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Magister Magicae (alte Version)

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"Wie kommst du voran?"

Danny saß am Abendbrottisch und kaute mit ungutem Gefühl sein Brot. Irgendwas war anders als bisher. Sein Vater war schon die ganze Zeit missmutig gewesen, seit er sich der jungen Genia angenommen hatte. Und das war er auch jetzt noch. Aber auf eine andere Weise. Sein Bruder Josh warf ihm verstohlene Blicke zu, die er nicht deuten konnte. Was war nur los? Das Schweigen machte ihn wahnsinnig.

„Wie kommst du voran?“, wollte Josh kleinlaut wissen. Auch ihm war es eindeutig zu still bei Tisch, er musste einfach reden.

„Schleppend. Sie spricht kein Wort. Ich bin mir nichtmal sicher, ob sie mich überhaupt versteht.“, gab Danny wahrheitsgetreu zurück.

Ruppert, sein Vater, brummte. Ebenso sein Genius Intimus, der neben ihm saß.

„Aber sie hat sich immerhin beruhigt und schlägt nicht mehr wie wild um sich!“, fügte Danny schnell an. Er wollte nicht klingen, als würde er gar keine Fortschritte machen. Ihm tat die junge Frau so leid, er hätte gern mehr für sie getan. Aber sie ließ es einfach nicht zu. Wenn sie ihm wenigstens erzählt hätte, was ihr widerfahren war, um sie so werden zu lassen. Aber sie gab nur immerzu knurrende Töne von sich, die er bisher noch keinem Tier hatte zuordnen können. Er wusste noch nichtmal, wie ihre wahre Gestalt aussah. Selbst in Rage war sie willensstark genug, ihre menschliche Gestalt beizubehalten.
 

„Dann gib ihr über das silberne Band zu verstehen, was du von ihr erwartest!“, maulte Ruppert und biss wieder schlechtgelaunt in sein Brot.

Danny schaute ihn fassungslos an. Er wusste von dem Band? Dann wanderte sein Blick zu Josh, der betreten wegschaute und plötzlich hilflos mit seinem Besteck spielte. „Hast du es ihm etwa gesagt?“, wollte Danny etwas gekränkt wissen. Josh hatte die Gabe der Intuition. Es war kein Hellsehen in dem Sinne. Nur das fast unweigerliche Wissen um die Art oder den Zweck eines Dinges, das er vor sich hatte. Er hatte im Zirkus während der Vorstellung einfach gewusst, daß die junge Frau sein Genius Intimus war. Danny hatte ihn gebeten, geradezu angefleht, es keinem zu erzählen.

„Tut mir leid. ... Er wollte sie totschlagen. Ich musste etwas tun.“, gab Josh kleinlaut zurück und warf einen unterwürfigen Blick auf seinen Vater.

„Du wolltest WAS!?“, hakte Danny entsetzt nach, diesmal an seinen Vater gewandt. „Bist du übergeschnappt, hey?“

„Du kennst den Codex Geniorum!“, erwiderte der nur seelenruhig.

„Ja, auswendig! <Paragraph 1: Ein ungebundener Schutzgeist oder eine ungebundene Schutzbestie wird als Genius bezeichnet, solange der Genius seinen Schützling noch nicht gefunden hat und die Verbindung zu diesem eingegangen ist. Genius intimus ist die Bezeichnung für einen an seinen Schützling gebundenen Schutzgeist.*>“, begann er trotzig zu rezitieren. „<Paragraph 2: Der Schutzgeist, auch Genius genannt, ist ein Geisterwesen, welches Magiern, Hexen, Schamanen oder Hellsehern hilfreich zur Seite steht und diese vor Gefahren der anderen Ebene, auch als Astralebene oder Geisterwelt und ähnliches bezeichnet, schützt. Zumeist besteht zwischen Schutzgeist und Schützling eine angeborene magische Verbindung.* ... >“

Ein Brummen unterbrach ihn. „<Paragraph 5: Ein Genius darf keinem Menschen tödlichen oder dauerhaften Schaden zufügen, es sei den sein eigenes Leben, das Leben seines Schützlings oder das Leben einer anderen Person wird durch diesen Menschen bedroht.*>“, hielt sein Vater dagegen. „Und jetzt sieh dir das Ding da unten im Keller mal an. Ich hab sie nur für verwildertes, unkontrollierbares Ungeziefer gehalten.“

„Und wenn schon! Sie ist trotzdem ein Genius! Für so kaltblütig hätte ich dich nicht gehalten. Du solltest Urnue nie wieder unter die Augen treten!“, fauchte Danny mit einem Deut auf den Genius Intimus seines Vaters, sprang hasserfüllt vom Tisch auf und schneite davon.
 

Ruppert rollte mit den Augen. Was dachten seine Söhne bloß von ihm? Natürlich hätte er die Genia nicht erschlagen. Genii hatten die gleichen Rechte wie die menschlichen Bürger dieses Landes. Einen Genius zu töten war Mord und wurde auch entsprechend bestraft. So lieb waren ihm sein gesellschaftlicher Status und sein Luxus-Leben schon, um sich nicht wegen Mord einbuchten zu lassen. Bestenfalls hätte er der Genia solange Manieren eingeprügelt, bis sie sich wieder wie ein klar denkendes Wesen benahm. Wahrscheinlicher war es aber, daß er seinen Sohn Danny windelweich geknüppelt hätte. Dafür, daß er einfach mit Urnue abgehauen war, dem Genius seines Vaters. Weiß Gott, was er angestellt hatte, um Urnue zu so einer Aktion zu überreden. Genii trennten sich eigentlich NIE von ihren Schützlingen. Oder wahlweise auch dafür, daß er einfach dieses Ding hier ungefragt angeschleppt hatte.

Nagut, die Tatsache, daß sie der Genius Intimus seines Sohnes war, änderte natürlich einiges. Zu jedem magisch begabten Menschen – und seine Familie gehörte dazu – gehörte von Geburt an ein sogenannter Genius, ein Geister- oder Fabelwesen. Die beiden trafen in der Regel zusammen, sobald bei dem Menschen, dem Magi, die erste magische Begabung auftrat. Der Genius spürte es, egal in welchem Winkel der Welt er gerade war, und machte sich wie hypnotisiert auf den Weg, seinen Schützling zu suchen. Ruppert hatte sich immer geärgert, daß sein Sohn nie auf den zu ihm gehörenden Genius getroffen war. Er hatte immer vermutet, daß der Genius schon im Kindesalter gestorben war. Ohne seinen Genius war ein Magi praktisch nichts, weil er ungeschützt war und sich daher nicht der Magie und Alchemie widmen konnte. Man konnte einen Genius nur mit roher Gewalt und mächtigen Bannzaubern davon abhalten, seinen Schützling zu suchen. Und das war grässlichste Folter für den betreffenden Genius. Was hatten die im Zirkus wohl mit der Genia angestellt, damit sie Danny nicht fand?
 

Vor der Kellertür blieb Danny stehen und atmete noch einige Male durch, um sich wieder zu beruhigen. Er wollte nicht mit schlechter Laune zu ihr hineingehen. Das war sicher das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte. Langsam drehte er den noch steckenden Schlüssel und schloss auf. Leider Gottes, er hatte die Ärmste einschließen müssen. Er konnte sie noch nicht frei rumlaufen lassen, sie war immer noch zu aufgewühlt und zu panisch in Gegenwart von Menschen. Sicher würde sie fluchtartig auf und davon rennen und nie wieder gesehen werden, wenn er ihr die Chance dazu ließ. Aber es fehlte ihr da drinnen ja an nichts. Der Keller war fast zu einer kleinen Wohnung ausgebaut, es gab ein Bett, und sogar eine Dusche und eine Toilette, weil der Keller ursprünglich mal ein Waschhaus gewesen war. Der Keller diente sonst als Gästezimmer.

„Hi, du. Ich hab dir was zum Abendessen mitgebracht.“, meinte Danny betont fröhlich, als er eintrat und die junge Genia wie erwartet zusammengekauert in der hintersten Zimmerecke fand. „Hast du schon Hunger?“ Er ließ den Teller mit Schwung über den Boden auf sie zuschlittern, da sie es nicht ertrug, wenn man sich ihr auch nur einen Schritt näherte. Dann verfiel sie sofort in panische Verzweiflungsangriffe.
 

Langsam und zögerlich robbte sie auf allen Vieren auf den Teller zu, immer mit einem wachsamen Auge auf ihn, und schnappte sich das Essen herunter. Danny ließ sich derweile an der gegenüberliegenden Wand nieder und schaute ihr eine Weile zu. Sie war so herzallerliebst, er hätte sie am liebsten geknuddelt. Er wusste nicht, ob jeder Schützling seinen Genius Intimus so empfand oder ob es nur ihm so ging. Aber sie war wirklich furchtbar niedlich.

„Verrätst du mir deinen Codenamen?“, wollte er ruhig wissen. Diese Frage hatte er der jungen Frau seit gestern sicher schon ein Dutzend Mal gestellt. Jeder Genius hatte einen Codenamen, denn wenn man seinen vollständigen, wahren Namen kannte, hatte man zu viel Macht über ihn. Für gewöhnlich reagierte sie nicht auf Fragen. Ob sie nicht reden konnte, oder nicht reden wollte, oder ob sie ihn wirklich nicht verstand, hatte er noch nicht rausbekommen.

„Ist es okay, wenn ich etwas näher komme? Ich setze mich nur auf das Bett dort. Das ist bequemer als der Boden.“, versuchte er zu erklären, stand auf und machte zwei, drei Schritte auf sie zu. Groß war der Keller nicht. Der Abstand zu ihr wurde rasch geringer. Sie begann zu fauchen und drängte sich zurück in ihre Zimmerecke. „Schon gut, ich tu dir nichts, ich versprech...“ Bei dem nächsten Schritt, den er machte, wurde er von einem urgewaltigen Schlag von den Füßen gerissen. Noch in der Flugphase spürte er die grässlich schmerzenden Risswunden über Brust und Bauch, dann wurden diese übergangslos von dem Aufprall rücklings an die Wand überschattet, gegen die er geschleudert worden war.
 

Keuchend sank Danny an der Wand herunter, und kam kraftlos auf dem Boden zu sitzen. War das die Genia gewesen? Wie hatte sie ihn über so große Distanz schlagen können? Quer über seine Brust prankten riesig lange, tiefe Risswunden, wie von einer dreifingrigen Klaue. Sein Hemd hing in Streifen von ihm herunter.

Er stöhnte. „Ich ... wollte dich nicht erschrecken ...“, hauchte er leise und mit schwindenden Sinnen. Ihm wurde langsam schwarz vor Augen.

„Oh mein Gott!“, stieß die Genia entsetzt hervor, als habe sie erst jetzt richtig realisiert, was sie da eigentlich angerichtet hatte. „Nein!“ Sie stürzte sich hektisch auf den jungen Mann und drückte ihm beide Hände auf die Brust.

„Hey, du kannst ja doch reden ...“, meinte er noch leise. Amüsiert. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie verzweifelt versuchte, seine Wunden wieder zu heilen. Sie besaß zwar Heilerkräfte, aber diese waren nur sehr schwach ausgeprägt und waren auch nie trainiert worden. Aber mit der schieren Macht der Verzweiflung schaffte sie es doch zumindest, die Blutung zu stoppen, so daß die aufgerissene Haut haltbar verkrustete.
 

Als Danny wieder zu sich kam, lag er flach auf dem Boden und fühlte sich etwas benommen. Richtig, er war rücklings gegen eine Wand geflogen, da gehörte sich das so. Er konnte nur Momente bewusstlos gewesen sein. Die junge Frau mit der wilden, grünschwarzen Mähne lag heulend auf seinem Oberkörper. Hatte dieser Vorfall sie endlich dazu bewogen, Körperkontakt zu dulden? Bisher war sie doch schon in Panik geraten, wenn man sich ihr nur näherte. „Heeeeeey.“, hauchte er beruhigend und leise. „Es ist doch alles in Ordnung.“ Vorsichtig legte Danny seine Hände auf ihre Oberarme. Er wagte es nicht, sie zu umarmen und damit gänzlich zu umschlingen, auch wenn der Drang danach schier unwiderstehlich war. Er wollte sie nicht gleich wieder verschrecken.
 

Sie schaute mit Wasserrändern in den großen, dunklen Augen auf und sah ihm ins Gesicht. Da, wo ihr Kopf gelegen hatte, kamen nun die gefährlich aussehenden Narben auf seiner Brust zum Vorschein. Aber sie taten nichtmal sonderlich weh, stellte er fest. „Es tut mir leid! Das wollte ich nicht!“, bekräftigte sie und fuhr unglücklich mit der Hand über seinen Oberkörper.

Danny rang sich ein Lächeln ab, erfreut darüber, daß sie nun doch mit ihm redete. „Ich lebe doch noch. Ich war einfach unvorsichtig.“

Ihr Kopf sank wieder auf seine Brust.

„Ist es okay, wenn ich dich ... in die Arme schließe?“

„Hm-hm.“, machte sie zögerlich zustimmend.

Er spürte, wie sie unter seinen Händen erschauderte, aber sie ließ es zu. „Hast du immer noch Angst vor mir?“

„Ja. ... ein bischen. ... Ich mag dich, das ist es was mir eigentlich Angst macht.“

Er lächelte. „Du bist mein Genius Intimus, ich nehme an, daß die Sympathie daher kommt.“

„Ich weis.“

Er strich ihr sachte durch die langen Haare. „Was haben sie dir bloß angetan, daß du so scheu und verängstigt geworden bist?“, seufzte er, ohne wirklich eine Antwort auf diese Frage zu erwarten. Er bekam auch keine. „Was meinst du, wollen wir in den Garten gehen? Du musst mal was anderes sehen als dieses Kellerloch.“, schlug er vor.

„Kannst du denn schon wieder aufstehen?“

Danny richtete sich in eine sitzende Position auf und wurde jäh von einem Schwindelanfall heimgesucht. Der verging jedoch glücklicherweise nach einigen Augenblicken wieder. „Es geht schon.“, nuschelte er, etwas blass um die Nase.
 

Als er aus dem Keller kam und wieder den Hausflur betrat, kam ihm gerade Urnue entgegen. Hektisch drehte Danny sich weg. Er wollte nicht, daß jemand das in Fetzen hängende Hemd und die frisch verkrusteten Wunden sah. Glücklicherweise stand er gerade direkt neben dem Kleiderständer, so daß er sich eine Jacke schnappen, überwerfen und bis zum Kinn zuknöpfen konnte. Auch wenn das blöd aussah, denn draußen waren 23°C und Sonnenschein.

„Hi. Wir gehen mal kurz raus.“, erklärte Danny betont fröhlich.

„Oh, geht es der Kleinen wieder besser? Wie schön!“, erwiderte Urnue und wuselte begeistert näher. Da seine wahre Gestalt die eines überdimensionalen Wiesels war, erschienen all seine Bewegungen stets unnatürlich schnell, präzise und geschmeidig. Sein Aussehen war ein wenig exzentrisch, er trug durch und durch schwarz am Leib. Sein ärmelloses Hemd war rabenschwarz, ebenso die Lederhose, die um seine Hüften und Oberschenkel auffallend eng saß, nach unten aber ausgestellt war. Seine Haare waren wild und fransig, standen in alle Richtungen ab, und waren – natürlich – rabenschwarz. Seine großen, dunklen Augen pflegte er mit einer Überdosis schwarzem Kajalstift und Eyeliner zu betonen. Er sah zwar ganz hip aus, passte aber so gar nicht zu Rupperts anzug- und krawatten-dominierten Business-Stil. Wohl der Hauptgrund, warum sein Vater den Schutzgeist nicht wirklich mochte. Interessiert kam Urnue näher und lächelte die junge Frau an.

„Das ist Urnue, der Genius Intimus meines Vaters.“, erklärte Danny und zog seine Jacke zurecht.

„Ich bin Nyu.“, erwiderte sie und bot dem Schutzgeist offenherzig und fröhlich ihre Hand an. Toll, nun wusste er auch endlich ihren Namen, dachte Danny und verfolgte skeptisch, wie sie sich von dem fremden Genius kameradschaftlich über den Rücken rubbeln und sogar kurz umarmen ließ. Offenbar hatte sie nichts gegen Genii. Auch in dem Zirkuszelt damals war es ein Genius gewesen, der sie endlich zur Ruhe gebracht hatte, damit man sie von dem Halsreifen befreien konnte, mit dem sie angepflockt gewesen war wie eine Ziege. Scheinbar hatte sie nur vor Menschen Angst.
 

Urnue trat einen Schritt zurück und beschaute sie von oben bis unten, als wolle er analysieren, wie ihre wahre Gestalt aussehen mochte. Er kam scheinbar auch zu einem Ergebnis, konnte es aber nicht mehr kundtun, weil Dannys Vater von der oberen Etage nach ihm rief. Eine Tür flog auf und Josh kam die Treppe heruntergepoltert. Die junge Frau drehte sich panisch um und wollte den Rückzug in den Keller antreten, aber Danny schloss sie schnell in die Arme. „Bleib hier, Nyu, keine Angst.“, redete er ruhig auf sie ein. „Das ist mein Bruder, der tut dir nichts. Ganz ruhig.“ Er spürte, wie Nyu in seinen Armen zitterte und den herunterkommenden, jungen Mann mit schreckgeweiteten Augen anstarrte. Aber sie verzichtete darauf, sich gewaltsam loszureißen und zu flüchten. Er strich ihr beruhigend durch die Haare.

„Urnue, Vater braucht deine Hilfe ... Oh!“, machte Josh nur erstaunt und blieb auf der untersten Stufe stehen, als er die Genia plötzlich freilaufend vor sich hatte. Bisher war sie ja wegen ihre Unkontrollierbarkeit in den Keller gesperrt gewesen.

„Ich komme.“, erwiderte Urnue, drängte sich an ihm vorbei und stapfte – ganz unwieselig – die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ein Zeichen dafür, daß es ihm gerade gar nicht passte, hier weg zu müssen.

„Ist was passiert?“, wollte Josh mit einem vielsagenden Deut auf Dannys Jacke wissen. Und es war nicht ganz herauszuhören, ob er eigentlich <Du willst doch nicht etwa ausgehen?> oder <Was versteckst du da drunter?> fragen wollte. Seine übernatürliche Intuition verriet ihm viel, aber bei weitem nicht alles. Es war manchmal schwer, aus seinen zwielichtigen Äußerungen zu interpretieren, wie viel er wirklich wusste.
 

Danny seufzte genervt. Er hatte sich mit Nyu draußen unter einen Baum gesetzt, in der Hoffnung, ein bischen Ruhe zu haben. Aber binnen weniger Augenblicke stand seine gesamte Sippe um ihn herum, sein Bruder, sein Vater, die Genii der beiden, das Hausmädchen, und glotzten interessiert das neue Familienmitglied an. Merkten die gar nicht, wie unangenehm das der Kleinen war?

„Lasst uns mal schauen, wo wir sie unterbringen werden!“, schlug Danny vor, stand auf und schob die anderen mit ausgebreiteten Armen zum Haus zurück.

„Pass auf sie auf!“, zischte sein Vater Urnue zu.

„Ja, bitte, pass auf sie auf.“, bat auch Danny zustimmend, mit dem Unterschied, daß er damit nicht <Halte sie gewaltsam auf, wenn was ist!> meinte.

Urnue und Nyu blieben allein im Garten zurück. Sie seufzte spürbar erleichtert auf. Der ganz in schwarz gekleidete Genius setzte sich zu ihr. „Ganz schön anstrengend, was? An das Großfamilienleben muss man sich erst gewöhnen. Ich habe auch einige Zeit gebraucht.“, meinte er in seiner angenehmen, ruhigen Stimme.

Nyu lächelte ihn an. Solange sie nur Genii um sich hatte, fühlte sie sich hier richtig wohl. Und ihr Schützling Danny schien ein lieber Kerl zu sein. Sicher würde sie es hier gut haben. Sie musste sich nur zusammenreißen und sich damit abfinden, unter Menschen leben zu müssen. Das hier war nicht mehr der Zirkus! ...
 

... Sie fragte sich, was aus Nat geworden war, dieser Sphinx-Knabe, mit dem sie im Zirkus eingesperrt gewesen war. Das letzte woran sie sich erinnerte, war, daß fremde Leute um sie herum gewesen waren, die beruhigend auf sie einsprachen, und immer näher kamen, und sie damit nur noch mehr in Panik versetzten.

In der Nachmittagsvorstellung hatte sie bei ihrer Trapez-Nummer einen Fehler gemacht. Sie war gestürzt und war in einer so blöden Stellung ins Fangnetz gefallen, daß sie sich eine Schulter verknackst hatte. Weil der verdammte Bannzauber ihr eine unerlaubte Verwandlung unmöglich machte, sonst hätte sie sich problemlos abfangen können. Sie wurde aus der Spätvorstellung gestrichen und draußen angepflockt und bekam nur anhand der tosenden Jubelstürme und des Applauses mit, daß im großen Zelt gerade eine Vorstellung lief. Es begann, zu regnen, zu schütten wie aus Eimern, während sie da draußen im Freien angekettet war.

Nat, der Sphinx-Junge, wurde nach seiner Nummer in seinem winzigen Raubtierkäfig herausgeschoben und in ihrer Nähe geparkt. Fieserweise ließ man ihn da drin eingesperrt, obwohl die Aufseher genau wussten, wie panisch er in so engen Gitterboxen wurde. Das Ding war so eng, daß er sich kaum rühren konnte. Nyu sah ihn einen Moment lang mitleidig an, aber helfen konnte sie ihm ja nicht. Dann gab sie sich wieder ihrem eigenen Elend hin. Das Regenwasser prasselte auf sie herunter, als stünde sie unter der Dusche. Die langen, schwarzgrünen Haare klebten ihr pitschnass im Gesicht und auf Rücken und Schultern. In ihrem Spagettiträger-Oberteil fror sie sich die Seele aus dem erbärmlich zitternden Leib, und der kräftig wehende, eisige Wind tat sein Übriges dazu.

Sie bemerkte den jungen, komplett schwarz gekleideten Mann erst, als er schon fast vor ihr stand. Erschrocken rappelte sie sich auf und gab einen drohenden Ton von sich. Leider klang es aufgrund ihres Kältezitterns eher wie ein rostiges Türscharnier, gar nicht angsteinflößend. Der Mann hatte drei Jungen bei sich, die ebenfalls hier zwischen den Wagen herumkletterten. Was hatten die hier backstage zu suchen? „Das ist sie! U., das ist sie! Tu doch was!“, raunte einer aufgeregt.

„Immer langsam, bring jetzt bitte keine kopflosen Aktionen, Danny.“, gab der junge Mann mit der schwarzen Lederjacke – Urnue – ruhig und leise zurück und sah sich vorsichtig weiter um. Er suchte wohl nach weiteren Gefangenen, oder vielleicht nach Aufpassern, die es auszuschalten galt. Nyu begann kreischend um sich zu schlagen, als dieser Junge, Danny, mit ausgestreckter Hand näher auf sie zu kam. Sie wollte nicht, daß dieser Typ näher kam. Sie wollte nicht angegrabscht werden. Der Junge hob beschwichtigend die Hände, raunte irgendwas von „Du musst leise sein!“ und machte sich stattdessen an dem Pflock zu schaffen, an dem sie angekettet war. Aber er war ihr immer noch viel zu nah, sie tobte halb panisch, halb aggressiv weiter.

„Sie wollen dich befreien, bleib ruhig, Nyu!“, hörte sie Nat aus seinem Käfig rufen und fuhr verdutzt zu ihm herum. Groß darüber nachdenken konnte sie nicht mehr, denn in diesem Moment erschienen weitere Leute auf dem Platz hinter dem Zirkuszelt. Souverän und autoritär aussehende Leute. Leute die einen Hauch von staatlicher Executive ausstrahlten. Bei einem kurzen Wortabtausch, den Nyu aufgrund des prasselnden Regens und ihrer Panik nicht mitverfolgen konnte, wurden Urnue, Danny und die anderen beiden Jungs – Josh und sein Genius – weggedrängt. Ein Asiate mit gewaltigen Flügeln auf dem Rücken nahm sich ihrer an. Mit einem erstaunlich freundlichen „Ich bin Seiji. Keine Sorge, ...“, trat er auf sie zu. Aber sie wollte ihm nicht zuhören. Sie wollte verdammt nochmal in Ruhe gelassen werden! Sie begann auf der Stelle wieder panisch um sich zu schlagen, als er ihr zu nahe kam. Er erstickte ihre Versuche jedoch schon im Keim und rang sie radikal zu Boden. Wohl hatte er keine Zeit für solche Mätzchen. Er kniete sich über sie, hielt sie unter sich bewegungsunfähig fest, damit sie ihm nicht doch noch eine scheuerte, und beugte sich zu ihr herunter. „Hey, es ist alles okay, du musst keine Angst haben. Wir holen euch aus diesem Zirkus raus.“, redete er sanft und beruhigend auf sie ein. Mit seinem Körper schützte er sie ein wenig vor dem Regen, und seine Wärme stand für einen Moment wie ein Zelt über ihr.

Nyu stiegen vor Angst Tränen in die Augen, aber sie stellte ihre Gegenwehr widerwillig ein. Sie wusste noch nicht recht, ob sie ihm glauben konnte, aber wenn auch nur die geringste Chance bestand, daß diese Hölle hier im Zirkus endlich aufhörte, dann wollte sie ihm nicht im Weg stehen. Anschauen konnte sie ihn nicht. Sie hielt die Augen fest zusammengekniffen, um nicht sehen zu müssen, wie nah er ihr war.

„Keine Panik. Wir wollen dir nichts tun. Wir holen dich nur hier raus. Ich bin ein Genius, wie du, hörst du? Ich werde dir nicht schaden. Ich will dich lediglich von dem Halsreifen da befreien.“, erklärte er ruhig weiter, als er merkte, wie ihre aggressive Gegenwehr langsam nachließ.

Langsam beruhigte sich Nyu ein wenig. Sie nickte langsam, immer noch ohne ihn ansehen zu können.

„Ich lass dich jetzt los. Bitte schlag nicht wieder um dich. ... Ist das okay für dich?“

Wieder nickte Nyu und schniefte. Langsam blinzelte sie ein Auge auf, um zu sehen, was er als nächstes tat. Er hielt gerade einen Schraubenschlüssel wie ein Messer auf sie gerichtet. Sie keuchte erschrocken, als er damit nur ihren Halsreifen öffnete. <Keine Panik! Keine Panik!>, versuchte sie sich in Gedanken selbst zu beruhigen, während er an ihrem widerspenstigen Halsreif herumdoktorte. Es dauerte eine Weile, bis er das lästige Ding endlich geöffnet hatte. Wohl auch, weil Nyu immer wieder ihre Hände schützend in die Höhe riss und ihn damit behinderte.

„Um den Bannzauber kümmere ich mich auch gleich noch, warte.“, erklärte der geflügelte Asiate, der sich als Seiji vorgestellt hatte. Er bedachte sie mit fragendem Blick von oben bis unten. „Wo ist denn das Bann-Symbol bei dir?“, wollte er dann wissen. Ehe er sie eigenhändig aus ihren Klamotten schälte, wollte er lieber wissen, wo er anfangen sollte. Um Peinlichkeiten zu vermeiden. Er hatte bei gefangenen Genii die Bann-Symbole schon an den tollsten Stellen gefunden. Die Brüste und Innenseiten der Oberschenkel waren bei weiblichen Genii am schwersten in Mode.

Nyu starrte ihn einen Moment lang mit undeutbarem Blick an, einer Mischung aus Wut, Panik und unverholener Skepsis.

„Wo ist es? Willst du´s mir nicht sagen, damit ich es aufheben kann?“, hakte Seiji freundlich nach und lächelte.

Langsam drehte sich Nyu unter ihm auf den Bauch. So viel Platz lies er ihr gerade noch. Sie war gar nicht begeistert davon, ihn in ihrer Bauchlage nicht mehr sehen zu können. So konnte sie sich unmöglich wehren. „Da.“, gab sie leise zurück und deutete nach hinten auf ihre Wirbelsäule. Vorsichtig zog er ihr den Kragen des dehnbaren Spagettiträger-Oberteils so weit nach unten, daß ihre Schulterblätter freigelegt waren. Da war es, genau zwischen den Schulterblättern, wie ein Postkarte groß. Ein detailreiches, verschlängeltes und verschachteltes Muster, das ein wenig wie ein Tattoo wirkte. Sie hörte den Asiaten seufzten. Wahrscheinlich hatte er auf etwas einfacheres gehofft. Dieses Symbol war ziemlich komplex. Dennoch machte er sich sofort an die Arbeit, die Linien mit seiner Bann-Magie zu verändern und die anspruchsvolle Kombination aus Gehorsamszwang, Verwandlungs-Blocker und Fluchtverhinderer zu lösen. Nyu spürte seine warme Hand auf dem Rücken, und obwohl das Lösen dieses schon sehr lange dort verankerten Bannzaubers ein wenig weh tat, empfand sie die Hand als beruhigend.

„So, schon fertig, siehst du? Komm, du musst aus dem Regen raus.“, lud er sie lächelnd ein, stand auf, wodurch sie endlich wieder Luft zum Atmen hatte, und hielt ihr eine helfende Hand hin, um sie auf die Beine zu ziehen. Dann ließ er sie plötzlich einfach stehen und ging weiter zu Nat. Jemand anderes kümmerte sich um sie. Sie wurde von Nats Käfig weggezogen und in einen Polizeibus gestopft, zusammen mit dem Mann in der schwarzen Lederjacke und den drei Jungen. Es gab einige Schlägereien und Tumulte, weil Nyu niemanden auf dem Sitzplatz neben sich duldete. Aber im Bus gab es nicht genug Plätze, um den Sitz neben ihr einfach frei zu lassen. Erst als Urnue sich ihr als Genius vorgestellt hatte, hatte sie ihn widerwillig neben sich sitzen lassen, ohne ihn umzubringen.**

Sie hatte Nat nie wieder gesehen. Ob es ihm gut ging? Vielleicht konnte sie Danny überreden, ihn zu suchen. Vielleicht wusste er sogar, wo man ihn hingebracht hatte. Danny war ja in jener Nacht im Zirkus dabei gewesen. War das wirklich erst drei Tage her?
 

Nun saß sie in diesem traumhaften Garten, lies sich die Sonne auf die Nase scheinen und hatte endlich den Schützling, von dem sie so lange ferngehalten worden war.

„Komm her ... lass dich umarmen.“, schnurrte Urnue, kraxelte um sie herum, setzte sich einfach verkehrt herum auf ihren Schoß und strich ihr mit den Fingerspitzen zart über die Wange. Da sie rücklings am Baum lehnte, konnte sie nicht weg.

„Mo-Moment mal! Ich möchte das nicht!“, protestierte sie verwirrt.

„Sssscccchhhh ... Keine Panik. Ich will ja nicht gleich mit dir schlafen. Sie sagten doch, ich soll mich um dich kümmern.“

„A...aber so haben die das sicher nicht gemeint!“

„Ich versuche lediglich, dir ein wenig das Gefühl von Sicherheit und Achtung zu geben, das du nie hattest.“

„Und das DU vermutlich auch nie hattest?“, vermutete Nyu etwas mürrisch.

Urnue wandte betreten das Gesicht ab, und schon tat ihr die Bemerkung leid. „Wenn du es so sehen willst, ja. Ruppert ist kein sehr herzlicher Mensch, weist du? Er hat noch nie ein Lächeln oder gar einen Dank über die Lippen gebracht. Er hat mich zwar noch nie geschlagen, aber abgesehen davon ist meine Situation auch nicht viel anders als deine damals im Zirkus.“

„Was ist denn mit Josh´s Genius?“

„Der hat auch nicht viel für andere übrig. Der ist ein zurückgezogener Eigenbrötler und mit Josh´s Aufmerksamkeit schon mehr als bedient.“

Nyu zog ein mitfühlendes Gesicht und streckte dann einladend die Hände nach ihm aus, weil ihr sein übertrieben leidender Blick ein regelrechtes Bedauern abnötigte. „Tut mir leid, sorry. Komm her.“ Sie zog ihn sanft zu sich heran und küsste ihn nun doch.
 

„Was machst du denn für ein Gesicht?“, wollte Danny besorgt wissen, als Nyu in sein Zimmer kam. Er hatte sich endlich ein neues Hemd anziehen und seine Wunden verbinden können. Die taten immer noch fies weh, aber er ignorierte es. „Hat Urnue irgendwas angestellt?“

„Ja ... naja ... nein ... Ich scheine ihm zu gefallen ...“

„Und er dir auch?“, vermutete Danny. Dann lachte er. „Das ist doch schön. Urnue ist cool. Etwas schwarz, aber ansonsten echt fetzig. Was hindert dich?“

„Ich bin dein Genius Intimus!“, erinnerte Nyu ihn.

„Na und? Er ist auch einer.“

„Ich denke aber schon, daß ich meine ganze Aufmerksamkeit dir widmen sollte.“

„Eieiei ...“, seufzte Danny und kratzte sich am Kopf. „Komm mal her!“ Er zog sie neben sich aufs Bett, aus Mangel an anderen Sitzgelegenheiten. „Hör mal, du bist zwar mein Schutzgeist, aber du bist trotzdem ein eigenständiges, freies Wesen mit einem eigenen Leben. Du kannst tun und lassen was du willst, wann du willst, und mit wem du willst. Wenn du meinst, daß Urnue zu dir passt, dann hindert dich nichts daran, es auszuprobieren. Im Gegenteil, ich würde mich freuen.“

„Aber ... dich mag ich mehr als ihn. ... Jedenfalls bist du wichtiger.“

„Ach, Nyu, das ist zwar ehrenhaft, aber total unsinnig. Ich bin ein Mensch und ich würde mich nie im Leben mit Genii einlassen. Wir sind biologisch gar nicht füreinander gedacht. Genii sollten lieber untereinander anbändeln. Wenn immer alle Genii nur auf ihre Schützlinge fixiert wären, wären sie schon längst ausgestorben, weil sie nie Kinder bekommen würden.“ Nyu schaute ihn nur halb skeptisch, halb gekränkt an. „Außerdem ist es eher untypisch, daß ein Schutzgeist und Schützling verschiedener Geschlechter aufeinandertreffen. Wenn ich ein Mädchen wäre, würde sich die ganze Frage gar nicht stellen, verstehst du?“ Immer noch schien die junge Genia nicht einlenken zu wollen. Danny seufzte. „Okay, hör zu. Auch wenn das sicherlich wie ein Stoß vor den Kopf für dich sein muss, aber ich bin schon vergeben. Ich habe eine Verlobte! ... Und deren Genia auch, möchte ich anfügen.“
 

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* Zitate aus dem „Codex Geniorum“ aus der Geschichte „Schutzbestie“ von Salix.
 

** Die gesamte Befreiungsszene ist inhaltlich im Wesentlichen von Salix kreiert worden. Ich durfte aber meine Charaktere mit hineinbasteln und die Szene eigenverantwortlich aus Nyu´s Sicht wiedergeben. Nathaniel (Nat) ist Salix´ Hauptcharakter aus ihrer Geschichte „Schutzbestie“, Seiji (der geflügelte Asiate) ist ebenfalls Salix´ Charakter. Mega danke, daß ich sie mitverwenden durfte. ^^



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