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Die Seele der Zeit

Yu-Gi-Oh! Part 6
von

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Erinnerungen

Das Lachen eines Mädchens erfüllte die warme Luft. Das Kind, kaum mehr als vier Sommer alt, lief durch die Straßen Thebens. In den Armen trug es zwei große, pralle Granatäpfel. Für gewöhnlich kam sie nicht in den Genuss solcher Speisen. Doch heute hatte sie Glück gehabt. Ein netter Händler, der dabei war, seinen Stand abzubrechen, hatte ihr das Obst überlassen. Er hätte es am morgigen Tag nicht mehr verkaufen können, hatte er gesagt. Dafür waren sie schon zu hart.

Das Mädchen kümmerte das nicht. Das, was manch andere Menschen als Abfall betrachteten, war nicht selten ihr Abendessen. Und wie sich ihre Mutter erst freuen würde, wenn sie sah, was ihre Tochter da mitbrachte!

Doch dann trübte sich ihre Freude plötzlich. Sie hörte Stimmen vom anderen Ende der Gasse her, die sie soeben entlang ging. Stimmen, die sie kannte – und fürchtete. Nur kurz darauf umrundeten drei Mädchen die Ecke und erblickten sie. Auf dem Gesicht der Ältesten zeigte sich sofort ein gehässiges Grinsen.

„Wen haben wir denn da? Müsstest du nicht längst zuhause sein?“

Das Kind antwortete nicht.

„Und was hast du da eigentlich? Sind das Granatäpfel?“

Instinktiv umklammerte sie das Obst fester.

„Eine wie du kann sich sowas doch nicht leisten. Hast du sie also gestohlen?“

„Nein!“, rief das Mädchen nun aus, ehe es deutlich leiser fortfuhr: „Man hat sie mir geschenkt.“

„Das glaubst du doch selbst nicht. Wer würde jemandem wie dir schon etwas schenken wollen? Sieh dich nur einmal an!“ Die Ältere begann, sie zu umkreisen. „Die alten Fetzen, die du Kleidung nennst. Dann deine verlausten Haare. Und wie du stinkst! Jede Hammelherde ist eine Wohltat dagegen!“

„Das ist nicht wahr … ich stinke nicht …“, widersprach das Kind, jedoch ohne jeden Nachdruck in der Stimme. Sie wusch sich, jeden Tag sogar!

„Wie auch immer – jetzt gib mir die Granatäpfel“, fuhr die Andere nun fort und streckte fordernd eine Hand aus.

„Aber das sind meine … du hast sowas doch ständig zu essen“, versuchte sie, der Älteren zu widersprechen.

„Pah, als ob ich die noch essen würde, nachdem du sie angefasst hast! Nein, ich will lediglich für Ordnung sorgen – damit jeder ausschließlich das bekommt, was ihm auch wirklich zusteht. Entweder, du gibst sie mir auf der Stelle oder ich werde die Stadtwache rufen.“

„Aber ich hab‘ doch gar nichts Unrechtes getan!“

„Meinst du, das kümmert mich? Ich will, dass du sie mir gibst und zwar sofort!“ Sie untermalte die Aufforderung mit den Fingern.

Das Mädchen war den Tränen nahe, als sie vortrat, um ihrem Gegenüber das Obst zu geben. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, sie heute Abend mit ihrer Familie zu teilen. Jetzt war jegliche Freude verflogen. An ihre Stelle trat Traurigkeit – und Wut. Seit langem schon piesackten diese Weiber sie und nie konnte sie sich wehren. Sie hatten immer eine passende Drohung parat, so wie heute. Wenn sie wirklich die Stadtwachen riefen, würde ihr niemand glauben. Ein Ding ohne Geld, wie sie eines war, musste gestohlen haben, eine andere Möglichkeit gab es gar nicht. Sie fühlte sich ohnmächtig, obgleich die Wut in ihr loderte wie ein Feuer. Wie gerne sie dieser eingebildeten …

Schreie, sowohl ihr eigener, als auch die ihrer Peinigerinnen, zerrissen die Luft, als der Sand um das Mädchen herum plötzlich in Flammen aufging. Aus ihnen erhob sich ein Wesen, kaum größer, als das Kind. Die Älteren suchten das Weite, so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Das Mädchen stolperte über seine eigenen Füße, als es zurücktaumelte, und ging zu Boden. Die Granatäpfel rollten davon, doch sie schenkte ihnen gar keine Beachtung mehr. Ihre Augen waren auf die Kreatur gerichtet, die ihr gegenüber stand. Als die Flammen sich zurückzogen, konnte sie sie schließlich deutlicher erkennen. Es war ein weißes Fohlen. Doch die Farbe seines Fells war nicht das Ungewöhnliche am ihm. Mähne und Schweif waren rot. Aus seinen Schultern kamen zwei zierliche Flügel von gleicher Farbe. Am meisten faszinierten das Kind jedoch die Augen des Wesens – sie hatten die Farbe von Bernstein.

Das Tier scharrte unruhig mit den Hufen, während es das Kind betrachtete. Dieses wiederum starrte vollkommen perplex zurück. Sie wusste nicht, wieso, aber auf eine seltsame Art und Weise fürchtete sie die Kreatur nicht. Im Gegenteil … auch, wenn sie sie heute zum ersten Mal sah, fühlte es sich an, als wären sie sich schon früher begegnet. Dennoch rutschte sie rasch ein Stück zurück, als das Wesen Anstalten machte, näher zu kommen. Es erschrak daraufhin und sprang zur Seite.

Die beiden musterten sich eine Weile, dann erst fand das Mädchen seine Stimme wieder.

„Kannst … kannst du mich verstehen?“

Zu ihrer Überraschung nickte das Fohlen. Zugleich zuckte sie zusammen, als eine Stimme erklang – in ihren Gedanken.

Natürlich verstehe ich dich!

„Warum … wie …?“

Ich weiß es nicht …

Wieder folgte Stille, bis das Kind genügend Mut zusammen genommen hatte, um weiterzusprechen. „Was bist du? Und … wo kommst du her?“

Das Wesen scharrte aufgeregt mit einem Vorderhuf. Spürst du es denn nicht?

Das Mädchen schluckte. „Na ja … irgendwie ist mir, als würde ich dich kennen. Aber ich habe dich doch noch nie zuvor gesehen, weder dich noch sonst ein … Tier wie dich. Wie sollte das also sein?“

Weil ich schon immer bei dir war. Aber wir … waren noch nicht weit genug, sodass ich mich dir nicht zeigen konnte. Aber jetzt sind wir es endlich!, freute sich das Fohlen weiter.

„Wovon redest du? Ich … ich fürchte, ich verstehe nicht.“

Die Kreatur schien zu überlegen, ehe sie betrübt den Kopf hängen ließ. Ich weiß auch nicht, wie ich es genau erklären soll. Ich habe dafür keine Worte, es sind lediglich Eindrücke, Gefühle – Gefühle durch die ich weiß, dass ich zu dir gehöre.

Das Mädchen ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Du meinst wir könnten … Freunde sein?“

Oh ja, das trifft es gut! Freunde!, freute sich das Wesen daraufhin und sprang auf und ab.

Das Kind musste lächeln. „In Ordnung. Freunde. Ich muss mich noch bei dir bedanken. Du hast diese blöden Ziegen vertrieben. Das war nett.“

Oh, gerne geschehen … auch wenn das ehrlich gesagt gar nicht meine Absicht war … ich bin einfach … erschienen. Irgendwie.

Das Mädchen lachte. „Ich bin übrigens Risha …“

Ich weiß!

Auf den fragenden Blick seines Gegenübers hin fügte das Fohlen rasch hinzu: Ich weiß nicht, woher ich es weiß, aber ich weiß es.

„Oh, gut … und wie heißt du?“

Ich weiß nicht …

„Hast du etwa deinen Namen vergessen?“

Nein! Ich … ich glaube, ich hatte nie einen …

„Aber das kann doch gar nicht sein. Jeder hat einen Namen!“

Außer mir …

Risha überlegte. „Hm. Du brauchst aber einen … Warte mal! Ich hätte da eine Idee!“

Wirklich?

„Ja! Wie wäre es mit Cheron? Gefällt dir der Name?“

Cheron?, wiederholte das Fohlen und legte den Kopf schief. Dann sprang es abermals auf und ab. Oh ja, der gefällt mir sogar richtig, richtig gut!

Das Kind lächelte. „Sehr schön. Nun denn, dann komm mit Cheron. Ich müsste eigentlich längst wieder daheim sein. Ich kann gar nicht erwarten, dich meinen Eltern vorzustellen!“
 

Cheron schreckte aus seinen wandernden Gedanken hoch, als ein Geruch seine Nüstern streifte. Seine Quelle war noch weit entfernt, sodass er ihn nicht eindeutig zuordnen konnte. Noch beunruhigte er ihn also nicht. Doch er würde aufmerksam bleiben müssen – was ein Teil von ihm auch tat, während ein anderer erneut abschweifte.
 

Der Pegasus war genauso schnell verschwunden, wie er erschienen war, nachdem Rishas Vater versucht hatte, ihn mit einer Axt zu erschlagen.

Alles war so schnell gegangen. Sie waren nach Hause gekommen, das Mädchen vor Glück strahlend mit den beiden Granatäpfeln in den Händen und einem neuen Freund im Schlepptau. Diese Freude war ebenso rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Ihre Eltern hatten sie und das kleine Monster einen Moment lang sprachlos angesehen. Dann war ihre Mutter schreiend in Tränen ausgebrochen, während ihr Vater sofort nach der Axt gegriffen hatte. Er brüllte herum und hieb noch mehrmals auf die Stelle ein, an der einen Wimpernschlag zuvor Cheron gestanden hatte, ehe er die Waffe fallen ließ. Dann wirbelte er herum und packte sein Kind, schüttelte es und schrie es an. Risha verstand nicht, was er sagte, und selbst wenn sie verstanden hätte, war sie zu verängstigt von dem plötzlichen Wutausbruch, als dass sie hätte antworten können. Schließlich riss er sie an den Haaren herum, schleifte sie ins Nebenzimmer und warf sie zu Boden. Kurz darauf fiel die Tür krachend ins Schloss und der Schlüssel wurde herumgedreht.

Es vergingen Stunden, in denen Risha mitanhörte, wie sich ihre Eltern stritten, während sie in einer Ecke des Raumes kauerte und weinte, weil sie nicht verstand, was passiert war.

Und Cheron konnte nichts tun, außer durch ihre Augen alles mit anzusehen, da ihre Angst ihn ebenso lähmte, wie sie selbst.
 

Der Pegasus schnaubte, als ihm ein Schauer den Rücken hinabfuhr. Warum gerade jetzt all diese Erinnerungen aus den tiefsten Winkeln seines Denkens hervorgekrochen kamen, wusste er nicht. Und selbst wenn er gewollt hätte, im Augenblick konnte er nichts dagegen tun, dass seine Gedanken weiter zu dem wanderten, was dann geschehen war.
 

Zwei Tage vergingen, in denen die Türe nur einmal kurz geöffnet wurde. Rishas Mutter betrat das Zimmer, stellte ihr mit zitternden Händen einen Krug Wasser hin und warf ihr etwas Brot vor die Füße, ehe sie anschließend sofort wieder verschwand.

Erst dann tat sich etwas. Eine neue Stimme kam vor dem Zimmer hinzu. Die Ungewissheit, die an dem Verstand des Kindes zerrte, als wolle sie ihn in Stücke reißen, trieb sie dazu, sich direkt vor die Türe zu setzen und zu lauschen.

Wie sich aus dem Gespräch ergab, redeten ihre Eltern mit einem Heiler. Gewiss keinem der offiziell anerkannten, einen solchen konnten sie sich keineswegs leisten, wie ihr später klar wurde. Sie sprachen mit ihm darüber, ob es eine Möglichkeit gab dieses Ding aus ihrer Seele zu entfernen. Risha verstand zu diesem Zeitpunkt nicht, was sie meinten. Erst Jahre später sollte sie begreifen.

„Aber irgendetwas muss man doch tun können!“

„Nun, du könntest einen hübschen Sattel für das Pferdchen kaufen …“

„Das ist nicht witzig!“

„Wie du meinst. Aber ich muss dich enttäuschen, das, was du und deine Frau verlangen, kann ich nicht tun. Eine Ka-Bestie von ihrem Träger zu trennen, birgt gewisse Risiken. Vor allem in so jungem Alter. Das Monster ist noch nicht eigenständig genug und zu stark mit der Seele des Kindes verwoben. Würde ich es austreiben, könnte ihr Geist zerrissen werden. Sie wäre dann nichts weiter mehr, als eine leere Hülle.“

„Ich wäre bereit, es zu riskieren. Denn wenn dieses Ding in ihr bleibt, dann habe ich ohnehin keine Tochter mehr!“

„Tut mir leid, aber wenn es das ist, was du möchtest, dann such‘ dir jemand anderen dafür. Ich mag ja für Geld so einiges tun, aber auch ich habe meine Prinzipien, weißt du?“

Es waren Schritte zu hören, dann öffnete und schloss sich eine Tür. Kurz darauf war das Scheppern von berstender Keramik zu hören. Anschließend war es eine Zeit lang still, bis Risha die wütende Stimme ihres Vaters hörte.

„Das ist alles deine schuld! Einzig und allein dein dreckiges, verkommenes Blut ist dafür verantwortlich!“

Ihre Mutter wimmerte. „Was … was hast du denn jetzt vor?“

„Was ich vorhabe? Was denkst du denn was ich vorhabe?“

Das Singen von Metall, dann die panischen Schreie der Frau.

„Bei den Göttern, nein! Das kannst du doch nicht tun! Sie ist unser Kind!“

„Bleib wo du bist. Sie ist nichts weiter als Dreck! Sie hat den Fluch auf sich! Je länger wir sie am Leben lassen, desto weiter wird sie uns dem Abgrund entgegen bringen!“

„Aber du weißt doch gar nicht, was geschehen wird, wenn du ihr das antust! Was, wenn du den Dämon verärgerst? Was, wenn er wütend wird? Die Götter haben sie so gemacht, was, wenn wir vielleicht gar ihren Zorn auf uns ziehen?“

Stille.

„Die Götter haben sie also so gemacht, ja? Nun gut. Dann sollen auch die Götter darüber entscheiden, ob sie lebt oder stirbt.“

Kurze Zeit später öffnete sich die Türe. Rishas Vater kam mit einem Becher in der Hand herein. Es dauerte nicht lange, dann hatte er sie gepackt und gezwungen, das eklige Gebräu, das sich darin befand, zu trinken.

Nur einen Wimpernschlag später wurde alles schwarz.
 

Der Wüstenwind strich kühl durch Cherons Mähne. Doch er war es nicht, der die Flammen an seinen Flügeln stärker lodern ließ. Es waren die Emotionen, all der Hass und die Verachtung für Rishas Eltern. Und die Erinnerungen drangen unaufhaltsam weiter und weiter aus den dunkelsten Ecken seines Gedächtnisses hervor.
 

Die Schwärze währte lange. Als sie dann endlich wieder wich, war das Erste, das Risha spürte, die unerträgliche Mittagshitze. Langsam schob sie die Augen auf und versuchte, durch den noch immer dichten Schleier der Benommenheit ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie bemerkte, dass sie über dem Rücken eines Pferdes hing, das unter ihr beständig vorwärts trabte. Alles, was sie weit und breit sehen konnte, war Sand.

Sand …

Augenblicklich keimte Panik in ihr auf. Sie warf den Kopf herum und erkannte, dass derjenige, der das Reittier lenkte, ihr Vater war. Sie befanden sich irgendwo in der Wüste. Er … er hatte doch wohl nicht vor, sie auszusetzen? Sie einfach hier draußen alleine zu lassen? Ein Teil von ihr wollte ihn fragen, was hier vor sich ging. Ein anderer schnürte ihr indes die Kehle zu. Wenn dem so war, dann war die Wahrheit mehr, als sie ertragen konnte. Obgleich die Wirkung des Tranks, den man ihr eingeflößt hatte, allmählich nachließ, war sie wie gelähmt.

Die Zeit verstrich und fühlte sich dabei an, wie eine Ewigkeit. Einzig und allein der Stand der Sonne ließ den Schluss zu, dass sie mindestens einen halben Tag unterwegs gewesen waren, als sie schließlich ein Dorf erreichten. Risha kannte es nicht, doch ihr fiel auf, dass viele der Lehmhütten längst nicht so gut gearbeitet waren, wie die Häuser in Theben. Außerdem erregten sie allem Anschein nach Aufmerksamkeit. Viele der Leute, die sich in den Straßen und Gassen aufhielten, sahen ihnen hinterher. Wo war sie hier nur? Was war das für ein Ort?

Als sie an den Dorfrand kamen, der von einer Felsklippe überragt wurde, zügelte ihr Vater schließlich das Pferd und stieg ab. Sie hörte seine Schritte und das Geräusch, als er an die Tür einer Hütte klopfte. Kurz darauf wurde sie geöffnet. Für einen Augenblick blieb es still. Risha lauschte angespannt, nicht in der Lage zu beobachten, was vor sich ging.

„Was, im Namen aller Götter, willst du hier?“

Sie hörte ihren Vater schnauben. „Das geht dich einen Dreck an, Gahiji. Ich will mit deinem Weib sprechen.“

„Pass auf wie du über meine Frau …“

„Ist schon gut Liebling!“, schaltete sich plötzlich eine weibliche Stimme in das Gespräch ein. „Guten Abend, Ottah. Was führt dich zu uns? Ist mit meiner Schwester alles in Ordnung?“

„Was mich zu euch führt? Ich werde dir sagen, was mich zu euch führt!“

Risha hörte näherkommende Schritte, dann wurde sie mit einem Mal vom Pferd gehoben und nur kurz darauf zu Boden geworfen. Sie schrie auf.

„Hast du den Verstand verloren? Was soll das? Wer ist dieses Mädchen?“, hörte sie die andere Männerstimme wütend fragen. Zur gleichen Zeit tauchte die Frau im Blickfeld der Vierjährigen auf, als diese sie herum drehte und sie besorgt musterte. Ihre Haare waren lang, glatt und blond, ihre Augen von der gleichen Farbe, wie Fliederblüten – sie sah Rishas Mutter zum Verwechseln ähnlich, nur dass ihre Züge nicht von Verbitterung gezeichnet waren, sondern sanft und gütig wirkten.

„Sie ist der Bastard, den ich einmal meine Tochter nannte“, hörte sie ihren Vater sagen.

Die Frau, die sie schützend in die Arme genommen hatte, fuhr herum. „Wie bitte? Das ist …“

„Deine Nichte, Oseye, ganz recht. Und du kannst wirklich stolz auf dich und das schmutzige Blut deiner Familie sein. Es hat sich nicht nur bei euren beiden Missgeburten durchgesetzt, sondern auch bei ihr. Wie es scheint, ist die ganze Generation verdorben.“

Risha sah, wie der andere Mann ihren Vater beim Kragen packte und ihn zu sich zog. „Wage es nicht noch einmal, so über meine Söhne zu sprechen!“

„Was denn, Gahiji? Kannst du die Wahrheit nicht ertragen? Du hast ebenso wie ich ein Dämonenweib geheiratet, das nichts anderes hervorbringt, als Ausgeburten der Unterwelt! Nichts anderes als Kreaturen der Schatten entspringen dem Schoß dieser Weibsbilder! Und der Fluch, den sie tragen, wird uns eines Tages unser Leben kosten, wenn wir uns ihrer nicht entledigen! Aber was rede ich? Du glaubst es ja sowie so nicht.“

„Richtig. Weil es nichts als dummes Gewäsch und abergläubische Paranoia ist!“ Mit diesen Worten stieß der Mann Rishas Vater von sich. „Mach, dass du aus unserem Dorf kommst, bevor ich mich vergesse! Und denk nicht einmal daran, das Kind mitzunehmen!“

„Keine Sorge, das hatte ich ohnehin nicht vor. Tut mit ihr, was ihr wollt. Mein Problem soll sie von nun an nicht mehr sein. Doch wenn euch euer Leben lieb ist, dann schick ihr sie am besten noch heute Nacht in die Wüste hinaus.“

Damit wandte sich Rishas Vater zum Gehen. Er stieg auf sein Pferd und preschte kurz darauf in die Dunkelheit hinaus. Das war das letzte Mal, dass sie und ihre Ka-Bestien ihn sahen.
 

Cheron erinnerte sich noch, als sei es gestern gewesen – die Ohnmacht, die er gefühlt hatte, als Rishas Angst so gewaltig gewesen war, dass er nichts anderes hatte tun können, als durch ihre Augen zuzusehen. Wenn er diese Menschen jemals wiedersehen würde, deren einzige gute Tat gewesen war, seine Trägerin in die Welt zu setzen – er würde sie töten. Langsam, qualvoll. Sie würden leiden, so wie Risha gelitten hatte, als man sie wie ein Stück Unrat weggeworfen hatte.
 

Die folgenden Sonnenläufe waren schwierig. Obgleich das Mädchen bald merkte, dass ihr diese beiden Menschen, die sie nicht kannte, nichts tun würden, war sie dennoch verängstigt. Die Umgebung war ihr vollkommen fremd, die Geräusche und Gerüche so anders, als in der großen Stadt.

Es fiel ihr anfangs schwer, zu begreifen, welches Glück sie eigentlich gehabt hatte. Es sollte ihr erst später klarwerden, wenn sich der erste Schock gelegt hatte. Dass Gahiji und Oseye sie so ohne weiteres aufgenommen hatten, war nicht selbstverständlich und einzig und allein ihren guten Herzen zu verdanken. Ihre Tante sprach noch in derselben Nacht, da ihr Vater sie zurückgelassen hatte, lange und geduldig mit ihr, erklärte ihr, dass alles in Ordnung sei und sie nun keine Angst mehr haben müsse. Sie ermunterte Risha gar dazu, Cheron herbeizurufen, doch noch war das Erlebte zu präsent.

Erst die nächste Zeit brachte eine Besserung. Maßgeblich hatte damals dazu beigetragen, da war sich der Pegasus heute sicher, dass im neuen Zuhause des Mädchens diese zwei Jungen gelebt hatten, die ebenfalls Träger von Ka-Bestien waren: Bakura und Keiro, die Zwillingssöhne ihrer Tante und ihres Onkels. Während sie anfangs auf Geheiß ihrer Mutter ihre Distanz zu dem Mädchen wahrten, um sie nicht zu verschrecken, bekam Risha doch mit, dass beide das gleiche Schicksal wie sie ereilt hatte – und, dass in Kul Elna vollkommen anders damit umgegangen wurde. Diabound und Shadara wurden wie gleichberechtigte Familienmitglieder behandelt und verbargen sich nicht im Geringsten vor den Augen des Dorfes. Ersterer war damals kaum mehr als eine kleine, weiße Schlange mit den Ansätzen von Flügeln am Rücken, während Letzterer einem Welpen mit drei Köpfen glich.

Für Risha war das zunächst verwirrend. Hinzu kam, dass sie nicht leugnen konnte, Cheron teils die Schuld an dem zu gegeben, was geschehen war. Dies änderte sich erst, als Oseye davon Wind bekam und ihr lang und breit erklärte, dass weder sie, noch ihr Ka einen Fehler begangen hätten.

Dann wurde es schließlich besser. Cheron kam wunderbar mit den anderen beiden Kreaturen zurecht. Sie spielten miteinander oder trugen Übungskämpfe aus. Und Keiro, der schon immer sehr neugierig gewesen war, schaffte es schließlich, Risha aus der Blase herauszulocken, die sie um sich errichtet hatte. Bald wirkte es so, als sie die Nacht, in der ihr Vater sie vor die Füße ihrer Verwandten geworfen hatte, niemals passiert, als sei sie schon von Geburt an in dieser wundervollen Familie aufgewachsen.

Und dann brannte Kul Elna.
 

Der Pegasus wurde abermals aus den Gedanken gerissen, als der Geruch von vorhin seine Nüstern streifte. Doch diesmal war er deutlicher. Er ließ den Blick über die Wüste schweifen, die sie in alle Himmelsrichtungen umgab. Er überlegte einen Moment, dann entschied er, Risha zu wecken. Er trabte über den felsigen Boden der Anhöhe, auf der sie rasteten, zu der Stelle hinüber, wo sie sich zusammengerollt hatte. Als er sie erreicht hatte, stupste er sie mit der Schnauze an. Es dauerte nicht lange, dann hörte er sie grummeln, ehe sie sich halb aufrichtete und das Monster mit verschlafenen Augen ansah.

„Was ist?“

„Ich wittere etwas.“

„Feinde?“

„Nein.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Sondern?“

„Bakura.“

Einen Moment lang starrte sie ihn an, dann schlug sie den Umhang zurück, den sie als Decke benutzt hatte und setzte sich auf. „Wie weit entfernt?“, fragte sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb.

„Nicht sehr weit.“

„Dann lass uns gehen.“

Sie stand auf und ging zu ihrem Pferd hinüber, während sie sich das zuvor zweckentfremdete Kleidungsstück um die Schultern warf.

„Weswegen?“

Die Frage ließ sie innehalten. Sie wandte sich zu dem Pegasus um. „Was meinst du?“

„Warum willst du weg? Denkst du nicht, er hat sich vielleicht ebenfalls entschieden, die Anderen zu verlassen?“

Die Blonde schüttelte den Kopf. „Nein. Hat er nicht.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Er hat keinen Ton gesagt. Während Riell dem Pharao in den Hintern gekrochen ist, hat er nicht ein Wort fallen lassen, und das obgleich er dem Königshaus angeblich nicht zugetan ist. Sonst ist er immer schnell dabei, wenn es darum geht, seine Majestät anzuklagen. Diesmal nicht. Das heißt, er ist anderer Meinung.“

„Das würde bedeuten, dass er aus einem anderen Grund hier ist.“

„Gut erkannt.“

Die Ka-Bestie ließ den Blick über die Wüste schweifen. „Ich bezweifle, dass er dir etwas tun will. Dazu hätte er keinen Anlass.“

„Richtig“, bestätigte Risha, während sie den Sattel ihres Pferdes festzog. „Und damit gehen mir die Erklärungen aus. Keine Ahnung, was er hier will.“

„Er wird nicht zufällig hier sein.“

„Auch das mag stimmen, aber was immer sein Anliegen ist, es ist mir egal. Los, lass uns endlich aufbrechen.“

„Hast du inzwischen entschieden, wohin uns der Weg führen wird?“

Sie zögerte. „Noch nicht. Mir fällt schon etwas ein. Jetzt komm.“

Damit saß sie auf und trieb ihr Reittier in die Nacht hinaus. Cheron folgte ihr auf den Fuß.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nun denn, hier das nächste Kapitel. Diesmal habe ich mein Versprechen bezüglich des Upload-Zeitraumes leider nicht ganz halten können - sorry dafür. Die Uni hat begonnen und ich bin eigentlich dauernd am Vor- oder Nachbereiten irgendwelcher Lehrveranstaltungen. Derzeit liegen noch gute 55 Seiten Text auf meinem Schreibtisch, die bis Donnerstag gelesen werden wollen - für ein einziges Seminar.

Ich werde mich natürlich trotzdem brav bemühen, weiterhin regelmäßig etwas hochzuladen, auch wenn die Abstände wohl wieder größer werden. Zum Glück konnte ich in den Ferien schon einige kommende Kapitel vorbereiten, sodass es mir leichter fallen wird, am Ball zu bleiben.

Im nächsten Kapitel sehen wir dann vor allem, wie es bei Marlic und Samira vorangeht. Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit!
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Seelendieb
2015-10-26T05:32:53+00:00 26.10.2015 06:32
Wow. Sehr interessant! Risha tut mir richtig Leid...

Aber es kommt in Licht in die Dunkelheit :D
Antwort von:  Sechmet
01.11.2015 14:57
Hey!

Freut mich, dass du das Kapitel interessant fandest, obgleich es eigentlich nur um Risha ging - und es freut mich, dass du dich scheinbar ein wenig in sie hinein fühlen konntest. :) Im nächsten Teil geht es dann auch wieder mit den Canon-Charakteren weiter, versprochen.

Danke - wie immer - für deinen Kommentar und bis hoffentlich zum nächsten Mal!

LG, Sech


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