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Der Rebell

von

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Woanders

Ludwig sitzt auf einem schlichten Stuhl vor einer ebenso schlichten Wand. Er trägt ein ordentlich gebügeltes Hemd, aber seine Krawatte sieht aus, als hätten beim Zubinden seine Hände gezittert. Sein Kopf ist nach hinten gegen die Wand gesunken, sein Mund steht einen Spalt weit offen. Er rührt sich nicht.

„West?“

Er antwortet nicht.

„Westen! Du bist wieder da!“

Ich will mich auf die Ellbogen aufstützen, aber sie sind so schwach, dass ich sofort wieder in das Kissen zurück falle. Schmerzen durchzucken meinen Rücken. Rücken? Das ist dort, wo ich die Wunden habe. Aber wieso...

„Gilbert?“

Ludwig reißt die Augen auf, setzt sich gerade hin und starrt mich an. „Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“

„Das kannst du mir gerne verraten“, erwidere ich und sehe mich um. Noch immer das kleine Zimmer in Ivans Haus, in dem sie mich zum Sterben untergebracht haben. Was zum Teufel ist passiert? Was geht hier vor?

„Wie kommst du hierher, West?“

Er runzelt leicht die Stirn. „Mir wurde die Nachricht überbracht, du wärst tot“, antwortet er, und das letzte Wort scheint ihn Überwindungen zu kosten. „Ivan hat mir erlaubt, hierher zu kommen, um deinen... um dich nach Hause zu holen. Aber als ich vor ein paar Stunden hier eingetroffen bin, hieß es plötzlich, du wärst doch nicht tot.“

„Wirklich?“

„Was ist passiert, Gilbert? Was...“

„Ich bin gestorben“, antworte ich. „Ich dachte zumindest, das wäre ich.“

„Aber wie...“

„Weil ich kein Land mehr habe, deswegen. Aber wenn ich jetzt wieder hier bin... heißt das...“

Ich beende den Satz nicht und sehe Ludwig mit großen Augen an. Er erwidert meinen Blick.

„Also ist es wahr?“, fragt er tonlos.

„Was?“, frage ich. „Was ist wahr?“

„Ich meine, nach allem, was passiert ist... Aber ich hätte doch nie geglaubt...“

Was, West? Ich habe die letzten Monate in einem Kellerloch verbracht, ich bin politisch nicht auf dem Laufenden. Was...“

„Es gibt jetzt zwei deutsche Staaten“, sagt er.

Ich starre ihn an.

„Es klingt lächerlich“, gibt er zu, „aber es ist wahr. Das hat Ivan also damit gemeint, als er sagte, er würde die freie Stelle schon irgendwie besetzt bekommen.“

„Die freie Stelle?“, wiederhole ich und schließe kurz die Augen. „Bitte, Westen, ich lebe erst seit ein paar Minuten wieder. Könntest du das alles langsamer erklären, damit ich es auch verstehe?“

„Ich kann es versuchen“, sagt er, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Du weißt, dass sowohl Ivan als auch Alfred, Arthur und Francis bestimmen konnten, was nach dem Krieg mit mir passiert. Da es aber unmöglich geworden ist, dass Ivan sich mit Alfred einigt, meinte Alfred, ich müsste mich für eine Seite entscheiden. Ich habe mich an Alfred und den Westen gehalten, und hier bin ich nun. Ivan war zuerst frustriert und hatte dann die tolle Idee, nach seinen Vorstellungen einen zweiten Staat zu gründen, aber Alfred hat ihn ausgelacht. Er meinte, so etwas wäre nicht möglich, ein Land ohne Seele. Ich hätte es besser wissen müssen.“

„Meinst du das, was ich glaube, das du meinst?“, frage ich und kann es noch nicht recht fassen. „Ich kann wieder ein eigener Staat sein?“

Ludwig sieht mich ernst an. „Es ist nicht richtig.“

„Nicht richtig? Es ist meine einzige Chance, zu überleben! Deswegen hat Ivan Toris' Warnung ernst genommen und mich hier herauf geholt. Er hat versucht, mich so lange am Leben zu halten wie möglich, bis er das mit dem neuen Staat in die Wege geleitet hatte. Verdammt... Heißt das, Ivan hat mir das Leben gerettet?“

„Aus absolut egoistischen und machtpolitischen Gründen.“

„Aber immerhin.“

Schweigend zieht Ludwig die Schultern hoch und sieht aus dem Fenster. „Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll“, murmelt er. „Ich... ich bin so froh, dass du noch lebst, Gilbert.“

„Wieder“, sage ich. „Nicht noch.“

„Aber ich will, dass du mein Bruder bist“, fährt Ludwig fort. „Nicht mein Gegner.“

„Dein Gegner? Hör mal... dass du mich damals in die Pfanne gehauen hast, heißt noch lange nicht, dass ich dein Feind wäre!“

„Es ist aber nicht deine Entscheidung, ob du das bist“, sagt Ludwig eindringlich. „Es ist die von Ivan.“

„Wieso das denn? Nur, weil ich ihm etwas schuldig bin? Ich bin immer noch ein eigenständiger Staat!“

„Du bist ein Satellit. Das ist nicht ganz dasselbe.“

„Satellit, was zum Teufel? So etwas gab es zu meiner Zeit nicht.“

„Die Welt hat sich verändert“, erklärt Ludwig düster. „Es gibt nur noch Osten und Westen. Der Grat dazwischen ist so schmal, dass nur die wenigsten das Risiko auf sich nehmen, darauf zu gehen. Die Blöcke bewegen sich täglich weiter auseinander.“

„Wir nicht“, sage ich schlicht. „Du bist mein Bruder, Westen. Wir gehen nie mehr auseinander.“

Er sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. „Darf ich dich etwas fragen, Gilbert?“

„Klar. Was?“

„Bist du gar nicht mehr wütend?“

„Wütend? Wieso denn das?“

Er sieht mich reglos an. „Du weißt genau, warum. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben... da hast du mir gesagt, ich hätte dich im Stich gelassen. Du warst sehr wütend.“

Ich blinzele. „Ach... ja, stimmt. Aber jetzt bist du ja hier, oder? Und außerdem, seitdem ist doch so viel passiert. Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Nach alledem kann ich dir gar nicht mehr böse sein.“

„Zusammen durchgemacht?“, wiederholt Ludwig und sieht mich etwas befremdet an.

„Ja“, antworte ich fest und denke an unsere zahllosen Gespräche im Keller, die mich sicher davor bewahrt haben, vor Einsamkeit den Verstand zu verlieren – auch wenn ich mir damals nicht eingestehen wollte, wie wichtig die Sache mir war. „Du bist da gewesen, obwohl du gar nicht da warst. Das nenne ich mal einen Freundschaftsdienst.“

Er versteht noch immer nicht, aber er fragt nicht weiter. Wahrscheinlich ist es so besser für uns beide, denke ich.
 

Toris steckt den Kopf zur Tür herein und lächelt, als er mich sieht. „Gilbert? Na, endlich bist du wieder wach. Das wurde auch Zeit.“

„Hab mein Bestes gegeben, Lorinaitis. Was gibt es?“

„Ich bin hier, um den Verband zu wechseln.“ Er wendet sich kurz an Ludwig und lächelt höflich. „Sie sitzen ja immer noch hier. Sie halten es lange aus.“

„Ja“, antwortet Ludwig, und ich sehe eine Mischung aus Ärger und Furcht in seinem Blick. „Soll ich gehen?“

„Oh, machen Sie sich bitte keine Umstände“, erwidert Toris schnell und winkt ab. „Wie gesagt, ich sehe nur kurz nach den Wunden, wenn es niemandem etwas ausmacht...“

Ludwig sieht mich an.

„Beeil dich einfach, Lorinaitis“, sage ich seufzend. „West und ich haben noch viel zu besprechen.“

Er nickt, kommt durch das Zimmer und greift nach dem Koffer mit dem Verbandszeug, der unter dem Bett steht. „Dreh dich mal auf den Bauch.“

Ich tue es, behalte aber Ludwig im Auge, der Toris etwas unsicher zusieht.

„Es ist schon erstaunlich gut verheilt“, sagt Toris, und ich frage mich, ob er mit mir oder mit Ludwig spricht. „Ich denke, in ein paar Wochen wird man nichts mehr davon sehen.“

Er löst behutsam den Verband von meinem Rücken, und ich sehe, wie Ludwig die Augen aufreißt.

„Es ist nichts, Westen“, sage ich. „Keine große Sache.“

„Keine große Sache?“, wiederholt er fassungslos. „War... war das Ivan?“

„Nein, ich bin vor einen Schrank gelaufen.“ Es ist kein guter Witz, aber die Situation ist so unangenehm. „Klar war es Ivan.“

„Warum?“, fragt Ludwig mit einem leichten Zittern in der Stimme. Toris kramt schweigend in dem kleinen Koffer.

„Ehrlich gesagt, weil ich es verdient hatte“, sage ich trocken. „Wenn du das für schlimm hältst, schau dir mal Lorinaitis an. Der hatte es nämlich nicht verdient.“

Verständnislos wandert Ludwigs Blick zwischen Toris und mir hin und her.

„Hören Sie nicht auf ihn“, sagt Toris sanft. „Ivan hatte seine Gründe – Gründe, die man nicht nachvollziehen können muss. Aber was passiert ist, ist passiert. Machen wir also das Beste daraus.“

„Ich hasse es, wenn du ihn rechtfertigst, Lorinaitis. Es ist erbärmlich.“

„Wieso ich?“, fragt er ehrlich überrascht. „Du bist doch derjenige, der ihn rechtfertigt.“
 

„Was soll das heißen, du kannst mich nicht mitnehmen?“

„Ich muss abwarten, was Ivan sagt“, sagt Ludwig leise.

„Warum? Er sieht gerade nicht hin, oder? Du rufst deine Leute an, die schicken einen Flieger, in ein paar Stunden sind wir zu Hause!“

„Und lösen damit einen dritten Weltkrieg aus.“

„Was redest du denn da? Als ob...“

„Das Verhältnis zwischen Ivan und Alfred ist mehr als angespannt. Dass Ivan mir überhaupt erlaubt hat, hierher zu kommen, hat mich überrascht. Wenn ich so dreist wäre, dich einfach mitzunehmen, würde er keine Sekunde zögern, um das als Vorwand zu nutzen, mich anzugreifen. Und es wäre ein sehr guter Vorwand.“

„Ich dachte, der Krieg wäre vorbei!“, sage ich wütend.

„Ist er auch. Und ich werde sicher nichts tun, um das zu ändern.“

Einen Moment lang schweigen wir uns an.

„Also willst du mich nicht mitnehmen?“

„Natürlich will ich das“, murmelt Ludwig. „Aber es tut nichts zur Sache, was ich will. Verstehst du das nicht?“

„Wie kommt das?“, frage ich wütend. „Wann ist die Welt so geworden, dass es nichts mehr zur Sache tut, was irgendjemand will... solange dieser Jemand nicht Alfred oder Ivan heißt?“

Er lacht grimmig auf. „Das frage ich mich an manchen Tagen auch. Aber wir können nichts dagegen tun, Gilbert. Wir müssen damit zurechtkommen.“

„Darin war ich immer gut“, knurre ich. „Mit etwas zurechtzukommen.“

Ludwig seufzt leise. „Ich denke, wir werden uns trennen müssen.“

„Hat Ivan das gesagt?“

„Noch nicht. Aber ich denke nicht, dass es noch lange dauern wird.“
 

„Du bist wieder wach!“, sagt Raivis mit einem Leuchten in den Augen, als wäre Weihnachten. Ich grinse breit.

„Klar. Dachtest du ernsthaft, ich würde sterben?“

„Nein“, antwortet er aufrichtig, „ich nicht. Aber du bist gestorben, wie alle anderen es gesagt haben. Toris hat sich Sorgen um dich gemacht, und Ivan auch, glaube ich. Aber dann hat auf einmal dein Herz wieder geschlagen, vorgestern oder so, obwohl du nicht gleich aufgewacht bist. Und Ivan hat gesagt, das wäre ein sehr gutes Zeichen, und Eduard hat gesagt, Unkraut vergeht nicht.“

„Leg dich mal auf den Bauch“, sagt Eduard zu mir und ignoriert Raivis. Ächzend drehe ich mich um und lege den Kopf auf die Seite, um Raivis weiter ansehen zu können.

„Und? Was hat er noch Nettes über mich gesagt?“

„Oh... sonst nichts“, murmelt Raivis, der sich anscheinend fragt, ob er zu viel gesagt hat. Ich grinse erneut und spüre, wie Eduard den Verband von meinem Rücken abwickelt. Es ziept ein wenig.

„Es heilt erstaunlich gut“, stellt Eduard überrascht fest. „Ich wünschte, Toris hätte dein Heilfleisch.“

„Tja, ich bin eben der Größte“, sage ich und überlege kurz. „Wo ist Lutz?“

„Er hat eine Weile lang mit Ivan geredet“, erklärt Raivis. „Danach ist er ins Bett gegangen. Er war ziemlich müde, glaube ich. Von der Reise.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Einmal kurz Zähne zusammenbeißen, bitte. Könnte ein bisschen wehtun.“

„Autsch!“ Ich kralle die Hände in das Kissen, während der Schmerz in meinem Rücken langsam wieder abklingt. „Was zum Teufel machst du da, von Bock?“

„Schon vorbei. Sei doch nicht so eine Mimose.“

„Bin ich gar nicht“, murre ich.

Eduard gibt etwas von sich, das beinahe wie ein Lachen klingt, und verbindet die Wunden wieder. Raivis sieht mich noch immer glücklich an, bevor er sich die Hand vor den Mund hält und ausgiebig gähnt.

„Du solltest ins Bett“, sage ich.

„Du auch“, erwidert Eduard und steht auf. „Kannst dich wieder umdrehen. Ich lasse dir die Tabletten hier, falls du Schmerzen haben solltest. Nimm sie bitte nur, wenn es unbedingt nötig ist.“

„Brauchst sie gar nicht hier zu lassen. Es geht mir ausgezeichnet.“

„Sicher ist sicher“, erwidert er, verstaut den Koffer mit dem Verbandszeug unter dem Bett und steht auf. „Komm, Raivis.“

„Gute Nacht, Gilbert“, sagt Raivis und lächelt.
 

Ich wache auf, als jemand nach meiner Hand greift. Blinzelnd öffne ich die Augen einen Spalt weit und reiße sie ganz auf, als ich die hünenhafte Gestalt neben mir erkenne.

„Braginsky?“

Er sitzt im Mondlicht neben dem Bett und betrachtet mich gründlich. Sein Blick ist nicht zu deuten.

„Was willst du hier?“, frage ich, stütze mich auf die Ellbogen auf und sehe zum Fenster, hinter dem der Himmel dunkel ist. „Wie spät ist es?“

„Ich muss mit dir unter vier Augen reden“, sagt er, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Dann schieß los und lass mich weiter schlafen.“ Die Sache gefällt mir nicht. Wer wird schon gerne mitten in der Nacht von Ivan geweckt? Ich jedenfalls nicht.

„Es geht um Ludwig.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und bemühe mich, nicht erschrocken auszusehen. Was ist mit ihm? Will Ivan ihn hinauswerfen – jetzt schon? Oder, noch schlimmer, will er ihm irgendeine Provokation unterstellen? Ludwigs Worte habe ich immer noch im Ohr. Wir lösen damit einen dritten Weltkrieg aus.

„Willst du zu ihm zurück?“

„Ja“, antworte ich, ohne nachzudenken. Was sollte ich sonst sagen?

„Warum?“

„Weil er mein Bruder ist und wir zusammen gehören.“

Ivan sieht mich an und schweigt einen Moment lang. „Zusammen gehören“, murmelt er. „Aber wenn du dich mit ihm zusammentust, hast du keine Angst?“

„Angst? Wovor?“

„Vor dem Tod.“

Ich lache kurz auf. „Tod? Aber ich lebe, Braginsky!“

„Ja“, bestätigt Ivan ernst. „Und warum? Weil du es gerade noch rechtzeitig geschafft hast, dich an einen neuen Staat zu klammern. Einen anderen als den, den Ludwig darstellt.“

„Er hat es mir erzählt“, sage ich und runzle die Stirn. „Das mit den zwei Staaten. Es ist der Wahnsinn.“

„Dieser Wahnsinn hat dir das Leben gerettet. Möchtest du das wirklich einfach so wegwerfen?“

„Wegwerfen? Was zum Teufel redest du da?“

„Du kannst nur überleben, solange du ein eigenständiger Staat bist.“

„Ach ja? Was ist mit deinen drei Leibeigenen, sind die etwa eigene Staaten? Die leben ja schließlich auch noch.“

Ivan lächelt leicht. „Sie sind schwach, Gilbert. Erbärmlich schwach. Ihr beide, dein Ego und du, ihr würdet es niemals verkraften, zu werden wie sie. Und... sie sind anders. Sie bewahren sich etwas Eigenes neben dem, was ich verkörpere. Zwischen uns liegen Welten. Du und Ludwig, ihr seid euch zu ähnlich. Ihr würdet verschmelzen, bis von einem von euch nichts mehr übrig bleibt.“

„Ach ja? Und selbst wenn, wer sagt denn, dass ich derjenige wäre, der sterben müsste?“

„Niemand sagt das, da hast du völlig Recht“, antwortet Ivan ruhig. „Wäre es dir also lieber, Ludwig auf dem Gewissen zu haben?“

Ich schnappe nach Luft. „Ich würde niemals zulassen, dass Westen etwas passiert!“

„Eben“, sagte Ivan und zieht die Schultern hoch. „Du willst weder sterben noch seinen Tod verantworten. Die einzige andere Möglichkeit, die dir bleibt, ist...“

„Dein Satellit zu werden?“, frage ich abfällig. „Dein Leibeigener? Vergiss es, Braginsky. Lieber sterbe ich.“

„Tatsächlich? Und dabei hast du so herumgeheult, als es hieß, du müsstest sterben.“

„Ich habe nicht herumgeheult!“

Ivan hat nicht einmal spöttisch geklungen, als er es gesagt hat, und das macht mir Angst. Er meint alles, was er sagt, absolut ernst.

„Denk darüber nach“, sagt er und steht auf. „Überlege dir, ob dir die Nähe zu Ludwig ein solches Risiko wert ist. Lass dir ruhig Zeit. Ludwig kann noch drei Tage bleiben... wenn es nach mir geht. Es sei denn, seine Regierung ruft ihn früher zurück.“

Er geht und schließt die Tür hinter sich, aber er tut es sehr sanft, fast lautlos.
 

Sorgfältig fische ich das faserige Hühnerfleisch aus der Suppe. Es ist ein wenig zäh, aber dafür heiß. Es scheint mir förmlich zuzurufen: Ich bin deine erste anständige Mahlzeit seit einer Ewigkeit. Willkommen zurück unter den Lebenden!

„Du bist ein Schatz, Galante“, sage ich und lecke mir über die Lippen. Nur nichts verkommen lassen.

„Wirklich?“, fragt Raivis unsicher.

„Wenn ich's doch sage. Hast du das gekocht?“

„Ja.“ Er betrachtet den Teller Suppe trübselig. „Ivan meinte, es wäre zu wenig Salz dran.“

„Das zeigt nur wieder einmal, dass Braginsky nicht weiß, was gut ist. Sie ist ausgezeichnet.“

Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und lächelt schüchtern.

„Wo ist Lutz?“

„Er musste ein Telefonat mit seiner Regierung führen. Ich glaube, sie reden schon seit fast einer Stunde.“

„Also wollen sie, dass er wieder zurückkommt, ja?“

„Ich weiß nicht. Ich habe nicht zugehört.“

Ich muss an Ivans Worte denken. Überlege dir, ob dir die Nähe zu Ludwig ein solches Risiko wert ist. Lass dir ruhig Zeit. Ludwig kann noch drei Tage bleiben... wenn es nach mir geht. Es sei denn, seine Regierung ruft ihn früher zurück. Mir Zeit lassen, überlege ich. Kann ich das? Habe ich das überhaupt nötig?

„Sag mal, Galante“, sage ich und lasse den Löffel sinken. „Könntest du mir einen Gefallen tun?“

„Was für einen?“, fragt er und legt den Kopf schief.

„Es ist ganz einfach. Du brauchst nur zu Ludwig zu laufen und ihm zu sagen, dass er abreisen soll. Sofort, hörst du? Sag ihm, dass ich nicht mehr mit ihm reden möchte. Sobald ich über den Berg bin, werde ich ihm einen ausführlichen Brief schreiben, in dem ich alles erklären werde. Versprochen. Aber zuerst muss er hier weg.“

„Warum?“, fragt Raivis verwirrt.

„Das kann dir egal sein. Er wird wissen, warum.“ Ich stocke kurz. „Würdest du das tun?“

Langsam nickt er und rutscht von seinem Stuhl. „In Ordnung.“

„Danke, Galante“, sage ich und grinse.
 

Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war, aber es fühlt sich gut an, sie getroffen zu haben. Besser irgendeine Entscheidung als gar keine. Wie die Dinge sich von hier an entwickeln werden? Ich weiß es nicht. Ich werde wohl abwarten müssen.

Die Tür öffnet sich und ich drehe den Kopf. Es ist Raivis, der hereinkommt.

„Hey, Galante. Hast du...“

Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich Ludwig hinter ihm in der Tür sehe. Langsam setze ich mich auf und schlucke.

„Was...“

„Ludwig ist hier“, sagt Raivis, nickt mir kurz zu und wendet sich dann an Ludwig. „Gilbert möchte Ihnen etwas sagen. Etwas Wichtiges.“

„Was denn?“, fragt Ludwig, kommt näher und betrachtet mich mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Vorahnung. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Gilbert?“

Ich hole tief Luft und sehe an ihm vorbei Raivis an, der noch immer in der Tür steht. „Du bist ein Schatz, Galante“, murmele ich.

Raivis sagt nichts dazu. Er legt den Kopf schief, verlässt ohne ein weiteres Wort das Zimmer und schließt die Tür.

„Was ist denn los?“, fragt Ludwig und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Kopfende. Er lässt mich nicht aus den Augen, als habe er Angst, ich könnte mich jeden Moment in Luft auflösen. Ich muss grinsen, als ich es bemerke.

„Nun, wie Galante schon ganz richtig sagte... ich muss dir etwas sagen.“
 

„Wir werden uns wiedersehen, Westen. Verlass dich drauf.“

Ludwigs Lippen beben ein wenig, aber er senkt den Kopf, um mir und sich selbst die Peinlichkeit zu ersparen.

„Ich komme schon zurecht“, rede ich einfach weiter, weil ich keine Stille eintreten lassen will. „Mach dir keine Sorgen um mich, West.“

„West“, wiederholt er leise. „Bedeutet das, dass du ab sofort Ost bist?“

Ich grinse. „Wenn's nach mir geht, nenn mich ruhig weiter Gilbert. Ich bin es gewohnt.“

Er nickt und steht von seinem Stuhl auf. „Also schön“, sagt er, den Blick noch immer gesenkt. „Dann werde ich abreisen.“

„Ich werde dir schreiben.“

„Ich dir auch.“

Einen Moment lang zögere ich, dann breite ich die Arme aus. „Komm her, West. Einmal drücken.“

Er beugt sich vor und drückt mich mit einer Kraft an sich, die mich im ersten Moment erschreckt. Ich bin noch immer so mager nach den Wochen im Keller, ein Hemd im wahrsten Sinne des Wortes, bei diesem komischen, ausgeleierten Ding, das ich trage. Sein Hemd riecht nach Rasierwasser und kalter Luft von draußen. Er ist kein kleiner Junge mehr, denke ich. Die Zeiten, in denen er mich nur überragt hat, wenn ich ihn auf den Schultern getragen habe, sind lange vorbei.

„Mach's gut, Westen“, sage ich und schlinge die Arme um ihn.

„Du auch“, murmelt er, stockt kurz und gibt eine Art grimmiges Lachen von sich. „Du auch, Osten.“
 

(Plöpp! Daseinsberechtigung! Wie hat Gilbert es geschafft, sich von Preußen zur DDR zu verwandeln? Einfach so, zack-bumm? Zu einfach. Meine kleine Theorie in diese Richtung also hier. Ich danke für die geschätzte Aufmerksamkeit. Jetzt werde ich noch Kapitel zwei und eventuell drei und außerdem noch hier und da ein bisschen überarbeiten, und dann passt das schon. Ansonsten, schiavo vostro! Ciao!)


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe kürzlich die mexx-Funktion mit den Fanfic-Statistiken ausprobiert und gemerkt, dass diese Fanfic, obwohl schon etwas länger abgeschlossen, immer noch gelesen wird. Irgendwie rührt mich das total. Ich kann mich leider bei niemandem persönlich bedanken, aber das wollte ich gesagt haben. Dankeschön. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Suvi
2012-10-28T18:58:01+00:00 28.10.2012 19:58
Wooaaa...Ich finde diese Fanfic einfach nur klasse^^ Und ich muss mich Sternenschwester anschließen: Ein echt gut gelungener Abschluss^^
Von:  Sternenschwester
2012-07-10T17:57:15+00:00 10.07.2012 19:57
gelungender Abschluss.
Lg, Sternenschwester


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