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Danse Macabre -Totentanz-

von

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Hermesvilla

Anders hatte er sich diesen Abend nicht vorgestellt.

Viel zu steife Menschen tanzten zu viel zu steifer Musik in viel zu steifer Haltung. Innerlich wie äußerlich, das spürte Rudolf. Sie erinnerten ihn an Mannequins auf die man lieblos einige Lagen Stoff geworfen hatte und mit welchen man nun auf Drehscheiben ein Theater vollführte.

Ja, Theater war das passende Wort für dieses Gestrauchel auf der Tanzfläche.

Hin und wieder bemerkte er den ein oder anderen Blick auf sich, sei es von seinem Vater, welcher amüsiert neben ihm saß, oder auch von einigen Damen und Herren aus dem Tumult an bunten Personen. Rudolf langweilte sich, ließ sich das aber nicht anmerken.

Gewöhnlich hatte auch der junge Kronprinz einen persönlichen Grund diesen Festivitäten beizuwohnen. Entweder war das ein freundschaftlichen Plausch mit Loschek, einem Bekannten aus dem Adel, oder vielleicht sogar eine kleine Koketterie mit einem jungen Fräulein und selbstverständlich gab es stets genug zu Trinken. Es hatte eben auch seine Vorzüge zukünftiger Herrscher über Österreich-Ungarn zu sein. Bei dem Gedanken musste er sich kurz schütteln.

Dieses Verhalten, das hier von diesem ignoranten Adel an den Tag gelegt wurde, stieß ihm derart bitter auf, dass Rudolf beinahe schlecht wurde. Zumindest war Stephanie nicht anwesend.

Sie hatte die kleine Erzsi mit zu einem Besuch nach Belgien genommen, wohl um sich selbst vor den prüfenden Blicken der Kaiserin und des Hofstaates zu schützen. Dort war sie nach wie vor als Trampeltier verschrien und deswegen mied sie Hofbälle, sofern sie keine repräsentative Wichtigkeit besaßen, lieber gänzlich. Rudolf kam das entgegen. So konnte er sich auf den Bällen vergnügen, ohne dass seine Armbeuge von seiner Frau in Beschlag genommen werden musste. Wenn er sich überhaupt vergnügte.
 

Er hatte gehofft mit seiner Mutter sprechen zu können, welche sich nach langer Abwesenheit dazu herabgelassen hatte, Wien und die Familie mit ihrer Präsenz zu beglücken. Doch kurz nach ihrer Ankunft und einer sehr knappen Begrüßung war sie, zusammen mit Marie Valerie, auf die Hermesvilla geflohen. Und dort saß sie auch jetzt wieder. Dabei hatte der Kaiser dieses Spektakel ganz speziell für seine fliehende Frau veranstalten lassen. Zum Dank hatte sie sich zu Beginn kurz blicken lassen und war dann direkt in die schützende Einsamkeit zurückgekehrt.

Rudolf würde später oder am nächsten Morgen noch einmal das Gespräch suchen, momentan musste er diesen schrecklichen Wiener Walzer aushalten. Er vermisste Mizzi, er vermisste die junge Baronesse, welche er seit einiger Zeit traf und er vermisste die schöne ungarische Musik Bratfischs. In seinen Gedanken huschte eine weitere begehrte Gestalt umher, doch Rudolf würde sich hüten, diesen geliebt-gehassten Gefährten lange Zutritt zu seinem Verstand zu gewähren. Schon viel zu intensiv nahm der Tod einen großen Teil des Gedächtnisses Rudolfs ein und vernebelte ihm das rationale Kalkül. Und das nicht nur in seiner menschlichen Erscheinung. Auch in dem was er tat. Aber noch hatte der Kronprinz genug Leben in sich, um der verlockenden Umarmung zu widerstehen. Noch.

In den wenigen Tagen nach dem Gespräch mit seinem Vater hatte sich vieles geregt. Der Kaiser ahnte mehr denn je, wer dieser seltsame Julius Felix wirklich war und auch nach vielen, anstrengenden Diskussionen verstand der alte Franz Joseph nicht, was sein Sohn ihm verzweifelt beizubringen versucht hatte. Es ging nicht mehr nur um Rudolfs Leben oder sein Ansehen.

Hier hing die Zukunft Österreichs am seidenen Faden der Geschichte. Wenn sich die Spannungen im Volk und in den umliegenden Ländern weiter derart ausbauten, würde das mit Sicherheit in einem Krieg enden, wie ihn die Menschheit noch nicht gesehen hatte. Dessen war sich Rudolf mehr als bewusst und er hatte die Chance das zu verhindern. Er musste mit den umsorgten Traditionen zu brechen und ein neues, liberales Zeitalter einzuläuten. Doch alleine konnte er nicht gegen seinen Vater wettern. Zu sehr hatte das Schicksal gegen ihn gespielt, ihm die Kraft entzogen wie die heiße Sonne einen Fluss auszutrocknen vermag. Krankheiten, seine Ehe, seine Aufgaben. All das preschte gegen den spröden Felsen seines Lebens. Die Einzige, welche ihm nun helfen konnte, war seine Mutter Elisabeth. Sie waren sich so ähnlich, wie ein Spiegelbild dem anderen und sie würde verstehen, wie es Rudolf ging. Sie würde mit dem Kaiser sprechen können und ihn von seinen festgefahrenen Werten lösen. Ihn öffnen für Neues und für Rudolfs Bedenken. Wenn er es genau betrachtete, hatte er keinen Grund mehr, diesem ermüdenden Schabernack auf der Tanzfläche zu folgen. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren, also erhob er sich und wandte sich kurz zu seiner Rechten.

„Ihr entschuldigt mich, Vater. Ich werde sehen ob...“

„Verzeiht, kaiserliche Hoheit.“

Eine klare Frauenstimme schnitt ihm ins Wort. Rudolf drehte sich Richtung Ballsaal und erblickte eine zierliche, blasse Dame in einem langen, dunkelblauen Kleid. Wilde Locken umspielten ihre feinen Züge und ein kleiner, an ihrem kunstvollen Hut angebrachter, Tüllschleier kaschierte die mandelförmigen Augen, welche so dunkel waren wie die Nacht.

„Diese bescheidene Person würde sich über alle Maßen geehrt fühlen, wenn Ihre Majestät der Kronprinz ihr einen Tanz schenken würde“, sprach sie, während sie großzügig einen Knicks vollführte und ihr Haupt gesenkt hielt.

Der Kaiser schien von dieser Bitte eher erbost.

„Welch Dreistigkeit! Ihr wisst wohl nicht, wem Ihr gegenübersteht, Verehrteste“, schnaubte er brummig, sodass es niemand im Umfeld bemerkte.

„Nicht doch, Vater“, schritt Rudolf schnell ein, fasziniert von dem Wesen vor ihm. „Die Gräfin ist eine alte Bekannte von mir. Ich werde ihren Wunsch mit Freuden erfüllen.“

Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen, während er die wenigen Stufen hinunter schritt und der Dame seine Hand anbot.

„Darf ich bitten?“
 

Schon als er noch klein war, wurden ihm diese Tanzschritte eingeflößt. Eins-Zwei-Drei, Eins-Zwei-Drei und immer so weiter.

Selten hatte er anders getanzt, so fiel ihm das Drehen der Walzerkreise mit seiner Begleitung im Arm nur allzu leicht. Er hasse es, so zu tanzen. Aber eine nette Partnerin linderte die Abscheu oft in nicht geringem Maße.

Während er aufpasste, mit keinem anderen Tanzpaar zusammenzustoßen, zog es seinen Blick immer wieder auf die eindringlichen Augen der Dame vor ihm. Rudolf konnte nicht mal sagen, warum.

„Ihr seid entweder mutig oder dumm, mit einer völlig Fremden zu tanzen, Hoheit. Euer Herr Vater scheint die Flunkerei nicht bemerkt zu haben“, erwähnte die Dame und zog kokett die Mundwinkel nach oben.

Rudolf kicherte kurz.

„Nun, wie würdet Ihr mich einschätzen, meine Liebe?“

„Einer einfachen Person wie mir steht eine solche Aussage nicht zu, Majestät.“

Diese Frau war mehr als seltsam und vielleicht war es genau das, was Rudolfs Interesse geweckt hatte. Nicht die grazile Figur, nicht die schöne Brust oder die perfekt geschwungenen Lippen. Nein, von diesem Mensch ging eine ganz eigene Ausstrahlung aus, das spürte der Prinz mit jeder Faser seines Körpers. Er musste aufpassen, was er tat. Noch waren viele bekannte Gesichter um sie herum und ein zu intimes Gespräch würde Geplapper und Geschwätz nach sich ziehen. So etwas sollte sich nicht noch zu den Skandalen addieren, die ihn ohnehin schon belasteten. Aber möglicherweise konnte diese mysteriöse Schöne ihm ein paar angenehme Stunden bescheren. Gerade jetzt, wo er weder zu Mizzi, noch zur jungen Baroness Vetsera gehen konnte. Sein geplagter Geist würde es ihm sicher danken.

„Wenn Ihr mich weiter so anstarrt, habe ich fast Angst, Ihr fresst mich mit Haut und Haaren, Prinz“,amüsierte die Dame sich und strich sich behutsam eine Locke hinter das Ohr.

„Bei einem solch entzückenden Anblick fällt es mir schwer, Euch nicht anzustarren“, entgegnete Rudolf leise. „Hättet Ihr Lust mich auf ein Getränk auf den Balkon zu begleiten?“

„Ihr schmeichelt mir, mein Prinz.“
 

Die klare Winterluft kühlte das erhitzte Gemüt Rudolfs, nachdem er sich und seiner Begleitung ein Glas, gefüllt mit einer alkoholischen Flüssigkeit, eingeschenkt hatte. So standen sie schweigend beieinander, nippten hin und wieder am Getränk und lauschten den verzerrten Walzertönen aus dem Ballsaal.

„Ich muss an Eure Worte auf der Tanzfläche denken, Madame“, begann der Kronprinz schließlich. „Bin ich mutig oder dumm?“

Die Fremde lächelte.

„Wie würdet Ihr selbst diese Frage beantworten?“

„Vermutlich beides“, lachte Rudolf. „Beides zu gleichen Teilen. Doch momentan wäre mir die mutige Seite die wünschenswertere. Es ist eine schwere Zeit.“

„In der Tat, das ist es. Die Zukunft ist ungewiss.“

Während die Dame sich auf eine Bank zurückzog, blieb Rudolf am Geländer des Balkons stehen und beobachtete hingerissen die Sterne über ihm. In solchen Augenblicken, solchen stillen, kleinen Momenten, schossen dem Prinzen millionen Fragen in den Sinn. Oft waren es zu viele und er verbannte sie mit einer Dosis Morphium in die Vergessenheit. Versteckte sie unter einem transparenten Schleier und hoffte, sie würden niemals wieder auftauchen.

Doch genauso gut wusste er, dass das unmöglich war. Er wollte diese Fragen beantworten, für sich und auch für sein Volk, selbst wenn das hieße, gegen Windmühlen zu kämpfen.

„Wo bleiben meine Manieren. Ich habe Euch noch gar nicht nach Eurem Namen gefragt, Verehrteste“, versuchte sich Rudolf von seinem schmerzendem Kopf abzulenken. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die steinerne Abgrenzung und ließ das Haupt baumeln.

„Mein Name? Ich habe viele“, erklang es von der Bank und Rudolf gluckste amüsiert.

„Ich ebenso“, sagte er und räusperte sich, bevor er mit einer gestellt strengen Stimme weiter: „Rudolf Franz Carl Joseph, des Kaisertum Österreich Kronprinz und Thronfolger, königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, der Lombardei und Venedigs, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien. Erzherzog von Österreich. Ritter des goldenen Fließes. Und in Zukunft werden sich wohl noch weitere hinzugesellen.“

„Welch bewundernswerte Sammlung, mein Prinz.“

„Keine, auf die ich stolz bin.“

Ein Moment der Stille trat ein. Als er des Wartens überdrüssig wurde, leerte Rudolf sein Glas in einem Zug und fragte dann erneut: „Nun? Es ist nur gerecht, wenn Ihr mir nun Euren Namen verratet.“

Die Dame kicherte und diesmal lag ein sehr seltsamer Ton darin, den der Prinz aber nicht zu deuten vermochte.

„Meinen Namen und meine Titel zu nennen, würde vermutlich den Rest der Nacht dauern“, sagte sie kess.

„Wie interessant. Dann seid Ihr wohl eine ganz außergewöhnliche, junge Dame? Womöglich sogar eine Kaiserin?“, witzelte Rudolf und wandte sich nun zu seiner Begleitung um.

Mit einem schrillen Klirren fiel ihm das wertvolle Glas aus der Hand und zerbarst in tausende glitzernde Splitter. Seine Augen waren weit aufgerissen. Wie konnte er das nicht bemerkt haben?

„Eine Kaiserin? Nein. Ich bin nur ein stiller Beobachter. Meine Aufgabe ist eine andere.“, sagte der Tod und leerte dann ebenfalls sein Getränk. Nachdem er sein Glas auf die Lehne der Bank abgestellt hatte, erhob er sich, strich sich kurz über den dunkelblauen Anzug und trat dann an den zitternden Rudolf heran. Von dem eleganten Kleid, geschweige denn weiblichen Zügen war nichts mehr zu erkennen.

„Kleiner Prinz. Warum auf einmal so still?“, fragte der Tod und fasste seinen Gegenüber am Kinn.

„Du?“, kam es Rudolf über die Lippen. Jedoch schaffte er es, sich dem Griff der feinen Hand zu entziehen und etwas Distanz zwischen sich und den alten Freund zu bringen. „Was sollte dieses Theater?“

„Warum nicht etwas Spaß haben in solch ernsten Zeiten? Ein Zirkus ist nur so unterhaltsam, wie sein mutigster Gaukler, nicht wahr?“

Der Tod hatte eine der kleinen Scherben des Glases aufgehoben, welches Rudolf zuvor aus der Hand gefallen war, und spielte nun zwischen Daumen und Zeigefinger damit herum. Scheinbar hatte er keinerlei Bedenken sich zu verletzen.

Es machte Rudolf wütend. Unsagbar wütend. Dieses Wesen dort auf dem Balkon betitelte sich selbst als seinen Freund. Ein Status, den nicht viele in Rudolfs jungem Leben innehatten und dessen Bedeutung ihm schon lange wichtiger war, als es Familie je hätte sein können. Trotzdem tauchte der Tod nur auf, um ihn zu verspotten. Weder wollte er den Prinzen zu sich holen, noch ihm den bitter nötigen Trost spenden. Sobald der Tod die tragische Bühne der kleinen Kronprinzenwelt betrat, wusste Rudolf gar nichts mehr sicher. Vielleicht war er seine persönliche Furie, die in den schwächsten Moment herein geschwebt kam, um ihm Salz in die offene Wunde zu streichen?

Zornig und vermutlich mit einem Hauch von Leichtsinn schlug Rudolf dem Mann vor ihm den Glassplitter aus der Hand. Seine Gesichtszüge waren von Hass getränkt.

„Verschwinde!“, zischte der Kronprinz und für den Bruchteil eines Augenblicks konnte er Erstaunen im schwarzen Blick des Todes erkennen; allerdings genauso flüchtig wie ein Windhauch.

Stattdessen starrte er wieder in das gleiche, niederträchtige Lächeln, welches er schon viel zu oft in seinen Träumen gesehen hatte.

„Interessant...“, sagte der Tod ruhig und begutachtete den kleinen, roten Schnitt an seinem Finger. „Höchst interessant.“

Von Rudolfs wachsamen Augen verfolgt, schritt der Tod zur Balkontür und mit einer ausladenden Verbeugung war er verschwunden. Die Welt verfiel in Stille und Einsamkeit.

So sehr die Wärme des Lebens zurück zu ihm fand, so schwach wurden die Beine des Prinzen und er musste sich an der Balustrade festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Sein Atem ging schwer und sein Kopf wummerte, wie die entfernten Pauken des Orchesters.

„Mutter...“, flüsterte Rudolf mit dem jämmerlichen Rest seines angehaltenem Atems.
 

Die Tage vergingen und Rudolf war sich sicher, dass die Kaiserin bald wieder flüchten würde. Es war schon ein Wunder, dass sie überhaupt länger als zwei Tage in der Nähe seines Vaters verblieb und er wusste auch, dass ihm die Zeit davonrannte. Er musste das Gespräch mit ihr suchen, und zwar jetzt.

Behutsam klopfte Rudolf an eine der Türen in der Hermesvilla, hinter welcher sich das Gemach seiner Mutter befand. Nach einigen Momenten ohne Antwort versuchte er es erneut und diesmal erklang ein leises 'Herein'. Nicht Elisabeths Stimme, aber immerhin durfte er eintreten.

„Eure kaiserliche Hoheit, ich hatte nicht erwartet...“, begann die Hofdame, begleitet von einem Knicks, doch Angesprochener schnitt ihr ins Wort.

„Ist meine Mutter zugegen?“, fragte Rudolf und schaute sich rasch in dem Zimmer um. Niemand da.

„Die Frau Kaiserin befindet sich gerade im Nebenzimmer und wünscht keine Störung. Die Pflege ihrer Haare steht nun an.“ Das scheue Mädchen hielt die Augen auf den Boden gerichtet und ihre Stimme klang beinahe ängstlich. „Ich befürchte, Sie müssen sich gedulden, Majestät.“

Um ein Haar hätte Rudolf die Fassung verloren, doch im richtigen Moment zwang er ein „Gut, ich werde hier warten. Richten Sie es der Kaiserin aus.“ über seine Lippen. Die Hofdame knickste erneut und tippelte zügig zu der charmanten Holztür mit dem warmen Milchglas, welche beide Räume voneinander trennte.

Rudolf genoss den ruhigen Moment, den sanften Wind, der durch das geöffnete Fenster hineinkam und die weinroten Vorhänge zum Tanzen brachte. Auf den hellen Wänden wanderten kleine und große Lichtwesen ihre stummen Wege, interessierten sich aber nicht näher für die Realität, sondern warteten lieber auf die nächste Wolke. Trübsal überschwemmte langsam die Luft.

Der Prinz setzte sich seufzend auf einen der gepolsterten Stühle und massierte die schmerzenden Schläfen.

Nie hatte sich Rudolf schwächer und verletzlicher gefühlt. Weder Mary noch Mizzi konnten sein Gemüt aufheitern, nicht einmal seine kleine Tochter oder Morphin reichten aus, ihn aus dieser Hölle namens Realität zu holen.
 

Und der Tod?

Rudolf dachte viel zu viel an ihn, viel mehr als ihm lieb war. Nach dem Streitgespräch auf dem Ball suchte dieses Gespenst tagtäglich die Gedankenwelt des Prinzen heim. Ob das Absicht war?

Aber wer konnte schon sagen, was im Kopf des Sensenmannes vor sich ging?

Rudolf hatte nicht den Hauch einer Ahnung, aber das war ihm auch nur allzu lieb. Sicher war nur, dass der Tod sich nicht mehr hatte blicken lassen und dass es Rudolf von Tag zu Tag schlechter ging.

Seine Mutter war jetzt seine letzte Chance.

Wenn Elisabeth ihrem Sohn nicht helfen konnte, so wäre niemand mehr dazu in der Lage etwas zu tun. Dann hatte Rudolf den Kampf verloren.

Während er dort wartete und mit dem Verlangen nach einer Zigarette rang, schlichen sich Erinnerungen in sein Bewusstsein.

Die wenigen, zarten Erinnerungen, die er an seine Mutter hatte.

So gerne hatte Rudolf sein wollen wie sie, doch zerbrach das Ideal vor ihm, wie das Glas am Abend des Hofballs. Ihre letzte, private Unterhaltung war schon so lange her, dass sich der Prinz weder an das Thema noch an die Gelegenheit erinnern konnte. Die letzte Berührung schien längst wie eine Legende, ein Mythos und man würde kaum meinen, dass er und die Kaiserin familiäre Bande teilten. Natürlich wusste er, dass es sich so gehörte. Wäre seine kleine Erzsi ein Junge geworden, wie es sich jeder am Hofe gewünscht hatte, wer weiß wann er sein Kind dann zu Gesicht bekommen hätte? Seine jüngste Schwester, Marie Valerie, war anders. Sie erntete die Aufmerksamkeit ihrer Mutter, die sich Rudolf so sehr wünschte. Er selbst und seine große Schwester Gisela gingen allerdings vollständig leer aus.

Nachdem er aufgestanden und einige nervöse Schritte im Zimmer herumgestreift war, sah er plötzlich eine Gestalt vor sich erscheinen. Eine dünne Figur mit langem Gesicht, streng zurückgekämmten, braunen Haaren und dunklen, traurigen Augen, denen man die fast 30 Lebensjahre nicht ansah. Rudolf brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er in einen Spiegel schaute. Vorsichtig trat er näher und begutachtete diesen fremden Mann ihm gegenüber.

Wie müde er aussah. Die gräulichen Ringe unter seinen Lidern, der von Krankheit gezeichnete Rand seiner Augen – und doch hatte er das Gefühl, er würde den Blick eines Kindes kreuzen.

Ein Blick, der sich nach Freiheit und Veränderung sehnte, der vor Neugier und Wissensdurst nur so übersprudelte und für den Gefühle und Romantik noch keine verfremdeten Begriffe waren.

Genau solch einen Blick hatte er in seiner Mutter zu erkennen geglaubt.

„Ob sie wohl mich sehen würde, wenn sie in den Spiegel sieht?“, murmelte Rudolf zu sich selbst, das reflektierende Glas vor ihm zärtlich berührend.

„So wie ich sie in mir wiederfinde?“
 

Die Tür wurde geöffnet und Rudolf fuhr in Erwartung seiner Mutter herum. Doch ihn begrüßten lediglich ihr Hinterkopf und das atemberaubend schöne, lange Haar, welches gerade von einem Kammermädchen gekämmt wurde. Scheinbar war er es nicht mal wert, angeschaut zu werden.

„Was soll diese Störung? Wie du siehst, habe ich zu tun. Also fasse dich kurz und sag, was du hier willst“, sprach Elisabeth. Sie versuchte nicht einmal, den säuerlichen Ton in ihrer Stimme zu verstecken.

Ihr Sohn schluckte bitter, bevor er Worte formte, welche er zuvor noch nie auszusprechen gewagt hatte.

„Mama...ich brauch' dich...“

Ein Moment der Stille folgte. Man hörte lediglich die Bürste durch das wallende Haar der Kaiserin gleiten, doch für Rudolf klang es fast wie kratzende Nägel an einer Schiefertafel.

Nach einigen Augenblicken hob Elisabeth schließlich die Hand und das Mädchen mit dem Kamm verschwand mit gesenktem Haupt aus der nächstliegenden Tür.

Da seine Mutter keine Anstalten machte das Wort zu ergreifen, begann der Kronprinz zu sprechen:

„Es geht mir nicht gut, Mama. Ich kann diese Fassade nicht länger aufrecht erhalten. Stephanie ist genauso unzufrieden mit mir, wie ich mit ihr und dieses steife Getue bei Hof raubt mir langsam sämtlichen Verstand“, gestand er. Rudolf hatte genug von Etikette, er wollte mit seiner Mutter sprechen und nicht mit der Kaiserin von Österreich.

„Das kann ich dir nicht ersparen, Sohn“, kam es von Elisabeth, doch Rudolf überhörte ihren Einwand.

„Ich bin krank. Täglich muss ich mehr Morphium nehmen, um überhaupt noch einen klaren Schritt machen zu können und dann...ist da dieser Julius Felix. Mama, ich bin sicher du weißt, was es damit auf sich hat.“

„Davon will ich nichts wissen.“

„Ich kann nicht mehr, Mama!“

Jetzt war Rudolf an seine Mutter herangetreten und stand mit hängendem Kopf hinter ihr. Er machte sich keine Mühe, Unsicherheit und Verzweiflung zu unterdrücken. Die zittrigen Worte sprachen für sich.

„Ich weiß, du denkst genauso wie ich. Wir sind uns so ähnlich, du und ich, Mama. Nur du kannst mir noch helfen. Es muss etwas geschehen im Reich. Wenn du für mich bei Va...beim Kaiser bitten würdest, hätte ich noch eine Chance. Er weiß, was ich tue...Bitte hilf mir. Dann wäre es noch nicht zu spät.“

Kaum hatte er den letzten Satz beendet, war die Kaiserin schon aufgestanden und herumgefahren. Nun endlich sah sie ihren Sohn an. So kalt, wie der einsamste und härteste Wintertag.

„Wenn wir uns so ähnlich sind, dann weißt du sicher auch, dass der Kaiser und ich uns nichts zu sagen haben. Weder er mir, noch ich ihm“, sagte sie, bar jeder Emotion außer dieser fürchterlichen Kälte zu zeigen.

„Aber...“

„Ich bitte NIE! Nicht für dich, oder für sonst jemanden!“

Und damit schien für Elisabeth alles gesagt zu sein; denn sie ergriff den Fächer, der auf ihrer Kommode lag und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Rudolf hätte schwören können, Donner gehört zu haben. Donner, Gewehrsalven oder Knüppelschläge, vielleicht auch nur das Schlagen seines Herzens, welchem man nun jede Hoffnung geraubt hatte. Und irgendwo, weit, weit in der Ferne hörte er das diabolische Lachen einer unendlich vermissten Schattengestalt.

Vor ihm lag seine Kronprinzenwelt in tausenden Scherben.

Er hatte verloren.

„Also...lässt du mich im Stich?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
NACH 3 JAHREN GEHT ES WEITER WOOOOOOOW! xD Komplett anzeigen

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