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Die Seele der Zeit

Yu-Gi-Oh! Part 6
von

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Verrat

Stille durchdrang den Thronsaal des Palastes von Men-nefer. Caesian saß auf dem Stuhl, der eigentlich Atemu zu eigen war. Er hatte die Finger ineinander verschränkt, während sein Blick durch den Raum schweifte. Die feinen Meißelungen der Wände, manche Jahrzehnte, einige bereits Jahrhunderte alt, hatte er tilgen lassen. Sie waren Göttern geweiht gewesen, die hier keine Macht mehr besaßen. Caesian hatte lange überlegt, ob er neuen Wandschmuck in Auftrag geben sollte. Doch diese Idee hatte er ebenso rasch verworfen, wie sie ihm gekommen war.

Mit neuen Wandbildern konnte er die Götter verhöhnen. Doch nur kahler, nackter Stein verdeutlichte, was sie wirklich waren. Besiegt, gebrochen, vergangen. Nichts.

Ein Lächeln huschte über seine Züge. Ja. Er hatte geschafft, was niemand zuvor je vermocht hatte. Er hatte sich das uneinnehmbare Königreich der Wüste unterworfen. Ägypten war sein und er konnte damit verfahren, wie immer es ihm beliebte. Er konnte seine Ankunft kaum mehr erwarten.

Caesian wurde als den Gedanken gerissen, als einer seiner Untergebenen in den Thronsaal eilte. Er kniete vor seinem Herrn nieder.

„Was gibt es?“, erkundigte sich der Tyrann gelangweilt. Was war es diesmal? Nicht genügend Steinblöcke? Zu wenige medizinische Mittel? Zu wenig Bier? Dass dieses Gewürm auch nichts ohne sein Zutun erreichte!

„Majestät, da ist jemand, der Euch zu sehen wünscht.“

„Und das wäre?“

„Einer von ihnen. Aus dem Gefolge des Pharao.“

Caesian zog zunächst eine Augenbraue in die Höhe, ehe ein diabolisches Grinsen auf seine Züge kroch. „Ich wusste, die Kleine würde von Nutzen sein. Schickt ihn herein.“

„Sehr wohl, mein Herr.“

Als der Soldat davon eilte, vermochte sein Herr kaum, seine Freude im Zaum zu halten. Seto war also tatsächlich gekommen. Wenn er alleine hier war und sich offen stellte, konnte das nur eines bedeuten: Er wollte verhandeln. Nicht mehr lange und der Pharao würde vor ihm im Staub kriechen, ehe er ihn ein für alle Mal zerschmetterte!

Als sein Untergebener zurückkehrte, war Caesian bereits dabei, sich zu erheben. Doch er verharrte schlagartig auf dem Thron, als er sah, wer dem Soldaten da tatsächlich in den Saal hinein folgte. Das war nicht der Hohepriester. Ganz und gar nicht. Vor ihm stand jemand völlig anderes. Er kannte ihn dennoch, erinnerte sich flüchtig an ihn. Er hatte ihn gesehen, ehe er die Stadt eingenommen hatte. Zweifellos einer von ihnen. Doch was hatte er hier zu suchen?

Caesian verbarg seine Überraschung eilig, erhob sich und wies seine Wachen an, sie alleine zu lassen. Kurz darauf schlossen sich die schweren Holztüren des Thronsaals mit einem krachenden Laut. Dann war es still. Eine drückende, angespannte Stille, während sich die beiden Männer einfach nur ansahen. Der Blick des Einen geprägt von Neugierde, der des Anderen von absoluter Überzeugung, ganz so, als gehöre er genau hier hin, in eine Stadt, die vor Feinden nur so wimmelte.

„Was …“, zerschnitten Caesians Worte schließlich das Schweigen, „… hast du hier zu suchen?“

Ein amüsiertes Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenübers. „Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu unterbreiten. Eines, das du nicht ablehnen solltest, willst du den Pharao und seine Bande jemals in die Knie zwingen.“

Der überraschte Gesichtsausdruck kehrte zurück. Caesian musterte sein Gegenüber von oben bis unten. „Mir schien, du wärst auf ihrer Seite.“

Ein Glucksen war die Antwort. „Viele Menschen glauben, Dinge in mir zu sehen, die nicht sind.“

Der fremde Herrscher schritt die wenigen Stufen, die von Thron herunter führten, hinab. Er war misstrauisch, sehr sogar. Versuchte man etwa, ihm hier eine Falle zu stellen? Er verdrängte den Gedanken schnell. Selbst wenn dem so war, wovor brauchte er sich fürchten? Vor nichts. Rein gar nichts.

„Welchen Grund könntest du wohl haben, dich plötzlich gegen sie zu stellen?“, überlegte Caesian laut.

„Ist das von Bedeutung?“, entgegnete der Andere. „Ich würde sagen, dass es das nicht ist. Lediglich das Ergebnis ist entscheidend.“

„Verstehe mich nicht falsch, mein Guter. Es ist nicht so, als bräuchte ich dich oder einen eventuellen Hinterhalt zu fürchten. Meine Macht ist bereits jetzt unermesslich, das müssen selbst du und deine Freunde inzwischen begriffen haben. Nein, ich bin einfach nur neugierig. Aber nun gut, wenn die den Geheimnisvollen mimen möchtest, soll es so sein. Ob deine Beweggründe von Bedeutung sind, werde ich entscheiden, sobald ich dein Angebot gehört habe.“

„Schon besser“, entschied sein Gegenüber, schritt an Caesian vorbei und ließ sich auf dem Thron nieder. Der Tyrann war von der Selbstverständlichkeit der Geste überrumpelt, auch wenn er es nicht zeigte. Einen Augenblick dachte er daran, diese freche Ausgeburt der Wüste zurecht zu weisen, doch er hielt sich zurück. Sollte er ein paar Augenblicke auf dem Platz verbringen, den er niemals innehaben würde.

„Man sitzt gut hier“, befand der Andere schließlich und schwang die Beine über eine Armlehne. „Sehr gut sogar.“

„Allerdings“, bestätigte Caesian. „Doch nun genug des Geschwätzes. Was für ein Angebot ist es, das du mir unterbreiten möchtest?“

„Da ist jemand ungeduldig, hm?“, neckte sein Gegenüber. „Mir soll es gleich sein, ich habe ebenfalls nicht den ganzen Tag Zeit. Nun, im Grunde könnte man sagen, ich biete dir die Lösung deines, momentan scheinbar einzigen, Problems an. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wo sich der Pharao und seine Bande befinden – das bedeutet, du kannst sie weder vernichten, noch dich der Relikte bemächtigen, die sie in ihrem Besitz haben. Unschön, nicht wahr? Das trübt die ansonsten so fröhliche Wiederaufbaustimmung gewiss, habe ich nicht recht?“

Caesian schnaubte. „Ich werde sie früher oder später finden. Sie können sich nicht ewig verstecken. Schon alleine, weil es das Temperament dieses Packs nicht zulässt, wie sich in den vergangenen Tagen zeigte.“

„Ah, der Überfall auf das Schattentänzer-Loch. Ja, sie hatten diesen Schritt geplant, als ich sie das letzte Mal sah. Deinem Ton nach hat ihr Plan funktioniert und sie haben die Schriften erlangt.“ Er unterbrach kurz, als er Caesians Gesichtsausdruck gewahrte. „Ach, sieh an. Du wusstest bislang noch gar nicht, was genau sie entwendet haben, habe ich recht?“

Caesian biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe er gespielt seufzte. „Nun, ich kann leider nicht von mir behaupten, die fähigsten Männer unter mir zu haben. Sie waren nicht in der Lage, mir einen Hinweis darauf zu geben, was entwendet worden sein könnte. Und da sie versäumt haben, die Bestände dieses Rattenlochs nach meinen Anweisungen zu erfassen, war es auch auf diesem Weg nicht möglich, Genaueres in Erfahrung zu bringen. Ich kann dir versichern, dass ihr Tod kein leichter war.“

„Du meinst derer, die den Angriff überlebt haben? Es waren gewiss nicht viele“, entgegnete sein Gegenüber und grinste. Ehe Caesian ausfallend werden konnte, fuhr er fort: „Um deine Frage zu beantworten – und damit meinen guten Willen für eine Zusammenarbeit zu zeigen – will ich dir verraten, was gestohlen wurde. Sie haben Schriftrollen geholt, die bei der überstürzten Flucht der Schattentänzer zurückgelassen worden waren.“

Der Tyrann zog die Augenbraue in die Höhe. „Wozu?“

Der Andere nahm die Beine von der Armlehne und beugte sich vor. „Nicht irgendwelche Papyrusfetzen, mein Lieber. Aufzeichnungen, die angeblich Hinweise auf die Fundorte der verbleibenden göttlichen Relikte geben.“

Das Leuchten, das sich augenblicklich in den Augen des selbsternannten Herrschers zeigte, ließ ihn erneut grinsen. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du diese Schriftstücke mindestens ebenso gerne hättest, wie die Köpfe des Pharaos und seiner Bande. Von den Artefakten, die sie in ihrem Besitz haben, einmal ganz abgesehen.“ Er ließ sich zurück in den Thron sinken. „Und ich weiß rein zufällig, wie du an all das kommen kannst. Doch ich warne dich vor falschen Gedanken. Als Geisel werde ich dir nichts nützen. Als Gefangener noch weniger. Wie sieht es also aus, Caesian? Nimmst du mein Angebot an?“

Der Herrscher überlegte einen Augenblick. Schließlich zeigte sich wieder das unheilvolle Lächeln auf seinen Lippen. „Allerdings, das werde ich. Doch ehe wir uns ausführlicher über das unterhalten, was du weißt, möchte ich noch zwei Dinge klären.“

„Die da wären?“

„Nun, ich sollte vielleicht wissen, mit wem ich zusammenarbeite. Zudem weiß ich, dass alles auf dieser Welt seinen Preis hat. Was ist der deine?“

Der Andere erhob sich, ein diabolisches Grinsen, das schon beinahe unmenschlich wirkte, auf den Zügen. „Mein Name ist Keiro. Und was ich will, ist, dass du Risha mir überlässt.“
 

Atemus Augen wanderten Mal um Mal über die Zeilen, die in seinem Kopf keinen Sinn ergeben wollten. Schließlich wandte er den Blick ab und sah zu Kipino und Samira hinüber, die beide mit offenen Mündern auf die Schriftrolle starrten.

„Was … ist das hier?“, sprach er seine Frage schließlich aus.

Samira antwortete, ohne ihn anzusehen. „Die Seele der Zeit …“, hauchte sie. Sie wirkte wie gebannt.

Atemu sagte nichts ob der wenige aussägekräftigen Erwiderung, sondern geduldete sich, bis Kipino seine Starre überwunden hatte. Langsam erhob sich der Schattentänzer. Auch seine Stimme war kaum mehr als ein ehrfürchtiges Flüstern.

„Euer Majestät … wenn ihr nach etwas gesucht habt, das uns zum Sieg über Caesian verhelfen kann … ich denke, dann haben wir es nun gefunden.“ Schließlich sah er dem Herrn der beiden Länder in die Augen. „Wir haben gar nicht mehr daran geglaubt, dass sie existiert. Generationen von Menschen haben nach einem wundersamen Ding gesucht, das mit dem Blut der Götter geschrieben ist und die Geschicke der Lebenden kennen soll. Niemand hat es gefunden – bis heute.“

Kipino trat näher an das Schriftstück heran und Atemu tat es ihm gleich. Einen Augenblick schwiegen beide, ließen ihre Blicke über die Zeilen wandern, die mit rotem Lebenssaft auf dem feinen Papyrus niedergeschrieben waren.

„Euer Hoheit“, ergriff der Schattentänzer schließlich wieder das Wort, „dürfte ich fragen, was ihr dort lesen könnt?“

Atemu war einen kurzen Moment verwundert, dann nickte er. „Gewiss. Der Papyrus beschreibt die jüngsten Ereignisse. Den Krieg. Den Fall Men-nefers. Er kennt gar den Traum, der mich hier her geführt hat, in allen Einzelheiten. Er erzählt alles, was geschehen ist, bis zum jetzigen Zeitpunkt. Ab da ist er ebenso kryptisch und unverständlich verfasst, wie all die anderen Schriften hier.“

„Er kennt euren Traum in allen Einzelheiten, sagt Ihr?“

„Ja. Verzeih die Frage, doch ich habe geglaubt, du wärst des Lesens mächtig. Ist dem nicht so?“

„Sehr wohl. Doch alles was ich lese, ist, dass Ihr träumtet. Es steht nichts Ausführliches über die Begebenheiten in eurem Traum darin.“

„Aber natürlich! Sieh …“

Atemu brach abrupt ab. Er begriff binnen eines Wimpernschlags, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. „Die Seele der Zeit … Sie weiß über das Schicksal der Menschen Bescheid – eines jeden Einzelnen. Jeder, der sie betrachtet, sieht seine eigene Geschichte vor sich. Du wusstest davon, dass ich geträumt habe und obgleich ich euch allen geschildert habe, was ich sah, konntet ihr euch lediglich vorstellen, wie es gewesen sein muss. Ihr habt es nicht selbst gesehen, deshalb …“

„… ist es kein Teil meiner Geschichte“, vervollständigte Kipino den Satz und nickte.

„Der kryptische Teil wiederum“, fuhr Atemu fort, „kann, sowohl hier, als auch bei allen anderen Schriften in diesem Gewölbe, nur eines sein: Das, was wir noch nicht wissen. Das, was noch kommen wird. Das, was noch nicht in Stein gemeißelt ist.“

„Die Zukunft“, murmelte Samira. „Aber wie soll uns dieser Papyrus dann weiterhelfen? Die Vergangenheit kennen wir alle nur zu gut. Das, was uns noch bevorsteht, ist, was uns Sorgen bereitet. Aber bei all dem wirren Gefasel finden wir niemals heraus, was uns erwartet und was zu tun ist, um das Unheil abzuwenden. Es ist vollkommen nutzlos“, setzte sie niedergeschlagen hinterher.

„Falsch“, sagte Atemu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Diese Entdeckung wird uns von großem Nutzen sein.“

„Aber wie?“, hakte die Rothaarige nach.

„Es wird nicht einfach sein, sie zu unserem Vorteil nutzen. Aber die Götter geben uns dennoch eine mächtige Waffe an die Hand. Alles, was wir noch tun müssen, ist, sie zu entschlüsseln.“

„Was schwierig werden könnte. Seht selbst!“, mischte sich Kipino ein.

Die anderen beiden folgten dem Fingerzeig des Schattentänzers und betrachteten den unteren Textabschnitt eingehend. Sie versuchten, ihn zu lesen, doch brachen immer wieder ab, da sich die Worte plötzlich veränderten. Mal um Mal wandelte sich der Inhalt.

„Was hat das zu bedeuten?“, sprach Kipino die Frage, die ihm auf der Seele brannte, laut aus.

Er war überrascht, als Atemu nur verstehend nickte. „Ich glaube, ich weiß es. Der Teil des Weges eines Menschen, der noch vor ihm liegt, ist verworren. Es gibt so viele Möglichkeiten, was uns widerfahren könnte, allesamt abhängig von unseren und den Entscheidungen anderer. Unserer Freunde, aber auch unserer Feinde. So vieles bestimmt und beeinflusst unser Leben, ohne dass wir es selbst wahrnehmen. Diese Schrift kann uns keine Antworten auf all die Fragen geben, die wir haben. Wir müssen weise wählen.“

Er trat vor und legte eine Hand auf den Papyrus. Dann schloss er die Augen. Er fokussierte seine Gedanken auf eines der Relikte, nach dem sie bislang vergeblich suchten. Bitte, lass es ihn noch nicht gefunden haben, schoss es ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den Gedanken rasch. Gerade war kein Platz für Caesian. Alles, woran er dachte, durfte das Anch des Horus sein.

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis er die Finger von dem Schriftstück löste und auf den Text hinabsah.

Kipino sah ihm neugierig über die Schulter. Er seufzte. „Es scheint als …“

„… habe es funktioniert. Ich weiß nicht, was du siehst, mein Freund. Für mich jedenfalls sind die Worte konstant. Sie wandeln sich für den Augenblick nicht mehr“, unterbrach Atemu ihn.

Samira schob den König Ägyptens ein Stück zur Seite, um selbst einen Blick auf den Papyrus zu werfen. „Also wenn Kipino das Gleiche sieht wie ich, dann ist der Text absolut unverständlich. Was kannst du denn sehen?“

„Hier steht …“
 

Vom Firmament gestoßen,

auf Erden verborgen

der Königsglanz.
 

Erstickt vom Leben,

verschluckt von Blut,

vergessen im Licht.
 

Teil der Vergangenheit,

Stück der Gegenwart,

Symbol der Zukunft.
 

Zunächst herrschte Schweigen. Dann raufte sich Samira die Haare. „Und wie soll uns das weiterhelfen? Woran hast du überhaupt gedacht?“

„An das Anch des Horus. Seinen Fundort“, erklärte Atemu.

„In jedem Fall ergibt das, was du eben sagtest, schon einen größeren Zusammenhang, als das, was ich eben noch gelesen habe. Man merkt immerhin, dass der Text auf etwas hinaus möchte“, befand Kipino.

„Und worauf, du Schlaumeier?“

Atemu seufzte. Er würde ein ernstes Wörtchen mit Joey und Tristan reden müssen, sobald sie wieder in der Himmelspforte waren. Früher oder später würden sich die Schattentänzer daran stören, wenn ihr Nesthäkchen derlei Ausdrücke benutzte. „Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass die ersten drei Zeilen das Anch des Horus beschreiben. ‚Vom Firmament gestoßen‘ und ‚auf Erden verborgen‘ meint die Handlung der Götter, bei der sie ihre Gefühle in Relikte sperrten und sie in Ägypten versteckten. Der Königsglanz ist ein Synonym für das Anch selbst.“

„Das würde ich auch so sehen“, stimmte Kipino zu. „Sehen wir uns die nächsten Zeilen an. ‚Erstickt vom Leben, verschluckt von Blut, vergessen im Licht‘ … was könnte damit bloß gemeint sein?“

„Hm … wie wäre es mit einem Friedhof?“, meinte Samira. „Ein Friedhof ist Zeichen dafür, dass das Leben vorbei ist. Er hat mit dem Sterben zu tun, wozu Blut und Licht passen würden.“

„Aber nichts in diesem Kontext“, widersprach Atemu. „Der Tod erstickt uns, nicht das Leben.“

„Zumal alles in unserer Kultur danach strebt, eben genau das abzuwenden, was die dritte Zeile dieses Absatzes beschreibt. Wir tun alles, um nicht vergessen zu werden“, führte Kipino den Gedanken weiter aus. „Deine Überlegung würde eher zum letzten Abschnitt passen. Friedhöfe sind ein Teil von Vergangenheit und Heute, sie halten die Toten gegenwärtig. Zugleich symbolisieren sie das ewige Leben, wofür die Zukunft stehen würde. Allerdings erklärt das die voran gegangenen Zeilen noch immer nicht. Unter dem Kontext des Sterbens passen sie einfach nicht zueinander.“

„Dann vielleicht ein Schlachtfeld“, mutmaßte Samira weiter. „Das Leben des Einen erstickt das des Anderen. Blut ist dort viel zu finden, man könnte meinen, es könne einen wortwörtlich verschlucken. Und wir versuchen oft, das Schreckliche, was dort geschehen ist, im Schein des Sieges zu vergessen.“

„Wenn wir einmal davon ausgehen, dass uns die Seele der Zeit eine eindeutige Antwort mitzuteilen versucht, dann stehen wir abermals vor einem Widerspruch. Das Anch kann nicht auf einem Friedhof und einem Schlachtfeld zugleich sein“, sagte Atemu.

„Und wenn das Schlachtfeld nun der Friedhof ist?“, warf die Rothaarige ein.

„Dann stehen wir vor einem Problem. Seitdem die Götter die Relikte versteckt haben, gab es hunderte, vielleicht gar tausende Schlachten im gesamten Land“, erklärte Kipino.

„Eben deswegen glaube ich, dass wir mit der Annahme eines Friedhofs oder Schlachtfeldes falsch liegen. Die Götter haben mir im Traum Hinweise auf den Fundort der Seele der Zeit gegeben. Warum also sollten sie uns etwas an die Hand geben, das uns kaum nützt, wenn sie uns doch offensichtlich helfen möchten? Nein, ich denke, die Antwort wird viel eindeutiger ausfallen müssen, erst dann sind wir auf der richtigen Spur.“

„Ach ja? Und wie soll die aussehen, oh großer Ich-Weiß-Alles-Besser?“, meinte Samira mit schnippischem Ton, während sie die Arme verschränkte.

Doch Atemu ließ sich von ihrer Angespanntheit nicht aus der Ruhe bringen. „Wenn man nicht weiterkommt, hilft es ab und an, in eine vollkommen andere Richtung zu denken. Gehen wir es einmal von der anderen Seite her an. Fokussieren wir uns nicht auf den Tod, sondern auf das Leben. Inwiefern würde Leben in den Kontext passen?“

„Das Leben passt zu den drei Bereichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Uns wird das Leben geschenkt, wir sind am Leben und wir existieren in einem anderen Seinsbereich fort, sobald wir das Totenreich betreten haben“, dachte Kipino laut nach.

„So meine ich das nicht“, widersprach Atemu. „Ich meine viel mehr, was in Ägypten die Macht dazu hat, sich derart in unseren Köpfen einzuprägen, dass es Teil von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden kann. Was ist in der Lage zu ersticken, zu verschlucken und zu vergessen, während es jedoch mit Attributen wie Leben, Blut und Licht assoziiert wird?“

Kurze herrschte Stille. Kipino war der erste der wieder einen Gedanken fassen konnte. „Vielleicht ein König? Horus selbst wurde nach einer alten Legende im Streit gegen Seth zum Herrscher des Diesseits ernannt. Die Götter schenkten Ägypten während ihrer Herrschaft zudem Nahrung, den Lebensatem, den Nil …“

Kipino brach abrupt ab. Sein Blick fand den des Pharao. Beide sahen sich mit einem plötzlich Ausdruck des Verstehens in die Augen.

„Das ist es!“, meinte Atemu.

„Was ist was? Hey, klärt mich mal auf!“, forderte Samira, die verständnislos daneben stand.

„Es passt alles zusammen“, fuhr der König fort, ehe er sich zu dem jüngsten Mitglied der Gruppe umwandte, um es ihr zu erklären. „Es ist der Nil! Er ist, was zu verschlucken, zu vergessen, zu ersticken vermag, während er uns gleichzeitig all das gibt, was wir zum Leben brauchen. Er ist unser Licht, er ist das Blut Ägyptens! Er ist ein bedeutender Teil unserer Vergangenheit und Gegenwart, sowie ein Symbol der Zukunft, da er niemals aufhören wird, die Fortexistenz der Menschen in diesem Land zu ermöglichen.“

Samira schien einen Augenblick zu überlegen. „Aber das passt doch auch wieder nicht! Habt ihr eine Ahnung, wie groß und lang der Nil ist? Bis wir ihn abgesucht haben, hat Caesian schon Urenkel!“

„Ich denke, ich weiß, wo sich das Relikt befindet. Wenn es stimmt, was ich glaube, dann waren wir bereits unmittelbar in seiner Nähe“, meinte Atemu.

„Und wo soll das gewesen sein?“

„Als wir nach dem Reif der Isis gesucht haben, befanden wir uns in den Sümpfen unmittelbar des Nils. Dort, wo die Göttin angeblich einst ihrem Sohn das Leben schenkte. Was würde also, in Verbindung mit dem Nil, naheliegender sein, als das Relikt ihres Kindes dort zu vermuten? An dem Ort, der sie beide zusammenschweißte, an dem sich Isis versteckte, um ihren Sohn ungesehen von Seth zur Welt zu bringen?“

„Aber wäre das nicht vollkommen dämlich? Ich meine, wenn jemand dort gezielt nach einem Relikt sucht, und dann gleich zwei findet, erleichtert man Leuten wie Caesian doch nur ihr widerliches Handwerk!“, widersprach Samira.

Doch Atemu lächelte nur. „Denk einmal anders herum. Wer würde vermuten, dass zwei so mächtige Gegenstände an ein und demselben Ort versteckt sind? Kipino, bitte entsende Firell zurück zur Himmelspforte. Ein paar von den unseren müssen sich augenblicklich auf den Weg machen und nach dem Relikt suchen. An uns wird es vorerst sein, die Seele der Zeit in Sicherheit zu bringen, ehe ich mich ihnen anschließe.“

„Mir gefällt das gar nicht“, fuhr Samira fort, während sie Kipino dabei zusah, wie er Firell beschwor. „Als du damals mit deinen Leuten aufgebrochen bist, seid ihr Caesian direkt in die Arme gelaufen. Was, wenn es diesmal wieder passiert?“

Ihre Augen folgten der Ka-Bestie, als sie durch den langen Gang, den sie gekommen waren, ins Freie flog.

„Ich hoffe es nicht, Samira“, erwiderte Atemu schließlich. „Ich hoffe es nicht.“
 

Caesian beobachtete von der wiedererrichteten Stadtmauer Men-nefers aus, wie sich einige hundert Soldaten auf den Weg in die Wüste machten. Ein böses Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sich zu dem Mann umwandte, der neben ihm stand. „Ich hoffe, was du sagst, entspricht der Wahrheit, mein Lieber. Ich wäre ansonsten überaus erzürnt. Ich denke, das ist dir bewusst?“

„Keine Sorge, es ist wahr. Die Schar von Ratten versteckt sich in diesem Loch, das sie Himmelspforte nennen. Ihr werdet sie mit Sicherheit dort finden. Als ich sie zuletzt sah, haben sie sich noch immer die Köpfe darüber zerbrochen, wo weitere Relikte zu finden sein könnten. Ich denke nicht, dass sie das Lager inzwischen aufgegeben haben“, erklärte Keiro mit einem Grinsen, das noch düsterer war, als Caesians.

„Und der Rest ihrer Truppen befindet sich weit im Süden, sagst du?“

„Sehr wohl.“

„Dann können sie warten. Ich nehme mir Zeit dafür, wenn wichtigere Dinge erledigt sind. Wenn wir den Kopf der Schlange gefunden haben, gilt es zunächst, die verbleibenden Artefakte aufzuspüren, nachdem ich die, die sich bereits in ihrem Besitz befinden, meiner Sammlung hinzugefügt habe.“

„Was immer ihr tut, ist mir gleich“, erwiderte Keiro und sah sein Gegenüber mit ernstem Blick an. „Das Einzige, worauf ich bestehe, ist Risha. Lebendig.“

„Ich habe meinen Soldaten klare Instruktionen gegeben. Du wirst sie bekommen, sorge dich nicht. Auch, wenn mich zugegebenermaßen interessieren würde, weswegen.“

Der Blick des Anderen schweifte wieder über die Wüste. Ein grässliches Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. „Nennen wir es … eine persönliche Angelegenheit, die nach über einem Jahrzehnt endlich aus der Welt geschafft werden möchte.“

Caesians zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich verstehe … Im Übrigen ist mir etwas aufgefallen. Einer aus der Gruppe des Pharao und du, ihr seht euch wahrlich ähnlich. Ihr seid verwandt, nicht? Dennoch sagtest du bislang nichts über ihn. Ist dir gleich, was mit ihm geschieht, wenn meine Männer die Himmelspforte erreichen?“

Keiro schien einen Moment zu überlegen. „Nicht direkt. Aber manchmal muss man eben Opfer bringen, um sein Ziel zu erreichen.“

Damit wandte er sich um und stieg von der Mauer hinab, ließ Caesian alleine zurück, der sich bereits ausmalte, wie es sich anfühlen würde, drei weitere Relikte in Händen zu halten. Dabei fiel sein Blick hinab auf seine Faust. In dieser, im Glanz der Sonne schimmernd, ruhte das Amulett der Bastet, welches er von Keiro erhalten hatte.
 

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Wie angekündigt hier das nächste Kapitel.

Ich möchte mich bei allen Reviewern des letzten Kapitels herzlich bedanken. Ansonsten hoffe ich, dass auch dieser Teil der Geschichte wieder einmal gefallen hat. :)



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Yanara126
2015-04-20T19:05:27+00:00 20.04.2015 21:05
Scheint so, als hätte ich mit meiner Vermutung gar nicht so unrecht gehabt. Ich bin gespannt was mit der Seele der Zeit noch so ist, die muss ja ganz schön wichtig sein wenn die ganze Fanfiktion nach ihr benannt ist. Jnd was die Anderen wohl zu Keiros Verrat sagen werden? Ich bin gespannt! ^^ Sonst gibt es nur mehr zu sagen, dass dein Schreibstil wie immer grandios war.^^
LG Yanara
Antwort von:  Sechmet
20.04.2015 21:13
Nope, du lagst mit deiner Vermutung sogar sehr nahe dran. Was glaubst du, warum ich nichts Ausführlicheres zu deinen Gedanken sagen konnte? Das hätte ja sonst alles vorab verraten. :D
Tja, was werden sie wohl dazu sagen? Dass sie nicht begeistert sein werden, brauche ich nicht extra zu sagen, ich denke, das dürfte klar sein. ^^
Danke, freut mich, dass ich meinen Stil scheinbar auf etwa dem selben Niveau halten kann. :)
Bis zum nächsten Mal!

LG, Sechmet
Von:  Seelendieb
2015-04-20T18:37:27+00:00 20.04.2015 20:37
Sehr schönes Kapi und ich habe einen regelrechten Freudensprung gemacht, als ich gesehen habe, das es on ist.

Jetzt wird es sehr interessant und ich freu mich langsam diebisch auf das Finale...

Einfach weiter so!!!!
Antwort von:  Sechmet
20.04.2015 21:10
Dankeschön! Freut mich, dass mir die Leser trotz längerer Wartezeiten zwischen den Kapiteln nicht davonlaufen. :)
Seelendieb freut sich diebisch auf das Finale? :D Na, dann muss ich mal schauen, dass das nächste Kapitel etwas schneller kommt, als das hier!

LG, Sechmet
Antwort von:  Seelendieb
20.04.2015 21:11
Oh ja büüüüüüüddöööööööööööööööööööööööö!!!! <3 :D


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