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Stille Wasser

von

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Wreck The Halls

Henrik hatte zwei weitere Stationen und einen von seinem Magen diktierten Aufenthalt in der Sardinenbüchsenartigen Zugtoilette benötigt, bis er in der Lage gewesen war, den Zug endgültig zu verlassen.

Auf dem Bahnhof hatte es ihn dann beinahe noch auf der Treppe der versifften Unterführung hingehauen, als ein kurzer Schwächeanfall ihn unangenehm daran erinnert hatte, dass er bis auf das Abendessen von vor über zwölf Stunden, das er in der schimmernden Edelstahlschüssel der Zugtoilette gelassen hatte, absolut nichts mehr im Magen hatte.

Es war ja auch nicht so, dass er überhaupt etwas herunter bekommen hätte, was über die Konsistenz eines Milchshakes hinausging, aber sein Körper war da anderer Meinung und machte ihm das regelmäßig klar.

Die Erinnerung an eine Unterhaltung zwischen ihm und Norman bescherte Henrik den zweiten Schwächeanfall dieses Tages. Glücklicherweise stand er dieses Mal nicht auf einer Treppe, sondern war auf dem Weg zu einer Bushaltestelle vor dem Bahnhof, was ihm zwar einige verhaltene Blicke der anderen Passanten bescherte, aber immerhin lief er dabei nicht Gefahr, zu stürzen.

Er hatte Norman verspottet, als ihm bei seinem letzten Besuch aufgefallen war, wie sehr sein Bruder innerhalb kurzer Zeit an Gewicht verloren hatte. Von Photosynthese als neue Nahrungsaufnahme war die Rede gewesen und das, was für einen Außenstehenden wie ein Scherz klingen mochte, war echte Besorgnis gewesen, die Henrik Norman mit brüderlicher Ruppigkeit versucht hatte, klarzumachen. Es war keine Frage gewesen, sondern seine Art, Norman mitzuteilen, dass er etwas tat, was nicht gut war.

Henriks Wangenmuskulatur schmerzte, weil er seit dem Gedanken an ihr letztes Treffen die Zähne fest aufeinander presste. Normans Schlüsselbund stach ihm unangenehm in die Handfläche, während sich seine linke Hand langsam zur Faust ballte.

Warum nur war er nicht auch da gewesen, um Norman zu sagen, er solle den Scheiß lassen, als er auf dem Dach gestanden hatte?

Und warum war ihren Eltern ausgerechnet dann wieder Henriks Existenz eingefallen, als es darum gegangen war, Normans Wohnung auszuräumen?

Der Krampf in seiner Faust ließ erst nach, als ihm der ungeduldig wartende Busfahrer ein 'Was ist jetzt?' an den Kopf warf. Hastig suchte Henrik nach Kleingeld, löste den Fahrschein und fuhr dann den Weg zurück, den er mit dem Zug nicht hatte bewältigen können.

Jetzt stand er hier in Normans Wohnung, die einen so harmlosen Eindruck machte, als käme ihr Bewohner gleich wieder zurück, und zum ersten Mal fühlte sich Henrik damit konfrontiert, dass er hier war, um genau diese Illusion, Norman könne doch auf einmal wieder zurückkommen, die Tür öffnen und sich müde von der Arbeit auf das Schlafsofa werfen, sich und jedem anderen endgültig zu nehmen.
 

Die Ruhe machte René fast wahnsinnig. Er kam sich vor als säße er auf einem Vulkan, der sich kurz vor dem Ausbruch befand. Er wusste, dass die Erde unter seinen Füßen bereits am Sieden war, er fühlte das Brodeln, das den Boden ahnungsvoll zum Zittern brachte wie den Deckel auf einem Topf, in dem etwas auf voller Flamme kochte. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis die erste Eruption den Deckel sprengte und es Feuer und Asche regnete.

Leos stoische Gelassenheit brachte ihn fast um den Verstand. Als er am Morgen nach Dennys und Normans Tod wachgeworden war, hatte er Leos Gleichmut noch für eine Auswirkung des Schocks gehalten, aber jetzt war es eine Woche her, seit er Leo mit einer Zigarette im Mundwinkel schlafend neben sich im Bett vorgefunden hatte. Dass Leo die Zigarette nicht mehr hatte anzünden können, war nicht das eigentlich Erschreckende gewesen, sondern dass seit jenem Morgen alles lief, als wäre nie etwas passiert. Als wären Denny und Norman nicht vor ihrer aller Augen vom Dach gesprungen.

Leo, der sich weiterhin vehement dagegen wehrte, sich krank schreiben zu lassen, ging zur Arbeit, kam heim und schlief dann bei René. Und jeden Morgen wiederholte sich dieses Ritual. Etwas, über das sich René in jeder anderen Situation gefreut hätte.

Die ersten Tage hatte er sich sogar noch getraut, ein wenig nachzuhaken, um vielleicht herauszufinden, was Leo denn nun wirklich fühlte und wie es ihm ging, wenn er an den Abend von Renés Geburtstag dachte.

Leo hatte ihn lediglich finster angesehen, aber das hatte er mit einer solchen inneren Ungerührtheit getan, ohne dabei zu verheimlichen, was ihn René gerade mal konnte, dass der seither lieber schwieg.

Eigentlich war es genau das, was ihn an Leos Benehmen so störte. Nicht die Ruhe. Es waren die Blicke. Sie schluckten sämtliches Licht, das auf sie traf wie zwei düstere Abgründe, die sich vor einem auftaten und deren steile Wände schon nach den ersten Metern alle Farben und Konturen verloren und in undurchdringliche Schwärze getaucht wurden, die in den Augen schmerzte, wenn man zu lange hinein sah, weil man einfach nicht mehr klar unterscheiden konnte, ob man nun erblindet war, oder ob der Rest der Welt noch sichtbar sein würde, wenn man den Blick wieder hob.

Man verlor sämtliche Sicherheit gegenüber diesen beiden kalten Schluchten, die einem mit ihrer Leere begegneten. Aber statt sich umzudrehen und einen anderen Weg auf die gegenüberliegende Seite zu suchen, wurde man von ihnen angezogen, immer näher heranzutreten und selbst nachzuschauen, wie tief es wirklich hinab ging. Wie weit einen der Abgrund in sich hineinschauen ließ, bevor man in seiner formlosen Existenz, für die der menschliche Verstand einfach keine Erklärung fand, eben jenen verlor.

Niemand, wirklich niemand, der noch klar bei Sinnen war, tat das freiwillig. Und dennoch konnte sich René nicht dagegen wehren, ein paar Schritte auf diesen Abgrund hin zu tun.
 

"Ich habe eine Überraschung." René erschauerte unwillkürlich als Leo den Kopf hob und ihn seine Blicke trafen. Wie Tinte, die auf Löschpapier tropfte, wurde in Sekundenschnelle das bisschen Tatendrang verschluckt, das René extra für diesen Moment mühsam angesammelt hatte.

Abwartend beobachtete Leo René. Er hatte nur Sekunden Zeit, den Satz heraus zu bringen, den er hatte sagen wollen, und den ihm seine ausgedörrte Kehle gerade verweigerte.

Als René nichts sagte, fuhr Leo fort, die Knopfleiste seiner Arbeitsjacke zu öffnen, die mit Putz in sämtlichen Farben überdeckt war. Leos eigentlich rote Haare überzog ein leichter grauer Schleier, genau wie sein Gesicht bis hin zum Halsausschnitt seines T-Shirts. Er sah aus wie eine große verstaubte Schaufensterpuppe.

"Marie und Mariechen kommen später noch vorbei." René hatte nicht gewusst, dass es regelrecht schmerzen konnte, etwas zu sagen, wenn der Angesprochene nicht den Eindruck machte, überhaupt noch irgendetwas hören zu wollen.

"Okay." Leo öffnete seine Hose und streifte sie sich von den Beinen.

René wartete ein paar Wimpernschläge lang und versuchte herauszufinden, ob Leos Okay ein positives oder ein negatives Okay war. Eine Hilfe war ihm Leo dabei nicht, der sich einfach weiter auszog, bis er vollständig entkleidet war, und seine schmutzige Arbeitskleidung auf dem Schlafzimmerboden liegen ließ, während er sich auf den Weg ins Bad machte.
 

Das eiskalte Wasser traf ihn mit solcher Wucht, dass es Leo einen Moment unwillkürlich den Atem verschlug, bis er sich daran gewöhnt hatte. Das Wasser, das seinen Kopf hinablief schmeckte bitter von dem feinen Staub, dem er den ganzen Tag lang ausgesetzt gewesen war und von dem er es nicht abwarten konnte, bis er ihn endlich los war.

Nach fünf Minuten eiskalt duschen und nachdem der erste Staub endgültig abgespült war, drehte Leo den Regler schließlich auf angenehmere Temperaturen.

Er griff nach einer Plastikflasche, die neben Shampoo, einem Rasierer und einem Ding, das wohl etwas ähnliches wie ein Schwamm sein sollte, in einem Metallkorb unter der Armatur hing. Er nahm die Flasche, auf der ein Bild von einem aufgewühlten Meer aufgedruckt war.

Belebend versprach ein roter Schriftzug auf der Flasche mit dem Duschgel, deren Verschluss Leo nun aufklappte und über seine Hand hielt.

Vielleicht half es ja, dachte er, während er eine Portion glänzend blaues Duschgel in seine geöffnete Handfläche drückte. Das Gel fing sofort zu schäumen an, als Leo es über seinen Körper zu verteilen begann.

Noch fühlte er sich nicht belebt. Im Gegenteil. Alles nur leere Versprechungen...

Seine Hände rieben eine weitere Portion des Gels in seine Haare. Zum ersten Mal fiel ihm der penetrante Geruch auf. Er war nahezu unerträglich. So roch doch niemals das Leben. Zugegeben, sein eigenes Duschgel roch auch nicht viel anders. Bei Gelegenheit musste er sich mal neues besorgen. Eines, das einem vielleicht sogar praktischerweise tatsächlich Lust aufs Leben machte.

Leo hielt seinen Kopf unter die Brause. Das unaufhörlich hinab strömende Wasser bildete lange Fäden, die von seiner Nase und seinem Kinn rannen, als wäre er die Figur eines Springbrunnens. Der Gefühlstote, oder so ähnlich. Oder noch zutreffender: das größte Arschloch aller Zeiten, das seinem Freund, der sich das Leben nahm, keine einzige Träne nachgeweint hatte.

Mit gesenktem Blick sah Leo den hellblauen Schaumkrönchen zu, die an seinem Körper hinabliefen. Es schien ein Wettrennen unter den kleinen Schaumbergen ausgebrochen zu sein. Sieger war, wer es am schnellsten Leos eigentlich ganz ordentlich definierte Brust- und Bauchmuskulatur hinab schaffte, möglichst ohne viel an Geschwindigkeit in der Schikane seiner ebenfalls nicht schlecht ausgefallenen Männlichkeit einzubüßen. Dann noch auf der Zielgeraden die Beine hinab und in der Duschwanne landen, um dann im finalen Lauf wirbelnd im Abfluss zu verschwinden.

Großzügig half Leo einigen langsameren Teilnehmern nach. Er rieb sich über die Brust, wo sich noch Schaum befand, und bugsierte das Zeug mit Meeresmineralien - was immer damit auch gemeint sein sollte und was immer das in Duschgel nutzen sollte - in Richtung Duschwanne.

Unter seinen Fingerspitzen spürte Leo die kaum sichtbaren Härchen, die sich unter seinem Bauchnabel in einer wie mit dem Lineal gezogenen geraden Linie zu seinem Schritt hinab zogen. Er dachte einige Sekunden nach, ob er den Härchen bis zum Ende folgen sollte - und tat genau das.

Unbewusst hielt Leo im ersten Moment die Luft an, als seine Hand die Stelle erreichte, von wo ihn normalerweise bereits seit dem Gedanken daran eine Erektion erwarten sollte. Dieses Mal nicht. Genauso wenig wie die Male davor auch nichts die Berührung seiner oder Renés Hand - oder wahlweise anderer zur Verfügung stehender Alternativen - erwartet hatte.

Mit sachtem Druck strich Leos Hand über sein unwilliges Körperteil. War das zu sachte? Etwas fester. Gleiches Ergebnis wie davor. Sein Schwanz fühlte sich in seiner Hand wie der sprichwörtliche Fremdkörper an.

Vielleicht half es, wenn er an etwas schöneres dachte, außer an seine eigene Hand? Wie wär's mit dem Langen, der ihm auf Renés Party seine Nummer gegeben hatte. Der war doch mal ein verdammt heißes Teil gewesen. Und er war wohl auch noch ein Dreckstück obendrein, hatte er Leo doch noch am gleichen Abend ein Bild von seinem Schwanz geschickt, nachdem Leo die Nummer auf Richtigkeit überprüft hatte.

Nicht einmal das half, dabei hatte es doch schon einmal funktioniert, als er das Bild bekommen hatte. René konnte ein Lied davon singen.

Verdammt, er schweifte ab! Und geholfen hatte es auch nicht.

Kein Grund zur Panik, oder? Kann ja mal passieren. Auch knapp eine Woche lang. Nach so einem Erlebnis immerhin...

Und wenn es noch länger dauerte? Irgendwann ließ sich René sicher nicht mehr abwimmeln und Leo gingen so langsam die Ausreden aus.

Was sollte er dann sagen? Tut mir echt leid, aber vögeln fällt flach, weil mein Schwanz plötzlich keinen Bock mehr auf so etwas banales hat?

Das glaubte ihm nicht mal René, selbst wenn es die Wahrheit war. Und René schien nur auf etwas ähnliches zu warten, weil es ihm die Bestätigung frei Haus lieferte, die er Leo seit seinem Geburtstag aufzudrängen versuchte.

Leo sah auf seine Finger hinab, die sich noch immer hoffnungsvoll um den Körperteil schlossen, der ihn bisher außer im Vollrausch noch nie im Stich gelassen hatte, und versuchten, ihn mit allen möglichen Arten aus seinem Tiefschlaf zu locken. Nichts half. Absolut nichts. Kein noch zehnmaliges darüber reiben, kein sachtes Streicheln über die glänzende Spitze.

Leo lachte heiser auf.

Schön, er gab auf. Sollte sein Schwanz doch ab jetzt ungevögelt glücklich werden, wenn das sein Wunsch war.

Der Temperaturregler wurde ungehalten auf die kälteste Stellung gedreht und dieses Mal blieb er länger in dieser Stellung als bloß fünf Minuten.
 

Noch ehe Leo Marie begrüßen konnte, die mit zappelndem Kind auf dem Arm und vollgestopfter Wickeltasche über der Schulter vor ihrer Wohnungstür stand, hatte er auch schon das fröhlich krähende Mariechen in seinen eigenen Armen.

"Warum sagst du nichts?" Neugierige kleine Finger zwickten Leo in die Wange.

Schweigend gab Marie René die Wickeltasche, der sie ins Wohnzimmer trug.

"Was willst du denn hören?" Herausfordernd sah Marie ihr Gegenüber an. Leo warf ihr einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu, ehe ihn wieder die zwei Kinderhändchen ablenkten, die nach seinen Haaren packten.

Leo zuckte kurz mit den Schultern. Er tat, als schnappe er nach Mariechens Hand, die gerade dabei war, eine von Leos Haarsträhnen so lang wie möglich zu ziehen. Mariechen lachte glucksend auf und griff gleich noch einmal nach Leos Haar. Sie bekam eine der Locken zu fassen, zog daran und sah dann mit erstaunt offenstehendem Mund zu, wie die gerade gezogene Haarsträhne wieder in ihre gelockte Form zurücksprang.

"Hat dich René überredet herzukommen?"

Maries Augen verfinsterten sich und kurz tat Leo leid, was er da gerade gesagt hatte.

"Nein, auf die Idee bin ich ganz alleine gekommen, weil du dich schon seit Tagen nicht mehr meldest." Marie ging an Leo vorbei und gesellte sich zu René ins Wohnzimmer, der bereits Gläser und Getränke brachte.

Leo folgte ihr mit Mariechen, die ihn aufmerksam studierte. Irgendetwas an seiner Stirn schien sie zu faszinieren, jedenfalls starrte sie die ganze Zeit dorthin.

"Ich-" lebe noch hatte Leo sagen wollen, als ihm Mariechen ihren Schnuller in den Mund schob.

Leo sah so entsetzt drein, dass Marie lachen musste.

Mit einer Hand befreite sich Leo von dem Schnuller, den er leicht angewidert anschaute. Hatten Babys nicht ständig irgendwelche seltsamen Bazillen in sich? Irgendwas, was sie wie tollwütige Tiere sabbern und dummes Zeug vor sich hin brabbeln ließ? Hoffentlich hatte er sich nichts davon eingefangen.

Mit spitzen Fingern ließ Leo den Schnuller auf den Wohnzimmertisch fallen, was Mariechen überhaupt nicht passte. Sie wand sich so lange auf seinem Arm, bis Leo sich erbarmte und sie zu Boden ließ.

Leo griff nach einem Glas Apfelschorle und trank einen großen Schluck daraus. "Ich glaube, ich kriege den Fenchelteegeschmack nie wieder aus dem Mund", murmelte er mit mitleiderregender Miene und trank das Glas leer.

"Stell dich nicht so an", spottete Marie. Sie tauschte das verdorrte Blumenblatt, das Mariechen gerade unter der Couch hervor zog, gegen einen Butterkeks.

"Nur weil du dich schon mit angelutschten Keksen zufrieden gibst..." René öffnete gerade den Mund, um etwas blödes zu sagen, aber Leo war schneller. Zumindest seine giftigen Blicke waren schneller, die er dem grinsenden René zuwarf.

"Er hat einen Namen", erklärte Marie geduldig. Sie warf Leo einen bösen Blick zu, der sich über die Empörung seiner eigentlich besten Freundin herrlich amüsierte.

"Dann hat der angelutschte Keks halt einen Namen", alberte Leo, ohne die Blicke von Marie, die zwischen Wut und Lachen schwankte, noch großartig zu beachten. Mariechen war zu ihm hingekrabbelt und hatte sich an Leos Hosenbein hochgezogen. Mit wackeligen Beinchen stand sie da, krallte sich mit der einen Faust in den Jeansstoff und hielt die andere Hand auffordernd zu Leo empor.

"Siehst du, deine Tochter hat schon einen ausgezeichneten Männergeschmack." Leo hob Mariechen auf seinen Arm und ignorierte tapfer die aufgeweichten Kekskrümel, die sie ihm ins Gesicht malte.

"Bis sie merkt, was für Schwachköpfe es auf der Welt gibt." Marie drückte Leo einen giftgrünen Plastiklöffel in die Hand. Sie kramte in der Wickeltasche und zog ein Lätzchen daraus hervor, das sie Mariechen umband. Der Deckel des Breigläschens knackte, als Marie ihn öffnete. "Bitte schön", sagte sie an Leo gewandt, "jetzt kannst du zeigen, ob du besser als der angelutschte Keks bist."

"Schaffe ich mit links." Leo zog eine Augenbraue skeptisch in die Höhe. Er sollte Mariechen füttern? Na, wenn das mal keine Toten gab...

Nach den ersten fünf Löffeln machte es Leo tatsächlich so etwas wie Spaß, die Kleine zu füttern. Gut, am meisten Spaß machte ihm dabei Renés entsetzte Mimik, weil Mariechen es unglaublich lustig fand, mit Leo einen Wettstreit um den Brei auszutragen. Schaffte er es, ihr einen Löffel davon in den Mund zu schieben, bevor sie den Brei laut lachend vom Löffel schlug? Zu Leos und Mariechens Freude gewann die Kleine meistens.

René hatte sprachlos zusehen müssen, wie die Hälfte der Portion sich auf seiner Couch und dem Teppich verteilten. Bis ihn Marie endlich erlöste und ihn mit in die Küche schleppte.
 

"Hast du schon mit ihm darüber geredet?" Marie und René standen am geöffneten Küchenfenster. Marie blies den Zigarettenrauch nach draußen in den wolkenlosen Sommerhimmel. Im Hinterhof rannten ein paar Kinder um die dort stehenden Bäume und spielten Verstecken.

René hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und sah nach unten. Das Kind, das gerade mit Suchen an der Reihe war, stand mit dem Gesicht einem Holzschuppen zugewandt da und zählte laut vor sich hin, während die anderen Kinder sich nach Verstecken umsahen.

"Noch nicht", beantwortete René Maries Frage.

"Soll ich es tun? Die Beerdigung ist in vier Tagen." Marie schnippte die Asche von ihrer Zigarette nach draußen. Sie beobachtete René genau. Er tat ihr leid. Ja, doch, auch wenn es ihr nicht gefallen hatte, wie verworren die Beziehungen unter René, Leo und Denny verlaufen waren. Sie mochte jeden von ihnen, aber sie hatte lieber klare Verhältnisse.

"Ich frage ihn nachher, wenn es dir nichts ausmacht", bot sie René an, der sie dankbar anlächelte.

"Er ist komisch", sagte René nach einer Weile. Im Hof rannten das suchende Kind und eines der entdeckten um die Wette zu dem alten Holzschuppen. "Komischer als sonst, meine ich", fügte René hinzu. Marie wartete geduldig und René versuchte das, was ihn an Leo im Moment so irritierte, in möglichst schonende Worte zu fassen. Er wusste, dass Marie Leo sehr mochte. "Er hat kein Wort darüber verloren und-" René dachte kurz nach. "Ich glaube auch nicht, dass er hingeht."

Marie nickte langsam. Sie hatte nichts anderes von Leo erwartet. "Du gehst doch hin, oder?"

"Ja, schon." René drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, der zwischen zwei Blumentöpfen mit undefinierbarem Grünzeug darin stand. "Ich glaube, ich könnte jemanden zum Händchen halten gebrauchen..." Er sah Marie fragend an, die ihn verständnisvoll anlächelte.

Sie griff nach Renés eiskalter Hand und drückte sie zuversichtlich. "Ich bin dabei."

René nickte erleichtert.
 

"Kommst du am Samstag mit?" Marie vermied es, Leo anzusehen, der mit Mariechen auf dem Arm die Treppe neben ihr hinunter ging. Im Augenwinkel sah sie, dass er ihr das Gesicht kurz zuwandte, aber weiter schwieg. Marie war froh darüber. Immerhin dachte Leo darüber nach.

Erst als sie unten im Flur angekommen waren, antwortete Leo ihr.

"Ich muss arbeiten", verneinte Leo wie von René vorhergesehen.

Marie kniff die Lippen zusammen. "Verstehe", sagte sie leise. Es war keine Floskel, sie verstand es wirklich. Geduldig wartete sie, bis Leo seine Aufmerksamkeit von Mariechen ließ, die völlig erschöpft auf seinem Arm eingeschlafen war, und sie ansah.

Natürlich hätte er freibekommen, stand in seinem Gesicht geschrieben. Er hätte nur fragen müssen.

Marie konnte ihm noch nicht einmal böse sein. Sie hielt Leo die Tür auf und hakte sich dann draußen bei ihm unter.
 

"Dein angelutschter Keks", begann Leo nach einigen Metern unvermittelt und Marie sah schockiert zu Leo auf. Leo warf ihr einen schnellen Blick zu. Ihr Griff um seinen Arm hatte sich unbewusst gelockert. "Hat er dich schon gefragt, ob du ihn heiraten möchtest?"

"Leo!" Marie klang böse, auch wenn sie eher erschrocken aussah. "Was geht das dich an?"

"Ich meine ja nur wegen Mariechen und-"

"Du verspielst dir gerade alle Sympathien, du Spinner!", fuhr sie ihn verärgert an.

Tat er nicht. Leo lachte vor sich hin. "Was für eine Zeitverschwendung", murmelte Leo gerade so laut, dass Marie ihn trotz des Straßenlärms noch gut verstehen konnte.

Marie schwieg beleidigt. Sie sah auf ihre Schuhspitzen hinab.

"Er ist ein Idiot." Leo hatte beschlossen, nicht locker zu lassen. Entweder redete Marie danach nie wieder ein Wort mit ihm oder sie nahm es locker. "Ich hätte dich schon längst gefragt."

Maries Magen machte einen Salto. Stur sah sie weiter zu Boden. Achtlos weggeworfene Werbezettel und Generationen von zertretenem Kaugummi waren die beste Ablenkung von dem, was sie fürchtete, was gleich folgen würde. Sie wusste, wenn sie Leo jetzt ansah, würde er das als Bestätigung sehen. "Klar, ich tausche einfach den einen Idioten gegen den anderen Idioten aus..."

Leo sah auf Mariechen hinab, die, das kleine runde Gesicht gegen seine Brust gelehnt, friedlich schlief. Er strich vorsichtig über das Köpfchen mit den dunklen Haaren, die so zart wie Daunen waren.

"Ich meinte das ernst", begann Leo wieder.

"Ich weiß", fuhr Marie dazwischen. Sie klammerte sich fester an seinen Arm. Wenn sie losließ, würde sie wahrscheinlich weglaufen und das konnte sie Mariechen nicht antun...

Leo blieb stehen und Marie, die noch bei ihm untergehakt war, tat es ihm zwangsläufig gleich. Seine Blicke ruhten ruhig auf ihrem Gesicht. Sein Mund öffnete sich und Marie, die alles nur noch wie in Zeitlupe wahrnahm, fühlte wie ihre Knie weich wurden. Und dann sprach er es aus.

"Würdest du mich heiraten wollen?"



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