Zum Inhalt der Seite

Bruderkuß

1942
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel I


 

Kapitel I

19. - 20. November 1942
 

Ihm fehlte Kirowohrad.

Die von den Deutschen besetzte Stadt in der Ukraine, vollkommen gleichgültig wie zerstört sie mittlerweile auch war, hatte Ludwig im letzten Jahr immer wieder erfolgreich als Lichtblick, als willkommene Abwechslung zur Front und der eintönigen Feldküche gedient. Wie lange hatte er nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen? Kirowohrad hatte mehr als die meisten anderen Städte unter der deutschen Besatzung zu leiden. Der Straßenbahnverkehr war vollkommen lahmgelegt. Im Stundentakt hielten und fuhren Lazarettzüge in die Stadt und verließen sie wieder, brachten Verletzte und Tote von der Ostfront oder fuhren diejenigen, die wieder dazu imstande waren, eine Waffe zu halten, wieder dorthin zurück. Betrunkene Soldaten belagerten die Offizierskasinos, besetzten fremde Häuser und genossen es in vollen Zügen, die Macht des Eroberers auch bei den ukrainischen Frauen ausnutzen zu können. Partisanen, egal wie unbeholfen sie waren oder wie improvisiert die Waffen, die sie gebrauchten, zusammengezimmert waren, wurden kurzerhand erschossen - so zumindest sah die gnädige Variante aus. Ludwig hatte gesehen, wie die Standartenführer mit jenen umgingen, die sich diesem Befehl nicht unterwerfen wollten. Hinzu kam, dass sich die diffusen Anordnungen, die sie aus dem Heimatland erhielten, vielfach und farbenfroh interpretieren ließen. So war es von Offizier zu Offizier vollkommen unterschiedlich, wie und woran sie einen Delinquenten entlarvten und wie sie daraufhin mit ihm umsprangen. Für den einen konnte schon eine vermeintliche Ladehemmung ein Zeichen für mutwilliges Zögern sein. Ludwig hatte keine Sorge um sich selbst. Er gab gut auf sich Acht, auf das was er tat und das was er sagte. Wenn er Zweifel hegte, ob nun am Unterfangen an sich oder solche, die tiefgreifender waren, behielt er sie für sich. Tatsächlich beunruhigte ihn mehr, was das Schicksal seines älteren Bruders betraf.

Ludwig hatte drei Wochen in Kirowohrad verbracht, nachdem er kurz vor Stalingrad unter Dauerbeschuss geraten war und sein rechter Oberschenkel, bevor er in den rettenden Schutz eines vollkommen ausgebrannten, russischen Militärfahrzeugs hechten konnte, von drei etwas über fünf Zentimeter langen Geschossen einer Kalaschnikow perforiert worden war. Als Gilbert sich dem Weg zu ihm freigeschossen hatte, war Ludwig kurz davor gewesen, das Bewusstsein zu verlieren. Kurz unter seiner rechten Gesäßhälfte und über seinem Knie klafften zwei faustgroße Austrittswunden. Er hatte nach seinen Wunden getastet und einen betäubenden Schwindel verspürt, als er zwischen warmem, nassen Stoff mit seinen Fingern einen gewaltigen Hautlappen streifte, der sich wie ein Deckel über eine der Wunden gelegt hatte.

“Nicht bewegen”, hatte Gilbert gesagt. Selbst ohne den Befehl seines Bruders und Vorgesetzten hätte er nichts anderes vorgehabt. Der Schmerz, der sich durch sein Bein zog, trieb ihm die Galle in den Hals. “Ich bring dich hier raus.”
 

Er war im Lazarettzug erwacht. Allein das Erwachen löste Verwunderung in ihm aus. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er weggedriftet war. Neben ihm, auf einer Pritsche aufrecht sitzend, konnte er die schemenhaften Umrisse seines Bruders erkennen. Er hätte die Front nicht verlassen dürfen. Nicht als Offizier.

Über beiden Betten baumelten Blutkonserven. Ludwig blinzelte in das Halbdunkel des Waggons. Hinter sich konnte er einen weiteren Offizier leise und schmerzerfüllt stöhnen hören. Gilberts Kopf hing auf seiner Brust, die Augen geschlossen, die Lippen jedoch zu einem stummen Lächeln verzogen. An seinem linken Fuß befand sich ein dicker, blutdurchtränkter Verband. Ansonsten schien er nahezu unverletzt zu sein.
 

Während Ludwig im Kirowohrader Lazarett genug Zeit hatte, um wieder zu genesen, trieb sich Gilbert hauptsächlich in den improvisierten Kasinos der Stadt herum. Viel zu spät hatte er Frontbefreiung beantragt und konnte sich glücklich schätzen, bei seinem kleinen Ausflug, der ihm ohne weiteres als Desertierungsversuch hätte ausgelegt werden können, nicht erwischt worden zu sein. Eine Kugel im Fuß war kein Grund dafür, die Front zu verlassen. Streng genommen war das nicht einmal die Patrone, die in Ludwigs Oberschenkelknochen stecken geblieben war. Aber er beschwerte sich nicht. Vollkommen egal, wie pflichtbewusst er war - jeder Tag an diesem Ort, mit oder ohne diese Verletzungen, war einem Tag in der Hölle gleich. Da zog er den warmen Kleiebrei und die dünnen Lazarettmatratzen dem Mündungsfeuer vor, dem er dort oben im Nordosten täglich in die Augen blicken musste.
 

Nun saß er im Keller irgendeines Hauses auf dem nasskalten Boden, die Luft geschwängert vom Rauch der eigenen Granaten. Er wünschte sich zurück nach Kirowohrad. Er wünschte sich zurück nach Berlin.

Doch nun gab es kein Zurück mehr.
 

“Sieh dir das an!” sagte Gilbert und leerte seine Taschen vor ihm aus. “Ich muss einen Generalmajor erwischt haben. Wie viele Sterne haben die noch gleich? Zwei?”

“Einen”, antwortete Ludwig und zog seine Beine an sich heran, um sich ein wenig zu wärmen. Gegen Abend hatte es erneut zu schneien begonnen. Durch das unter der Decke gelegene Kellerfenster fiel nun kein einziger Lichtschein mehr. Zwei kleine Feldlampen, die sie unter die Decke gehängt hatten, spendeten wesenloses, gelbes Licht.

Zu den Gegenständen, die Gilbert vor ihm auf den Boden legte, gehörten eine kleine Dose Kaffee, Tabak und ein Beutel voll mit golden schimmernden Rubeln.

“Wie viel die wohl wert sind? Was denkst du?”

“Wohl nicht mehr allzu viel, Gilbert”, antwortete Ludwig widerstrebend. Die wissentlich durch die Sowjetunion herbeigeführte Hyperinflation hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass diese Rubel nicht einmal mehr halb so viel wert waren wie das Metall, aus dem sie bestanden. Gilbert ging nicht näher darauf ein. Als er die Tabakdose öffnete, sog Ludwig seine Wangen nach innen und presste seine Lippen aufeinander. Der Tabak roch herb und war ein wenig feucht, grob geschnitten und kräuselte sich an den Enden. Aber es war Tabak. Sein Bruder holte eine kleine, langstielige Pfeife hervor, die er anscheinend ebenfalls dem toten Major abgenommen hatte, und begann, sie zu stopfen. Man konnte allein seinem konzentrierten Blick entnehmen, dass er normalerweise Zigaretten rauchte. Gilbert hatte keine Ahnung, wie viel Tabak in so eine Pfeife gehörte.

“Verschwende nicht unsere Streichhölzer, Gilbert”, knurrte Ludwig und runzelte die Stirn. Der ältere lachte hohl und zückte ein Streichholzkästchen.

“Sag mir nicht, du willst es nicht auch”, schnarrte er mit einem überheblichen Lächeln und schob sich das Mundstück der Pfeife zwischen die Lippen. “Ich kenne diesen gierigen Blick. Du kannst nicht anständig bleiben. Selbst, wenn du es willst.”

“Weil du mich dazu treibst.” Ludwig verschränkte die Arme vor der Brust, als Gilbert ein Streichholz entzündete und die Flamme dicht über die Pfeife hielt. Es schien fast so, als ob der feuchte Tabak die dunkelgelbe, zuckende Flamme in sich aufzusaugen versuchte. Immer wieder hielt der ältere das Streichholz schief nach unten, dann wieder gerade, damit die Flamme nicht erlosch, das Holz aber auch nicht zu schnell abbrannte. Als die Flamme auf seinen Fingernägeln brannte, schüttelte er das Streichholz aus und fluchte leise. Noch ehe Ludwig sich beschweren konnte, zündete er das nächste an. Er hatte keinen Blick in das Kästchen erhaschen können, doch es hörte sich nicht so an, als ob sie noch viele hatten. Wieder begann Gilbert, mit dem Feuer zu kämpfen.

Von draußen drang durch den Schnee gedämpfter, lange nachhallender Donner. Ludwig blickte an die Decke. Unwillkürlich verkrampften sich seine Hände in den Ärmeln seiner Uniform. Putz rieselte von der Decke. Die anderen Soldaten, die ringsum im Raum saßen und lagen, folgten seinem Blick. Gilbert ließ sich nicht irritieren. Als der Pfeifentabak endlich zu qualmen begann, lächelte er triumphierend und sog fest an dem Mundstück, damit die Glut nicht zu glimmen aufhörte.

“Unsere Leute? Oder deren?” fragte er sich leise und setzte sich im Schneidersitz vor Ludwig, die Pfeife in seiner linken Hand. Nun blickte er auch nach oben an die vom Licht der Feldlampen spärlich erhellte Decke. Schattenhaft tanzte der Rauch der Pfeife unter ihr, als die Lampen zu zittern begannen.

Unter den Soldaten machte sich leises Raunen breit. Ludwig konnte spüren, wie der Raum sich mit Angst füllte. Es war vollkommen irrelevant, wer die Granaten warf; wessen Panzer es waren, die durch die Stadt rollten. Wenn sie die Häuser beschossen, konnten sie hier nicht bleiben.

Wieder zog Gilbert an der Pfeife, dann hielt er sie seinem Bruder vor die Nase. Widerstrebend löste Ludwig seine Hand von der Uniform und griff nach dem kleinen, runden Pfeifenkopf. Als er an ihr zog, zitterte die Decke erneut für einen kurzen Augenblick und ein gewaltiges Grollen schien sich wie eine Welle durch die Wände zu rollen. Er versuchte, den Rauch einzuatmen und ihn nicht zu verschlucken. Der feuchte Qualm kratzte im Hals und fraß sich durch seine Bronchien.

„Ich hab 'nen scheiß Generalmajor erlegt“, murmelte Gilbert, der die nächtlichen Kampfgeräusche vollkommen zu ignorieren schien, und verschränkte zufrieden grinsend die Arme hinterm Kopf. „Wie großartig ist das denn bitte?“
 

Je weiter die Nacht voranschritt, desto weiter entfernte sich das bedrohliche Donnern. Es schien aus dem Norden der Stadt zu kommen. In der Morgendämmerung verließen sie und die einundsechzig Männer, die von ihrem letzten Sturmbann und den ihnen zugeteilten Wehrmachtssoldaten übrig geblieben waren, den Schutz der Kellerräume. Irgendwo weiter nördlich von ihnen musste sich die 3. Rumänische Armee befinden. Wenn sie zu diesen aufschließen konnten, konnten sie mit deren Funkgerät möglicherweise Kontakt zu ihrem Standartenführer aufnehmen, der sich vermutlich noch außerhalb der Stadt befand. Vielleicht war bereits Verstärkung unterwegs. Sie mussten nur lange genug ausharren, bis sie abgelöst wurden. Und das wichtigste war, dass sie nicht starben. Ludwig sagte es sich immer wieder. Ganz gleich, was geschah. Nicht sterben.
 

Ihr Trupp bestand hauptsächlich aus Männern, die bereits mehr als die Hälfte ihrer Lebenserwartung, ging man von normalen Umständen aus, überdauert hatten. Der älteste von ihnen, ein Mann namens Johan Frisch, zählte zweiundsiebzig Jahre, war für sein Alter aber noch erstaunlich wendig und durchtrieben. Er hatte bereits im ersten, großen Krieg gedient und sprach, selbst wenn man ihn nicht danach fragte, andauernd von den Vorzügen des guten, alten Kaiserreichs. Das jüngste Mitglied ihres Trupps war ein dreizehnjähriger Junge aus Mannheim, der in seinem Wesen, wie Ludwig fand, unglaublich seinem älteren Bruder aus Kindertagen ähnelte. Wäre dieser Junge in einer besseren Welt aufgewachsen, spielte er im Sommer mit seinen Freunden an Tümpeln, um Frösche zu fangen, sie aufzublasen und Schnecken mit Salz zu bestreuen. So ein Junge hätte er sein können. Nun, statt Ameisen mit Feuer zu triezen, hatte er ein Maschinengewehr geschultert. Aufgerissene Hände und schorfige Knie vom Grabenkrieg, nicht vom Bäumeklettern.

Als Gilbert und er noch Kinder gewesen waren, hatten sie eine katholische Jungenschule besucht. Sein älterer Bruder hatte schon immer die Tendenz dazu gehabt, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm verlangte. Wahrscheinlich hätte er sich ohne diesen streng religiösen Einfluss, dem Ludwig niemals mehr als die Rolle eines gewissen Leitfadens im Umgang mit anderen Menschen zugemessen hatte, in eine vollkommen andere, vielleicht besser verträgliche Richtung entwickelt.

Ludwig hatte viel wegen ihm durchstehen müssen. Als jüngerer Bruder hatte er zu ihm aufgesehen. Er hatte ihm nicht immer vertraut, keineswegs. Sein kindliches, gefühlsgetragenes Vertrauen hatte Gilbert schon in frühen Jahren viel zu oft mit billigen Scherzen aufs Spiel gesetzt. Aber er hatte sich in seiner ungewollten Vorbildfunktion dadurch, dass Ludwig sich mit seiner blinden Bruderliebe gerne ein Beispiel an ihm nahm, oftmals auf dünnem Eis bewegt. So war er Gilbert und dessen Freunden hinterher geschlichen, als diese in der langen Pause über den Zaun hinter der Schule kletterten und sich am See entlang durchs Unterholz schlugen, wo sie nach der Schule manchmal, verbotenerweise, Munitionshülsen suchten und sammelten, hinüber zur Mädchenschule. Aufgrund seines eher ungewöhnlichen Aussehens, dem hellen Haar, der blassen Haut und den rötlichen Augen, war Gilbert nie sehr erfolgreich bei Mädchen gewesen. Aber die, die ihn nicht wollten, waren ohnehin nicht gut genug für ihn. Er schaffte es einfach immer, die Dinge so zu drehen, dass er am Ende gut aussah. Andere Mädchen bewunderten ihn seines enormen Selbstbewusstseins wegen oder waren beeindruckt von so viel geballtem Narzissmus. Gilbert und er hatten außerhalb der Schule nur wenig Möglichkeiten, an die hübschen Mädchenschülerinnen heran zu kommen. Die Brüder wohnten in Berlin, gingen in einem Brandenburger Internat zu Schule und selbst Ludwig merkte, dass sich die Stadtkinder deutlich von denen unterschieden, die hier in den Landschulheimen wohnten. Ludwig hatte sich nie besonders für Mädchen interessiert. Trotzdem war er hinterher gegangen.

Natürlich schaffte er es nicht, sich so herrlich auffällig unauffällig zu verhalten, wie die älteren Schüler, die sich dauernd vom Schulgelände schlichen, um heimlich zu rauchen, die Mädchenschule zu besuchen oder Enteneier am See zu klauen. Seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, er solle nicht so weit abseits der Wege gehen. Er hatte ihren Rat befolgt und das Unterholz weitgehend gemieden. Darum war er erwischt worden. Und Gilbert gleich mit ihm.

Nachdem er und Gilbert sich katastrophal in vollkommen gegensätzlichen Geschichten verstrickt hatten, waren sie beide gleich bestraft und fürchterlich von ihrem Lehrer verprügelt worden. Erst viel zu spät hatte Ludwig von einem der anderen Schüler gehört, Gilbert habe dem Internatsleiter gegenüber gesagt, er hätte seinen kleinen Bruder mitgeschleppt, um ihm die Mädchen vorzustellen und dass dieser gar nicht aus freien Stücken hinterher gelaufen war. Natürlich stritt Gilbert das ab, als er ihn darauf ansprach. Trotzdem hatte sich Ludwig sehr über seinen Einsatz gefreut.

Ein Einsatz, der selten war, doch daher umso süßer.
 

Je weiter sie in den Norden der Stadt drangen, desto gewisser war die Hoffnungslosigkeit ihres Vorhabens. Langsam arbeiteten sie sich, unter Gilberts wackerer Führung, von Häuserecke zu Häuserecke vor, ohne auch nur ein heiles Fahrzeug oder einen lebenden Soldaten zu finden. Die, die sie atmend vorfanden, waren zu schwer verletzt, um zu reden, geschweige denn gerettet zu werden.

„Ihr wisst, wie ein Sterbender aussieht“, sagte Gilbert laut und zog eine Handfeuerwaffe. „Tut ihnen einen letzten Gefallen und helft ihnen ein wenig!“

Die Wände waren von Einschusslöchern übersät. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen und die Schwaden ihres Atemdunstes vermischten sich mit dem Rauch der Brände, die überall in den Straßen vor sich hin schwelten. Es roch nach verbranntem Fleisch, doch er traute sich nicht, die Brandherde näher zu begutachten. In der Ferne, weiter nordöstlich, konnten sie noch immer vereinzelte Maschinengewehrsalven durch die Luft donnern hören. Hier, in diesem Abschnitt, schien alles zu schlafen. Ludwig hielt die Augen auf, das Gewehr im Anschlag. Keine der Leichen, keines der brennenden Fahrzeuge, die sie passierten, gehörte den Sowjets an. Als die Stadtgrenze schon beinahe zu sehen war, hechtete er an den Anfang ihres Trupps und packte Gilbert am Oberarm.

„Wir müssen umkehren“, sagte er mit fester Stimme.

Gilbert hielt inne und drehte sich um, beide Augenbrauen gehoben und Ludwig abwartend anblickend, als erwartete er eine Erklärung dafür. Der jüngere atmete tief durch und spähte die Straße hinab.

„Die Absperrungen sind unbewacht. Das dürften sie nicht sein.“

„Und was ist, wenn wir jetzt umkehren und da vorne zufällig ein Funkgerät rumliegt?“ Gilbert streckte seinen Arm aus und zeigte auf den Stacheldraht, der einmal quer über die Straße führte und mehrfach in sich geschlungen war. Rechts, auf ihrer Seite der Absperrung, war eine Tür aus den Angeln gehoben worden. Irgendetwas lag im Eingang des Hauses, schien ihn aber nicht zu versperren. „Wenn der Posten da niemals unbewacht sein soll, ist er es auch jetzt nicht. Dann sind die da drinnen. Oder sie sind weiter im Norden und hauen den Roten die Köpfe ein! Also, mir nach!“

Er klopfte Ludwig fest auf die Schulter und rannte dann über die Straße, geradewegs auf die offene Tür zu. Ludwig zögerte einen Augenblick. Natürlich. Er tat mal wieder genau das Gegenteil von dem, was ihm gesagt wurde. Er hob die Hand und gab seinen Männern ein Zeichen, ihm zu folgen. Dann rannte er seinem Bruder hinterher.
 

Das, was Ludwig in der Tür hatte liegen sehen, war die Leiche einer Frau. Sie trug einen Helm und eine Tarnweste, die eindeutig zu groß für sie war. Das Blut, das ihre Kleidung durchtränkte, war dunkelrot und schien gefroren zu sein. Er konnte nicht sagen, wie lange sie hier schon lag.

Gilbert ging voran. Die offene Tür führte sie in eine mit Parkett ausgelegte Wohnstube, die von der 3. Rumänischen Armee kurzerhand umfunktioniert worden war. Überall auf dem Boden lagen, zum Teil übereinander, Leichen; ihre Gliedmaßen verdreht und in grotesken Winkeln von ihrem Körper abknickend. Teilweise waren sie notdürftig versorgt worden, doch die starren Gesichter und die trockenen Augen, die ihnen entgegen starrten, verrieten ihnen, dass es umsonst gewesen war. In einem Kamin glühten die kläglichen Überreste eines Feuers. Die Luft, die durch den Raum zog, roch nach süßlicher Fäulnis.

Ludwig presste sich die Hand auf den Mund und stellte sich zurück in den Türrahmen, während Gilbert auf Zehenspitzen zwischen den Leichen auf und ab ging, hie und da einen Mann auf den Rücken drehte, Taschen durchsuchte und Ausschau nach einem Funkgerät hielt. Ludwig spürte, wie ihn langsam die Übelkeit überkam. Sein Herz schien in immer unregelmäßigeren Abständen zu schlagen. Er erschrak, als eine Ratte über seine Stiefel huschte.

„Hier ist nichts“, murmelte er mit rauer Stimme gegen seine Hand und senkte den Blick auf die tote Frau zu seinen Füßen. Ihr Hinterkopf war ein einziger, fleischiger Klumpen.
 

[tbc]



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Romano
2012-04-05T16:34:34+00:00 05.04.2012 18:34
Ich könnte dir auch ins Ohr schreien wie´s mir gefallen hat, aber da Kommentare immer eine Mangelware sind kriegst du eins von mir - nicht nur weil du mich erwähnt hast und mich eventuell eh zu einem genauen Statement gezwungen hättest :)

Schön, wie düster du die ganze Stimmung gehalten hast. Es ist ein einziges großes Drama. Aber ich mag es gerade deshalb besonders gern, kennst mich ja. Ich habe etwas übrig für Geschichten in denen die Charaktere menschlich sind und ich bin persönlich ganz froh das auch Ludwig mal nicht so unerschütterlich ist - das Gilbert einen auf hart macht, komme was wohle war ja nicht anders zu erwarten~ *flöt*
Ich freu mich schon auf deine weiteren Kapitel.
Zumindest lese ich jetzt mal wieder ausreichend, wa? xD
Von:  Niekas
2012-04-05T10:17:01+00:00 05.04.2012 12:17
Ich bin schwer beeindruckt.
Um ehrlich zu sein, hab ich erst gezögert, mir etwas so Düsteres wirklich anzutun. Letztendlich fasziniert die Geschichte mich trotzdem - nicht, weil sie die Gewalt irgendwie entschärft hätte, das auf keinen Fall. Aber dein Stil ist wunderbar flüssig zu lesen (ja, ich bin ein Stil-Junkie), und man kann sich sehr in die Geschehnisse hinein versetzen. Ich fürchte allerdings, in späteren Kapiteln könnte man sich mehr hinein versetzen, als einem lieb ist... was kein Grund ist, die Geschichte nicht weiter zu verfolgen, im Gegenteil.
Ich mag's, dass du, wie du sagst, "nicht groß rumshipst". Diese solide Bruderbeziehung von Ludwig und Gilbert gefällt mir ohne Romantik ausgezeichnet. Und ich freu mich schon darauf, wenn Ivan auftaucht, haha.
Was soll ich noch sagen. Der Auftakt ist auf jeden Fall gelungen, schon vom ersten Satz an, und ich schlucke einfach mal meinen leisen Frust darüber, dass die Jungs nirgendwo anders als in Berlin wohnen konnten, und hoffe auf eine baldige Fortsetzung.

So. In der Hoffnung, nicht zu wirres Zeug geschrieben zu haben, und mit großem Respekt vor deinen Fähigkeiten, liebe Grüße
E-vieh


Zurück