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Stille Wasser

von

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Stille Wasser

René drückte ihm schon wieder einen dieser dämlichen Pappbecher in die Hand, obwohl Leo seinen alten gerade erst losgeworden war. Ohne Leo zu fragen, füllte René den Becher bis oben hin mit Sekt. Etwas davon sprudelte schäumend über den Rand und tropfte auf Leos Hand.

"Wie war sein Name?" Himmel, er hatte heute Abend ein Gedächtnis wie ein Sieb. Leo nahm den Becher in die andere Hand und wischte die nasse an seiner Hose trocken. Der Sekt war echt gut. Er klebte kaum.

"Wer?" René war viel zu sehr damit beschäftigt, Leo dazu zu bringen, endlich den Becher leerzutrinken, damit er ihm wieder neu einschenken konnte. Er kippte nach, kaum dass Leo einen Schluck davon getrunken hatte.

"Der Typ da bei Denny." Leo zeigte zu einem Punkt hinter René und ließ seine Hand dann langsam wieder sinken. Wo waren Denny und der Dünne?

"Wen meinst du?" René war nun doch neugierig geworden und reckte den Hals, um zwischen den Tanzenden und den andere Gästen, die um sie herum standen, Denny zu finden. "Wo denn?"

"Er hat eben noch bei dir gestanden und die ganze Zeit zu Denny und mir herüber geschaut." Leo klang ungeduldig. René war manchmal ganz schön schwer von Begriff und das Traurige daran war, dass es nicht, wie gerade jetzt, nur am Alkohol lag. "So ein großer Dünner, dunkle Haare, dunkle Augen, hübsches Gesicht. Gerade waren sie noch da."

"Du hast ihn dir aber gut gemerkt", stichelte René belustigt, aber mit vorsichtigem Unterton in der Stimme. "Was willst du denn von ihm?" Er grinste breit. Als ob er die Antwort darauf nicht kannte... "Soll ich ihm deine Nummer geben oder fragst du Denny, ob er es tun könnte?"

"Du bist ein Arsch", war Leos unbeeindruckte Antwort. "Ich gebe meine Nummer nicht her, ich bekomme die Nummern von anderen."

"Oh entschuldige vielmals. Wie konnte ich das nur vergessen?!" René verbeugte sich theatralisch vor Leo, der davon nichts mitbekam. Seine Blicke suchten noch immer in der Menge der Feiernden nach Denny und seiner Begleitung. Er wollte wissen, ob der Typ wirklich eine potentielle Nummer Drei war. Der Abend war schließlich bald vorüber und er wollte etwas, worauf er sich schon mal freuen konnte. Normalerweise steuerte Denny keine Bekanntschaften bei, das tat nur Leo. Bis heute, wie es aussah. Da waren sie! Am Rand des Daches.

René hatte angefangen, die verbleibenden Sekunden bis Mitternacht herunter zu zählen.

Was taten sie da? Leo reckte den Hals. Küssten die sich? Also tatsächlich eine Nummer Drei? Leo blieb der Mund offen stehen. Das musste er jetzt genau wissen!
 

Im gleichen Moment, in dem Leo sich auf den Weg zu Denny und dem anderen machen wollte, um wie zufällig auf sie zu treffen und die kommende Nacht zu planen, endete Renés Countdown.

René packte Leos Arm und riss ihn zu sich herum, so dass die Hälfte des Sekts aus dem Becher schwappte und sich über Leos T-Shirt verteilte.

Leo öffnete gerade den Mund, um René wissen zu lassen, was für ein Idiot er war, als er auch schon dessen Lippen auf seinen spürte. Renés Zunge schob sich forsch hinterher und Leo vergaß einen Moment, was er seinem Gegenüber eigentlich an den Kopf werfen wollte. Er redete vielleicht die meiste Zeit nur Mist, aber küssen konnte René - nicht sein einziges Talent, wozu er mit seinem Mund so im Stande war.

"Wann bekomme ich mein Geburtstagsgeschenk?", fragte René nach einer Weile, als sich sein Mund kurz von Leos löste. Stattdessen drückte er nun seinen Körper herausfordernd eng an Leo, der aus amüsiert zusammengekniffenen Augen auf ihn hinabsah.

"Welches Geschenk?", stellte sich Leo dumm. Er blinzelte unschuldig und erwiderte Renés Grinsen scheinheilig.

"Keine Ausreden, ich habe es sogar schriftlich von dir bekommen", wehrte René jeden Versuch ab, ihn weiter aufzuziehen. Seine freie Hand strich langsam Leos Brust hinauf und wieder hinab, um kurz über seinem Hosenbund zu stoppen. "Warten wir, bis alle weg sind, oder gehen wir schon mal vor?"

"Bist du sicher, dass ich es war, der dir ein Geschenk versprochen hat? Ich kann mich an nichts mehr erinnern", alberte Leo. Und ob er das konnte. An jedes einzelne Wort, das er vor drei Jahren unter Renés Argusaugen aufgeschrieben hatte, weil er damals dessen Geburtstag vergessen hatte. Er hatte mit dem Einlösen ausgerechnet bis heute gewartet. Warum, wusste nur er. Und wenn er jetzt noch einmal wie unabsichtlich mit seinen Hüften gegen Leos stieß, dann könnte Leo sogar Denny und seinen hübschen Schatten vergessen, und sich René schnappen und mit ihm zwei Stockwerke tiefer in dessen Wohnung verziehen.

Leo stellte seinen Pappbecher auf einen Tisch neben sich. Er musste die Hände freihaben – für alle Fälle.

René sah kurz an Leo vorbei. Etwas im Hintergrund hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine Augen weiteten sich und seine Hand, die schon auf Wanderschaft über eine von Leos besten Seiten war, hielt abrupt inne.

"Fuck", stieß René heiser aus.

"Darauf wäre ich jetzt auch von alleine gekommen", witzelte Leo und versuchte, Renés Mund zu erreichen, um ihn erneut zu küssen, doch Réne machte keinerlei Anstalten, den Kuss zu erwidern, obwohl er normalerweise keine solche Gelegenheit ungenutzt lassen würde. Hastig befreite er sich aus Leos Umarmung.
 

"Ist das ein Korb oder ein Spiel?" Leo tat entsetzt. Er streckte die Hand aus, um René wieder zu sich zu ziehen. Und schaffte es sogar kurzzeitig. Er packte Renés Taille und presste ihn grob an sich. Sein Grinsen wurde breiter, je mehr sich René gegen seine Umarmung wehrte. "Dein Spiel gefällt mir", raunte Leo und ließ seine Hände auf Renés Rücken unter dessen T-Shirt verschwinden. Eine Hand rutschte hinten in Renés Hose und tastete gierig über die beiden Rundungen, die er hoffentlich gleich unbekleidet vor sich hatte. Oder unter sich. Oder über sich. Egal wo, so lange sie nur unbekleidet waren.

"Los, wir gehen runter und dann packst du dein Geschenk aus. Na?" Leo musste sich mittlerweile echt zusammenreißen, René hier nicht vor allen Leuten die Klamotten vom Leib zu reißen. René konnte manchmal echt ein Miststück sein, wenn er sich so anstellte wie jetzt. "Komm schon, dein Geschenk passt langsam nicht mehr in seine Verpackung..."

Leos Atem strich heiß und schwer über Renés Halsseite. Seine Hand rutschte immer weiter in seine Hose, aber Renés Fluchtreflex, der alleine schon wegen dem ganzen Publikum hier einsetzen musste, war weg. Weg wie die beiden Silhouetten, die eben noch am Dachrand gestanden und sich geküsst hatten.

"Denny und Norman-", keuchte René gegen Leos Mund, der sich fordernd auf seine Lippen presste.

"Norman! So heißt der Typ!", freute sich Leo. Wie hatte er den Namen vergessen können?! Aber was interessierten ihn schon Namen? Er hielt René, der in seinem Griff mittlerweile so schlaff wie eine weiche Stoffpuppe wirkte, auf Armlänge von sich und augenblicklich verschwand seine Freude darüber, endlich wieder den Namen von Dennys ansehnlicher Begleitung zu wissen. Er wusste nicht, ob er René loslassen konnte und er dann auf eigenen Beinen stehen konnte. Er sah aus, als wäre er gerade Zeuge einer Naturkatastrophe geworden.

René war totenbleich geworden. Seine Arme und Beine fühlten sich an wie abgestorben und ihm wurde zuerst heiß und dann kalt. Ein heftiger Schwindelanfall braute sich gerade in seinem Kopf zusammen und betäubte alles, was über seinen Schultern lag. Sein Herz – schlug sein Herz überhaupt noch? Was war da gerade passiert? Das, wovon ihn sein Verstand gerade abzulenken versuchte, weil es einfach zu unglaublich war?

Endlich ließ Leo los und René konnte wieder atmen. Seine Beine waren doch nicht abgestorben. Sie gehorchten ihm sogar, als er sich in Bewegung setzte, um zu denen zu gelangen, die auf die Dachbrüstung zugerannt waren.
 

Leos irritierte Blicke folgten René, der wie ein Schlafwandler von ihm weg zum Dachrand hinwankte. Er sah aus wie ein kleines Kind, das gerade erst laufen lernte und Leo lag ein entsprechender Witz auf den Lippen, den er aber sofort wieder verwarf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum rannten so viele zum Dachrand, schauten hinunter und stoben dann wie ein erschrockener Vogelschwarm panisch auseinander.

Leo sah zu der Stelle hinüber. Er konnte nicht erkennen, was es dort zu sehen geben sollte. Aber irgendetwas musste dort sein. Etwas, das einige der Gäste den gleichen schockierten Gesichtsausdruck bescherte, den René auch gehabt hatte. Andere weinten und irgendjemand telefonierte.

Leos Füße setzten sich nahezu automatisch in Bewegung. Er ging den gleichen Weg wie René, der mittlerweile angehalten hatte, ohne den Rand des Daches erreicht zu haben.

Leo kam sich vor, als ginge er unter Wasser. Seine Schritte waren schwer und langsam, als hätte er Bleigewichte an den Schuhen. Die vereinzelten Schreie der Partygäste drangen seltsam verwaschen an seine Ohren, ganz so als befände sich sein Kopf unter Wasser. Sämtliche Geräusche vermischten sich zu einem einzigen Rauschen, das an- und abschwoll, je nachdem, ob sich Leo gerade einem Gast näherte oder sich von einem entfernte.

Jemand, der plötzlich am Rande seines Blickfeldes auftauchte, gestikulierte hastig und sprach auf ihn ein. Leo traute sich nicht, den Mund zu öffnen, um dem jungen Mann vor sich zu antworten. Wahrscheinlich würden sich seine Lungen augenblicklich mit Meerwasser füllen und er müsste ertrinken.

Ein Gewicht zog Leos linken Arm nach unten. Irgendjemand hielt ihn fest. Der, der so heftig gestikuliert hatte, telefonierte jetzt auch. Seine Stimme klang dumpf, leiernd wie ein alter Plattenspieler, der nicht mehr richtig die Geschwindigkeit halten konnte. Oder lag das an Leos Ohren?

"Bleib hier", hörte Leo nun deutlich die Worte, die das Gewicht an seinem Arm begleiteten.

Jetzt erst registrierte Leo, wer ihn da festhielt. Es war Marie. Marie, die einzige aus seinem Freundeskreis, die bereits Mutter war. Wo war ihr Baby? Sie hatte es doch sonst immer dabei.

"Ich bin gleich wieder hier." Leo versuchte, sich aus Maries Griff zu befreien, doch sie ließ nicht los. Dieser entsetzte Gesichtsausdruck passte nicht zu ihr. Ihre Blicke huschten nervös hin und her. Sie rief jemandem etwas zu und wandte sich dann wieder Leo zu. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die ihr jetzt über die Wangen strömten. Leo hob die Hand und wischte damit über Maries nasse Wangen, doch gegen die Tränenfluten, die unaufhörlich weiter flossen, hatte er keine Chance.

Er lächelte ihr ermutigend zu und dachte darüber nach, sie in den Arm zu nehmen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Jedenfalls war Marie die einzige seiner hin-und-wieder-mal Freundinnen, die nicht nur eine Nummer gewesen waren. Die einzige, mit der Leo sich hatte vorstellen können, länger zusammen zu bleiben – und die ihn dann plötzlich abserviert hatte, als Leo gedachte hatte, dass es fester zwischen ihnen würde. So nett wie sie war, hatte sie ihm aber immerhin noch René dagelassen. Und dann war noch Denny dazu gekommen.

Leo besann sich wieder auf sein ursprüngliches Vorhaben. Sanft entzog er Marie seinen Arm und ließ die junge Frau stehen. Ein paar Leute stürzten an ihm vorbei. Einer ließ einen Pappbecher fallen und das Getränk darin spritzte an Leos Hosenbein hoch.

"-noch etwas zu machen", hörte Leo den halben Satz, den einer derjenigen ausstieß, der auf die Tür zum Treppenhaus zu hastete.

Im Augenwinkel sah Leo, dass René jetzt bei Marie stand und sie im Arm hielt. Marie hatte ihr Gesicht gegen Renés Brust gedrückt. Ihre Schultern zuckten.

Leo drehte sich um. Der Dachrand lag noch zwei Meter vor ihm. Jetzt nur noch einen. Er legte die Hände auf die etwa hüfthohe Umrandung und beugte sich nach vorne, um über den Rand hinweg nach unten schauen zu können.
 

Einsam saß Leo auf einem der Klappstühle, die noch zwischen dem Partymüll auf dem Dach standen, und sah nachdenklich zum Dachrand hinüber.

Die Gäste waren mittlerweile alle nach Hause gegangen und die Musik, die bis vor zehn Minuten noch aus den Lautsprechern geschallt hatte, ohne dass es jemandem aufgefallen war, war nun auch endlich verstummt. Alle waren mit anderem beschäftigt gewesen. Mit dem Thema, das Renés Geburtstag von einer Sekunde auf die andere überlagert hatte: Denny und Norman.

Ein Nachtfalter fiel brummend in die große Glasschale voll mit rotem Punsch, die auf dem Tisch neben Leo stand und in der schon andere ertrunkene Insekten an der Oberfläche des Getränks schwammen.

Unbeeindruckt sah Leo dem Todeskampf des Falters zu, der panisch mit dem Flügel flatterte, der noch aus dem Getränk ragte. Er machte eine kurze Pause, als wolle er seine letzten Kräfte sammeln, und flatterte dann erneut. Ob er damit aufhören würde, wenn er wüsste, wie sinnlos das ist? Leo strich sich müde über seine brennenden Augen.

Wieso saß er eigentlich noch hier?

Gedankenverloren streckte Leo die Hand aus und tauchte sie in den roten Punsch. Der nasse Falter zuckte in seiner Handfläche und dann auf der Tischplatte, wo ihn Leo abgelegt hatte. Er spreizte die Flügel und man konnte sehen, wie hübsch er eigentlich war. Das vordere Flügelpaar war schwarz-weiß gestreift und das das hintere orange mit kleinen schwarzen Flecken. Eine hellrote Pfütze hatte sich um den Falter herum gebildet, der nur noch schwach die Fühler bewegte.

Leo wischte seine Hand mit einer Papierserviette ab, die er zwischen überfüllten Aschenbechern und Tellern mit Essensresten, in denen bunte Cocktailpfützen schimmerten, gefunden hatte.

Wie der Tisch aussah! Irgendjemand musste dagegen gestoßen sein.

Schnell wischte er den Gedanken wieder weg. Leo versuchte, an nichts mehr zu denken. Weder an die Party, noch an Norman und Denny, die am Rand des Daches gestanden hatten, nicht an die mit einem Mal aufkommende Unruhe unter den Gästen und erst recht wollte er nicht über den Moment nachdenken, als er sich über den Dachrand gebeugt hatte, um in die Tiefe zu sehen.

Doch er tat genau das.
 

Sofort tauchten wieder die beiden Körper vor seinen Augen auf. Denny, der auf dem Rücken gelegen hatte und das Gesicht dem Himmel und dem Dach des Mehrfamilienhauses zugewandt hatte, von wo aus ihm Leo entgegen sah. Und Norman, der Dennys Körper halb unter sich begraben hatte und in Dennys ausgestreckten Armen lag, als hätte der ihn aufgefangen.

Leos Mundwinkel bogen sich unwillkürlich etwas nach oben.

Wären die Blutlachen unter Denny und Norman nicht gewesen, hätte es ein fast tragisch-poetisches Bild sein können.

Die beiden Gäste, die nach unten gelaufen waren, hatten sich neben Denny und Norman auf den Boden gekniet und nachgeschaut, ob es noch was zu helfen gab. Jede Sekunde davon hatte sich in Leos Erinnerung gebrannt. Wie sie nach Dennys Handgelenk gegriffen und auch über Normans Hals gestrichen hatten. Und dann hatten sie Norman umgedreht.

"Komm, wir gehen runter."
 

Renés Hand legte sich auf Leos Schulter, der das erste Mal von dem nassen Falter auf der Tischplatte aufsah, seit er ihn aus dem Punsch gerettet hatte. Er war noch über und über mit dem rotem Getränk benetzt. Wie winzige Perlen säumten sie den länglichen Leib, dessen Härchen nass an dem braunen Körper klebten. Die Flügel waren an den Rändern an einigen Stellen zerfleddert, wahrscheinlich dort, wo sie Leos Finger berührt hatten. Die Beinchen hatte er wie im Krampf an sich gezogen und seine Fühler bewegten sich auch nicht mehr. Das arme Ding hatte es doch nicht geschafft.

Mit kalten Fingern strich René über Leos Wange, der unter der Berührung kurz wieder an Norman denken musste. Normans Finger – der rechten oder der linken Hand? Leo konnte es nicht mehr genau sagen – hatten sich etwas gekrümmt und wieder geöffnet, als er neben Denny auf dem Rücken dalag und nun ebenfalls zu Leo hinauf sah.

Wahrscheinlich waren das nur irgendwelche letzten Reflexe gewesen, aber Leo, der die Szene von oben so deutlich gesehen hatte, als hätte er gleich daneben gestanden, hatte kurz die Hoffnung gehabt, dass wenigstens einer der Beiden den Sturz überlebt hatte. Aber so war es dann doch nicht.

Kommentarlos stand Leo von seinem Klappstuhl auf und ließ sich widerstandslos von René an die Hand nehmen und Richtung Treppenhaus führen.
 

"Bist du sicher, dass es eine gute Idee war, nicht mit jemandem zu reden?"

Leo drehte sich auf die Seite. Im Halbdunkel sah er Renés Silhouette, der neben ihm im Bett lag und Leo genau beobachtete. Seine Augen scannten jeden Zentimeter in Leos Gesicht ab, was Leo langsam zu ärgern begann. "Du laberst mich doch schon die ganze Zeit zu, ist das nicht das gleiche?"

"Ich meinte jemand professionellen", wandte René ein.

Genervt stieß Leo die Luft aus. "Das haben ungefähr fünfundzwanzig Leute gesehen, gehen die jetzt alle zum Psychologen?"

Stumm ruhten Renés nachdenkliche Blicke auf Leo. Am liebsten hätte er Leos Frage mit Ja beantwortet, aber er senkte nur die Lider, als er die steile Falte bemerkte, die sich zwischen Leos Augenbrauen bildete.

"Ok", gab René schließlich nach, "wenn irgendwas ist, machst du mich wach."

"Klar", antwortete Leo und wusste, dass er das nicht tun würde. René hatte sich von ihm weggedreht und schwieg endlich mal. Das würde er doch nicht riskieren.
 

Als Leo das nächste Mal die Augen aufschlug, war es noch immer dunkel draußen und sein Arm kribbelte wie verrückt. Schuld war René, der zu Leo hinüber gerückt war und auf Leos Arm lag.

Möglichst vorsichtig zog Leo seinen Arm unter René hervor, der etwas vor sich hinmurmelte, aber weiter schlief.

Nachdem er sich aus der unbequemen Lage befreit hatte, lag Leo auf dem Rücken, schloss die Augen und versuchte erfolglos, wieder einzuschlafen. Entnervt rückte er nach einer halben Minute so nahe es ging zu René hinüber, legte einen Arm um dessen Taille und wartete darauf, dass ihn die Monotonie der Atemgeräusche seines Nebenmannes endlich wieder einschlafen ließen. Selbst das versagte. Wie schaffte es René nur, selig zu schlafen?

Leo gab auf. Er rollte sich zum Bettrand und tastete nach seiner Hose, die neben dem Bett auf dem Boden lag. Er zog ein Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug daraus hervor und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil.

Durch die Schlitze der Jalousie fiel künstlich kaltes Licht von draußen herein, das alles, was es beleuchtete, wie Stein wirken ließ.

Die Hände auf dem Bauch verschränkt, sah Leo dem einzigen Punkt in dieser totenstillen und starren Umgebung zu, wie er zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger schwach pochend vor sich hin glühte und tapfer die wenigen Zentimeter um sich herum mit seinem Leuchten wenigstens etwas lebendig wirken ließ.

Was war mit Denny losgewesen? Und mit diesem Norman, dem er heute das erste – und letzte Mal – begegnet war? Wer war er? Was hatte er mit Denny zu tun gehabt? So wie es ausgesehen hatte, hatten sich beide besser gekannt. Aber warum hatten sich beide dazu entschlossen, sich von einem Dach zu stürzen? Ausgerechnet von dem Haus, in dem René wohnte? An dessen Geburtstag...
 

Leo schrak auf, als ihm etwas auf den Bauch fiel.

Die Asche seiner Zigarette, die er zwar angezündet, aber von der er keinen Zug genommen hatte, war zu einem länglichen grauen Wurm verglüht, der herabgefallen war und nun auf Leos Magengegend lag. Leo wischte die Asche weg und verteilte dabei etwas davon auf seinem Bauch und dem Laken. Grau-schwarze Schlieren zogen sich über den hellen Stoff. René würde ihm den Kopf abreißen.

Leise fluchend drückte er den leicht glimmenden Zigarettenstummel auf dem Unterteller aus, der auf dem Nachttisch neben ihm stand. René hatte ihm eine Tasse Tee gemacht. Pfefferminztee. Ihm. Wie in aller Welt war René auf diese Idee gekommen? In seinem ganzen Leben als einigermaßen mündiger Mensch hatte Leo noch nie Tee getrunken. Geschweige denn Cappuccino oder ähnliches schreckliches, heißes Zeug. Er trank nicht einmal Kaffee.

"Hast du geraucht?"

Leo sah neben sich, wo René gerade wach wurde, sich streckte und zu Leo herumdrehte.

"Wie kommst du darauf?", entgegnete Leo scheinheilig und entgegnete die vorwurfsvollen Blicke ohne mit der Wimper zu zucken.

"Weil man es riecht", war die verärgerte Antwort. "Du weißt doch, dass im Schlafzimmer nicht geraucht wird."

"Warum nicht?" Herausfordernd sah Leo zu René, der sich von seiner Decke befreit hatte und sich zu Leo gesellte. Er lehnte seinen Kopf gegen Leos Schulter, der das amüsiert hinnahm.

Renés Hand machte sich daran, Leos Brust hinabzufahren. "Die einzige Zigarette, die hier erlaubt ist, ist die danach."

"Dann hast du ja deine Antwort darauf, warum ich geraucht habe." Leo hielt Renés Hand davon ab, unter seine Decke zu schlüpfen.

Lächelnd befreite René seine Hand aus Leos Griff. "Wie gemein, mich einfach schlafen zu lassen."

"Selbst Schuld." Leo beugte sich zu Renés Gesicht hinab, der grinsend zu ihm hinaufsah, und küsste ihn. Renés Hand hatte in der Zwischenzeit ihr Ziel erreicht. Sollte er eben denken, dass er gewonnen hatte.
 

Leo griff nach seinem Zigarettenpäckchen und nahm sich eine weitere aus der halbleeren zerdrückten Packung. Neben ihm lag René und schlief schon wieder tief und fest.

Er hatte völlig vergessen, ihn etwas zu fragen. Wer dieser Norman eigentlich war.

Leo steckte sich die Zigarette zwischen seine Lippen, aber noch bevor er sie hatte anzünden können, war auch er eingeschlafen.
 

Henrik verstand seine Eltern nicht.

Nachdem sie die Nachricht über Normans Tod bekommen hatten, war zuerst alles aus dem Ruder gelaufen. Ihre Mutter war fast durchgedreht und hatte mehrmals kurz davor gestanden, dass Henrik sie ins Krankenhaus fuhr. Sein Vater hatte das alles mit – tatsächlich anwesender oder erzwungener – Unnahbarkeit über sich ergehen lassen. Er hatte kein Wort über Norman verloren. Und irgendwann hatte es seine Mutter ihm gleich getan.

Sie hatten Henrik vergessen. Ihn alleine gelassen mit seinen Vorstellungen, was passiert war. Er hatte sie so oft gebeten, den Polizeibericht sehen zu dürfen, damit er verstand, was passiert war, aber nicht einmal das hatten sie noch getan. Norman war nicht tot. Er existierte überhaupt nicht mehr und hatte es davor auch nicht.
 

Henrik merkte, wie sich wieder die Panik in ihm zu sammeln begann, als er an den Moment denken musste, der ihm in ungefähr zwei Minuten bevorstand.

Das erste Mal würde er die Stadt erreichen und den Bahnhof mit dem Wissen betreten, dass er ab sofort alleine dort war. Dass ihn keine Kopfnuss erwartete. Keine Nacht, die er zusammen mit seinem Bruder in einem Bett für eine Person verbringen musste. Und keine Diskussionen, die sich darum drehten, wer wem ins Ohr atmete.

Niemand erwartete ihn mehr hier. Er war alleine mit dem, was er sich, seit er wusste, wie Norman gestorben war, vorstellte. Wie lange dauerte ein Fall aus dem siebten Stockwerk? Welche Geräusche machten Körper beim Aufprall?

Als der Zug hielt, hatte sich Henrik nicht dazu durchringen können, seine verkrampfte Hand, die sich in das Polster des Sitzes gekrallt hatte, zu lösen. Er konnte sich nicht einmal dazu zwingen, den Kopf nach links zu drehen und einen Blick aus dem Fenster auf den Bahnhof zu werfen.

Er saß wie angewurzelt da und das einzige, das wirklich zuverlässig funktionierte, war sein Magen, der sich gerade wieder um seine eigene Achse zu drehen begann.

Das schrille Pfeifen, das Zischen der sich schließenden Türen und die Kraft, die ihn in das Sitzpolster drückte, ließen Henrik das erste Mal wieder seine Lungen bis in die letzten Ecken mit Luft füllen.

Der Bahnhof wurde kleiner und als er aus dem Blickfeld des Zuges verschwunden war, reagierten Henriks Beine wieder und er sprang auf.



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