und dennoch traurige Kurzgeschichte.
Der Gedanke vergessen zu werden, noch bevor man stirbt ist schon schlimm genug.
Ich finde, du hast das Thema recht gut beschrieben.
Die Idee, dass ein Ausflug von diesen Leuten unternommen wird und einer doch noch bei klarem Verstand ist ist sehr interessant.
Und auch, dass der Doktor das auch noch versteht. Doch ist es wiederum traurig, dass dieser nicht weiß, dass einer seiner Patienten noch so klar bei Verstand ist, dass er über dies sogar noch hinaus denken kann.

Deshalb ... interssant aber traurig.
Ich lobe dich also hier, weil du es gut verpackt hast.
Und nun genug herum geschwafelt von mir. =)

MfG abgemeldet
✖✐✖


Zurück