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Das Panopticon

von

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Epilog

Ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Franz Kafka: Gibs auf (aus: Sämtliche Erzählungen)
 

Liebermann hatte sie dazu überredet zu gehen. Fast fühlte er sich schlecht bei dem Gedanken, sie allein gelassen zu haben. Aber ihn war auf einmal das Gefühl überkommen, dass seine Aufgabe hier noch nicht erfüllt war. Gegenüber von der Tür, durch die Rose vor einer Viertelstunde verschwunden war, befand sich ein Aufzug. Liebermann ging im unnatürlichen Licht, das der Bildschirm verbreitete (die Taschenlampe, sein Handy und die Karte hatte er Rose gegeben) auf den Aufzug zu. Versuchsweise drückte er den Knopf. Die Aufzugtür öffnete sich und er trat in die Kabine. Es gab nur einen Knopf am Armaturenbrett und den drückte er. Zischend schloss sich die Tür und der Aufzug glitt sanft nach oben.

Liebermann trat in einen weiteren runden Raum. Anders als der erste war dieser allerdings mit Fenstern ausgestattet, von denen aus man die Innenfassade des Firmengebäudes erkennen konnte. Unter der Fensterreihe, die sich um den ganzen Turm zog, waren verschiedene Rechner angebracht, von denen einige angeschaltet, der Großteil aber heruntergefahren war. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Liebermann das Szenario. Ganz offensichtlich befand er sich im Kontrollraum.

In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus Holz mit einer Kaffeemaschine und einigen Tassen darauf. Der Tisch wirkte seltsam fehl am Platze in seiner technischen Umgebung. Neben der Maschine stand ein Drucker, darin lag ein Stapel Blätter. Liebermann nahm das oberste vom Stapel und las.
 

Sehr geehrte Frau Wilslow,
 

leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass ihr Sohn, Adrian Wilslow am vergangenen Freitag einen tödlichen Unfall hatte. Wir möchten Ihnen hiermit unser Beileid ausdrücken und hoffen ...
 

Angewidert legte er den Brief beiseite und blätterte durch die anderen Papiere. Alles Todesmeldungen der Arbeiter an die Familien. Er überlegte kurz die von Rose zu suchen, ließ es aber bleiben.

Was ist das nur für ein System?, dachte er.

Doch dann zog ein Bildschirm seine Aufmerksamkeit auf sich und er ging hin, um ihn sich anzusehen.

Please log in with your username blinkte dort und darunter ein Kästchen, in das man wohl seinen Namen eintragen sollte. Anscheinend hatte Roberts sich ausgeloggt, als er den Turm verlassen hatte. Von einer plötzlichen Neugier erfasst, gab Liebermann dessen Namen ein.

Access neglected. User unknown.

Ein Anflug von Übermut erfasste ihn und eher er wusste, was er tat, hatte er seinen eigenen Namen eingegeben.

Log in successful.
 

Rose saß im Zug und starrte auf das Handy, das vor ihr lag und sie zu belächeln schien. Ein kurzer Anruf, dachte sie. Nur ein kurzer Anruf. Sie hatte ihre Mutter seit Monaten nicht angerufen, warum jetzt? Weil sie keinen Job mehr hatte? Weil sie keinen Grund mehr hatte, in dieser Stadt zu bleiben?

Sie dachte an Alexander und Susan und den alten Marley, an Joseph und vor allem an Carter. Sie wusste nicht was sie von Carter denken sollte. Sie konnte noch immer nicht begreifen, was er getan hatte.

Aber er muss mich gemocht haben, dachte sie. Sonst hätte er sich nicht so um mich gesorgt.

Sei nicht albern, flüsterte eine Stimme in ihr. Er hat dich nicht gemocht, er war von dir besessen. Und du weißt, dass das nichts ist, worauf man stolz sein kann.

Sie versuchte die Stimme zu verdrängen.

Der Zug hielt an einer Haltestelle und fuhr wieder an und noch immer lag das Handy unberührt auf ihrem Knie.

Warum hat er es dir denn gegeben, wenn nicht, um deine Familie anzurufen?, fragte die Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte zuerst geweint, dann hatte sie das Bedürfnis gehabt zu schreien, aber das konnte sie natürlich nicht. Die wenigen übrigen Passagiere beäugten sie schon jetzt argwöhnisch. Sie wusste, dass der Zug sich seiner Endhaltestelle näherte und sie schon viel zu weit gefahren war und jetzt bald aussteigen musste, wenn sie nicht irgendwo im nirgendwo landen wollte, von wo aus sie nie wieder in ihre Wohnung finden würde.

Mit einer schnellen Bewegung nahm sie das Handy, wählte die Nummer, die sie längst auswendig konnte, so oft hatte sie sie in Gedanken schon gewählt, und drückte auf Anrufen.

Der Signalton ertönte am anderen Ende der Leitung. Zweimal, dreimal, viermal ... „Ja, hallo?“

Eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen. „Mama, ich bin‘s, Rose.“

„Rose, wie schön dich zu hören!“ Wie schön dich zu hören, dachte Rose. „Warum rufst du an?“

Warum rief sie an? Sie dachte an Carter, an die Mordfälle, an die Flucht aus der Firma, an Liebermann, an ihre Zerstörung im Computerraum.

„Ich komme nach Hause.“
 

Die Rechner erwachten mit einem leisen Knacken zum Leben. Er schenkte sich einen Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ein, und ging zu den Fenstern, die sich einmal um den ganzen Raum zogen. Es war so früh am Morgen, dass es noch dunkel draußen war. Die Umgebung wurde nur durch vier Scheinwerfer, die vom Turm aus in den Hof hinabstrahlten, erhellt.

Da er sich selber im Turm befand, der in der Mitte des ringförmig darum angelegten Gebäudes positioniert war, hatte er einen guten Überblick über alles. Zwischen dem Turm und der Innenwand des Gebäudes war ein Abstand von vielleicht 40 Metern. Abgesehen von einem eingebauten Gang, war der Turm nicht mit dem Firmengebäude verbunden. Und abgesehen von den Kameras, natürlich.

Die Firma lief gut, die Leute waren fleißig und er war nur selten gezwungen, durchzugreifen. Als er eine junge Arbeiterin auf einer der Kameras entdeckte, zuckte auf einmal ein Bild durch seinen Kopf. Joseph Liebermann stellte den Kaffee ab und runzelte die Stirn. Ihm war, als habe er sich an irgendein Versprechen erinnert, das er irgendwem gegeben hatte. Aber so schnell wie der Gedanke gekommen war, war er auch wieder weg.

Er schob die Tasse zur Seite und machte sich an die Arbeit.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: Futuhiro
2012-06-17T16:50:26+00:00 17.06.2012 18:50
Oh ... also das hätte ich jetzt nicht gedacht.
Guter Abspann, ich wusste doch da kommt noch eine Wende. ^^

Grandiose Story! Von Anfang bis Ende wohldurchdacht, bildgewaltig beschrieben, super ausgearbeitete Charaktere, einfach nur wouw.
Fehlt quasi nur noch das <Fortsetzung folgt>, das schreit förmlich danach.

Einziges Manko (so als Abrundung, damit meine Lobeshymne hier nicht in Hysterie ausartet): Mach doch bitte in Zukunft die Kapitel kürzer! >.<
Von:  whitePhobia
2012-03-04T17:49:39+00:00 04.03.2012 18:49
Ersteinmal : Wahnsinn!

Ich habe die Geschichte gerade in einem Rutsch durchgelesen und ich muss sagen: ich bin beeindruck. So etwas hätte ich hier auf Mexx nicht erwartet.
Mich hat der Titel der Geschichte neugierig gemacht und nachdem ich den Begriff Panopticon erst einmal bei Wikipedia nachgeschlagen hatte, hat es mich doch gereizt zu erfahren, was für eine Geschichte dahinter steckt.
Der Tital passt sehr gut, doch lässt er einen - nachdem man Wikipedia gelesen hat - im Prolog doch erst einmal an eine Gefängnisgeschichte denken.
Doch weit gefehlt.
Trotz des etwas zu langem ersten Kapitel ( im Vergleich zu den nachfolgenden), nimmt die Geschihte mit dem ersten Mord sehr gut Fahrt auf.
Allerdings fand ich die Beschreibung des Unternehmens, bis zum Zeitpunkt des ersten Mordes an manchen Stellen schwer zu lesen. Manche Sätze kamen mir zu kompliziert aufgebaut vor, sodass ich sie zweimal lesen musste, nur um festzustellen, dass sie zwar völlig korrekt waren, aber dennoch komisch klangen. Nach der Stelle des ersten Mordes ist dein Schreibstil auf einmal viel besser und lässt sich flüssig lesen.

Der Spannungsaufbau in der Geschichte ist dir sehr gut gelungen und das Dystopia eines Unternehmens, das du darstellst ist großartig.
Die Beschreibung des "Normalfalls", der für das plötzliche Verschwinden eines Mitarbeiters hat mich schon sehr an die orwellsche Ausdruckweise erinnert.
Die Zitate an den Kapitelanfängen sind gut gewählt, auch wenn ich sie (besonders Kapitel 3) mehrmals lesen musste um ihre Bedeutung für die Geschichte zu verstehen.
Die Namenswahl derder Charaktere ist 1A. Man hat wirklich das Gefühl, dass du dir genau überlegt hat welche Wirkung du damit erzeilen wolltest.

Carter war mir bis Kapitel 3 eher verdächtig und berechnend vorgekommen, aber zum Schluss hast du es geschafft, dass ich ihn nun für das Opfer der Umstände halte.
Ich war von der Geschichte ziemlich baff, deshalb ist mein Kommentar etwas länger ausgefallen. Aber alles in allem kann ich sagen, dass die Geschicht zwar anspruchsvoll aber wahnsinnig gut ist.


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