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Weiß wie Schnee, Rot wie Blut

und Schwarz wie Ebenholz
von

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Schwarz, wie Ebenholz : Messias

I. Gottes Acker
 

Seit dem letzten Erlebnis schien sich Jei noch weiter zurückgezogen zu haben. Und Schuldig, der daran zweifelte, ob er es überhaupt wieder riskieren wollte, in Jeis Gruselkabinett zurückzukehren, verbrachte die folgende Zeit während der Therapiepausen damit, einfach nur still neben Jei zu sitzen und darauf zu warten, dass er endlich wieder richtig wach wurde.

Manchmal, wenn er einen guten Tag hatte, klärte sich sein Verstand so weit, dass man sogar ein oder zwei Worte mit ihm wechseln konnte.

An schlechten Tagen blieb er ein im Delirium abgetauchtes Wesen, bei dem sich Schuldig nicht mehr sicher war, ob er noch den gleichen Jungen vor sich hatte, mit dem er durch den Keller gestreift war oder dem er gezeigt hatte, wie leicht es war, sich Dinge zu beschaffen, die man ihnen vorbehalten wollte.

Sie hatten Spaß gehabt, wie fast normale Jungs in ihrem Alter; ohne ständig eines der Schreckgespenster ihrer nicht besonders langen, dafür aber umso verwirrenderen Vergangenheit im Hinterkopf gehabt zu haben. Er selbst hatte einmal Spaß gehabt, ohne dafür erst eine andere Person auf seine Weise davon überzeugen zu müssen. Jei schien nur auf jemanden gewartet zu haben, der ihn ein bisschen an die Hand nimmt. Aber wo hatte er ihn hingeführt?

Jeis klare Phasen wurden immer weniger, bis er völlig aufhörte, mit seiner Außenwelt zu kommunizieren und Schuldig sich eingestehen musste, dass er daran nichts ändern konnte, so lange er nur da saß und darauf wartete, dass Jei von alleine wieder so wie vorher wurde.
 

Das dumpfe Pochen seines eigenen Herzschlages ignorierend horchte Schuldig in die Stille, die nur aus dem Knistern seiner Bettdecke bestand, auf der er saß.

Egal, wo es ihn hin verschlug, er musste Jei treffen und ihm sagen, was mit denen passierte, die nicht aus dem ersten Stock in den zweiten wechselten.

Orkanartiger Wind zerrte an Schuldigs Haaren und seinen Kleidern. Eine Welle kalten Wassers traf ihn unvermittelt und Schuldig schnappte erschrocken nach Luft. Es umspülte seine Füße und lockerte den Sand unter ihm, so dass er spüren konnte, wie er mit jedem verschobenen Sandkorn den Halt verlor.

Die nächste Welle, die ihm nun schon bis zu den Knien reichte, kam und riss an ihm. Schuldig strauchelte, fing sich aber wieder rechtzeitig, ehe die dritte Welle, die wahrscheinlich noch höher sein würde als die ersten beiden, ihn erreichen und endgültig von den Füßen reißen konnte.

Nach einigen langen Schritten war er am trockenen Strand. Hinter ihm tobte weiter das Meer.
 

Er hatte recht gehabt. Jeis Konstrukt war besser mit seinem Ich verbunden, als es jeder lausige Gedanke je hätte sein können. Alles, was ihn von Außen beeinflusste, hatte Auswirkungen auf seine selbst erschaffene Welt und das, obwohl sie trotzdem nicht mehr war, als ein täuschend echt materialisiertes Abbild seiner Vorstellung.

Und im Augenblick schien es Jei nicht besonders gut zu gehen.

Schuldig sah zum brodelnden Meer hin. Meterhohe Wellen warfen sich wütend an den Strand und durchweichten dort den Sand, der dunkel und nass mit jeder Welle weiter landeinwärts kroch.

Bald hatte das Wasser erneut Schuldigs Füße erreicht. Eine Welle schob sich zwischen seinen Beinen hindurch und als sie wieder zurückkam, spülte sie etwas Hartes gegen seine Knöchel.

Schuldig bückte sich und fischte die leere Obstschale aus dem Wasser, die das Meer wie ein Beutestück vom Land mit sich mitgetragen hatte. Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt tanzten Äpfel auf den Schaumkronen.

Vorsichtig watete Schuldig aus dem Wasser, bis er wieder auf dem Trockenen stand. Er trat auf etwas Weiches und sah nach. Es war die Picknickdecke, die der Sand halb unter sich begraben hatte. Schuldig packte einen Zipfel der Decke und hob sie hoch. Die Sandkörner, die an dem Wollstoff hingen, wurden augenblicklich vom Wind erfasst und weggeweht.

Jetzt fielen Schuldig auch seine Fußspuren auf, die heute im Sand verblieben, ohne dass der sich wieder in seine ursprüngliche Form zurückzog. Die ganze Ordnung, die in Jeis Welt geherrscht hatte, war gestört und dieses Mal überwog der Drang, Jei finden zu müssen, seine Neugier.
 

Schuldig hielt die Luft an. Er hatte nicht einmal Zeit, sich über den reibungslosen Wechsel vom Strand ins Haus zu freuen, denn das Zimmer, in dem er Jei das letzte Mal getroffen hatte, hatte sich verändert. Ein regelrechter Blut-Tsunami musste durch den Raum gewütet haben, denn die Flecken auf dem Boden bestanden nun aus einem durchgehenden Teppich der lebensnotwendigen Körperflüssigkeit, die selbst die Hälfte der Wände unter sich verdeckte.

Vor ihm auf dem Boden saß Jei, von Kopf bis Fuß mit Blut übergossen. So wie er aussah, musste er den ganzen Tsunami abbekommen haben. Und wieder sah alles so frisch aus, als wäre es gerade erst vergossen worden.

"Warum bist du zurückgekommen?"

Schuldigs schockgeweitete Augen hatten Mühe, sich nur auf den zusammengekauerten Jungen vor sich zu konzentrieren und dabei das grauenvolle Drumherum auszublenden. Nach einer Weile, in der er sich immer wieder sagen musste, dass das trotz allem nur Jeis Vorstellung war, die alles in dem Haus – also auch das Blut – hatte entstehen lassen, schaffte er es, vor Jei in die Knie zu gehen.

Schuldigs Hände legten sich sachte auf Jeis geballte Fäuste, die er fest gegen seine Augen gedrückt hielt. Sie waren eiskalt und völlig verkrampft, als säße er seit Längerem so da.

"Kannst du aufstehen?"

Jei schüttelte stumm den Kopf, ohne die Hände von den Augen zu nehmen.

"Dann helfe ich dir." Schuldigs Finger glitten in den hauchdünnen Spalt zwischen Jeis Fäusten und seinem Gesicht. Vorsichtig bog er die sich noch sträubenden Hände nach außen, bis Jei ihn ansah.

Jeis Fäuste hatten um seine blutverschmierten Augen herum weiße Kreise hinterlassen. Tränen rannen seine Wangen hinab und malten helle Spuren in das dunkle Rot.

"Komm, steh auf." Schuldig erhob sich und zog Jei mit auf die Beine. Auch als Jei schon stand ließ er seine Hände nicht los. Er verließ diese Spukvilla nur mit Jei, selbst wenn er ihn an den Händen wie ein Kleinkind herausführen musste. "Wo geht es hier raus?"

"Nirgendwo." Jei schluchzte. Sein helles Haar klebte in feuchten roten Strähnen an seinem Kopf, die ihm wie Blutegel ins Gesicht hingen.

"Unmöglich", widersprach Schuldig grober, als er beabsichtigt hatte. Er hatte keine Lust beim nächsten Tsunami anwesend zu sein.

Schuldig packte Jeis Hände fester und zwang ihn, einen Schritt nach dem anderen zu machen, bis sie an einer Wand standen. "Wie hast du das beim letzten Mal gemacht? Du hast mich aus dem Zimmer geschubst, erinnerst du dich noch?"

"Das war ich nicht..." Jeis Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

Fassungslos sah Schuldig sein Gegenüber an. "Klar, warst du das", entgegnete er schroff. "Wer soll das sonst gewesen sein?"

"Ich war's nicht."

Die aufkommende Panik begann, Schuldigs Denken zu blockieren. Er musste einige Augenblicke lang ruhig durchatmen und nachdenken.

"Wenn du das nicht warst, wer denn dann?", zischte Schuldig, besann sich aber, da er die Antwort darauf vermutlich sowieso nicht hören wollte. Stattdessen fiel ihm etwas ein, das ihnen womöglich helfen konnte. "Gibt es hier ein zweites Stockwerk?"

Jeis Blick wurde kurz klar, als wäre die Wolke vor seinem Verstand weitergezogen. Einen Moment lang sah er den blauen Himmel. "Ja."

"Gut." Schuldig wählte die nächsten Worte so bedächtig wie noch nie in seinem Leben. "Du bräuchtest dringend eine Dusche. Gehen wir nach oben, okay?"

Jei nickte. "Dort ist das Badezimmer größer."

"Genau, Kleiner, dort ist das Bad größer."
 

"Ist etwas passiert?"

"Einfach weg." Der Mann mit dem grauen Haar und der randlosen Brille auf der Nase, dem die Frage gegolten hatte, schüttelte den Kopf. "An den Geräten liegt es nicht." Wie zum Beweis deutete er auf die Bildschirme vor sich, auf denen Wellen und Linien auf und ab zuckten.

"Es wird immer heftiger." Die Frau notierte etwas in hektischer Schrift in einem Ordner, der vor ihr auf dem Tisch lag. "Wenn er so weiter macht, dann haben wir bald-"

"Er kollabiert wieder", unterbrach sie der Mann.

Die Frau eilte in die Mitte des Raumes, wo unter einer grellen Lampe eine Liege stand. Sie beugte sich über den Jungen, der mit festgezurrten Handgelenken auf der Liege lag und mit weit geöffneten Augen reglos in das Licht über sich starrte. Seine Pupillen waren winzige schwarze Punkte. Sie fixierten etwas Undefinierbares, was in weiter Entfernung lag.

"Bringen wir ihn zurück."
 

Als Schuldig wach wurde, lag er neben seinem Bett auf dem Boden. Sein gesamter Körper schmerzte, als hätte er lange auf dem harten Fußboden gelegen, und ihm war kalt.

Hatten sie es geschafft?

Schuldig suchte nach einer Erinnerung, was sich in Jeis Haus abgespielt hatte, nachdem sie sich über das Bad unterhalten hatten. Sie mussten hinausgekommen sein, denn er erinnerte sich an ein zweites Zimmer. Ein Bad war es zwar nicht gewesen, aber es war sauber und nirgendwo war auch nur ein Tropfen Blut zu sehen gewesen. Und Jei war bei ihm geblieben.

So schnell er konnte, war Schuldig auf den Beinen. Er musste zu Jei und nachsehen, wie es ihm ging.
 

Jei lag auf seinem Bett und hatte die Augen geschlossen. Seine Arme ruhten wie Fremdkörper neben ihm, die nur da waren, weil sie eben an ihm festgewachsen waren.

Schuldig zögerte einige Sekunden, ehe er sich neben Jei niederließ.

Das Bett knarrte leise unter dem neu hinzugekommenen Gewicht, doch Jei schien nichts davon wahrzunehmen. Seine Augen blieben geschlossen, nur seinem sich regelmäßig flach und langsam hebenden und wieder senkenden Brustkorb war anzumerken, dass er tief schlafen musste.

Oder wieder einmal ruhig gestellt worden war, fügte Schuldig in Gedanken hinzu.

Er war wohl doch zu optimistisch gewesen, als er gedacht hatte, Jei einfach nur aus dem blutigen Zimmer und damit auch aus seinem anhaltenden Dämmerzustand herausholen zu können.

Schuldig sah hinab zu Jeis zur Faust geballter Hand, die ihm am Nächsten lag. Ein dunkler Fleck hatte sich darunter auf dem hellen Laken gebildet und seine Aufmerksamkeit geweckt.

Sachte hob Schuldig Jeis Hand an. Ein glänzender Tropfen löste sich und fiel auf den bereits Handtellergroßen Fleck, der sich unter Jeis Faust ausgebreitet hatte.

Die Nachttischlampe flammte hell auf und Schuldig sog scharf die Luft ein, als er erkannte, aus was der Fleck bestand. "Das Souvenir hättest du in deiner Spukvilla lassen können..."
 

Schuldig suchte nach etwas, mit dem er Jeis Hand abwischen konnte und nahm kurzerhand die dünne Bettdecke, die Jei nur halb bedeckte.

"Heilige Scheiße", murmelte Schuldig, als er sich das Mitbringsel genauer ansah. Irgendwie hatte es Jei fertig gebracht, sich in die Hände zu schneiden. Allerdings keine wahllosen Schnitte, sondern ein Muster, ein Mondgesicht mit lachendem Mund.

Schuldig überlief ein kalter Schauer, während aus den Punkten und dem langen gebogenen Schnitt Blut hervorquoll und Jeis Arm hinablief.

Schuldig warf einen schnellen Blick auf Jeis andere Hand. Sie war unverletzt. Immerhin.

Ohne die Schnitte weiter aufzureißen, versuchte er, die Blutung zu stoppen. Das war bis jetzt eines der gruseligsten Dinge, die er je gesehen hatte, musste er sich eingestehen. Es war ein Wunder, wenn Jei seine Hand nach diesen tiefen Schnitten noch normal benutzen konnte.

"Nicht", ertönte es leise neben Schuldig, der zu konzentriert war, das Blut um die tiefen Furchen herum zu entfernen, als dass ihm Jeis Erwachen gleich auffiel. Erst als der ihm mit einem schnellen Ruck die Hand entriss, sah Schuldig auf.

"Vorsicht! Es hat gerade aufgehört zu bluten." Schuldig griff nach Jeis Hand, die dieser fest an sich gedrückt hielt.

"Nicht", wiederholte Jei noch einmal. Seine unverletzte Hand hielt Schuldig auf Abstand. Er hatte Probleme, Schuldig zu fokussieren und schwankte leicht, wie ein Betrunkener. "Nicht heute."

"Wie meinst du das?" Schuldig beobachtete Jei genau, der sich aufzusetzen begann, ohne dabei die verwundete Hand zu benutzen.

Obwohl er sich diese schwere Verletzung zugefügt hatte, wirkte Jei nicht mehr so geistig daneben wie in den letzten Wochen. Seine Augen sahen klarer aus. Misstrauisch folgten sie jeder Bewegung, die Schuldig tat und schienen wohl im Voraus abschätzen zu wollen, was er als nächstes vorhatte.

"Wieso nicht heute?", hakte Schuldig nach.

Jeis Augen zogen sich zusammen, als hätte er große Schmerzen.

"Entzündungen können echt eklig werden." Schuldig sprach leise wie mit einem verschreckten Tier und streckte Jei die Hand entgegen, der sie jedoch ansah, als sei sie eine tote Ratte.

"Heute bleibt es so", zischte Jei sein Gegenüber wütend an, der seine Hände sinken ließ. Heute heute und nächstes Jahr heute auch. So wie letztes Jahr heute. Und die davor. Und alle, die noch danach kamen. Wieso kapierte Schuldig das nicht?

"Schön, dann bleibt es heute eben so." Schuldig schwieg einen Moment lang und versuchte, dabei nicht die ganze Zeit auf Jeis Hand zu starren, die wieder zu bluten begonnen hatte. "Wo hattest du das Messer her?"

"Ich-ich habe es mit genommen, damit sie aufstehen kann."

"Sie?"

Jei nickte langsam. Er gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich und wischte sich schnell über die Augen, aus denen die Tränen hervorquollen. Anstelle der Tränen hatte er nun eine verwischte Blutspur auf seiner Wange.

"Und wo ist das Messer jetzt?"

Schuldig hatte so harmlos wie möglich zu klingen versucht, doch Jei wurde augenblicklich wieder so aufmerksam wie zuvor.

"Dort."

"Dort?" Schuldigs Blicke suchten flink Jeis nähere Umgebung ab. Wo immer Dort auch sein mochte, hier lag jedenfalls nirgendwo ein Messer oder sonst eine Klinge in Sichtweite, mit der er sich weiter aufschlitzen konnte.

Jeis lauernder Blick wurde traurig. "Ich habe es versteckt, damit sie es heute nicht findet", sagte er leise und öffnete seine blutende Hand. Aus den Augen des Mondgesichts rannen rote Tränen. Und trotzdem lachte es. Jeis Mundwinkel bogen sich zu einem Lächeln, das Schuldig einen erneuten eisigen Schauer bescherte.

"Ist sicher ein tolles Messer, oder?"

Jei nickte lächelnd.

"Zeigst du es mir mal?"

Das Lächeln verschwand augenblicklich aus Jeis Gesicht. "Heute nicht", grummelte er und bleckte dabei wütend die Zähne.

"Okay, okay, schon gut", beschwichtigte Schuldig den Jungen vor sich, der wirkte, als wolle er ihm im nächsten Moment an die Kehle springen. "Dann eben beim nächsten Mal..."

"Ja." Jeis Blick senkte sich wieder auf seine Handfläche.

Vögel, die nicht singen

Jei kniet neben Ruth. Das Blut, das aus der Brust der Nonne quillt, durchtränkt seine Hose. Eigentlich ist er darüber ganz froh, denn jetzt sieht man nicht mehr, dass er sich vor Angst in die Hose gemacht hat.

Glocken, die nicht klingen

Vorsichtig nimmt Jei Schwester Ruth' Hand in seine und dreht die Handfläche nach oben.

Kinder, die nicht lachen

Sein zitternder Zeigefinger malt ein blutiges Mondgesicht in die Handfläche der Frau, durch die sich ein langer klaffender Schnitt zieht, aus dem noch mehr Blut fließt. Ruth zuckt kurz zusammen, als sein Finger beim Malen des lächelnden Mundes an einer der Hautfalten hängen bleibt.

Was sind das für Sachen?

Ruth lächelt ihn an. Um ein Haar hätte sie das Liebste getötet, was sie je besessen hatte.

Tut es noch weh, Schwester Ruth?

Nein, Jei, es tut nicht mehr weh.
 

Bis zur Dämmerung hatte Schuldig bei Jei gesessen, ohne ein Auge zumachen zu können.

Zuerst hatte er darauf gewartet, dass Jei, der im Halbschlaf irgendetwas über Vögel und Glocken vor sich hinmurmelte, eingeschlafen war und hatte dann das Zimmer nach diesem Messer abgesucht, mit dem sich Jei das Gesicht in die Hand geschnitten hatte.

Doch wie Jei gesagt hatte, war es nicht da. Das Dort war weder in einem der Schränke zu finden, noch war es unter dem Bett und es war erst recht nicht unter dem Teppich, den Schuldig in seiner Verzweiflung hochgehoben hatte, um darunter nachzusehen.

Es blieb Jeis Geheimnis, wie er in Rosenkreuz, das nicht einmal zu den Mahlzeiten Messer bereitstellte, die in der Lage waren, mehr als ein Stück weiche Butter schneiden zu können, an eine scharfe Klinge gekommen war.
 

Kein Geheimnis blieb Jeis Umzug in die zweite Etage.

Mit einem unverhohlen triumphierenden Lächeln sah Schuldig, der eigentlich der einzige war, der Notiz von dem Geschehen nahm, dabei zu, wie Jei mit schlurfenden Schritten hinter einem der Betreuer den Flur entlangging und sein neues Zimmer bezog.

Bevor er in seinem Zimmer verschwand, drehte sich Jei noch einmal kurz zu Schuldig um. In seinem verzagten, aber erleichtert wirkenden Blick lag das gleiche, was Schuldig mit seinem breiten Grinsen ausdrückte: endlich war es vorbei mit dem Klettern von einem Balkon hinunter auf den anderen. Jetzt konnte er seinen Koffer auspacken, denn hier oben würde er länger bleiben, als im ersten Stock. Das hatte ihm Schuldig erzählt.

Mit einer deutlich übertriebenen Geste salutierte Schuldig vor Jei, bevor er sich umdrehte und, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Flur zurück zu seinem eigenen Zimmer schlenderte. Fast hätte er noch angefangen fröhlich vor sich hin zu pfeifen, aber das wäre wirklich übertrieben bis lächerlich gewesen und er gab sich damit zufrieden, seine Zimmertür hinter sich mit einem gekonnten Tritt ins Schloss zu befördern.

"Muss ich Sie an die Hausordnung erinnern?"

Schuldig hielt in seiner Bewegung inne und starrte fassungslos die Frau vor sich an, die vor seinem Schreibtisch stand und eine Akte in den Händen hielt.

Alles an ihr war irgendwie korrekt und gerade. Es fing bei ihrer exakt geschnittenen Frisur an, bei der kein Haar am falschen Platz lag, und ging mit ihrer Kleidung weiter, die so steif wie eine Rüstung wirkte, die ihre kerzengerade Haltung noch unterstrich. Wahrscheinlich würde sie sofort in der Mitte durchbrechen, sobald sie ihren Blazer aus Tweed ablegte.

Misstrauisch beäugte Schuldig sein Gegenüber. Bis jetzt hatte er – bis auf Jei – noch nie Besuch auf seinem Zimmer gehabt. Wenn man das überhaupt Besuch nennen konnte, denn die Frau war ohne Einladung erschienen.
 

"Sie sind also Schuldig", sagte sie, ehe er auch nur ein Wort hervorbringen konnte.

Schuldig nickte stumm. Erst jetzt sah er die drei gepackten Kartons, die vor seinem Kleiderschrank standen. Etwas war hier faul.

Die Fremde, die Schuldigs Blicke zu den Kartons verfolgt hatte, verzog keine Miene. "Dann möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie morgen-"

Der Rest des Satzes ging in Schuldigs Gedanken irgendwo zwischen seinen Ohren und dem auf Hochtouren laufenden Hirn verloren. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht von den drei Kartons lösen. Seine Blicke klebten an den braunen, oben offenstehenden Kisten. Es waren definitiv seine eigenen Sachen, die jemand in der Zeit eingepackt haben musste, als er im Unterricht gewesen war und danach Jei bei seinem Umzug zugesehen hatte.

Jei...

Schuldig spürte wie sich sein Magen zusammenzog. Er hatte Jei großspurig davon erzählt, was sie alles tun konnten, sobald sie auf der gleichen Etage wohnten. Und er selbst hatte eigentlich vorgehabt, dieses Vernetzen mit Jeis Gedanken noch weiter auszubauen, weil es Potential zu haben schien. Stattdessen durfte er ihm jetzt erklären, warum ihnen wahrscheinlich nicht mehr als ein Besuch bleiben würde, denn in der dritten Etage war die Endstation. Hätte er es Jei doch nur nicht gesagt...

"Morgen?", hakte Schuldig abwesend nach.

Die Frau in der Tweed-Rüstung sah ihn regungslos an. "Ja, morgen werden Sie nach oben verlegt." Sie ließ Schuldig stehen und ging Grußlos aus dem Zimmer.

Schuldig setzte sich auf einen der Kartons, der unter seinem Gewicht etwas einknickte.
 

Er hörte Jei über den ganzen Flur toben. Irgendetwas fiel mit Wucht zu Boden. Glas zerschellte und alles wurde von Jeis wütenden Schreien begleitet.

Schuldig stand in seinem eigenen, leergeräumten Zimmer und versuchte das auszublenden, was er von Jei durch die Wände und Türen hindurch empfing. Das Unsichtbare. Das Schreien mochte für alle gut hörbar sein, doch er filterte noch etwas anderes heraus, ein Gischtschäumendes Meer, dessen Wellen haushoch waren und die Stücke aus dem Sandstrand rissen, wie ein hungriges Tier seine Beute zerfleischte.

Schuldigs Nacken kribbelte taub und er spürte, wie sich die feinen Härchen dort aufzurichten begannen.

Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell zu erfahren, was es mit der dritten Etage auf sich hatte. Und jetzt lief es innerhalb eines Tages ab, dass er nach einer Ewigkeit bei Rosenkreuz dorthin umziehen musste. Ausgerechnet jetzt.

Er bückte sich, um einen Karton aufzuheben.

"Den brauchen Sie nicht mehr." Die Frau war wieder da und begleitete ihn ins nächste Stockwerk, aus dem niemand mehr zurückkam. Und er folgte ihr wie das Vieh zum Schlachter.

Aus Jeis Zimmer drang kein Laut mehr. Auch das Meer war weg.

Schuldig hob den Kopf und sah zu der brennenden Lampe über Jeis Tür, deren rotes Glühen allen zeigte, dass sich jemand vom medizinischen Personal in dem Zimmer befand.

Tut mir leid, Kleiner.
 

Schuldig hatte vergessen, was er sich alles in den vergangenen Jahren so vorgestellt hatte, wie es in der dritten Etage wohl aussehen mochte. Es war einiges, aber dass nichts davon zutraf, wusste er auch ohne die unzähligen Einzelheiten im Kopf zu haben, die er sich in der Hoffnung, dass es nur besser als unten sein konnte, zusammen gesponnen hatte.

Er war enttäuscht von dem, was er nun sah.

Ein langer Gang, der einfach kein Ende nehmen wollte, führte ihn an kahlen Wänden entlang. Seine Schritte und die der Fremden, die vor ihm ging, hallten in dem türlosen Flur wider, der gerade einmal breit genug war, dass ein Erwachsener mit ausgebreiteten Armen darin gehen konnte. Ein Schwanken aber und man stieß mit den Fingerspitzen gegen die Mauern.

Nach einer Abzweigung endete der düstere Flur unvermutete in einem großen, hellen Raum, der offenbar eine Art Wartezimmer darstellte. Nur eben ohne den gemütlichen Teil, der den Leuten die Wartezeit versüßen sollte.

Dieses Zimmer war klinisch rein und lud nicht zum Hinsetzen ein. Jedenfalls nicht für längere Zeit.

Ein einzelner Schreibtisch mit einem hohen Sessel davor und einem ebensolchen dahinter, stand einsam am Kopfende des Raumes wie ein beim Auszug vergessenes Möbelstück. Durch die Fenster dahinter, welche die gesamte Breite des Raumes bildeten, sah man den Horizont. Blauer Himmel über grauer Bergkette, die sie ebenso einzuschließen schien, wie die hohen Zäune des Instituts. Doppelt gesichert.

Das war alles, was die großartige dritte Etage zu bieten hatte? Einen langen Flur, der in einem einzigen Raum endete. Danach kam – nichts? Wo waren die Zimmer? Und wo waren die ganzen Schüler, von denen Schuldig wusste, dass sie in den obersten Stock umgezogen waren?

Schuldig konnte seine Verwirrung über das, was er sah, nicht verbergen. Die Frage nach dem Sinn brannte auf seiner Zunge und er wandte sich seiner Begleiterin zu, die wortlos an ihm vorüber zu dem Schreibtisch ging und dahinter Platz nahm. Sie begann zu reden und Schuldig, der sich angesprochen fühlte, folgte ihr.
 

Der eisiger Blick, den die Frau Schuldig zuwarf, als er sich dem Schreibtisch näherte, ließ ihn abrupt innehalten. Sie hob die Hand und winkte Schuldig weiter zu sich.

Er wollte sich gerade in den Sessel setzen, der vor dem Schreibtisch stand, als er sah, dass dieser bereits besetzt war.

Schuldig machte einen Schritt zurück.

Der junge Mann, der in dem Sessel saß, hob den Blick und betrachtete sich Schuldig wortlos von Kopf bis Fuß. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem winzigen spöttischen Lächeln. Das ist alles? schien es sagen zu wollen.

Die Verblüffung schwand aus Schuldigs Gesicht. Er hob das Kinn und erwiderte die fremden Blicke mit der gleichen Überheblichkeit, die der Unbekannte ihm entgegen brachte.

Der Typ sah aus wie der jüngere Bruder der Tweed-Ritterin. Sie hatten den gleichen Kleiderstil, steif und zugeknöpft, und auch ihre begrenzte Gestik und Mimik ähnelte sich verblüffend.

Selbst wenn sie keine leiblichen Geschwister waren, gehörten sie definitiv zu einer Familie. Der Rosenkreuz-Familie.
 

"Du bist Schuldig?" Der Mann rückte seine Brille gerade, obwohl sie nicht schief gesessen hatte, was Schuldig sofort als Du bist durchschaut-Geste entlarvte.

Der Typ wusste bereits sehr wohl, wen er da vor sich hatte. Wahrscheinlich kannte er sein ganzes Leben bis ins scheinbar unwichtigste Detail. Und es würde ihn nicht wundern, wenn er sogar mehr über ihn wusste, als er selbst.

Schuldig schwieg und der Fremde wandte sich der Frau zu.

"Wie lange?", fragte er sie.

"Zwei Monate", antwortete die Frau und schob ihm zwei flache, handtellergroße Gegenstände zu, die der Mann entgegen nahm und in der Innentasche seines Anzugs verschwinden ließ.

"Das genügt." Er stand auf und gab der Frau zum Abschied die Hand. Dann drehte er sich zu Schuldig um, der die Szene wortlos beobachtet hatte, und nickte ihm zu. "Gehen wir", sagte er und setzte sich in Bewegung, ohne Schuldig Zeit für eine Antwort zu lassen.

"Wohin?", entfuhr es Schuldig verblüfft.

Der Mann drehte sich zu ihm um und bedachte Schuldig wieder mit diesem spöttischen Lächeln. "Hat man dir das etwa nicht gesagt?"

Schuldigs Wangen wurden rot. Hat man dir das etwa nicht gesagt?, äffte er den Typen in Gedanken nach. Man hatte ihm überhaupt nichts gesagt. Weder, dass er plötzlich in den dritten Stock hinauf musste, obwohl nichts darauf hingedeutet hatte, noch hatte man ihm gesagt, dass er dort von jemandem mitgenommen werden sollte, der anscheinend hier hereinspaziert kam und einfach mal so Kinder für zwei Monate mitnahm. Wohin auch immer. Diese ganze scheiß Heimlichtuerei ging ihm auf den Sack!

Das Grinsen des Typen wurde breiter und Schuldig stoppte seine Hasstirade, auch wenn sie nur in seinem Kopf stattgefunden hatte.
 

Mühsam riss sich Schuldig zusammen. Einen Moment hatte er völlig vergessen, dass er es offensichtlich mit jemandem zu tun hatte, der für Rosenkreuz arbeitete, vielleicht sogar hier ausgebildet worden war. Gott, er konnte nicht einmal denken, was er wollte. Und er war wieder alleine und isoliert. Zwei Monate lang. Und danach? Was war mit Jei? Ob er ihn wieder sehen würde? Was machten sie in der Zwischenzeit mit Jei – oder: was machten sie aus ihm?

Schuldig spürte das erste Mal das, was hinter seiner momentanen Wut lag. Resignation darüber, dass man ihm nie eine Wahl ließ, über sich selbst zu bestimmen. Ganz so, als wäre er noch immer ein unmündiges Kleinkind, das man draußen an die Hand nehmen musste, damit es nicht auf die Straße lief und von einem Auto überfahren wurde.

Er konnte tun, was er wollte, man nahm ihn nicht ernst. Er wurde ja nicht einmal gefragt.

Genaugenommen war er noch viel weniger als ein Kleinkind. Kinder wurden erwachsen und durften lernen, eigene Entscheidungen zu treffen.

Er war nur irgendein verstaubter Gegenstand, der von hier nach da gereicht wurde, weil man die Wohnung modernisieren wollte. Und Rosenkreuz war nichts als ein Flohmarkt, der seine Schüler wie Dinge zum Verkauf anbot, die jahrzehntelang in einem Keller gelagert wurden, bis irgendjemand auftauchte, der noch etwas damit anzufangen wusste.

Bitte schön, der Herr, hier ist Ihr Schuldig. Er hat zwar ein paar Gebrauchsspuren, aber dafür sind alle Teile noch im Originalzustand. Viel Spaß damit und beehren Sie uns gerne wieder – in zwei Monaten ungefähr...

"Crawford", unterbrach der Fremde Schuldigs inneren Monolog. Das erste Mal sah er ihn ohne dieses hämische Grinsen an. "Können wir jetzt gehen?"
 


 

II. White Noise - Weißes Rauschen
 

"Hier gibt es noch einen Aufzug?" Ungläubig beobachtete Schuldig, wie sein Begleiter zu der Wand rechts von dem Schreibtisch ging und dort wartete, bis die Frau, die ihnen gefolgt war, dort einen Schlüssel in das dazugehörige Schloss steckte.

Ein leises Zischen war die Antwort des gehorsamen Lifts hinter der Wand, der sich im Verborgenen in Bewegung setzte. Auf ihrer Ebene angekommen öffnete er sein rechteckiges Chrom-Maul, um sie kurzzeitig zu verschlingen und unten wieder auszuspucken.

Crawford wartete geduldig, bis ihm Schuldig gefolgt war. Die Tweed-Ritterin blieb vor dem Aufzug stehen und nickte ihnen ein letztes Mal zu, ehe sich die Türen zwischen ihnen schlossen.

Verwundert sah sich Schuldig in dem Aufzug um. Er sah aus wie der, den sie normalerweise im Institut benutzten und trotzdem war etwas anders daran. Die Tasten für die einzelnen Stockwerke fehlten. Deshalb also der Schlüssel, dachte Schuldig.

"Es gibt zwei Aufzüge", beantwortete Crawford Schuldigs frühere Frage. "Einen öffentlichen und – nun – einen privaten."

Schuldig nickte verstehend, obwohl ihm der Sinn weiter schleierhaft blieb. Er hob den Kopf und sah zu der Anzeige über der Tür, die die Etagen ganz normal abzählte. Eine rote '2' blinkte auf, die von einer '1' und dem folgenden 'E' des Erdgeschosses abgelöst wurde, das nur kurz aufleuchtete und danach erlosch. Anstatt anzuhalten fuhr der Aufzug weiter, bis er mit einem leichten Seufzen stoppte und das Maul öffnete.
 

Schuldig, der erwartet hatte, dass sie nun in dem Kellergeschoss ausstiegen, durch das er noch vor ein paar Wochen mit Jei gestreift war, entfuhr ein verwirrtes 'Oh', als er sah, wo sie tatsächlich angekommen waren: ein Flur, ähnlich dem des dritten Stockwerks, erstreckte sich vor ihnen und führte an seinem Ende ins Freie. Er war sauber, keine Spur von Spinnweben oder über Jahrzehnte angesammelter Staub.

Es gab also mehr als nur einen Versorgungstrakt.

"Ha", lachte Schuldig auf. An seinem letzten Tag musste er das rausfinden. Wie gemein.

Mit langen Schritten ging Crawford den Flur entlang zur Tür und Schuldig, der noch immer in Gedanken die wirklichen Etagen in Rosenkreuz abzuzählen versuchte, hatte Mühe ihm zu folgen.

"Sind wir auf der Flucht?", witzelte Schuldig, als er endlich zu Crawford aufschloss.

Der warf ihm einen nicht deutbaren Blick aus den Augenwinkeln zu. "Wir werden erwartet."

"Erwartet?" Schuldigs Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. "Werde ich jetzt etwa noch dem Rest der Familie vorgestellt?"

Crawford schwieg und Schuldig stieß genervt die Luft aus. Das fing ja gut an.
 

"Sag Hallo zu deinem kleinen Bruder." Mit Genugtuung sah Crawford Schuldigs entsetzten Gesichtsausdruck, als sie im Freien ankamen.

Ein Auto wartete draußen auf sie und daneben stand, von einem Betreuer gestützt, Jei.

Schuldig sah irritiert zu Crawford, der selbstzufrieden vor sich hin grinste.

"Man bekommt dich also auch mal ruhig?!" Crawford warf einen letzten Blick auf Schuldig, der an ihm vorbei zu Jei sah, dann ging er zu dem Auto hin und öffnete die Tür zur Rückbank.

"Immer noch die gleichen Methoden", spottete Crawford, als der Betreuer den müde und orientierungslos wirkenden Jei zum Auto führte und ihm beim Einsteigen half.

Jei konnte kaum gerade sitzen und sank sofort in sich zusammen, sobald er das Polster unter sich spürte.

Schuldig folgte ihm auf die Rückbank.

Behände glitt Craword hinter das Lenkrad. Er wandte sich zu seinen beiden neuen Begleitern um, von denen nur einer wirklich mitbekam, was geschah.

"Macht es euch gemütlich, die Fahrt wird etwas dauern..." Ohne eine Antwort abzuwarten, startete Crawford das Auto und fuhr vom Gelände.

Durch das Rückfenster sah Schuldig stumm zu, wie das Rosenkreuz-Institut immer kleiner wurde, bis es nach einer Kurve ganz aus seinem Blick verschwand.

Er atmete einmal richtig durch und wartete auf die Erleichterung, die er gehofft hatte, zu spüren, wenn er eines Tages Rosenkreuz verlassen würde, doch es wollte sich nicht einstellen. Wahrscheinlich war alles noch zu frisch, dachte er und sah hinüber zu Jei, der, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, dasaß und schlief, ohne sich von dem Vibrieren des fahrenden Wagens stören zu lassen.

Schuldig betrachtete sich Crawfords Rückseite, soweit er sie von seinem Sitzplatz in der Mitte der Rückbank aus sehen konnte. Er traute dem Frieden irgendwie noch nicht so ganz.

"Warum durfte er mit?"

Crawford überhörte Schuldigs Frage.

Draußen wechselte sich das Dörfchen, das am Fuße des Rosenkreuz-Institutes lag, mit einer holperigen Landstraße ab. Nach einigen weiteren schweigend verbrachten Minuten, in denen sie Kilometer um Kilometer zurücklegten, bog Crawford auf den Zubringer einer Autobahn ab.
 

Schuldig wartete, bis das Dröhnen des beschleunigenden Wagens sich beruhigt hatte. "Wo sind die anderen Schüler von Rosenkreuz? Fahren wir auch dorthin?"

Wenn die Fragen bis zu Crawford durchgedrungen waren, dann ließ er sich nichts davon anmerken. Seine Aufmerksamkeit galt scheinbar weiterhin dem Verkehr.

Schuldig rückte auf seinem Sitzplatz bis zu den Vordersitzen vor. Er betrachtete sich stumm diesen Crawford, der so typisch für Rosenkreuz war, und suchte nach einer Lücke in diesem beherrschten Menschen. Wenn er nicht gerade ein Roboter war, der jeden Schritt, den er zu tun beabsichtigte, berechnete, musste er irgendwo etwas menschliches haben.

Selbst Jei schaffte es nicht, sein Ich völlig abzuschirmen; auch nicht, wenn er wie jetzt bis an den Rand der Bewusstlosigkeit ruhig gestellt worden war. Es gab immer eine Art Hintergrundrauschen, das sich nicht abstellen ließ – und das oft auch ganz schön stören konnte, wie Schuldig wusste.

Bei diesem Typen hier konnte es auch nicht anders sein. Darüber täuschte auch nicht das makellose Äußere hinweg. Nicht einmal der Schatten eines beginnenden Bartes war in Crawfords unbewegtem Gesicht zu sehen. Vielleicht war er ja doch ein Roboter.

Schuldigs konzentrierte Blicke trafen im Rückspiegel auf Crawfords belustigte. Kein Roboter, nur jemand, der offenbar erfolgreich alle Abschlüsse bei Rosenkreuz bestanden hatte. Vermutlich mit Sternchen.

Schuldig biss sich auf die Unterlippe, um nicht über die Vorstellung Crawfords zu lachen, wie der der Tweed-Ritterin stolz seine Abschlussurkunde präsentierte. Hast du fein gemacht.

Ein strafender Blick im Rückspiegel war die Reaktion, die Schuldig bekam – und die ihn noch hoffen ließ, es doch mit einem Menschen zu tun zu haben.

"Wie wär's mit einem Spiel?", fragte Schuldig scheinbar versöhnlich. "Wer den widerlichsten Kadaver am Straßenrand sieht, darf eine Frage stellen, die der andere beantworten muss. Jei scheidet aus; bleiben also nur noch du und ich übrig."

Crawford beachtete ihn schon wieder nicht. Gelangweilt sah er vor sich auf die Straße, doch die kurz zuckende Augenbraue hatte ihn verraten, dass er wollte, dass es genau so aussah.

"Ich wette, den überfahrenen Fuchs, dem die Gedärme aus dem Arsch hingen, kannst du nicht schlagen. Ich gewinne." Schuldig widerstand dem Drang, sich so weit zu Crawford hinüber zu beugen, um ihm die Frage zuzuflüstern. Die meisten Leute reagierten besser auf leise Stimmen, die sich in ihr Unterbewusstsein schlichen, statt auf ungeduldig erhobene Stimmen, die einem vor allem Angst einjagen sollten. "Ich weiß, dass niemand, der Rosenkreuz verlässt, zurückkommt. Nicht nach zwei Monaten und auch nicht nach zwei Jahren. Was also passiert mit denen? Und was passiert mit uns?"

Crawford schwieg weiterhin beharrlich und Schuldig wartete. Er konnte warten, wenn es sein musste. Das hatte er bei Rosenkreuz gelernt.
 

"Rosenkreuz ist vorbei", sagte Crawford nach einer Ewigkeit, in der Schuldig ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. "Und es waren zwei Fragen. Abgemacht war eine."

"Schön, du Klugscheißer", knurrte Schuldig heiser. "Aber beantwortet hast du weder die eine noch die andere..."

Crawford ließ ihn absichtlich zappeln und Schuldig spürte, wie langsam Wut in ihm hoch kroch, obwohl er sich zu beherrschen versuchte.

Das erste Mal fühlte er sich schutzlos. Außerhalb von Rosenkreuz' Zäunen konnte wer weiß was lauern. Drinnen hatte man sie nur mit lächerlichen Therapien und Untersuchungen gequält, aber hier draußen wartete etwas auf sie, das er nicht abschätzen konnte. Plötzlich gab es keine Termine mehr, keine Routine, die einem Sicherheit vorgaukelten. Jetzt waren sie auf einmal von einem einzigen Menschen abhängig, statt von Lehrplänen, die immer gleich blieben.

"Was mit euch passiert, kommt ganz auf euch an."

Beinahe hätte Schuldig Crawfords späte Antwort überhört, so sehr war er damit beschäftigt gewesen, das, was eventuell folgen mochte, in alle möglichen Richtungen vorherzusehen.

"Das hast du echt gut drauf, was?" Schuldig ärgerte sich; nicht nur über das erneute Abschmettern einer klaren Antwort, sondern mehr, wie sie abgeschmettert worden war. Überlegen. Crawford hätte ihn genauso gut anspucken können. "Halt mal an!"

Crawford lachte trocken auf. "Warum?"

"Weil ich pissen muss, warum denn sonst!"
 

Crawford lenkte den Wagen auf den nächsten Rastplatz. Ohne den Motor abzustellen, öffnete er seinen Gurt und machte sich daran, auszusteigen.

"Wie jetzt, kommst du mit?" Schuldig grinste Crawford unverfroren an, der innehielt, sich kurz zu ihm herumdrehte und den Mund öffnete, als wollte er etwas sagen.

Schuldig aber war nicht bereit, seinen gerade begonnenen guten Lauf zu unterbrechen. "Denkst du, ich kann meinen Schwanz nicht alleine halten, oder möchtest du das für mich tun?"

Crawford hatte nicht einmal ein Lächeln für Schuldig übrig. Er seufzte lediglich leise, als er sich von ihm abwandte und ausstieg. Beherrscht und unbeeindruckt wie er es die ganze Zeit über getan hatte.

"Ich wette, du stehst auf so etwas, habe ich Recht?", rief ihm Schuldig nach. "Hey, du zugeknöpfter Arsch, habe ich Recht?"

Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter Crawford zu und unterbrach Schuldigs Spott.

Schuldig sah, wie Crawford seelenruhig um das Auto herumging.

Was hatte er vor? Ihn zu verprügeln? War er bewaffnet?

Mit einem Satz hechtete Schuldig zur Tür auf seiner Seite. Was bildete sich dieser Scheißer ein? Seine Hand schloss sich um den Türgriff und mit einem schnellen Ruck riss er daran und wollte aus dem Wagen raus, ehe Crawford auf seiner Seite war. Der Widerstand, auf den Schuldig jedoch traf, überrumpelte ihn und beinahe hätte er sich den Kopf an der Scheibe gestoßen, die, ebenso wie die Tür, an ihrem Platz blieb.

Verblüfft hob Schuldig den Blick. Durch das Fenster sah er Crawford, der draußen stand und grinsend zu ihm hineinsah.

Im Zeitlupentempo streckte Crawford außen die Hand nach dem Türgriff aus. Er ließ sich Zeit und schien Schuldigs Situation und vor allem seinen Anblick so lange wie möglich genießen zu wollen.

Es klickte leise im Schloss und die Tür schwang widerstandslos auf.

"Kindersicherung?!" Schuldigs Augen hatten sich zu zwei schmalen Schlitzen zusammengezogen. "Du bist echt ein Arsch..."

"Ich weiß."
 

Erschöpft sank Schuldigs Kopf gegen das Polster der Rückbank. Er konnte die Augen nicht mehr länger offenhalten und ließ zu, dass sich seine müden Lider einfach schlossen.

Die ganze Zeit über – seit sie den Rastplatz verlassen hatten – hatte er gebannt zugesehen, wie sich die Landschaft draußen mit jedem Kilometer veränderte. Die Berge waren endlich weg; diese hässlichen grauen Felswände, deren Anblick ihn immer schon angewidert hatte. Sie waren grünen waldbewachsenen Hügeln gewichen, die so viel lebendiger wirkten.

Erleichtert darüber, immer weiter von Rosenkreuz wegzukommen, hatte er es sogar aufgegeben, Crawford nach ihrem Ziel auszufragen. Antworten hatte er sowieso keine bekommen, egal, was er auch gefragt hatte. Hätte er die Spielregeln doch nur um ein paar Fragen mehr erweitert...
 

Schuldig fuhr auf.

Die ungewohnte Stille und das fehlende Vibrieren des Wagens hatten ihn geweckt.

Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas in der düsteren Umgebung zu erkennen. Sie standen in einer Tiefgarage und draußen war es bereits dunkel, wie er durch die schmalen Fenster der Garage, die wie Schießscharten aussahen, erkennen konnte.

Lange konnten sie noch nicht da sein, denn der abkühlende Motor knackte leise vor sich hin.

"Sind wir da?" Schuldig bekam keine Antwort. Langsam gewöhnte er sich daran. Er sah zum Fahrersitz hin und erschrak. Crawford war weg. Panisch rüttelte Schuldig an der Tür. Ohne Erfolg. Diese Kindersicherung war die dämlichste Erfindung, die es gab.

"Was ist denn?" Jei, der durch den Krach, den Schuldig veranstaltete, wachgeworden war, rieb sich die Augen. Er gähnte ausgiebig und war im Begriff, gleich wieder einzuschlafen.

"Der Idiot hat uns im Auto gelassen und ist einfach verschwunden!"

"Aha", murmelte Jei unbeeindruckt. Er kehrte in seine vorherige Schlafposition zurück und schloss die Augen.

Schuldig unterdrückte einen Fluch. Er quetschte sich durch die Lücke zwischen den beiden vorderen Sitzen und betete, dass das Auto nicht abgeschlossen war. Wenn doch, war dieser Schnösel hoffentlich gut versichert, denn er kam hier raus, davon hielt ihn auch keine Fensterscheibe ab.

"Gott sei Dank." Schuldig lachte erleichtert auf, als sich die Fahrertür öffnete. Er sprang mit einem Satz aus dem Auto und riss die Tür auf Jeis Seite auf. "Los, komm!"

Prompt fiel ihm Jei entgegen. Schuldig konnte ihn gerade noch an der Schulter festhalten, ehe er aus dem Wagen nach draußen fiel.

"Aufwachen!" Ungeduldig rüttelte Schuldig an Jei, der wie eine Stoffpuppe hin und her geschüttelt wurde. "Mach endlich die Augen auf!"

Schuldigs wütender Satz verhallte in der nach Motoröl und Benzin riechenden Tiefgarage.

"Das alleine-bleiben üben wir wohl besser noch ein bisschen."

Die Stimme neben Schuldig ließ diesen zusammenfahren. Crawfords Hand schoss nach vorne und Schuldig zuckte zurück, auf den Schlag gefasst, der folgen würde.

"Hab ich dir nicht gesagt, dass Rosenkreuz hier kein Thema mehr ist?" Crawford, dessen Hand Jei stützte, sah kopfschüttelnd zu Schuldig auf, der mit seinem erhobenen Arm sein Gesicht vor dem vermeintlichen Schlag zu schützen versuchte.

Langsam ließ Schuldig seinen Arm sinken. Die Anspannung wich jedoch nur Schrittweise aus seinem Körper, der instinktiv auf das reagierte, was er jahrelang erfahren hatte. Was Crawford jetzt verlangte, war etwas viel, wie Schuldig fand. Stumm sah er zu, wie Crawford seinen Arm unter Jeis Achsel hindurch schob, um ihm aus dem Wagen zu helfen.

"Deren Methoden sind nicht meine, kapiert?"

Schuldig nickte gehorsam, aber seine wachsamen Augen folgten weiter misstrauisch jeder Bewegung, die Crawford tat.

Crawford richtete sich auf. Er stützte Jei, der zwar wach, aber kaum in der Lage war, einen Schritt ohne Hilfe zu tun. Crawford hielt inne und sah Schuldig unverwandt in die Augen. "Das heißt nicht, dass das hier ein Kinderspiel wird, verstanden?"

Schuldig nickte erneut.
 

Der Aufzug spuckte sie in der neunten Etage aus.

Die ganze Zeit über hatte Schuldig die Anzeige in dem Lift nicht aus den Augen gelassen, doch hier gab es keine übersprungenen Etagen. Brav zählte das Display die Stockwerke eins nach dem anderen ab, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren.

Schuldig hatte mittlerweile die Aufgabe, Jei zu stützen, von Crawford übernommen, der ihnen voranging.

Eine einzige Tür gab es hier und vor dieser blieb Crawford nun stehen. Statt eines Schlüssels zog er eine Art Scheckkarte aus der Hosentasche und ließ sie durch einen Schlitz gleiten, der neben dem Türgriff angebracht war. Er stieß die Tür auf und bedeutete Schuldig, als erster durchzugehen.
 

"Wo sind wir hier?" Schuldig blinzelte als die grellen Halogenlampen an der Decke aufflammten.

Crawford schloss die Tür hinter sich. Und dann tat er etwas, was Schuldig nie für möglich gehalten hatte. Er zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

Schuldig hätte schwören können, dass Crawford mit seinem Anzug verwachsen sein musste, so steif wie er sich gab. "Wo sind wir?", fragte er erneut nach.

"Dort, wo ihr die nächste Zeit wohnen werdet", war alles, was er als Antwort bekam. Crawford ließ die beiden Jungs im Flur stehen und verschwand in einem Zimmer an der Stirnseite des Ganges.

"Oh, Zuhause", stichelte Schuldig.

"Wie immer ihr es nennen möchtet", klang es aus dem Raum vor ihnen.

Schuldig sah zu Jei, den er noch stützte. "Hast du gehört?"

"Ich..." Jei führte seinen begonnenen Satz nicht weiter. Seine Blicke schweiften unkonzentriert von einer Ecke zur anderen. Auf seiner blassen Stirn glänzten feine Schweißtröpfchen und ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper.

"Hey, Zimmerservice! Wo kann ich meinen Freund hier hinlegen?", rief Schuldig aufs Geratewohl in den einsamen Flur. "Gibt es hier ein Bad? Er schaut aus, als müsse er gleich-"

Crawford erschien auf der Stelle und bedachte Schuldig mit eisigen Blicken. Mit einem kurzen Kopfnicken dirigierte er Schuldig zu einer Tür neben dem Zimmer, in dem er sich aufgehalten hatte.

"Danke schön."

Das übertrieben freundliche Grinsen Schuldigs ignorierend, stieß Crawford die Tür auf und knipste das Licht an. "Wenn du nicht die ganze Nacht neben ihm vor der Toilette knien möchtest, dann stell ihm einen Eimer neben sein Bett."

Mit Jei im Arm betrat Schuldig das nur sporadisch eingerichtete Schlafzimmer.

"Sieht aus, wie dein altes Zimmer", kommentierte Schuldig trocken das Gesehene. Er half Jei, sich auf das Bett zu legen und blieb kurz bei ihm, bis er sicher war, dass es ihm wieder besser ging.

Von draußen hörte man das stetige Summen des nächtlichen Straßenverkehrs, der nicht abriss. Sie waren also in einer größeren Stadt, schloss Schuldig. Er trat an das Fenster und sah seine Vermutung bestätigt.

Wie ein Strom, der immerzu floss, schoben sich die Autokolonnen durch die vierspurige Straße, um nur manchmal im Rhythmus der Ampelanlage kurz anzuhalten, ehe sie ihren Weg wieder fortsetzten. Die rechte Seite des Stroms, die sich von ihnen fortbewegte, war rot und die linke, die auf sie zukam, war weiß.

Was für ein Unterschied zu dem einsam gelegenen Rosenkreuz, dachte Schuldig nicht ohne ein bisschen Wehmut zu verspüren; weniger wegen des Instituts, sondern mehr, weil er daran denken musste, dass Großstädte auch Nachteile bargen. Es gab zu viele Menschen, die viel zu viele Gedanken produzierten – und das alles ohne Pause.

"Willkommen zu Hause", murmelte Schuldig.
 

Schlaflose Nächte waren nichts neues für Schuldig. Davon hatte er bereits reichlich hinter sich gebracht; freiwillig und vor allem von Rosenkreuz als fast freiwillig befunden.

Er hatte sogar herausgefunden, dass er es mühelos drei Tage am Stück schaffte, nicht zu schlafen, so lange er zwischendurch kurz abschalten konnte. Dafür musste es nur still sein.

Heute allerdings fühlte er sich wie gerädert. Die ganze Nacht hindurch hatte er in seinem Bett gelegen und dem Verkehr vor dem Haus gelauscht, hatte sich das Zeitmuster der Ampelanlage eingeprägt und auch den Takt der Straßenbahn herausgefiltert, die sich mit dem beginnenden Morgen änderte.

Jetzt war es draußen hell und Schuldig wurde endlich müde.

"Raus kommen!" Die Tür erzitterte unter dem Schlag, der den Befehl begleitete.

Schuldig fluchte. "Gutes Timing", knurrte er. Mühevoll quält er sich aus seinem Bett und schlurfte erschöpft in Richtung Tür.
 

"Was gibt es zum Frühstück?" Schuldig gähnte hinter vorgehaltener Hand. Er entdeckte Jei, der an einer Theke saß, die den Wohnraum von einer Küchenzeile trennte. Er wirkte heute erstaunlich ausgeschlafen und Schuldig setzte sich neben ihn auf den hohen Hocker, der noch frei war.

"Ich bin nicht euer Kindermädchen", erwiderte Crawford knapp und ohne aufzusehen. Er saß an der Kopfseite der Theke und hatte einen Stapel Papiere vor sich liegen, die er ausgiebig studierte. Die Papiere, in denen er blätterte, raschelten leise.

"Wir sind noch im Wachstum, wir müssen essen. Du hast anscheinend keine Ahnung von Kindern", protestierte Schuldig und warf Crawford einen abschätzigen Blick zu, den dieser geflissentlich überging. "Wahrscheinlich warst du selbst nicht mal eines..."

"Wenn ihr Hunger habt, müsst ihr euch alleine um euer Essen kümmern." Unbeeindruckt blätterte Crawford eine Seite um. "Es wäre mir lieber, wenn ihr euch etwas kommen lasst. Das reduziert das Chaos."

"Na toll, und ich dachte, es könnte nicht schlimmer als in Rosenkreuz sein."

Crawford schob gewichtig seine noch wichtigeren Papiere zusammen. "Darauf würde ich nicht wetten."

Schuldig verzog das Gesicht. Er rutschte von seinem Hocker und tappte ziellos durch das Zimmer. Es war das Wohnzimmer, oder sollte es wohl darstellen, denn viel benutzt sah es nicht aus. Es gab eine Sitzgruppe, einen Fernseher und ein spärlich befülltes Bücherregal. Den meisten Raum aber nahm das Nichts ein.

Schuldig stieß den Atem geräuschvoll aus. "Ich geh mal meinen Koffer auspacken", murmelte er und verließ das Wohnzimmer.
 

"Wo ist Mary Poppins denn hin?"

Jei saß noch immer an der Theke und zuckte ahnungslos mit den Schultern. "Weg."

Schuldig hob die Augenbrauen. "Macht auch keinen Unterschied, oder?"

Jei dachte kurz darüber nach.

"Lass mal." Schuldig winkte ab. "Und jetzt? Bestellen wir uns was? Ich habe immer noch Hunger." Er machte eine Drehung und suchte das Zimmer nach einem Telefon ab. Er fand es in einem der Regalfächer neben einer flachen Schatulle.

Schuldig nahm den Telefonhörer und schnippte mit dem Zeigefinger seiner freien Hand den Deckel der Schatulle auf.

"Das Geld habe ich auch gefunden." Schuldig zeigte auf das Kästchen vor sich.

Neugierig geworden glitt Jei von seinem Hocker hinab. Er gesellte sich zu Schuldig und hörte gebannt zu, wie der zuerst die Auskunft anrief und danach eine neue Nummer wählte.

Fachmännisch gab Schuldig die Bestellung durch, dann hielt er plötzlich inne. Seine Augen waren nachdenklich auf einen fernen Punkt fixiert. "Moment", antwortete er seinem Gesprächspartner und hielt den Hörer etwas weg. "Die brauchen die Adresse..."

Jei erwiderte Schuldigs entgeisterten Blick. Daran hatten sie gar nicht gedacht.

Schuldig hob den Hörer wieder auf Gesichtshöhe. "Reicht es, wenn ich Ihnen die Umgebung beschreibe?"

Sogar Jei konnte das Lachen, das aus dem Hörer schallte und gleich darauf von einer endlosen Schimpftirade begleitet wurde, gut hören.

Schuldig legte auf. Er nahm alle Scheine aus der Schatulle und nickte zur Tür. "Holen wir es uns eben selbst."
 

Schuldig war gerade im Begriff die Haustür zu öffnen, als diese nach Innen aufschwang und ihn beinahe getroffen hätte.

Vor ihnen stand Crawford. Als er seine beiden neuen Mitbewohner sah, runzelte er die Stirn. "Gefällt es euch hier etwa nicht?"

Schuldig ließ die Hand, die er nach der Türklinke ausgestreckt hatte, sinken. Er verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn. "Wir haben Hunger. Immer noch."

Wortlos betrat Crawford die Wohnung. "Wie schön für euch", bemerkte er knapp und gab Jei eine weiße Papiertüte in die Hand.

Jei sah mit großen Augen in die Tüte, die warm war und aus der es nach Essen roch. Wie auf Kommando knurrte sein Magen.
 

Eilig packte Schuldig die Tüte aus und stellte die beiden heißen Aluschalen auf den Tresen.

Crawford saß bereits auf einem der Hocker und hatte eine Flasche Mineralwasser vor sich stehen.

"Nur zwei?", fragte Schuldig verblüfft.

"Ich habe schon gegessen", entgegnete Crawford ruhig.

Schuldig zuckte mit den Schultern. Er schob eine der beiden Schalen zu Jei, der gerade den Hocker erklomm.

"Nudeln zum Frühstück hatte ich auch noch nie." Schuldig schob sich eine Gabel voll in den Mund. Kauend beobachtete er Crawford, der vor ihnen saß und sein Wasser trank.

"Bekommen wir auch was?" Schuldig nickte zu der Flasche hin.

"Natürlich", antwortete Crawford höflich. "Wenn ihr es euch selbst holt."

Schuldig verdrehte die Augen. Er legte seine Gabel beiseite und glitt von seinem Sitzplatz. Er ging an Crawford vorbei und öffnete den Kühlschrank, der bis auf ein paar Wasserflaschen völlig leer war.

Wie hatte sich dieser Crawford das Leben hier vorgestellt?

"Wie es aussieht, hast du nicht mit Familienzuwachs gerechnet, was?" Schuldig nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und suchte nach Gläsern. "Oder es spielte keine Rolle..." Nachdem er alles beisammen hatte, setzte er sich neben Jei, der still seine Nudeln aß und keine Reaktion auf das zeigte, was sich um ihn herum abspielte.

Die Flasche zischte leise, als Schuldig sie öffnete. "Da hatten wir aber Glück, dass wir nicht auch noch Leitungswasser trinken mussten..." Er goss ihnen beiden Wasser ein und schob eines der Gläser zu Jei. "Eigentlich ist es deine Aufgabe als Erwachsener, dich um uns zu kümmern", verteilte er einen weiteren Seitenhieb an Crawford, der das uninteressiert hinnahm. "Aber ich vergaß – du bist ja nicht unser Kindermädchen..."

Crawford hob seine Flasche und trank einen Schluck daraus. Die Kohlensäurebläschen knisterten leise, als er die Flasche wieder absetzte. Nachdenklich sah er dem schweigenden Jei zu, wie er eine Gabel nach der anderen seiner Mahlzeit in seinen Mund schob, kaute und schluckte, um danach wieder von vorne zu beginnen.

"Wenn dein ständig quatschender Freund der Telepath von euch beiden ist, dann frage ich mich, was du wohl so drauf hast, ohne dass du es benutzt."

Verblüfft ließ Jei seine Gabel sinken. Er hob den Blick gerade so weit, dass er Crawford sehen konnte. Als sich ihre Blicke begegneten, senkte Jei jedoch sofort die Lider. In seinem Bauch breitete sich eine schwerelose Leere aus. Hilfesuchend sah er zu Schuldig hinüber, der Crawford giftige Blicke zuwarf.

Schuldig öffnete den Mund, um Crawford etwas passendes zu erwidern, bekam aber das Wort von diesem mit einer verächtlichen Handbewegung abgeschnitten, ehe er überhaupt etwas hatte sagen können.

"Na, was meinst du dazu?", wandte sich Crawford wieder an Jei, der den Kopf gesenkt hielt und darüber nachdachte, was Crawford denn nun von ihm erwartete.

Ratlos zuckte Jei mit den Schultern.
 

Schuldig beobachtet Crawford, der sich weiter völlig unbeeindruckt gab. Was hatte er vor? Was bezweckte er damit? Wollte er Jei einschüchtern? Sie beide gegeneinander aufbringen?

Eine steile Falte bildete sich zwischen Schuldigs Augenbrauen, was Crawford amüsiert zur Kenntnis nahm.

'Arroganter Freak', dachte Schuldig mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Finger hielten krampfhaft die Gabel fest. Am liebsten hätte er sie Crawford in sein dämlich grinsendes Gesicht gerammt.

Crawfords Lächeln wurde eine Spur breiter. Er leerte seine Flasche mit einem Zug und erhob sich. "Heute habt ihr noch frei, aber ab morgen schaut ihr zu, dass ihr die Gegend etwas kennenlernt. Man weiß ja nie, zu was das mal gut sein wird."

Er ließ die Flasche in den Mülleimer fallen und verließ die Küche.

"Räumt auf, wenn ihr fertig seid!"
 

Schuldig erwachte erst aus seiner Starre, als er die Wohnungstür hörte, die hinter Crawford ins Schloss fiel.

"Dieses Dreckschwein wird noch früh genug merken, was wir drauf haben", knurrte er wütend.

"Was denn?" Jei hatte die Hände auf seinem Schoß liegen. Traurig betrachtete er sich die feinen roten Linien in seinen Handflächen.

Schuldig seufzte resigniert.
 


 

III. Dunkle Materie
 

Furche um Furche pflügte die blanke Klinge in den blassen Acker. Stumm sah er zu, wie sich die aufgeworfenen Spalten mit Blut füllten, das bald über den Rand hinweg floss und schmale Rinnsale malte.

Er hielt kurz inne und betrachtete sich sein bisheriges Werk.

Es war noch nicht perfekt. Nicht einmal gut war es. Gottes Acker war zu groß. Immer gab es eine Stelle, die seine ganze Mühe wieder zunichte machte; Steine, die im Weg lagen und die Klinge stumpf machten, Wurzeln, die sich im Pflug verfingen und ihn aus der Spur warfen. Manchmal war er auch einfach nur zu erschöpft, um den Pflug richtig fest in seiner Bahn zu halten und dann passierten ihm Dinge wie dieser Bogen, der nicht zu den anderen fein säuberlich gezogenen Linien passen wollte.

Jei setzte die Klinge an und korrigierte die schief gepflügte Furche. Er spürte wohltuende Erleichterung, als die verdammte Wurzel endlich riss und das blinkende Silber, das nun widerstandslos durch seine Haut fuhr, mit roten Schlieren überzogen wurde.

Das Klopfen an der Tür ließ ihn aufschauen. Mit angehaltenem Atem und bis zum Hals pochenden Herzen saß er auf seinem Bett und wartete ab. Vielleicht hatte er sich ja verhört und das Klopfen war lediglich sein rasender Herzschlag gewesen, der beinahe schmerzhaft in seinem Kopf dröhnte. Oder derjenige vor der Tür ging wieder, wenn er tat, als wäre er nicht da.

Jei atmete ganz flach.

Die Messerklinge ruhte still in der neuen Furche. Eine rote Perle löste sich aus dem Schnitt, rann seinen Arm entlang und kitzelte ihn am Handgelenk. Seine Hand zuckte unmerklich und wollte sich auf den Weg machen, um den Störenfried zu beseitigen, doch im nächsten Moment gewann er wieder seine Beherrschung. Wenn er sich auch nur ein Stück bewegte, würden ihn die knarrenden Federn seiner Matratze verraten.

Es klopfte erneut. Nicht fordernd, sondern fragend und entlockte ihm unwillkürlich eine Antwort.

"Ja?"

Die Tür wurde geöffnet und Crawford betrat das düstere Zimmer. Der bleiche Geist auf dem Bett sah ihn ängstlich an und sondierte mit seinen forschenden Blicken sämtliche Bewegungen, die Crawford tat als er sich ihm näherte.

Jetzt musste er zu den Kindern, die nie zurückkehrten, dachte Jei.

Crawford seufzte innerlich.
 

Jei saß da wie versteinert. Die Luft in seinem Zimmer wurde mit jedem Schritt, den Crawford auf ihn zu machte, dichter, bis er meinte, im nächsten Augenblick ersticken zu müssen. Seine Lungen brannten und ihm wurde schwindelig.

Crawford streckte seine Hand aus und Jei wich instinktiv ein Stück zurück. Er fühlte wie das Blut weiter aus den Wunden quoll und hoffte, dass es nicht durch den Ärmel seines Pullovers sickerte. Jedenfalls nicht, so lange er nicht alleine war. Das Messer hatte er wieder zurückgebracht.

"Die hatten wir vergessen."

Mit großen wachsamen Augen verfolgte Jei Crawfords Tun. Seine Hand schwebte kurz über dem niedrigen Nachttisch und als er sie wegnahm, lag dort eine flache Packung.

Jei kannte den Namen, der in blauen Buchstaben auf der Packung stand. Es war der gleiche, der auch in die winzigen Tabletten gepresst war, die im Inneren der Verpackung schlummerten.

"Kannst du das alleine, oder soll dir jemand dabei helfen?"

Erst jetzt stieß Jei die angehaltene Luft aus. Seine schmerzenden Lungen sogen begierig den minutenlang verweigerten Sauerstoff ein und mit jedem Atemzug ließ auch der Schmerz in seiner Brust wieder nach.

"Ich-ich durfte das nicht alleine." Jei verstummte schüchtern unter Crawfords Blicken.

"Gut." Crawford nahm das Päckchen vom Nachtschrank. "Dann wird sich ab sofort Schuldig darum kümmern."

Jei wartete, bis Crawford die Tür hinter sich geschlossen hatte und er wieder alleine war. Er dachte eine Weile nach und versuchte sich die letzten Minuten in Erinnerung zu rufen.

Crawford hatte nichts von Kindern gesagt. Und auch nicht von Rosenkreuz, wenn er sich nicht irrte. Er hatte gar nicht viel gesagt. Er war nur in sein Zimmer gekommen und hatte ihn etwas gefragt. Dann war er wieder gegangen.

Jei sah auf den leeren Fleck seines Nachttisches, auf dem eben noch die Packung gelegen hatte.

Du musst keine Angst mehr haben.

Sein Mund bog sich zu einem Lächeln.
 

"Morgen", begrüßte Schuldig Jei knapp, als der das Wohnzimmer betrat. Er hatte schon wieder kaum schlafen können und dass es Jei offensichtlich gelungen war, hob Schuldigs Laune auch nicht gerade. Matt zeigte er auf eine braune Papiertüte, die vor ihm stand. "Schau mal, was er uns dagelassen hat."

Jei erklomm den Hocker vor dem Tresen und wartete gespannt darauf, dass Schuldig ihm den Inhalt der Tüte präsentierte, die mitten auf der spiegelglatten Fläche thronte.

Schuldig knallte eine flache Box auf den Tresen. In der durchsichtigen Hülle befand sich eine CD-ROM, deren Aufschrift aus zwei Buchstaben bestand.

Jei sah ratlos zu Schuldig. "Was ist das?"

"Unser Unterrichtsmaterial." Schuldig tat, als rücke er eine Brille zurecht. "Ich bin nicht euer Kindermädchen. Und euer Lehrer auch nicht. Ich bin eigentlich nichts, deshalb bin ich auch immer weg", imitierte er Crawford und brachte Jei damit zum Lachen. "Und hier ist euer Frühstück."

Schuldig kramte eine Packung Cornflakes aus der Tüte. Eine Packung Milch und eine Flasche mit Orangensaft folgten ihr.

"Wo lebte der Typ eigentlich? Im Kloster?" Schuldig setzte sich neben Jei und betrachtete sich ihr karges Mahl. "Als nächstes müssen wir vor ihm knien und ihn anbeten." Die Vorstellung brachte ihn zum Lachen. "Und Sonntags müssen wir unsere besten Klamotten anziehen; dann ist nämlich Gottesdienst-"

Schuldig lachte wieder und spürte im gleichen Moment einen Lufthauch, der seine Wange streifte. Zumindest hielt er es für einen Lufthauch.

Er blinzelte verwirrt und als er die Augen wieder öffnete, sah er Jei, der mit geballten Fäusten vor ihm stand. Nein, über ihm, korrigierte sich Schuldig. Er lag auf dem Rücken und neben ihm auf dem Boden lag der umgekippte Hocker, auf dem er nur Sekunden zuvor noch gesessen hatte.

Atemlos sah er zu Jei hinauf, der stumm da stand und das Gesicht zu einer wütenden Fratze verzogen hatte. So vorsichtig wie möglich, um sein Gegenüber nicht zu einem erneuten Schlag zu animieren, hob Schuldig die Hand und betastete sachte seine Wange, die sich etwas taub anfühlte. Der Schmerz kam erst, als seine Finger die Stelle berührten, die Jeis Faust getroffen hatte.

Schuldig zuckte zusammen.

Er spürte wie seine Gesichtshälfte anzuschwellen begann. Misstrauisch beobachtete er Jei, der schwer atmend über ihm stand und die Blicke nicht abwandte, wie er es sonst tat, wenn er mit etwas konfrontiert wurde, das ihm unangenehm war.

Ohne Jei aus den Augen zu lassen, setzte sich Schuldig auf. Probeweise öffnete und schloss er seinen Mund ein paar mal. Gebrochen war nichts, stellte er erleichtert fest. Seine Zunge glitt in seinen Mundwinkel. Es brannte und dann schmeckte er Blut.

"Ich wusste ja nicht, dass du ihn so gerne hast", höhnte Schuldig.

Jeis starrer Blick löste sich von seinem Gegenüber, als erwache er gerade erst aus tiefem Schlaf. "Wen?"

Schuldig schloss seinen Mund, der vor Verblüffung offen gestanden hatte. "Schon gut, Kleiner..." Er stand auf und stellte den Hocker auf die Beine. "Jetzt nimmst du schön deine Vitamine und dann schauen wir uns mal an, wo man uns hingeschleppt hat."
 

Man hatte sie von einem Gefängnis ins nächste gebracht. Anders konnte man es nicht umschreiben, was sie draußen erwartete. Der einzige Unterschied zu Rosenkreuz' Zäunen und den riesigen Bergen war, dass all das hier aus Glas und Stahl bestand, das sich unendlich hoch über ihren Köpfen in den Himmel hinein bohrte und nicht den Eindruck eines Gefängnisses hinterlassen sollte – obwohl es genau das war.

Der Boden unter seinen Füße vibrierte unheilvoll. Es kroch durch die Sohlen seiner Turnschuhe seine Beine hinauf, ließ die Härchen an seinen Armen sich aufrichten und dröhnte in seinem Kopf wie eine angeschlagene Glocke.

Das Stahlgerüst über ihnen stimmte in das Summen ein. Es wurde von einem finalen schrillen Quietschen übertönt, das in seinem Kopf einen scharfen Schmerz verursachte, der ihn einen Moment lang darüber nachdenken ließ, diesen Ort zu verlassen. Doch dann war es vorbei und mit einem erleichterten Zischen öffneten sich die Schiebetüren der Straßenbahn.
 

Jei, den die herausströmende Menschenmenge nicht zu stören schien, verschwand in dem gierigen Schlund der Bahn, ohne sich nach Schuldig umzusehen, der reglos hinter der gelben Linie stand, die auf dem Boden vor ihm aufgezeichnet war.

Stopp! Bis hierhin und nicht weiter, sagte ihm die Linie. Nicht, weil er sonst auf die Schienen fiel und einen tödlichen Stromschlag riskierte oder von dem Fahrtwind des Zuges mitgerissen würde. Nein, sie ließ ihm eine Möglichkeit offen, alles zu überdenken; bot ihm eine Wahl, die er bisher nicht gehabt hatte, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.

Er konnte sich umdrehen und gehen. Wohin auch immer. Hauptsache, weg von hier. Weg aus diesem neuen Gefängnis, das seine Türen so verlockend offenstehen hatte. Weg von ihrem neuen Wärter, der ihnen ihre plötzliche Unabhängigkeit doch nur vorgaukelte, weil er wusste, dass sie der Freiheit nicht trauen würden und sich nicht aus dem Loch wagten.

Es war die gleiche Methode, die Rosenkreuz, wenn auch grausamer, tagtäglich umgesetzt hatte. Bonding-Therapie hatte man es dort genannt. Zerstören und neu aufbauen.

Bei Jei hatte es funktioniert.

Nur Schuldig hatte sich gesträubt, weil er sie schon lange vorher durchschaut hatte.

Crawford war ihm trotzdem einen Schritt voraus gewesen. Seine Strategie, sie beide gegeneinander auszuspielen, war erfolgreich gewesen. Das sagte ihm seine schmerzende Wange.

Aus dem Glimmen, das Crawford in Jei entzündet hatte, war innerhalb weniger Stunden ein Lodern geworden, das Schuldig in Jeis Augen hatte sehen können, als er mit geballten Fäusten über ihm gestanden hatte.

Wer wusste, wie weit sich die Glut bereits in die Tiefe hinein gefressen hatte, bevor an ihrer Spitze heute morgen die ersten Flammen aufgeflackert waren. Er hatte keine Ahnung.

Die schnarrende Lautsprecherdurchsage, die ihnen mitteilte, dass die Bahn sich im nächsten Moment in Gang setzen würde, ließ Schuldig aufsehen.

Jei stand an der geöffneten Tür und wartete. Auf ihn.

Schuldig lachte heiser auf.

Ganz egal, für welche Seite der gelben Linie sie sich entschieden oder ob sie auf ihr balancierten, die Wahl war schon wieder keine und Rosenkreuz war noch lange nicht vorbei.

Sie gehörten auch zur Familie Rosenkreuz. Und wie in nahezu jeder anderen Familie auch, entschieden die wirklich wichtigen Sachen die Erwachsenen und die Kinder vertrauten ihnen. Was blieb ihnen auch anderes übrig.
 


 

IV. Am|pli|tu|de, die :
 

Größter Ausschlag einer Schwingung aus der Mittellage
 

Wer bist du? Sein Freund?

Schuldig nickt.

Ich muss ihm etwas sagen, aber er hört mir nicht mehr zu.

Schuldig kennt die Augen seines Gegenübers, die ihn abschätzend anblicken und abwägen, ob ihm tatsächlich zu trauen ist.

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, sieht ihn Jei an. Es ist nicht der Jei, den er bei Rosenkreuz getroffen hatte. Er ist kleiner, nein, jünger. Ein Kind. Wie alt? Acht? Oder Zehn? Nein, weniger. Höchstens Sechs.

Sein gekrümmter Zeigefinger winkt Schuldig zu sich hinunter und er folgt der Aufforderung, bis ihre Köpfe auf gleicher Höhe sind.

Jeis Hände legen sich um Schuldigs Ohr und formen einen Trichter darum. Er nähert sich ihm und Schuldig fühlt den Atem des Jungen in seiner Ohrmuschel, als er zu sprechen beginnt.

Er war es nicht.

Was war er nicht?

Schuldig wartet auf die Erklärung.

Jeis Atem kitzelt ihn weiter.

Was war er denn nicht?

Schuldig richtet sich auf. Der kleine Jei ist weg.
 

Der heftige Schmerz in seinem Kopf kam völlig überraschend und er riss ihn wortwörtlich von den Beinen.

Sie waren zurück von ihrer ersten Erkundung und verließen gerade den Aufzug zu ihrer Wohnung als der gleißende Schmerz in seinen Kopf fuhr und einer überlasteten Sicherung gleich, nahezu alle Funktionen abschaltete.

Schuldigs Hand grub sich fest in Jeis Shirt, als er nach Halt suchte. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr und er sank zu Boden, wo er stand.

Jei, der von Schuldigs Gewicht mit zu Boden gerissen wurde, fiel auf die Knie. Tief in seinem Gelenk knackte es und Jei hätte fast aufgeschrien; vor Schreck, statt vor Schmerzen, denn Schuldigs plötzlicher Zusammenbruch alarmierte ihn.

"Was ist?"

Sein eigener Körper gehorchte einfach nicht, als gehöre er ihm nicht mehr. Um ihn herum brauste es und Schuldig spürte einen Sog, der ihn zu erfassen begann.

Das hatte nichts mit Jei zu tun. Das war nicht das Rauschen eines Meeres. Es war ein Tornado, der ihn packte und wegzog.

Der Wind war so stark, dass er Mühe hatte zu atmen. Schuldigs Brust wurde eng, als säße etwas Schweres darauf. Um ihn herum zischte und brodelte es wütend und dann war es mit einem Schlag still, ganz so als hätte jemand ein Glas über ihn gestülpt.

F., hörte er eine unbekannte Stimme.

Das Rauschen des Tornados klang gedämpft durch das unsichtbare Glas zu ihm hinein – zu ihm und der Person, die noch hier war.

Seine letzten Worte waren: Bitte nicht, bitte, bitte.

Ein Lachen erklang und ließ Schuldigs verkrampfte Muskulatur erzittern.

C. – lernte fliegen. Leider ohne Flügel.

Der Druck in seinem Kopf wuchs an, bis er dachte, sein Schädel platze gleich wie eine überreife Frucht.

T. – Ihm blieb die Luft weg. Aber nicht vor Staunen...

Der Druck ließ wieder nach und ein warmer Strom lief aus Schuldigs Nase

L. – Wohnt jetzt nördlich von hier. Unter dem neu verlegten Kellerboden eines Hauses, das gerade von einer ahnungslosen Familie gekauft wurde.

Magensäure kroch seine Kehle hinauf und Schuldig schluckte sie hinunter.

Noch ein F. Er wollte wieder zurück zu seiner Familie. Durfte er auch. Irgendwie gingen aber ein paar Teile von ihm auf der Reise verloren.

Neben ihm schrie Jei nach Crawford. Er hörte seine Tritte gegen die Tür durch den ganzen Hausflur schallen.

B. – Er dachte, er wäre schlauer als wir. Weit kam er allerdings nicht.

Schuldigs Blickfeld verdunkelte sich von außen nach innen, als rase er mit großer Geschwindigkeit durch einen Tunnel und blicke zurück. Das letzte, das er erkennen konnte, war Crawfords verhasstes Gesicht, das über ihm schwebte.
 

Sein Kopf schmerzte, als er erwachte und hinter seinen Augen pochte es im gleichen Takt, mit dem das glühende Messer sich in sein Gehirn bohrte.

Schuldig versuchte aufzustehen, ließ es aber schnell sein, als ihn der Schwindel beinahe aus dem Bett fallen ließ.

Der Schatten neben ihm sah auf. Er legte einen bleichen Finger auf seinen Mund und zischte leise. "Er hat Besuch."

Schuldig zog die Stirn kraus. "Besuch? Wen?", fragte er mit kratziger Stimmer.

Jei zuckte mit den Schultern. "Wir sollen raus kommen, wenn es dir besser geht."

Schuldig sank zurück auf sein Bett. Besser ging es ihm zwar bei Weitem noch nicht, aber das war sicher auch nur eine Floskel gewesen und bedeutete stattdessen, sie sollten auf jeden Fall nach draußen kommen. Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und brachte den Motor in seinem Kopf in Gang.

Crawford und Besuch? Irgendetwas war faul.

"Na schön, sagen wir Hallo." Schuldig erhob sich – langsamer als beim ersten Mal – und schwang die Beine aus dem Bett.
 

Zigarettenrauch war das erste, das sie wahrnahmen, als sie Schuldigs Zimmer verließen. Rauch und Gemurmel, das aus dem Wohnzimmer zu ihnen klang.

Vorsichtig näherten sich Jei und Schuldig der Sitzgruppe. Das Gespräch verstummte augenblicklich, als man sie bemerkte.

Crawford, der sich zu ihnen herumdrehen musste, um sie zu sehen, wirkte entspannt und zufrieden. Er lächelte ihnen zu und Schuldig fuhr automatisch alle Schutzmaßnahmen hoch.

Crawford gegenüber saß ein Mann im gleichen Alter. In einer Hand hielt er eine brennende Zigarette, deren Rauch spiralförmig in die Luft aufstieg und die andere, die auf seinem Bein ruhte, hielt eine Flasche.

Als Crawford sich nach ihnen umdrehte, hatte auch er aufgesehen. Sein Mund bog sich zu einem Lächeln. Einen Ticken zu kameradschaftlich für einen Fremden, wie Schuldig misstrauisch fand.

Mit genügend Abstand zur Sitzgruppe blieben Schuldig und Jei stehen. Crawford winkte sie zu sich und bedeutete ihnen, sich zu setzen.

Nur widerstrebend folgte Schuldig der Aufforderung.

"Das ist-"

"Mike", unterbrach der Fremde Crawford.

"Gut, dann eben Mike." Crawford wartete, bis Schuldig und Jei saßen und er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war. "Ein guter Bekannter."

"So", stieß Schuldig leise hervor. Seine Blicke ruhten auf diesem ominösen Mike. Etwas an ihm kam ihm bekannt vor. "Von Rosenkreuz?"

"Schlaues Kerlchen", antwortete der Besucher grinsend. "Und ihr seid also Crawfords neueste Schützlinge? Wie macht er sich denn so?"

Es gefiel Schuldig nicht, wie dieser Mike das 'neueste' betont hatte. Er blieb besser auf der Hut. Schweigend sah er zu, wie Mike zwei Flaschen nahm – Bier, wie er jetzt erkannte –, sie öffnete und jeweils eine vor Jei und eine vor Schuldig auf den Tisch stellte.

"Ich wette, er hat vergessen, euren Einzug hier ordentlich zu feiern, stimmt's?" Mike warf Crawford einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. Die Kronkorken fielen klimpernd auf die Glasplatte. Er griff die Flasche, die vor ihm selbst stand und hob sie hoch, um Schuldig und Jei zuzuprosten. "Nehmt's ihm nicht übel, er ist wie er ist."

"Wissen wir schon", grummelte Schuldig. Er kam sich verarscht vor.

"Wirklich?" Mike grinste breit. Er trank einen Schluck aus seiner Flasche. Mit der Flasche in der Hand deutete er zu den beiden unberührten Flaschen auf dem Tisch. "Was ist los? Wollt ihr mir weismachen, dass ihr die nicht wollt?"

Was für ein widerlicher Schleimer, dachte Schuldig. Er warf einen schnellen Blick zu Jei, der dem ganzen ebenfalls zu misstrauen schien.

"Wie gefällt es euch hier?" Mike steckte sich eine neue Zigarette an und bot ihnen ebenfalls eine an, was Schuldig und Jei aber ablehnten.

"Habt ihr euch schon umgesehen?"

Schuldig ließ den Fremden weiterhin keine Sekunde aus den Augen. Das Gefühl, ihm schon begegnet zu sein, ließ nicht nach. "Spielt das eine Rolle?"

Mike zuckte leicht mit den Schultern. "Kommt drauf an. Irgendwann werdet ihr das sicher gut gebrauchen können. In so einer großen Stadt kann ja alles mögliche passieren. Nicht, dass ihr irgendwo verloren geht..."

Nicht, dass ihr irgendwo verloren geht.

Ein Eimer Eiswasser ging über Schuldig nieder.

Nicht, dass ihr irgendwo verloren geht – Irgendwie gingen ein paar Teile von ihm auf der Reise verloren...

Schuldig sah auf als er verstand und begegnete Crawfords amüsierten Blicken. Er sah zu Mike, versuchte, einen Gedanken oder sonst ein Signal von diesem zu erhaschen. Er kam nicht durch. Wie bei Crawford blockte etwas, eine Art Blitzableiter, alle Bemühungen Schuldigs ab, die richtige Frequenz zu erwischen. Hätte er das doch nur besser geübt!

"Gehen wir", wandte sich Schuldig an Jei, der wirkte, als wäre er dankbar für diesen Vorschlag.

Schuldig erhob sich von seinem Sitzplatz, doch Mike kam ihm zuvor.

"Nein, nein, schon gut, bleibt nur. Ich gehe." Mike stellte die Flasche auf den Tisch und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Dann stand er auf und nickte, nach einem flinken Blick zu Crawford hin, Schuldig und Jei zu. Er griff nach seiner Jacke, die über der Sessellehne gehangen hatte und warf sie sich über die Schulter. "Man sieht sich", sagte er mit einem nicht passen wollenden heiteren Tonfall und ging zur Tür.
 

"Was sollte das denn?", zischte Schuldig Crawford zu, nachdem Mike die Wohnung verlassen hatte.

"Was soll schon sein", entgegnete Crawford scheinheilig. "Wir hatten nur ein bisschen Spaß. Haben über alte Zeiten gequatscht und so..."

"Ganz normal, also", höhnte Schuldig. "Wer ist er? Ich meine, Was ist er?"

"Sagte ich doch schon, ein guter Bekannter."

"Und er war hier, um mit dir über die guten alten Zeiten zu plaudern? Das kaufe ich dir nicht ab!" Schuldig sprang auf. "Komm mit, Jei. Das war's, du Arsch, wir gehen! Such dir ein paar neue Deppen."

"Moment", rief Crawford die beiden zurück. "Ich vergaß, dass Mike das 'man sieht sich' wahrscheinlich sehr bald einlösen wird."

"Wie meinst du das?", fuhr Schuldig Crawford wütend an. "Wann?"

Crawford schien seine Antwort zu bedenken. "Vermutlich gleich. Er wollte nur noch etwas holen."

Schuldig schwieg verdutzt. Sein Herz raste und seine Hände wurden kalt. Das beschissene Gefühl vom Anfang kroch in seine Kehle. "Und – dann?"

"Er ist eure – wie sage ich das nur am Besten? Eure Zielperson."

"Zielperson", wiederholte Schuldig ungläubig. "Ziel für was?"

Crawford trank seelenruhig einen Schluck Bier. "Er ist euer erster Auftrag. Er gehört zu eurem Unterricht, wenn man das so nennen mag. Ihr sollt ihn – beseitigen."

Jei sog die Luft gut hörbar ein und Schuldig konnte es ihm bestens nachempfinden. Crawford war übergeschnappt. Nicht, dass er vorher nicht schon irre gewesen sein musste, aber das hier war der endgültige Beweis.

"Das ist noch nicht alles." Crawford lachte leise. "Er denkt das gleiche von euch."

Schuldig fühlte sich, als hätte man ihm die Beine weggezogen. Der Boden unter ihm wurde weich wie warmer Kerzenwachs. Er sah zu Crawford hin, der das alles äußerst witzig fand.

"Du verfickter Hurensohn", stieß Schuldig heiser aus.

Crawford nahm das lächelnd hin. "Ein Tipp noch: hier seid ihr nicht sicher."
 

"Komm schon, komm schon!" Schuldig hämmerte mit der Faust auf den Knopf des Aufzugs. Ungeduldig von einem Bein aufs andere tretend sah er der Anzeige über dem Aufzugschacht zu, die sich kein Stück rührte. Der Aufzug blieb im Erdgeschoss. Mike musste ihn blockiert haben.

"Wir nehmen die Treppe." Schuldig griff nach Jeis Shirt und zog den Jungen, der noch bleicher als sonst war, mit sich zu der Tür hin, die ins Treppenhaus führte.

Mit der Hektik eines gejagten Tiers, das bereits den heißen Atem seiner Jäger im Nacken spürte, stolperten die beiden das Treppenhaus hinunter.

Jei murmelte irgendetwas vor sich hin, dem Schuldig jedoch weiter keine Beachtung schenkte. Er war bereits dabei, das bisschen, dass sie heute von der Stadt gesehen hatten, in eine Art mentale Straßenkarte umzusetzen, die ihnen den Weg weisen sollte, wie sie am besten – lebend! – von hier fliehen konnten.

Irgendwann grub sich Jeis Hand in Schuldigs Rücken und stoppte dessen Flucht.

Schuldig übersah eine Stufe und stolperte.

"Was soll das?", fauchte er Jei wütend an.

Jei bedeutete ihm, still zu sein. Er lauschte konzentriert. "Es sind zwei", flüsterte er nach einer Weile. Seine Augen sahen Schuldig eindringlich an. "Da ist noch einer."

Schuldig atmete tief ein. Er beugte sich etwas über das Treppengeländer und warf einen Blick nach unten. Zu sehen war nichts, aber ein leises Klicken, wie das einer Waffe, die geladen wurde, war unter ihnen zu hören.

Er spürte eine Welle vorfreudiger Erregung, die auf ihn zukam und die garantiert nicht seine war. Mike mochte gut darin sein, seine Gedanken zu verschleiern, doch sein Begleiter war offensichtlich ein Idiot.

"Raus hier", wies Schuldig Jei an, der ihn hilfesuchend angesehen hatte. Er drängte den erstarrt scheinenden Jei, der aussah, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen, zu einer Tür auf der eine große rote '3' prangte.
 

Mike verließ den Aufzug in der neunten Etage. Er klopfte an die Tür und wollte eintreten, als Crawford ihm öffnete.

"Sie sind schon weg", erklärte Crawford ruhig, ohne den Weg in die Wohnung freizugeben.

"Du Spielverderber." Mike grinste gehässig. "Na macht nichts, irgendwo müssen sie ja auftauchen. Ich glaube, ich kann sie hören." Er wandte sich um und machte einen Schritt in Richtung Aufzug, hielt dann aber inne und drehte sich wieder zu Crawford um, der noch in der geöffneten Tür stand und ihm nachsah. "Wie weit darf ich gehen?"

Crawford verzog keine Miene. "So weit sie dich kommen lassen."

"Also alles wie immer." Mike nickte Crawford zum Abschied zu, ehe der Aufzug ihn mitnahm.

"Abwarten." Crawford schloss die Tür.
 

"Wo sollen wir jetzt hin?" Jei wirkte panisch. Er folgte Schuldig zu dem Fenster in der Etage, auf der sie sich befanden und blickte sich dabei immer wieder gehetzt um.

"Wo wir hin müssen dürfte wohl klar sein", gab Schuldig heftig zurück. "Die Frage ist, ob wir morgen die Sonne wieder sehen." Er hatte das Fenster geöffnet und scannte die Hauswand nach eventuellen Fluchthilfen ab und hätte fast aufgelacht. "Wie nett von Crawford, ausgerechnet hier zu wohnen. Das kennen wir doch schon."

Jei drängte sich zwischen Schuldig ans Fenster und folgte dessen Blicken. "Balkone."
 

"Was ist?" Mike stand mit ausgebreiteten Händen vor dem jungen Mann, der ihn begleitete. "Wo sind sie? Ich habe dich nicht schießen hören."

"Keine Ahnung. Sie sind weg."

"Idiot!"
 

"Jei?" Schuldig hatte Mühe, gleichzeitig zu rennen, zu atmen und dabei noch Fragen zu stellen, und blieb stehen.

Jeis Gesicht war puterrot vor Anstrengung.

"Wie hast du das damals mit dem Messer gemacht?"

"Das Messer?" Jei dachte nach.

"Ja." Schuldig schnappte nach Luft. Seine Brust brannte und seine Beine zitterten vor Erschöpfung.

Sie waren, nachdem sie die Balkone hinabgeklettert waren, ohne Pause gerannt. Die Straßenbahn schien die schlechteste Wahl als Fluchtfahrzeug zu sein. Wahrscheinlich rechneten Mike und sein Schoßhündchen damit, dass sie sie nehmen würden. Noch wahrscheinlicher war, dass sie ihnen dicht auf den Fersen waren, denn unter Panik schienen weder er noch Jei in der Lage zu sein, ihre mentalen Spuren zu verwischen. Und wenn Mike auch nur halb so gut wie Crawford war, musste es für ihn sein, als streuten sie Brotkrumen hinter sich auf den Weg, die er nur aufzulesen brauchte.

"Wie bist du an das Messer gekommen? In Rosenkreuz." Schuldig sah sich um. Er fürchtete jeden Augenblick, dass Mike hinter der nächsten Ecke hervorkam.

"Das hatte ich von Dort", antwortete Jei, als sei es das normalste auf der Welt.

"Wärst du so gütig, eines von Dort zu holen, damit wir uns wenigstens verteidigen können?" Schuldig klammerte sich an diesen winzigen, wenn auch unwahrscheinlich wirkenden Strohhalm. Er wusste noch immer nicht, was Dort war, aber er hatte den Beweis gesehen, dass Jei es irgendwie möglich war, Dinge von dort nach hier zu bringen. Und umgekehrt.

"Ich weiß nicht." Jetzt weinte Jei tatsächlich.

"Was weißt du nicht?", schnappte Schuldig. "Sag nichts Falsches..."

"Es – es ist abgeschlossen."

"Das ist ein Witz." Schuldig stöhnte auf. Ihm fiel der kleine Jei ein, der ihm gesagt hatte, dass Jei ihm nicht mehr zuhörte. War es möglich, dass er tatsächlich nicht mehr sein eigenes Haus betreten konnte?

Jeis Angst, seine verwirrt hin und herspringenden Gedanken erzeugten ein Blitzlichtgewitter in Schuldigs Kopf, das kurz davor war, in den Stand-By-Modus zu wechseln.

Jei flippte gerade total aus. Das, was sie jetzt am wenigsten gebrauchen konnten.

"Hol es doch selbst! Du weißt doch wo alles ist", fuhr Jei auf. Seine tränennassen Augen funkelten Schuldig wütend an, dessen verärgertes Gesicht sich zu entspannen begann.

"Gute Idee, Kleiner."
 

"Ich bin echt enttäuscht. Weit seid ihr ja nicht gerade gekommen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich euch doch etwas mehr zugetraut."

Sie hatten sie gestellt.

"Oder ist das Crawfords Schuld? Hat er euch nichts beigebracht?"

Mike und sein Begleiter hatten ihnen den Weg abgeschnitten. Sie saßen in der Falle, ohne einen Ausweg.

"Tut mir echt leid um euch, aber Crawford hat wohl ein sicheres Händchen, wenn es darum geht, sich immer die Falschen auszusuchen."

Wie hypnotisiert starrte Jei auf die Waffe in Mikes Hand, die sich auf sie richtete und von einem zum anderen schwenkte, als hätte er sich noch nicht entschieden, welchen von ihnen er zuerst erschießen sollte.

Sein Begleiter stand mit ebenfalls gezückter Waffe daneben. Er würde nicht schießen, das wusste Jei. Er war nur da, um den zweiten, der beseitigt werden würde, in Schach zu halten, sollte der erste ein paar Kugeln mehr brauchen. Den Spaß aber gönnte sich Mike ganz alleine.

"Man sollte denken, Crawford hätte nach all den Versuchen dazu gelernt."

Das schwarze Mündungsauge der Beretta zeigte auf Schuldigs Stirn und verharrte dort eine Weile, ehe es zu Jei schwenkte.

"Na ja, zwei auf einmal ist auch ein bisschen viel, oder?"

Die Waffe wurde entsichert.

"Warum er ausgerechnet euch beide wollte, bleibt aber wohl sein Geheimnis." Mike grinste und entblößte seine Zähne. "Ein Telepath, der nicht einmal seine eigenen Gedanken kontrollieren kann und als Krönung ein-ein", Mike zuckte mit den Schultern, "ein Etwas, das nicht weiß, was es ist und warum es hier ist... Du kannst jetzt übrigens aufhören zu heulen."

Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille.

Jeis Tränen versiegten augenblicklich. Er hielt die Luft an, als das blutige Gewebe auf sein Gesicht regnete und fühlte die Flüssigkeit seine Wangen hinablaufen. Etwas Weiches, das mit dem Knall in sein Gesicht geschleudert worden war, löste sich von seinem Kinn und fiel auf seinen Fuß. Jei folgte ihm mit seinen Blicken und erkannte ein Büschel blutiger Haare. Mit einem schnellen erschrockenen Ruck schleuderte er es von seinem Schuh.

Im Augenwinkel sah Mike den Schatten an seiner Seite, der in sich zusammenfiel, als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen.

"Du wirst faul, was?"

Mikes Grinsen, das eben noch den beiden Jungen gegolten hatte, war nun auf seinem Gesicht förmlich festgefroren.

Crawford, der neben ihn trat, drückte ihm den noch vom letzten Schuss heißen Lauf seiner Pistole über das Ohr. "Lässt du die Arbeit jetzt schon von anderen erledigen?"

"Ich werde eben auch älter", entschuldigte sich Mike. Die Beretta in seinen Händen zielte noch immer auf Schuldig und Jei. "Trotzdem habe ich gewonnen."

"Meinst du?" Crawford stieß verächtlich die Luft aus der Nase.

"Sie sind in der Falle, nicht ich."

"Weil sie das so wollten", erklärte Crawford Mike geduldig.

"Drei gegen einen, statt zwei gegen zwei." Aus dem Augenwinkel sah Mike Crawford an. "Ohne Hilfe hätten sie das nicht gekonnt."

"Ich bin nur zufällig hier", erwiderte Crawford unschuldig. "Die Arbeit haben sie ganz alleine geleistet."

"Arbeit?" Mike lachte auf. "Welche Arbeit? Du hast es dieses Mal auch nicht geschafft, deinen Neuen etwas beizubringen, außer sich fangen zu lassen, weil sie wissen, dass du ihnen die Ärsche retten kommst."

Ach ja?

Mike horchte auf. Er spürte die Barriere, die langsam fiel und sich etwas in sein Bewusstsein drängte.

M. – Wollte mit seinem Freund zwei kleine Jungs jagen, dabei war er selbst der Gejagte.

Die Stimme war gedämpft, als käme sie von der anderen Seite einer geschlossenen Tür, war aber dennoch gut verständlich.

Mike lachte hell auf. "Das konnte er eben aber nicht. Da war nur Chaos! Mehrstimmiges Geheule, sonst nichts!"

"Du musst Jei verzeihen, er war ein bisschen aufgeregt."

"Das bist du, richtig?" Mikes Kopf schnellte zu Schuldig herum. "Von zwei Kindern ausgetrickst..."

Schuldigs Mund blieb zu einem Lächeln gebogen.

Schachmatt, Arschloch!

Jei sprang nach vorne. In seiner Hand blitzte eine Klinge auf.

Mike, der mit dem Schuss aus Crawfords Waffe gerechnet hatte, ließ seine Beretta fallen und hob die Hände vor sein Gesicht.

Das Messer bohrte sich in seine abwehrend erhobene Handfläche, so fest, dass seine Spitze aus den seinem Gesicht zugewandten Handrücken wieder heraustrat.

Mit dem nächsten Ruck rammte sich das Messer samt seiner Hand zwischen seine erstaunt aufgerissenen Augen in den Schädel.
 

"Er hatte Recht." Crawford sah hinüber zu Jei, der über Mike kniete und darauf wartete, dass der seinen letzten Atemzug tat. "Fair war das nicht, aber ich glaube mit ein bisschen Übung kann das mit euch noch was werden. Und bei Gelegenheit erklärt ihr mir, wie er das mit den Messern macht."

"Kein Problem." Schuldig lächelte zufrieden. Irgendwann würde er Crawford vielleicht erzählen, was es mit Jei und seinen Messern und vor allem mit dem Haus auf sich hatte, in dem man sich ungehört von anderen Telepathen für eine Weile verstecken konnte. Irgendwann, wenn er nicht mehr der Dreckskerl war, als der er sich bisher aufgeführt hatte...
 

E N D E
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Goesha
2015-05-29T09:55:38+00:00 29.05.2015 11:55
Nach langer Zeit war mir mal wieder nach Weiß Kreuz.
Ich hatte schon einige gelesen, bis ich auf diese hier stieß. Und ich war einfach hin und weg!
Man hat die Geschichte nicht gelesen, man war dabei und mittendrin!
Dein Schreibstil ist einfach umwerfend, genial und man will einfach nur immer mehr und mehr. Hätte ich keinen Dozenten im Nacken, hätte ich sie gleich von vorn bis hinten durchgezogen. Aber leider wurde ich ein paar mal erwischt. ^^"

Die Idee mit der Hintergrundgeschichte von Jei hast du wirklich super umgesetzt! Beim ersten Kapitel hab ich immer mitgefiebert, wann Jei endlich kommen würde(bzw. wann er so alt wäre, dass er seine Fähigkeit im Griff hat) aber das hat sich dann alles etwas hingezogen. Dennoch war ich nicht enttäuscht, denn du hast das alles so überzeugend geschrieben, das ich unbedingt dranbleiben musste. Schlussendlich war mir das alles noch zu kurz. >_<

Ich hätte gern noch mehr über Jei erfahren. Zum Beispiel, wann er dann so richtig zum "Psycho" wurde. In deiner Geschichte hätte man ihn immer noch gern in den Arm genommen und verhätschelt. Im Anime schlachtet er ja einfach so drauflos, ohne wirklich Reue oder Mitleid zu empfinden. Oder was ihn genau dazu bewegt sich selbst zu verletzen. Oder überhaupt mehr über seine Gedankenwelt... ab Kapitel 3 hat man das Gefühl bei ihm ist da oben alles wie leergefegt. Kann es dran liegen, das er nicht mehr "rein" kam?

Ich jedenfalls hätte nichts gegen eine Vortsetzung! *-* Obwohl es nun schon eine Weile her ist, wo sie geschrieben wurde. Aber vielleicht hast du ja irgendwann mal wieder Lust und Laune dazu. ^^
Von: abgemeldet
2012-12-28T23:02:08+00:00 29.12.2012 00:02
Warte - wie? Was? Wie? Ehrlich jetzt? Darauf gibt es noch keine Kommentare? Verarscht mich Animexx?

Liebe Catkin (ich weigere mich, dich Ixtli zu nennen xD), diese Geschichte ist einfach toll geschrieben. Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht die komplette Geschichte verschlungen hab. Vielmehr nur das erste Kapitel. Da wollte ich nicht, dass die Vorlesung losgeht, weil ich weiterlesen wollte. Der erste Teil war einfach packend geschrieben. Das lag wohl aber daran, dass ich mich gut in Ruth versetzen konnte. Mit Jei und Schuldig konnte ich dann nicht mehr so viel anfangen. (Was wohl auch daran liegt, dass ich das Fandom nicht wirklich kenne... aber egal. ;) )

Ich mag die Struktur dieser Geschichte unheimlich gerne - auch wenn die Kapitel lang sind, so behandeln sie alle einen bestimmten Abschnitt von Jeis Leben. Auch wenn es im ersten Kapitel natürlich noch nicht besonders weit ist. ;) Dennoch überzeugt der Aufbau einfach.
Deine Beschreibungen sind auch klasse. Ich hab teilweise mit Ruth mitgetrauert und musste darauf Acht geben, nicht plötzlich in der Straßenbahn zu weinen, weil ich es so schrecklich fand, wie Ruth ihr Kind sieht und weiß, dass es nie zu ihr "Mama" sagen wird... Und von der Geburt fang ich gar nicht an.
ABER: Ich hatte das mit dem Schlüssel so verstanden, dass Ruth bei dem Kind bleiben will?! Ich dachte sie will gar nicht zurück ins Kloster. Deswegen war ich etwas verwundert, dass sie das Kind nicht behalten durfte... Hm.

Die anderen Teile haben mir auch gefallen, aber ich glaub der erste Teil hat wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Der zweite Teil war dann ja eher auf das Schulleben fixiert, was ich auch interessant fand, zumal ich mich auch gefragt hab, was wohl in dem ominösen dritten Stock ist. Und mich würde wirklich interessieren, was für eine Art Experimente das waren. Und Jeis Innenleben war auch sehr gruselig beschrieben. Aber auf eine positive Art.

Beim dritten Teil war ich aber nicht so 100%ig überzeugt, weil es ab da etwas komisch wirkte. Aber das könnte am fehlenden Fandomwissen liegen - ich fand es einfach komisch, wie Jei und Schuldig ausgebildet wurden. Ich weiß nicht, da konnte ich mich einfach nicht einfinden.

Alles in allem fand ich die Geschichte trotzdem einfach toll. Dein Stil ist wie gewohnt toll und so schön fehlerfrei, und die Handlung überzeugt einfach. Schade, dass das nicht mehr sehen. >.o


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