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Weiß wie Schnee, Rot wie Blut

und Schwarz wie Ebenholz
von

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Rot, wie Blut : Niemandskind

I. Kind J
 

Er hatte gelernt, still zu sein. Still wie ein Mäuschen. Und unsichtbar konnte er sich auch machen, so dass er verschwand, aber trotzdem alle dachten, er wäre noch da. Doch hier war das nicht mehr nötig, denn bis jetzt hatte kaum einer Notiz von ihm genommen. Abgesehen von dem mageren Rotschopf, vor dem er sich ein bisschen fürchtete, weil der immer nur reglos da stand und ihn aus der Entfernung anstarrte. Wie jetzt. Tagelang ging das nun schon so.
 

Jei senkte die Lider, damit er dem komischen Jungen bloß keinen Grund gab, auf ihn böse zu werden. Er hatte schon genug Prügel einstecken müssen, denn je älter er wurde, umso mehr schien gleichzeitig auch die Wut auf ihn anzuwachsen, ohne dass er wusste, weshalb. In noch jedem der ganzen Erziehungsheime, in denen er bisher gewesen war, war das so. Dieses hier würde sicher auch keine Ausnahme sein. Es hatte nur einen schöneren Namen und wirkte mehr wie ein Internat. Sie trugen sogar einheitliche Schulkleidung, was Jei weitaus lieber war, als die abgetragenen Kleider von irgendwelchen anderen anziehen zu müssen. Persönliche Sachen gab es kaum, außer man hatte eine Familie, die sich noch etwas um einen kümmerte. Was Jei nicht hatte.

Hier gab es auch keine vergitterten Fenster, das Essen war reichlich und die Zimmer wurden auch nicht ständig abgesperrt. Eigentlich fühlte er sich hier fast schon wohl.

Ohne aufzusehen machte Jei Platz für ein paar ältere Schüler, die die Mensa verließen. Niemand sprach dabei mit dem anderen. Sie gingen nebeneinander her, als wären sie Fremde auf der Straße.

Er fand das komisch. Hier bildeten sich keine Grüppchen. Jeder der Schüler schien lieber für sich alleine bleiben zu wollen. Was gut war, denn so schlossen sie sich auch nicht zusammen, um Ruhigere und Schwächere wie ihn zu drangsalieren.

Hungrig sah Jei zu der Theke hin, an der das Essen ausgegeben wurde. Die Schlange davor hatte sich aufgelöst und die Letzten, die sich was genommen hatten, saßen auch schon auf ihren Plätzen und aßen.

Sein Magen knurrte, als wolle er ihn auffordern, sich auch endlich etwas zu holen, ehe die Pause vorüber war, aber so lange der Rothaarige noch da war und ihn beobachtete, traute er sich nicht, etwas zu essen.

Die letzten Tage hatte es Jei geschafft, nie zu den Uhrzeiten essen zu gehen, in denen es der Rotschopf tat, doch mittlerweile schien der genau diese Taktik durchschaut zu haben, was ärgerlich war, denn jetzt musste er mit leerem Magen zurück in den Unterricht.

Jei machte einen Schritt in Richtung Tür, ohne der Mensa dabei den Rücken zu kehren. Er wollte wissen, wie der Rothaarige reagierte, ob er nur zufällig dagewesen war. Doch gerade als Jei aus der Glastür hinaus schlüpfte, sah er wie der Junge aufstand. Er hörte sogar den Stuhl über den Boden schleifen, so seltsam ruhig ging es in der Mensa zu, obwohl die meisten der Schüler noch da waren.
 

Jei drehte sich um und ging den Flur entlang. Seine Schritte beschleunigten sich gleichzeitig mit dem schwachen Zischen, mit dem die Tür der Mensa aufschwang und sich wieder schloss.

Also doch, dachte er. Er hatte diesen Jungen irgendwie verärgert. Wahrscheinlich schon früher und nicht erst heute.

Vor sich sah Jei die Tür zu seinem Klassenzimmer. Er war schnell genug, freute er sich. Die Schritte seines Verfolgers, die sich seiner Geschwindigkeit anpassten, sobald er diese auch nur geringfügig änderte, hallten durch den Flur, doch Jei schaffte es tatsächlich, in die Klasse zu entkommen, ehe der Junge mit ihm aufschließen konnte.

Neben der Tür blieb Jei stehen und lauschte atemlos den Schritten, die immer näher kamen. Schon sah er die Spiegelung des Rothaarigen auf dem blankpolierten Boden. Das verschwommene Bild wurde vor die geöffnete Tür des Klassenzimmers gespült und als Jei aufsah, blickte er geradewegs in das Gesicht des Jungens, vor dem er geflohen war.

Darauf gefasst, dass er Jei nun in den leeren Raum folgen würde, ballten sich dessen Hände unwillkürlich zu Fäusten. Sollte er doch hereinkommen, er würde nicht einfach so kuschen, wie früher. Viel größer war der Rothaarige nicht und stärker sicher auch nicht. Er würde ihm mindestens die Nase blutig schlagen können, ehe er selbst einstecken musste, aber er würde auf keinen Fall klein beigeben.

Jeis Kiefer schmerzte, so fest biss er die Zähne zusammen und sein Herz raste vor Angst. Er war bereit, sich augenblicklich auf sein Gegenüber zu stürzen, doch der Rothaarige blieb vor der Tür stehen, als bilde sie eine nicht sichtbare Barriere zwischen ihnen, die er nicht überwinden konnte.

Beide Hände tief in den Hosentaschen vergraben stand er vor dem zitternden Jei. Seine Augen verengten sich, aber statt etwas zu ihm zu sagen oder doch ins Zimmer zu kommen, grinste er plötzlich. Und dann ging er einfach weiter.

Jei ließ seine Fäuste sinken. Mit angehaltenem Atem horchte er, ob der Junge doch noch zurückkäme, aber seine Schritte entfernten sich, bis sie schließlich ganz verklungen.

Erleichtert stieß Jei die Luft aus.
 

Er sah ihn wieder. Natürlich. Wie sollte sich das auch vermeiden lassen. Doch dieses Mal hatte Jei keine Angst vor dem Jungen, der ihn schon wieder wortlos anstarrte, als sie sich auf der Treppe begegneten.

Behutsam stieg Jei Stufe um Stufe empor, während ihm der Rothaarige von oben entgegenkam. Kurz vor dem ersten Absatz waren sie auf gleicher Höhe.

Jei sah, wie die Blicke des Jungen ihm folgten. Er wusste mittlerweile, dass er einer der Älteren war und dass er zu den Schülern aus dem zweiten Stockwerk gehörte. Und er kannte seinen Namen, der eigentlich keiner war. Warum er sich von ihm fernhalten sollte, hatte ihm der Betreuer aber nicht verraten wollen.

Hätte man ihm das noch vor einer Woche gesagt, wäre er vermutlich vor Angst gestorben, als sie sich das erste Mal am Klassenzimmer gegenüber standen. Jetzt aber hatte er keine Furcht mehr vor dem Rotschopf, sondern war neugierig auf ihn geworden.

Wenn Jei geahnt hätte, dass er diesen Jungen zum vorerst letzten Mal sah, hätte er ihn in diesem Augenblick vermutlich doch angesprochen und gefragt, warum man ihn Schuldig nannte, statt nur darüber nachzudenken, ob er es tun sollte. So aber ging Jei stumm weiter und drehte sich nur ein Mal kurz um, um gerade noch zu sehen, dass dieser das gleiche tat.
 

Danach verschwand dieser Schuldig einfach so.

Niemand war bereit, Jei zu sagen, wo er war und ob er wieder zurückkommen würde.

Halt dich von ihm fern, war noch eine der netteren Antworten, die er zu hören bekam. Dabei war das Fernhalten gar nicht mal das Problem, weil er ja immerhin nicht mehr da war. Andererseits konnte es auch heißen, dass er sich in Zukunft von ihm fernhalten solle und das hieße wiederum, dass er tatsächlich wieder zurückkäme.

Wann, war damit allerdings auch nicht beantwortet und Jei wurde von Tag zu Tag ungeduldiger, je mehr Zeit verstrich, ohne dass er den Jungen wiedertraf.

Und dann stand er irgendwann vor ihm. Saß vor ihm, um genau zu sein, und Jei blickte sprachlos zu ihm auf.
 

Jei nahm einen tiefen Atemzug als sein Kopf an der Wasseroberfläche auftauchte. Seine Lungen schmerzten, so lange hatte er die Luft angehalten. Die ganze Breite des Beckens hatte er geschafft, ohne einmal auftauchen zu müssen.

Etwas orientierungslos tastete er nach dem Rand des Schwimmbeckens und hielt sich daran fest als er die glatten Fliesen unter seinen Fingern spürte. Wasser rann ihm aus den Haaren ins Gesicht und trübte seinen Blick. Mit seiner freien Hand wischte er sich über die Augen und im gleichen Moment klärte sich der verschwommene Schatten vor ihm – der obere Teil davon war Rot.

Für einen winzigen Augenblick erschrak Jei.

Wochenlang hatte er überall nach dem Jungen Ausschau gehalten und jetzt, wo er einmal nicht daran gedacht hatte, saß er plötzlich nur etwa anderthalb Meter vor ihm auf der Bank, die für Schüler bereitstand, die sich vom Schwimmen ausruhen wollten oder die nicht mitschwimmen durften.

Er durfte wohl nicht, dachte Jei. Sein Blick fiel auf den linken Arm des Rothaarigen, den er seltsam angewinkelt dicht an seinen Körper gepresst hielt. Gips schloss den Arm von der Hand bis über den Ellenbogen ein und augenblicklich wurde Jei klar, warum der Junge so unvermittelt verschwunden war und erst jetzt nach Wochen wieder zurückkehrte.

Jei fiel auch die fast verheilte Schürfwunde auf, die sich über die linke Stirnseite des Jungen zog.

Ob die Gerüchte wohl stimmten, die er gehört hatte? Er sei im zweiten Stock von einem Balkon gesprungen. Um sich umzubringen, hatte es geheißen, als sei es die Wahrheit und keine bloße Vermutung. Doch Jei fiel es schwer, das zu glauben. Warum hätte er das denn tun sollen?

Die Wellen drängten Jei gegen den Beckenrand. Vor ihm gurgelte das übertretende Wasser im Überlauf und er überlegte, ob er den Jungen nun endlich ansprechen sollte, der ihn zwar noch immer musterte, aber nicht mehr so, als wolle er in ihn hineinschauen.

Jei öffnete den Mund und im gleichen Moment erklang ein schrilles Pfeifen hinter ihm.

Der Junge hob den Blick und sah über Jei hinweg zum gegenüberliegenden Beckenrand hin.

Jei drehte sich um und sah seinen Lehrer, der ihn zu sich winkte. Seufzend stieß sich Jei vom Beckenrand ab und schwamm zu den anderen Schülern, die sich im Wasser vor dem Lehrer sammelten.
 

II. S
 

"Na, welche Sachen hast du über mich gehört?"

Sprachlos sah Jei den Rothaarigen an, der sich auf den Stuhl gegenüber setzte und geduldig auf eine Antwort wartete. Er hatte einen leichten Akzent, aber Jei verstand ihn ohne Mühe.

Sein Gegenüber lächelte amüsiert.

Jei, der das Lächeln nicht einordnen konnte, senkte instinktiv den Blick. Er hatte kein Tablett mit Essen mitgebracht. War er nur gekommen, um ihm diese Frage zu stellen?

"Das mit dem Balkon", antwortete Jei schließlich leise.

Der Junge lachte nun laut auf und Jei kam sich dumm vor. Dann aber merkte er, dass er nicht ausgelacht wurde. Er dachte an die Höhe, aus der der Junge gefallen sein musste, wenn es stimmte, und ihm wurde etwas mulmig. Es war ein Wunder, dass er noch lebte.

"Glaubst du das denn?"

Jeis Gedanken rasten, dann schüttelte er den Kopf.

"Schade", seufzte der Junge. "Einer weniger, den ich damit beeindrucken könnte. Weißt du, ich arbeite nämlich schon seit Jahren an meinem Ruf."

Er fand das wohl witzig, doch Jei wusste nicht, ob das tatsächlich ernst gemeint war und er entschied sich kurzerhand, weder zu lachen, noch etwas zu sagen.

Schuldig, der aufgehört hatte zu lachen, schaute ihn nun wieder so an, wie zu Anfang und Jei wurde immer nervöser unter den nicht deutbaren Blicken. Er senkte wieder den Kopf, merkte aber immer noch die Blicke auf sich wie Finger, die über seine Stirn strichen. Es schien so real, dass er sogar spürte, wie sich die Haarsträhnen auf seiner Stirn bewegten, als würden sie tatsächlich zur Seite geschoben.

Jei bekam es mit der Angst zu tun. Er wollte aufspringen und wegrennen, als Schuldigs Stimme erklang und mit ihr augenblicklich das Gefühl der unsichtbaren Finger auf seiner Stirn verschwand.

"Ich bin nicht gesprungen."

Verhalten betrachtete sich Jei die Wunde im Gesicht seines Gegenübers. Sie war fast verheilt. Frische rosige Haut hatte die dunklen Verkrustungen ersetzt. Dann sah er zu dem Gips hin, der noch immer Schuldigs Arm einschloss. "Und was ist passiert?"

"Ich bin über den Balkon geklettert, das stimmt. Aber nicht, um zu springen."

"Warum denn dann?", hakte Jei verblüfft nach.

"Um dich zu besuchen", antwortete Schuldig, als unterhielten sie sich über das Wetter. Der Regen war furchtbar, nicht wahr. Meine Kleider waren völlig aufgeweicht als ich unten vor dem Haus lag und mir den gebrochenen Knochen betrachtete, der nach dem Aufprall auf dem Boden aus meinem Arm herausstach.
 

Kopfschüttelnd reagierte Jei auf Schuldigs breites Grinsen. War es normal, über Balkone zu klettern, um sich zu besuchen, wenn man das genauso gut auch durch eine Tür tun konnte?

"Die Türen sind hier nachts abgeschlossen", erklärte Schuldig. "Sag nur, das ist dir noch nicht aufgefallen?"

"Doch, schon." Der Spott des Älteren verunsicherte Jei. "Ich wusste nicht, dass sie bei jedem abgeschlossen werden."

Das erste Mal seit ihrer Unterhaltung war es Schuldig, der irritiert dreinschaute. "Warum sollten sie es denn nur bei dir sein?"

Jei zuckte leicht mit den Schultern. "Als Strafe?"

"Strafe?" Schuldig stieß den Atem geräuschvoll aus. Er wirkte, als wollte er noch etwas hinzufügen, ließ es aber sein. "Du hast Recht. Strafe ist genau die richtige Beschreibung für das, was wir hier erleben..."

"Wie meinst du das?" Jei spürte ein unwohles Gefühl, das seinen Magen auszufüllen begann.

Das Signal, dass die Pause endete, erklang, noch ehe Jei seine Antwort bekam.

Schuldig schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Bevor er ging sagte er noch zu Jei: "Lass ab nächster Woche deine Balkontür offen, Okay?"

Es beeindruckte Jei, dass dieser Schuldig es tatsächlich wieder wagen wollte. Er nickte. "Okay."
 

Gebannt sah Jei dem Schatten zu, der langsam von dem oberen Balkon auf seinen hinab glitt. Es hatte länger als eine Woche gedauert, bis Schuldig sein Gesagtes einlöste und fast hätte er dessen letzte Worte in der Mensa für einen Scherz gehalten, den der Ältere sich mit ihm erlaubt hatte. Doch der Schatten, der einen Moment geduckt auf dem Boden kauerte, ehe er sich aufrichtete und sich der Balkontür näherte, widersprach dem.

Der Vorhang an der Tür teilte sich und Schuldig streckte zuerst den Kopf hinein. Er grinste Jei an als er ihn in dem düsteren Zimmer entdeckte. Er saß im Schneidersitz auf seinem Bett und sah Schuldig stumm zu, wie dieser den Raum betrat.

"Warum hast du das Licht aus?"

Jei zuckte ahnungslos mit den Schultern. "Es ist immer aus."

"Du bist ein schräger Vogel." Schuldig hatte die Arme in die Seiten gestemmt und betrachtete sich das Zimmer, das nur durch das wenige Licht von draußen erhellt wurde.

Viel gab es nicht zu sehen – was nicht nur an der Dunkelheit lag. Sein eigenes Zimmer war auch nicht unbedingt wohnlich eingerichtet, eher praktisch, aber so spartanisch, wie dieses hier, hatte er noch keines gesehen. Bis auf die Uhr, die in jedem Zimmer hing, waren die Wände kahl und die einzigen Bücher, die in dem Regal über dem Schreibtisch standen, waren Schulbücher.

"Sieht aus, als ob du vorhättest, morgen wieder abzureisen..."

Jei war es sichtlich unangenehm, auf dieses Thema angesprochen zu werden. "Vielleicht bin ich ja nicht lange hier."

"Na klar, das hier ist ja auch nur ein Feriencamp", spottete Schuldig. "Freust du dich schon auf deine Mami, wenn sie dich am Bahnhof abholt?" Schuldig lachte über seinen eigenen vermeintlichen Witz.

Jeis Blicke verdunkelten sich. Seine Finger, die nervös an der Bettdecke gezupft hatten, ließen von dem Stoff ab und er ballte die Hände.

Schuldig, der zu lachen aufgehört hatte, betrachtete sein sitzendes Gegenüber amüsiert. "Entspann dich wieder, es war ja nur ein kleiner Scherz." Er legte den Kopf schief und hatte wieder diesen Blick drauf, den Jei so gruselig fand. "Bist du immer so empfindlich?"

Trotzig erwiderte Jei Schuldigs Blicke. Er verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn.

Schuldig beugte sich näher zu Jei hinunter und schien dessen Gesicht genauestens zu studieren. Eine zornige Falte hatte sich zwischen Jeis Augenbrauen gebildet und er hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. Seine Augen verrieten, dass hinter seiner Stirn mehr vorgehen musste, als er preisgeben wollte.

"Wie machst du das?" Schuldigs Stimme klang leise, fast beschwörend.

"Was denn?" Jei gab auf und wich den musternden Blicken aus.

Schuldigs Augen schienen jeden Zentimeter in Jeis Gesicht nach einer Spur abzusuchen. "Haben sie bei dir schon mit der Therapie angefangen?"

Prompt wich die Wut aus Jeis Gesicht. Er sah nun erschrocken aus. "Therapie?"

Schuldigs Stimmung wechselte augenblicklich von kontrollierend zu locker. "Scheinbar noch nicht", beantwortete er sich seine eigene Frage. Er ließ von Jei ab und wandte sich stattdessen wieder dessen Zimmer zu, als gäbe es etwas Interessantes, das er zu entdecken vorhatte.

Jei hasste es, zuerst nach etwas gefragt zu werden, um dann selbst keine Antworten zu bekommen. "Welche Therapie?", knurrte er ungehalten.

Schuldig hatte den Schreibtischstuhl zurückgezogen und sich daraufgesetzt. "Das wirst du wissen, wenn sie damit anfangen."

"Was für eine Therapie?" Jeis Stimme nahm einen durchdringenden Klang an. Er rückte weiter zur Kante seines Bettes vor, bis seine Füße den Boden berührten, bereit, aufzuspringen und sich auf Schuldig zu stürzen, sollte der ihn weiter so herablassend behandeln.

"Welche Therapie?", fauchte Jei. Seine Hände krallten sich in die Bettdecke als müsse er sich mit aller Kraft dazu zwingen, sie nicht zu benutzen, um den grinsenden Jungen vor sich zu erwürgen.

"Ich habe dir doch gesagt, dass das hier kein Feriencamp ist..."

Blitzschnell war Jei aufgesprungen und hatte Schuldig mitsamt Stuhl umgeworfen. Die Rückenlehne krachte polternd zu Boden und Schuldig, der seitlich weg rollte, stieß sich den Kopf an einem der Tischbeine.

Schnell wie ein Bussard auf der Jagd nach einem Beutetier stieß Jeis Faust auf ihn herab und traf ihn an der Schläfe, die gerade erst wieder vollständig verheilt war. Die Wucht verschlug Schuldig einen Moment lang den Atem und er rechnete damit, beim nächsten Schlag das Bewusstsein zu verlieren.

Doch Jei hatte mit diesem einen Schlag offensichtlich genug Dampf abgelassen, denn er ließ ihn in Ruhe und kniete nun still neben Schuldig als wäre nichts gewesen.

Langsam setzte sich Schuldig auf, ohne dabei Jei aus den Augen zu lassen. Seine Finger strichen vorsichtig über seine malträtierte Schläfe und suchten nach einer blutenden Wunde.

"Hat es dir die Sprache verschlagen? Wie machst du das denn jetzt?"
 

Jei hob den Blick.

Schuldig saß auf dem Schreibtischstuhl und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Seine Schläfe war unverletzt, obwohl da eben noch eine Beule von dem Schlag gewesen sein musste. Jei selbst saß noch mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und hatte sich wohl auch nicht von dort wegbewegt. Der Streit hatte also nicht hier stattgefunden, sondern dort.

"Wie mache ich was?", hakte Jei nach, dem Schuldigs Frage wieder einfiel.

"Dass es bei dir da oben so still ist." Schuldig tippte sich mit seinem Zeigefinger gegen die Schläfe.

Automatisch strich sich Jei über seine Stirn, doch die wirkte so wie immer. Er wusste nicht, worauf Schuldig hinaus wollte. Dort sollte es still sein? Dort war es nie still.

Schuldig betrachtete sich sein Gegenüber eine Weile stumm. Jei schien keinen Schimmer davon zu haben, weshalb sie alle hier waren. Für ihn war es wohl tatsächlich nur eine Schule. Er hätte ihn aufklären können, was es hieß, Rosenkreuz besuchen zu müssen, denn eine Wahl hatte niemand von ihnen gehabt. Doch Schuldig beschloss, Jei den Zweck – den tatsächlichen Zweck! – ihres Aufenthaltes hier vorerst noch nicht zuzumuten.

Jei schien jedoch noch etwas ganz anderes zu beschäftigen. "Warum sind die Kinder hier nicht nach dem Alter geordnet?"

"Gut aufgepasst, Sherlock", Schuldig grinste. "Man wird hier nach Fähigkeiten eingeteilt, nicht nach dem Alter."

"Fähigkeiten", echote Jei verblüfft. Die Schule wurde immer rätselhafter. "Ich habe keine Fähigkeiten."

"Die hast du sicher, sonst wärst du nicht hier", widersprach ihm Schuldig. "Die werden bei dir bald mit Tests beginnen und dann wirst du in die Gruppe kommen, in die du am besten passt."

Jei nickte, obwohl er kein Wort von dem verstanden hatte, was ihm gerade erklärt worden war. Jedenfalls wusste er jetzt, warum die Kinder hier so willkürlich zusammengewürfelt wirkten. Zuerst hatte er gedacht, dass er zu den Jüngeren gehörte und deshalb im ersten Stock wohnte, doch nach und nach waren ihm die Älteren aufgefallen, die ebenfalls hier lebten.

"Es gibt hier keine richtigen Klassen, oder?" Jei kam sich so dumm vor, für all diese Fragen, doch Schuldig beantwortete sie geduldig, dass er noch eine stellen musste. "Und was ist mit Unterricht?"

"Der wird abgestimmt, je nachdem, wie gut du bei den Tests abschneidest." Schuldig wirkte nun wieder etwas ernster. "Mach dir nicht so viele Gedanken darüber, ja? Das hört sich alles schlimmer an, als es ist." Er wusste, dass er log, nur Jei wusste es nicht. "Hey, vielleicht kommst du ja auf meine Etage, dann müsste ich nicht mehr den Balkon runter klettern."

Schuldig lächelte und Jei erwiderte es zögerlich.

Den letzten Satz hatte Schuldig bewusst fröhlicher klingen lassen, als ihm zumute war, wenn er an die Tests dachte, von denen er Jei gegenüber behauptet hatte, dass sie nicht so schlimm wären. Sie waren es.
 

Weine nicht, Jei, komm her zu mir.

Jei schluchzte.

Du musst keine Angst haben. Er hat gesagt, es ist nicht schlimm.

Jei nickte.

Gib mir deine Hand.

Gehorsam kniet Jei vor Schwester Ruth nieder. Der Sand unter ihm ist weiß und warm und gibt nach wie eine weiche Decke. Er streckt seine Hand Schwester Ruth entgegen, die sie vorsichtig in ihre nimmt und so dreht, dass seine Handfläche nach oben zeigt.

Vögel, die nicht singen

Ruth' Zeigefinger tippt sachte auf die Stelle unter seinem Mittelfinger.

Glocken, die nicht klingen

Den nächsten Punkt tippt sie unter seinen Ringfinger.

Kinder, die nicht lachen

Ihr Finger malt eine gebogene Linie mit nach oben zeigenden Enden unter die beiden unsichtbaren Punkte.

Was sind das für Sachen?

Ein Kreis schließt das lachende Mondgesicht in seiner Hand ein.

Tut es noch weh?

Jei schüttelte den Kopf.

Du bist ein lieber Junge, Jei.
 


 

III. Wer mit Tränen sät
 

"Wie lange gibt es die Schule schon?" Jeis Stimme hallte dumpf von den schmalen Wänden des Ganges wider, den er neben Schuldig entlang schlenderte.

Schuldig hatte eigentlich nur beiläufig das Gängelabyrinth unter dem Rosenkreuz-Institut erwähnt, damit aber sofort Jeis Neugier geweckt, der ihn daraufhin tagelang mit der Bitte belagert hatte, sie ihm doch zu zeigen. Irgendwann hatte Schuldig sein Gebettel erhört und ihm die Tür gezeigt, die im ältesten Teil des Kellergeschosses hinab in einen noch weitaus älteren Teil führte.

Jei hatte schnell aufgehört, sich aus Mangel an normalem Licht auf seine anderen Sinne zu konzentrieren. Es roch muffig nach Schimmel, wozu sich bald noch ein süßlicher Verwesungsgeruch hinzugesellte, der, je tiefer sie in den alten Teil vordrangen, immer intensiver wurde.

Jei atmete mittlerweile nur noch durch den Mund und tappte halbblind hinter dem schwachen Licht der Taschenlampe her, die Schuldig auf den Boden vor sie gerichtet hielt. Das Licht war lächerlich schwach im Gegensatz zu der unglaublich tiefen Dunkelheit, die sie umgab.

Schuldig verbiss sich das Lachen wegen Jeis Bezeichnung des Rosenkreuz-Instituts als Schule. "Also den altmodischen Ansichten nach, die sie hier verbreiten, gibt es sie seit mindestens tausend Jahren..."

"Nein, ehrlich." Jei stieß gegen Schuldig, der unvermittelt stehen geblieben war. "Entschuldigung", murmelte er und machte einen Schritt zurück. "Wie lange denn nun?"

Statt einer direkten Antwort leuchtete Schuldig mit der Taschenlampe auf ein verrostetes Eisengitter, das einen abzweigenden Gang verschloss. "Schau dir die Spinnennetze an, die es hier gibt, dann weißt du es."

Jeis Blick folgte dem Licht der Taschenlampe durch die Eisenstäbe hindurch und er erschauerte unwillkürlich.

Dicke Wolken aus von fleißigen Spinnen gewobenen Netzen hingen in jeder Ecke, des langes Ganges, so dass man kaum noch die Wände darunter erkennen konnte. Es wirkte wie ein Tunnel, der aus nichts als Spinnennetzen bestand. Jahrelang, oder eher Jahrzehntelang hatten unzählige Generationen von Spinnen ungestört ihr Werk vollbringen können und so Schicht um Schicht ihrer Fallen an- und übereinander reihen können. Und während die sterblichen Überreste der ersten achtbeinigen Siedler nicht viel mehr als weiße vertrocknete Körperhüllen waren, die den staubigen Boden übersäten, woben ihre Nachkommen fleißig weiter.

"Früher wurden hier unten die ganzen Verrückten eingesperrt", murmelte Schuldig mit düsterer Stimme. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe flog zu Jei und leuchtete diesem direkt ins Gesicht. "Und heute ist es auch nicht anders..."

"Lass das!" Jei stieß Schuldigs Hand weg und das Licht malte eine Zickzacklinie auf die Wände.

Schuldig lachte. "War nur Spaß, Kleiner, die ganzen Verrückten laufen mittlerweile oben frei im Haus herum, statt hier unten in ihren Zellen zu versauern. Man nennt sie jetzt Betreuer..." Er lachte weiter, als hätte er den Witz des Jahrtausends erzählt und klopfte Jei, der mit finsterem Blick vor ihm stand, kameradschaftlich auf die Schulter.

"Wo führt der Gang denn hin?", lenkte Jei hastig ab. Er wollte nicht, dass Schuldig merkte, wie sehr er ihn mit seinen dummen Geschichten ängstigte.

"Nach draußen", erwiderte Schuldig nun ernster. "Schau mal, hier sind Schienen in den Boden eingelassen." Das Licht der Taschenlampe fiel zwischen ihnen zu Boden und beleuchtete zwei parallel zueinander verlaufende Linien, die schnurgerade dem Gang folgten, bis sie schließlich dort in der Dunkelheit verschwanden, wo das Licht an Kraft verlor.

Schuldig setzte sich in Bewegung und Jei folgte ihm dicht auf den Fersen, um nicht alleine zurückbleiben zu müssen.
 

"Das sind Versorgungsgänge", führte Schuldig seine Erklärung fort. "Die führen bis nach draußen in einen Hof, den man von außen nicht betreten kann."

"Wieso denn nicht?" Jei wurde wieder mulmig zumute.

"Weil die Lieferanten sich wahrscheinlich in die Hosen gemacht hätten, wenn die Irren näher als eine geschlossene Tür an sie herangekommen wären. Außerdem-", Schuldig blieb stehen und Jei sah gleich darauf, warum. Sie waren am Ende des Ganges angekommen. Eine Tür versperrte ihnen den Weg, doch die Schienen liefen einfach durch einen Spalt darunter hindurch nach draußen ins Freie. Ein kalter Luftzug wehte um ihre Knöchel.

"Außerdem hat man so auch die Toten hier ungestört wegbringen können, ohne dass eine Panik unter denen ausbrechen konnte, die noch nicht völlig weich im Kopf waren." Schuldig tippte sich bedeutungsvoll gegen die Stirn.

Jei stand mit offenem Mund vor Schuldig und starrte diesen stumm an. Das klang alles so unwahrscheinlich, aber die nach draußen führenden Schienen belegten Schuldigs Worte.

"Warum haut hier niemand ab, wenn die Schule so schrecklich ist, wie du mir immer erzählst?", fragte Jei, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.

Schuldig schnaubte abfällig. "Wenn es nur ums Herauskommen geht, gibt es bequemere Wege."

"Welche? Und warum benutzt die niemand?" Jei hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

"Du stellst ja mal komische Fragen, dabei wirkst du gar nicht so dumm..."

Jei ärgerte sich über Schuldig, der ihn bemitleidend ansah. Er wandte sich von dem Älteren ab und betrachtete sich den schmalen Streifen Licht, der durch den Spalt unter der Tür zu ihnen hinein schien.

"Denkst du wirklich, es gäbe keinen, der nicht schon versucht hätte, von hier zu verschwinden?" Schuldigs Tonfall hatte seine vorherige Überheblichkeit verloren. Er klang wieder so ernst wie damals in Jeis Zimmer als er ihm riet, sich nicht so viele Gedanken wegen den Tests zu machen. Er kaute auf seiner Unterlippe, ehe er weitersprach. "Die kommen nur nicht weit."

Jeis Hände wurden kalt. Der Wind, der unter der Tür hindurch pfiff schwoll zu einem klagenden Chor an. Auf einmal wirkte das hier nicht mehr wie ein spannendes Gemäuer, das im Laufe der Jahre mit allerlei Gruselgeschichten bestückt worden war, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Schüler zu beeindrucken. Das hier wirkte alles viel zu wahr.

"Können wir wieder zurückgehen? Ich möchte auf mein Zimmer."

"Klar." Schuldig drehte sich um und ging zügigen Schrittes den Gang in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Es schien, als hätte er er plötzlich doch eilig, diesen Teil des Hauses zu verlassen.

Jei schlich wie ein geprügelter Hund hinter ihm her.
 

Erst als sie vor Jeis Zimmertür standen, rückte Schuldig endlich damit heraus, was geschah, wenn man einen von ihnen bei der Flucht erwischte.

Man fand sie immer, wie er noch einmal betonte, und man brachte sie so geschickt unter mächtig Trubel zurück ins Institut, so dass auch jeder hier mitbekommen musste, dass es zwecklos war, abzuhauen. Und dann – dann verschwanden die erfolglosen Ausreißer einfach spurlos und tauchten nicht mehr auf; weder im Unterricht, noch sonst irgendwo im Haus.

Jei, der in seinem Bett lag, zog sich die Decke über den Kopf und vergrub das Gesicht tief in seinem Kissen. Er hatte furchtbare Angst. Nicht nur vor dem, was hier vor sich ging und von dem er noch nicht viel mitbekommen hatte, sondern er hatte mehr Angst davor, irgendwann den Wunsch zu haben, unbedingt von hier weg zu wollen.

Er hatte Schuldig gefragt, was mit den Ausreißern passierte, obwohl er wusste, dass er es eigentlich gar nicht hören wollte.

Und Schuldig hatte einfach nur mit den Schultern gezuckt. Er wäre zwar schon so lange hier, um so einiges mitbekommen zu haben, doch das, was mit denen geschah, die man fasste, wüsste auch er nicht ganz genau. Es hatte wie eine Lüge geklungen.

Am schlimmsten aber hatte Jei Schuldigs Gesichtsausdruck gefunden, als der sich von ihm verabschiedet hatte. Er solle bloß nicht auf die Idee kommen, es zu versuchen, hatte Schuldig zu Jei gesagt und dabei jedes Wort betont, als hätte er sich sicher gehen wollen, dass der ihn auch richtig verstand. Es wäre weniger schlimm, hier zu bleiben und die Therapie abzuschließen und zu tun, was man ihnen sagte, als abzuhauen und erwischt zu werden.

Jei schlief ein. Er träumte von den Gängen unter Rosenkreuz und er träumte von Kindern, die beim Ausreißen erwischt und zurückgebracht worden waren. Er träumte auch davon, wie man sie durch die Gänge mit den von oben herabhängenden Spinnennetz-Wolken führte und in einen Raum sperrte, in dem sie für den Rest ihres Lebens bleiben mussten, was, wenn sie Glück hatten, nicht lange dauerte.
 

Jeis Knie wurden weich, als ihm bewusst wurde, dass er sich gerade zwischen Himmel und Erde befand und es nur einen falschen Handgriff oder einen nicht richtig gesetzten Schritt bedeutete, dass es ihm wie Schuldig erging.

Der Wind zerrte an ihm und er spürte die raue Außenwand des Instituts durch sein Hemd hindurch, wie sie sich in seine Haut drückte. Er war sich sicher, dass, wenn er später nachsah, das Muster des Wandverputzes seinen rechten Arm zierte.

Jei zögerte. Er legte den Kopf in den Nacken und begegnete den spöttischen Blicken Schuldigs, der über ihm über das Balkongeländer gelehnt dastand und ihm bei seinen bisher weniger erfolgreichen Kletterversuchen zusah.

Mittlerweile war die Bewunderung darüber, dass Schuldig einfach so dieses scheinbar unüberwindbare Hindernis bezwingen konnte, der Erkenntnis gewichen, dass er wohl einfach nur leichtsinnig genug war, weiter sein Leben aufs Spiel zu setzen, obwohl es ihn schon einmal fast eben das gekostet hatte.

"Mann, das wird ein Spektakel, wenn es hell wird und man dich da unten hängen sieht..." Schuldig lachte und dieses Mal lachte er Jei tatsächlich aus.

Jei hätte gerne etwas erwidert, aber er musste sich zu sehr darauf konzentrieren, dass weder seine Hände das über ihm liegende Balkongitter losließen, noch seine Füße von der oberen Kante seines Balkons, auf dessen Handlauf er stand, abrutschten. Seine Finger wurden langsam taub und Jei beschloss, dass er sich entscheiden musste, was er tat, ehe sein Körper ihm die Wahl abnahm.

"Na endlich", kommentierte Schuldig den sich in Bewegung setzenden Jei. Und mit einem "Gut gemacht", begrüßte er Jei, der sich nur wenige Augenblicke später über das Balkongeländer rollte und auf den Boden dahinter fallen ließ, wo er liegen blieb und nach Atem rang.

Dankbar ergriff Jei Schuldigs ihm entgegen gestreckte Hand und ließ sich von ihm auf die Beine helfen, die noch immer vor Anspannung zitterten. Den Gedanken darüber, wie er später den Weg zurück schaffen sollte, wischte er schnell beiseite, um sich wenigstens ein bisschen über seinen Erfolg freuen zu können.

"Mit der Zeit bekommst du Übung darin." Schuldig klang stolz. Er nickte zu einer Trennwand hin, welche die angrenzenden Balkone voneinander trennte. "Noch zweimal und dann hast du es hinter dir."

Jei musste ziemlich geschockt dreingesehen haben, denn Schuldig sah sich dazu genötigt, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, allerdings nicht um ihn zu trösten, sondern um ihn zu den letzten Hürden zu bringen, die er vorerst überwinden musste.
 

Das Licht an der Decke flammte auf und Jei blinzelte einige Male geblendet. Nachdem sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er sich um und erkannte schnell, dass es zumindest von den Zimmern her keinen Vorteil hatte, in der zweiten Etage wohnen zu dürfen. Der Raum war so groß, wie sein eigener und nahezu identisch eingerichtet. Nur sah es trotzdem bewohnter aus, als bei ihm selbst – sofern man chaotische Papier- und Bücherstapel auf dem Schreibtisch und einen mit Kleidern überhäuften Stuhl als wohnlich bezeichnen mochte.

"Ich hoffe, du hast keinen Palast erwartet", witzelte Schuldig, der die Balkontür schloss.

Ertappt schüttelte Jei den Kopf. Er fühlte sich hier deplatziert und wie auf einem Präsentierteller. "Wenn sie das Licht sehen-"

"Dann?" Schuldig neigte seinen Kopf etwas und wartete scheinbar gespannt auf das Ende des Satzes.

"Weiß nicht..." Jei zuckte mit den Schultern. "Wie lange bist du schon hier?"

Schuldig tat, als müsse er angestrengt nachdenken. "So lange, dass ich mich nicht mal mehr an meinen ersten Tag hier erinnern kann."

Irritiert sah Jei sein Gegenüber mit offenstehendem Mund an. Wie war es möglich, dass man sich nicht mehr an etwas erinnern konnte, das höchstens einige Jahre zurücklag? Ob sich Schuldig nur nicht erinnern wollte?

"Setz dich", wies Schuldig Jei an, der sich der Einfachheit halber dort niederließ, wo er gerade stand, was Schuldig zuerst verwundert aber schweigend hinnahm. Er öffnete seinen Kleiderschrank und schob darin einen Stapel ordentlich zusammengelegter Pullover zur Seite. Als er sich wieder Jei zuwandte, hielt er zwei Flaschen in der Hand, von denen er eine Jei gab.

"Wie-", begann Jei, wurde aber sofort von Schuldig unterbrochen, der abwinkte.

"Leute beobachten und anschließend so lange bequatschen, bis sie dir geben, was du möchtest."

"Mit bequatschen meinst du nicht, sie nett darum zu bitten?" Die Limonadenflasche gab ein leises Zischen von sich, als Jei den Deckel aufdrehte.

Schuldig beließ es bei seinem üblichen Grinsen, das alles bedeuten konnte. Er ließ sich vor Jei auf dem Boden nieder und sah den Jungen eine Weile stumm an.

"Du lernst schnell", stellte Schuldig schlicht fest, ohne den Blick von Jei abzuwenden, der sie entgegnete, ohne den Kopf zu senken, wie er es zu Anfang ständig getan hatte. "Ich wette, die können es kaum abwarten, dich endlich zu therapieren."

Jei setzte die Flasche ab, aus der er gerade einen Schluck genommen hatte.

Hatte Schuldig nicht schon einmal etwas über eine Therapie gesagt, oder hatte er sich das nur eingebildet?

"Es wird wohl nicht lange dauern, bis du hier in die zweite Etage kommst." Schuldigs Worte klangen sanfter, als seine Mimik erahnen ließ. Er hatte die Augen etwas zusammengekniffen und musterte Jei weiter auf die Art, wie er es getan hatte, als sie sich das erste Mal miteinander unterhalten hatten. So, als versuchte er ein Hindernis zwischen ihnen zu überwinden.

"Und dann?"

"Dann hast du ein Zimmer mit einem größeren Bad", witzelte Schuldig.

Jei fiel plötzlich etwas ein, das ihm aufgefallen war, als er auf seinem Balkon gestanden und den Weg abzuschätzen versucht hatte, den er zurücklegen musste, um zu Schuldig hinauf zu kommen. Das Haus hatte – das Erdgeschoss, in dem sich die Klassenräume, die Mensa und eine kleine Krankenstation befanden, mitgezählt – insgesamt vier Stockwerke. "Was passiert in der dritten Etage?"

Schuldig schien nicht überrascht, dass Jei danach fragte. "Das weiß niemand."

Jei ließ sich damit nicht so einfach abspeisen. "Wieso nicht?"

Schuldig zögerte wieder kurz. Er sah auf die Flasche hinab, die er noch in seinen Händen hielt, ohne einen Schluck davon genommen zu haben. Auf seiner Stirn hatten sich Falten gebildet. "Die aus dem Dritten kommen nicht mehr zurück. Woher soll ich also wissen, was dort passiert?"

Jei erschrak kurz über den ungehaltenen Tonfall Schuldigs. Er hatte noch mehr Fragen, etwa, was mit denen war, die es nicht einmal in den zweiten Stock schafften, aber er beschloss, dass es sicher noch einen besseren Zeitpunkt geben würde, um danach zu fragen.

"Sind die Tests schlimm?"

Schuldig hob eine Augenbraue, als könne er nicht fassen, was Jei ihn gerade gefragt hatte. "Es sind keine schriftlichen Tests, falls du das meintest. Und ob sie schlimm sind, kommt auf denjenigen an, der sie machen muss. Hast du Angst?"

Jei horchte in sich hinein, ob das, was er fühlte, Angst war, doch es glich nicht dem, was er als Angst kannte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

"Das ist auch besser." Schuldig nahm den ersten Schluck aus seiner Flasche. "Tu, was sie dir sagen, dann hast du es bald hinter dir."
 

Jei hatte die Augen geschlossen. Er dachte an den Kindergarten an der Küste und an die Möwen, die kreischend über ihnen ihre Bahnen am sommerblauen Himmel zogen.

Vögel, die nicht singen

Der Sand unter seinen nackten Füßen ist warm und die Luft riecht salzig frisch nach dem nahen Meer. Vor ihm geht Schwester Ruth den schmalen Weg zum Strand hinunter und alle Kinder folgen ihr wie Entenküken ihrer Mama zum Wasser hinab.

Glocken, die nicht klingen

Schwester Ruth breitet eine große Decke am Strand aus und Jei und die anderen Kinder helfen ihr dabei. Der Wind erfasst die Decke. Er reißt sie aus ihren Händen und bauscht sie wie ein buntes Segel auf.

Kinder, die nicht lachen

Schneller, als sie wieder danach greifen können, fliegt die Decke davon und wird aufs Wasser hinaus geweht.

Ruth und die Kinder lachen.

Was sind das für Sachen?

Jei öffnete die Lider. Das Kinderlachen verklang als leiser werdendes Echo in seinen Ohren. Seine Blicke waren blind vor Tränen, die er beharrlich zu weinen vermied und die nun seine Augen zu überschwemmen drohten. Er zitterte. Es war kalt im Untersuchungsraum, doch die eisigen Blicke, mit denen man seinen unbekleideten Körper musterte, waren schlimmer.

"Er hat gesagt, dass ich keine Angst haben soll."

Richtig, Jei, du sollst keine Angst haben, auch wenn du große Angst hast. Verstehst du?

Jei nickte müde.
 


 

IV. Beten und verbrennen
 

Der erste Impuls, den Schuldig von Jei empfing, traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Seine Hand, die er auf die kalte Stirn des schlafenden Jei gelegt hatte, zuckte kurz und Schuldig zog sie schnell weg. In den Fingerspitzen kribbelte es taub.

So eine heftige Reaktion erlebte er zum ersten Mal. Normalerweise fiel es ihm leichter, Zugang zu den Gedanken anderer Leute zu bekommen, ohne dass er sie berühren musste. Nur bei Jei wollte ihm bis auf dieses eine hektische Aufblitzen nicht einmal das gelingen.

Schuldig seufzte und betrachtete Jei, der still auf seinem Bett lag und nicht mitbekam, was um ihn herum geschah. Er würde ihn verfluchen, weil Schuldig ihn belogen hatte, was die Tests anging. Wenn er überhaupt noch in der Lage war, nach dieser Untersuchung einen klaren Gedanken zu fassen.

Schuldigs Hand schwebte reglos über Jeis verschwitzter Stirn. Dann sank sie hinab, darauf vorbereitet, den nächsten Schlag zu bekommen.
 

In Schuldigs Ohren rauschte es, so dass er im ersten Moment dachte, einen Hörsturz zu haben. Doch dann merkte er, dass das Rauschen immer im gleichen Rhythmus an- und wieder abschwoll.

Er öffnete die Augen und versuchte, etwas von seiner Umgebung zu erkennen. Alles, was er sehen konnte, war wabernder Nebel, der ihn einschloss. Er war so dicht, dass selbst seine Füße darin verschwanden und er den Boden darunter nicht erkennen konnte.

"Jei?"

Seine Frage verklang unbeantwortet. Der Nebel verschluckte sie einfach und Schuldig beschloss, auf weiteres Rufen zu verzichten. Er war alleine hier.
 

"Warum muss ich immer auf meinem Zimmer bleiben?"

Die Frage war so leise, dass Schuldig sich zu Jei hinab beugen musste, um ihn richtig zu verstehen.

"Ich darf nicht mit den anderen reden oder essen und Unterricht habe ich auch keinen mehr."

"Willst du dich ernsthaft darüber beschweren?" Schuldig lachte leise.

Jei lag völlig erschöpft auf seinem Bett, wie jedes Mal nach einer Therapiestunde. Wenn man ihn zurückbrachte, fiel er augenblicklich auf sein Bett und war kaum noch in der Lage, aufzustehen. Selbst zum Essen schien ihm die Kraft zu fehlen. Der Teller stand unangetastet auf dem Schreibtisch, bis er mit der nächsten Mahlzeit ausgetauscht wurde, die ebenfalls unberührt bleiben würde.

Die Untersuchung war anders als sonst üblich, dachte Schuldig bei sich, während er auf den gerade Eingeschlafenen hinabsah. Wahrscheinlich hatte man das gleiche bei Jei bemerkt, wie er, und sich ebenfalls darüber gewundert. Noch nie hatte Schuldig jemanden getroffen, der nicht nur so wenig sprach, sondern auch noch förmlich in Gedanken schweigen konnte, wie es Jei tat.

Durch die Isolation hatte man wohl erreichen wollen, dass Jei dieses Schweigen brach. Da er es aber immer noch beherrschte, schien die Therapie bis jetzt noch keinen Erfolg gehabt zu haben, was sicher ärgerlich für Rosenkreuz war.

Schuldig drängte den Gedanken zurück, wie weit man bei Jei noch gehen würde, um seine Fähigkeiten zu wecken, von denen er behauptet hatte, sie nicht zu besitzen.

"Sturkopf", murmelte Schuldig nicht ohne Anerkennung.

Blieb abzuwarten, wer den längeren Atem besaß.
 

So schnell gab man nicht auf. Irgendetwas an Jei stachelte sie an, es Tag für Tag aufs Neue zu versuchen.

Der Nebel wurde immer dichter. Nach drei Wochen war er so dicht, dass Schuldig Schwierigkeiten hatte, zu atmen. Mit jedem Luftzug drang kalter Dunst in seine Lungen und er fühlte sich, als versuche er, unter Wasser zu atmen.

Gegen das, was sie mit Jei machten, war seine Therapie ein Witz gewesen. Schnell hatte man ihn in Ruhe gelassen, nachdem er seinen Spaß mit den Betreuern und Ärzten gehabt hatte, indem er seine Gedanken hinter deren verborgen und diese als Reflektoren benutzt hatte.

Danach war er auf der Stelle in den zweiten Stock verlegt worden, wo ihnen solche Untersuchungen erspart blieben.

Jei wollte man das wohl nicht gönnen und seine Isolation, die eigentlich keine war, da Schuldig weiterhin jeden Tag den Balkon hinunter kletterte und bei Jei saß, dauerte an.
 

Nahezu ohne ein Geräusch zu verursachen zog Schuldig die Balkontür hinter sich zu. Er hatte Kopfschmerzen und wollte nicht lange bei Jei bleiben. Nur so lange, dass er die Stille, die dort herrschte, wenigstens etwas genießen konnte.

Seine Hände griffen gerade nach der oberen Kante der Trennwand, die seinen Balkon von dem daneben abgrenzte, als Schuldig den gleichen Impuls spürte, wie bei seinem ersten Test mit Jeis Gedanken. Es war wie ein Blitz, der sich in seinem Kopf entlud und ihn zurück taumeln ließ. Haltsuchend griffen Schuldigs Hände ins Leere und er fiel zu Boden, wo er auf dem Rücken liegen blieb und starr in den Himmel hinauf blickte. Die Konturen seiner Umgebung zogen sich zu einem einzigen Stern zusammen, der alles verschluckte und Schuldig spürte, wie seine Gedanken aus seinem Kopf rannen, als wäre der ein Gefäß mit einem Loch.
 

Schuldigs Gedanken wankten irgendwo in einem fremden, leeren Raum. Sie wurden angespült, so dass er sie fast sicher bei sich wähnte, doch gleich darauf ebbten sie wieder ab und rückten unerreichbar weit weg. So ging das hin und her. Das Rauschen seiner Gedankenwellen wurde immer lauter, bis Schuldig schließlich genauer hinhörte.

Das Rauschen kam nicht von ihm, aber er hatte es schon einmal gehört, bei jemand anderem.

"Jei?"

Wieder blieb seine Frage unbeantwortet, doch dieses Mal klang seine Stimme anders. Sie wurde nicht verschluckt und er konnte besser atmen, als bei den letzten Versuchen.

Schuldig öffnete die Augen.
 

Der Nebel war verschwunden und hatte den Blick auf etwas freigegeben, das Schuldig nicht erwartet hätte. Er stand auf einem Weg, der in leichten Windungen zu einem höher gelegenen Haus hin führte, das Schuldig eher als Spukvilla statt als Gebäude bezeichnen würde.

Er war überrascht, denn eigentlich hatte er etwas anderes in Jeis Gedanken vermutet und nicht unbedingt das, was er nun vor sich sah. Meistens empfing er lediglich Stimmen, das höchste waren Zwiegespräche, wobei er seine Zielperson vor sich hatte, aber hier tat sich eine so detailreiche Umgebung vor ihm auf, mit Geräuschen und Gerüchen, dass er sich plötzlich nicht mehr ganz sicher war, ob er in Wirklichkeit nicht einfach doch nur durch eine Tür nach draußen getreten war.

Vorsichtig setzte sich Schuldig in Bewegung, um die Gegend zu erkunden und vielleicht irgendwo auf einen Hinweis auf Jei zu treffen.
 

Der Weg, der aus wackeligen Steinplatten bestand, die entweder zersprungen waren oder ganz fehlten, stellte sich als das leichteste Hindernis heraus, das Schuldig zu bewältigen hatte. In den Lücken, die zwischen den Platten klafften, hatte sich welkes Laub angesammelt, das die meisten Stolperfallen verdeckte und das bei jedem Schritt trocken raschelte.

Den ganzen Weg über waren Schuldigs Blicke auf das windschiefe Haus gerichtet. Jei musste Kräfte besitzen, die weit über das hinausgingen, das Schuldig bis jetzt kannte. Wie sonst war es möglich, dass er, statt seine Gedanken auf akustische Signale zu reduzieren, ein Haus darum errichtet hatte?

Bedächtig schritt Schuldig die knarrende Holztreppe zur Veranda herauf. Seine Hand fuhr sachte über das raue Geländer, ohne sich an der lockeren Konstruktion festzuhalten. Neben der Treppe befanden sich Dornenbüsche, die wenig einladend aussahen, als dass er hätte hineinfallen wollen.

Der erste Eindruck, den man schon aus der Entfernung auf das Haus bekommen hatte, setzte sich fort, je näher man ihm kam. Die Details wurden immer klarer und grausiger. Alles wirkte morsch und schief, als hätte das Haus bereits einige Stürme hinter sich, die es stetig erschütterten, aber nie in die Knie zwingen konnten. Trotzig stand es da und starrte mit halbblinden Fenstern in eine trostlose Umgebung, in der nur noch ein paar kreischende Unglücksraben fehlten, die über dem krummen Dachgiebel kreisten.

Wenn schon das Aussehen des Hauses dem entsprach, was in Jeis Kopf vorging, dann war Schuldig froh, keinem dieser Gedanken unvorbereitet ausgesetzt worden zu sein. Jetzt hatte er eine erste winzige Ahnung davon, wie es in Jei aussehen mochte. Und wenn er nicht völlig daneben lag, dann gab es in jedem Haus auch Zimmer.

Schuldig stand nun vor der Haustür. Darüber hing eine Lampe mit zersprungenem Schirm. Das Glas der Glühbirne darunter war schwarz. Irgendwann musste sie jedoch einmal funktioniert haben, denn unter der Lampe auf dem Boden lag ein Teppich aus unzähligen toten Insekten, die sich teilweise in einer staubigen Wolke auflösten, als Schuldig sie mit dem Fuß zur Seite schob.

Er hob den Blick von den leeren Insektenhüllen und betrachtete sich die Tür. Die Farbe war an den meisten Stellen abgesprungen und das Holz darunter war ebenso verwittert wie der Rest des Hauses. Ein Detail jedoch ließ Schuldig verwirrt innehalten. Das Türschloss war neu. Es glänzte wie frisch poliert und keine einzige Macke war in dem reflektierenden Metall zu entdecken. Es passte nicht zu dem, was es verschließen sollte.

Schuldig hätte seinen Verstand darauf verwetten können, dass dieses Schloss, so stabil es auch wirkte, niemals die morsche Tür vor jemandem sichern konnte, der in das Haus hinein wollte. Ein Tritt genügte, und die Tür würde aus den Angeln fliegen, aber irgendetwas anderes störte Schuldig daran. Wieso sollte man so ein heruntergekommenes Haus mit einem neuen Schloss verschließen?

Schuldig streckte die Hand aus, um das Schloss zu berühren. Er sah die verzerrte Spiegelung von sich selbst, genau das selbe tun und in dem Moment, in dem sich ihre Finger berührten, spürte Schuldig wieder den gleichen Schlag, der ihn auf seinem Balkon zu Boden geworfen hatte.
 

Konnte man sterben, während man sich in den Gedanken eines anderen befand? Und wenn, blieb man dann dort, wo man war? Das würde einiges erklären.

Schuldig hörte sein eigenes Lachen. Er spürte, wie es zuerst nur glucksend seine Kehle hinaufstieg, ehe es mit einer Spur von Erleichterung aus seinem Mund hervor brach.

Tot war er also nicht.

Wenn er Jei traf musste er ihn unbedingt fragen, ob es nicht andere Wege gab, wie sie sich miteinander kurzschließen konnten, ohne diese unangenehmen elektrischen Schläge. Auf Dauer konnte das nicht gesund sein.

Umständlich setzte sich Schuldig auf und dehnte seine Muskeln. Zum Glück war das nicht passiert, während er außen am Balkon hing. Einmal gebrochene Knochen reichten ihm vorerst.
 

Mit Jei ein vernünftiges Wort zu wechseln, war unmöglich wie Schuldig bei seinem nächsten Besuch in dessen Zimmer feststellen musste.

Jei war völlig weggetreten und Schuldig, der es auf die Untersuchungen und die Medikamente schob, saß stumm neben dem Jungen, der zwischen Schlaf und Wachsein hin und herpendelte, und hörte dem tickenden Sekundenzeiger zu, der unermüdliche eine Runde nach der anderen drehte.

Irgendwann konnte er nicht mehr widerstehen. Schuldig hob die Hand und strich über Jeis Stirn. Es passierte nichts. Er blieb einfach in Jeis Zimmer, fühlte Jeis kalte Stirn unter seinen Fingern und hörte die gleichen Geräusche.

Es schlich sich langsam ein, statt dem schon gewohnten heftigen Schlag, so dass es kaum auffiel als es begann. Die Abstände zwischen jeder Sekunde dauerten auf einmal immer länger. Das Tick schwoll an als käme es näher. Und das anschließende Tack tat genau das Gegenteil: es wurde schwächer, als entferne es sich. Nahes Tick, weit entferntes Tack. Immer und immer wieder.

Schuldig hörte den Schrei einer Möwe über sich und ein warmer Wind wehte im Takt der Uhr eine salzige Brise zu ihm hin, obwohl die Fenster geschlossen waren und das nächste Meer so weit weg war, dass man es unmöglich bis hierhin riechen konnte.

Er hob den Kopf.
 

Er saß nicht mehr neben Jei auf dem Bett. Er stand aber auch nicht auf dem Weg, der zu dem Haus hinführte. Jeis Haus stand nun über ihm auf einer Klippe und er selbst befand sich an einem Strand, der direkt darunter lag.

Jetzt wurde ihm auch klar, woher das Rauschen gekommen war, das er früher schon durch den Nebel hindurch gehört und das sich heute mit dem Ticken der Uhr abgewechselt hatte. Es war das Meer mit seinen Wellen, die rhythmisch zum Strand hin rollten und sich kurz darauf wieder zurückzogen, um sich gleich noch einmal auf den Weg in Richtung Strand aufzumachen.

Schuldig ging ein paar Schritte durch den warmen Sand, der unter ihm wie Schaumgummi nachgab und wieder in seine vorherige Form zurückkehrte, sobald er den Fuß hob. Er bückte sich, schöpfte eine Handvoll Sand und ließ sie durch seine Finger rieseln. Staunend sah er zu, wie der Sand zu seiner früheren Form hin strebte, als würde er magnetisch angezogen.

Schuldig stand auf. Es war nicht einmal nötig, sich den Sand von den Kleidern zu klopfen. Er rieselte einfach von ihm ab und kehrte dorthin zurück, wo er zuvor gewesen war.

Nach einigen Schritten blickte sich Schuldig noch einmal um und sah, dass er keine Fußspuren hinterlassen hatte. Es schien, als existiere er hier überhaupt nicht oder als hätte er nur kurzzeitig Einfluss auf das, was hier geschah. Er war nicht mehr als ein Statist.

Einige Meter entfernt lag etwas auf dem Boden, auf das sich Schuldig noch keinen Reim machen konnte, doch im Näherkommen erkannte er, was es war. Eine große Decke lag ausgebreitet im Sand und darauf standen Schüsseln mit allerlei Essen.

'Ein Picknick', dachte Schuldig, während er sich der Decke näherte, deren Aufbau nur noch auf die Gäste zu warten schien, die sicher gleich auftauchen würden.

Anscheinend gab es auch schöne Dinge, an die sich Jei erinnerte.

Schuldig ging neben der Decke in die Knie. Er streckte die Hand aus und tippte sachte einen grünen Apfel an, der neben einer gefüllten Obstschale lag. Er fühlte sich normal an und Schuldig hob ihn hoch. Er roch daran. Und noch immer war daran alles normal.

Schuldig zögerte einen Moment, doch seine Neugier war zu groß, ob mit dem Apfel das gleiche passieren würde, wie mit dem Sand, und er biss hinein.

Er hatte erwartet, dass spätestens jetzt klar wurde, dass alles nur eine Illusion war, die Jei geschaffen hatte und sich mit dem Biss in Nichts auflöste, doch der Apfel war noch immer ein Apfel, süß und saftig frisch. Er schmeckte das Fruchtfleisch, das zwischen seinen Zähnen knackte, während er kaute, doch ein Blick auf die unbeschädigte Schale des Apfels, bestätigte seine Vermutung, auch dieses Mal keinen Einfluss auf die Umgebung zu haben.

Schuldig legte die Frucht zurück und sah zu, wie sie von alleine an ihre frühere Stelle kullerte.

Wie zur Hölle hatte Jei das alles nur fertiggebracht? Er hatte nicht nur ein Haus irgendwo auf eine Klippe gestellt, sondern auch noch einen Strand dazu erfunden, inklusive Picknick. Und wenn hier draußen schon alles so detailreich und echt war, dass selbst das Essen genießbar war, wie musste es erst im Haus aussehen?

Schuldig blieb nicht einmal mehr Zeit, über den heftigen Sog zu erschrecken, der ihn erfasste, kaum dass er den Gedanken beendet hatte. Es schien von mal zu mal schneller zu gehen, den Zugang zu Jeis Gedanken zu finden, aber heute war es besonders schnell.

Zu seinem Erstaunen fand sich Schuldig gleich darauf in Jeis Haus wieder. Er musste irgendwie hineingekommen sein, ohne zu wissen, wie. Er hatte nur den Wunsch geäußert und schon war er vom Strand in das Haus hinein gebracht worden.

Seine Freude währte nicht lange.
 

Schuldig stand in einem hellen Zimmer, das auf den ersten Blick leer wirkte. Es gab keinerlei Einrichtungsgegenstände darin. Alles machte einen klinischen Eindruck. Bis auf das Muster an der Wand, das Schuldig aufkeuchen ließ. Er spürte wie sein Magen bei dem Anblick krampfte und er musste kurz die Augen schließen. Als er die Lider wieder öffnete, war er besser vorbereitet auf das, was sich vor ihm abspielte.

Das Muster auf der Wand, das er zuerst für das einer Tapete gehalten hatte, war jedoch von natürlicherem Ursprung. Blut zog sich in langen Kometenschweifen über die Wand.

Schuldig stand so nah an der Wand, dass er die einzelnen Blutspritzer erkennen konnte, die allesamt frisch glänzten. Er tat einen Schritt zurück und unterdrückte das Würgen, das seinen Magen zum Entleeren bringen wollte, als er auf etwas offensichtlich Nassem ausrutschte. Er musste und er wollte es nicht sehen. Was konnte es schon sein, in einem Zimmer, dessen Wände voller Blut waren?!

Ohne den Blick zu Boden zu richten, drehte sich Schuldig um und verbat seinem sich im Kreis drehenden Verstand, der dahinter zu kommen versuchte, was hier vor sich ging, auch nur einen Gedanken an das zu verschwenden, was sich unter seinen Füßen befand. Er musste hier raus und wenn er es nicht auf seine Art schaffte, dann eben auf die altmodische: durch die Tür.

Mit Entsetzen stellte Schuldig jedoch bald fest, dass es keine Tür in diesem Raum gab. Nicht einmal Fenster hatte es hier. Er spürte, wie Panik in ihm aufkam, als ihm seine ausweglose Lage klar wurde. Zumindest so klar, wie es ihm sein schockierter Verstand erlaubte.

"Warum bist du hier?"
 

Schuldig fuhr herum und blickte direkt in Jeis Gesicht.

Einen Moment lang war er froh darüber, Jei endlich zu treffen, doch etwas an ihm beunruhigte Schuldig; und es lag nicht nur an den Kleidern der Krankenstation, die Jei viel zu weit waren, so dass er in dem kurzen Hemd und der etwa knielangen Hose zerbrechlicher wirkte, als normalerweise.

"Du kannst nicht hier bleiben!" Jei sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an, die nicht den leeren Blicken glichen, mit denen er neuerdings seine Umwelt wahrnahm. Er wirkte gehetzt und seine Augäpfel rollten hektisch von einem Augenwinkel in den anderen. Die tiefen dunklen Ringe unter seinen Augen bildeten eine starken Kontrast zu seinem bleichen Gesicht und den blutleeren Lippen, zwischen denen sein Atem flach hervor gestoßen wurde.

Schuldig musste sich zusammenreißen, um Jei nicht anzutippen wie er es mit dem Apfel getan hatte, um sicher zu gehen, dass er auch echt war.

"Du musst hier raus!", fuhr Jei Schuldig an.

"Und wie?" Schuldig lachte hilflos. "Hier gibt es keine Tür!"

"Er ist schon fast hier!" Jeis Finger gruben sich in Schuldigs Kragen. Einer davon streifte Schuldigs Hals und ließ diesen erschrocken zurückweichen. Es hatte sich angefühlt, als hätten ihn Knochenfinger berührt, so kalt und leblos hatten sie gewirkt.

Ungeduldig geworden zog Jei Schuldig hinter sich her zu einer der blutbeschmierten Wände. Er achtete nicht darauf, wohin er trat und Schuldig, der hinter ihm her stolperte und Angst hatte, hinzufallen, sah nun doch mit Entsetzen die tiefroten Pfützen auf dem Boden an, durch die Jei achtlos lief.

Es waren insgesamt vier Blutlachen, drei davon im Kreis angeordnet, während die vierte etwas abseits lag. Sie glänzten Rot wie gerade erst vergossen und waren gut einige Zentimeter tief. Das Blut unter Jeis nackten Füßen quoll mit jedem Schritt zwischen seinen Zehen hervor. Es spritzte seine Knöchel hinauf und lief, eine rote Spur daran hinterlassend, wieder hinab.

Mit Schwung beförderte Jei Schuldig vor sich, so dass er nun mit dem Rücken zu den blutigen Kometenschweifen stand. Die Ringe unter Jeis Augen schienen noch eine Spur tiefer geworden zu sein, aber sein panischer Blick hatte wieder etwas von der gewohnten Leere angenommen.

"Raus hier!", fauchte Jei Schuldig heiser an und stieß ihn fest gegen die Brust.

Schuldig taumelte zurück und erwartete, gegen die Wand hinter sich zu prallen, doch er fiel ohne Widerstand. Wie durch einen Vorhang hindurch taumelte Schuldig einfach aus dem Zimmer und lag gleich darauf auf dem Boden eines düsteren Flures.
 

Orientierungslos saß Schuldig auf dem abgewetzten Teppich und starrte die Wand vor sich an. Sie machte nicht den Eindruck, dass er gerade dort herausgefallen war. Die Tapete wies keinerlei Ritzen auf, wo sich etwa eine geheime Tür hätte befinden können. Und trotzdem war er irgendwie nach draußen gelangt.

Schuldig atmete einige Male tief ein und aus und versuchte, seinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Das schien gerade noch einmal gut gegangen zu sein.

Ein markerschütternder Schrei hinter der Wand ließ Schuldig augenblicklich auf die Füße springen. Es war Jei, der diesen langgezogenen furchtbaren Laut von sich gegeben hatte, der Schuldig nicht nur in den Ohren wehtat. Und es folgte noch einer. Und noch einer. Und jeder hörte sich schlimmer an, als der davor.

"Jei? Was ist los? Was machst du da drin?" Schuldig stand vor der Wand, die eben weich wie Stoff gewesen war, jetzt aber so solide schien, wie eine ganz normale Wand. Seine Fäuste trommelten so heftig gegen die Mauer, das hinter der welligen Tapete der trockene Putz hinab rieselte.

"Jei!" Schuldig stemmte sich gegen die Wand, trat mit dem Fuß dagegen und versuchte, mit den Fingern einen Spalt zu finden, den er aufbrechen konnte, während Jei weiter dahinter schrie und weinte. Er lief den Flur entlang und suchte nach einer Tür, fand jedoch keine und kehrte wieder zu der Stelle der Wand zurück, hinter der Jei nun weinte und sich schluchzend mit jemandem zu unterhalten schien, dessen Antwort Schuldig allerdings nicht hören konnte.

Irgendwann gab Schuldig auf. Seine Arme waren müde und seine Fäuste wund vom Schlagen gegen die massive Mauer. Er hatte den gerade gewonnenen Einfluss wieder verloren.

Das Weinen in dem Raum wurde immer leiser, bis es schließlich erstarb.
 


 


 



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