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Film Noir

Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Neuer Monat, neues Kapitel. Es ist etwas kürzer geworden, als ich ursprünglich geplant hatte. Trotzdem hoffe ich, dass es euch gefällt.
Vielen Dank wie immer an die lieben Leute, die meine FF auf ihre Favoritenliste gesetzt haben als auch an jene, die so lieb sind und kommentieren. Ich freue mich sehr <3

Und jetzt genug geredet, viel Spaß mit Kapitel 9! Komplett anzeigen

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Sonnenaufgang

„…“

Dale Cooper Quartet & The Dictaphones - Eux exquis acrostole
 

Kaum, dass er im Begriff gewesen war, den Schankraum zu verlassen, hatte Jonouchi ihn noch einmal zurück gerufen und ihm den Schlüssel zum Dach in die Hand gedrückt. Ryou ahnte, dass es Ärger für den blonden Barkeeper bedeuten würde, erfuhr jemand von dieser Geste und so hatte er den Schlüssel eilig in die Hosentasche gesteckt und war davon gerannt.

Mit langen Schritten hastete er die Treppen hinauf, nahm gelegentlich zwei Stufen auf einmal. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Nicht einmal das Licht hatte er eingeschaltet. Ihm genügten die grauen Strahlen der aufgehenden Sonne, spendeten sie gerade so viel Licht, dass er nicht über seine eigenen Beine stolperte. Mit jedem Schritt knallte das Geräusch seiner Sohlen auf dem Stahlbeton gegen die Wände und zu ihm zurück, dröhnte in Ryous Kopf.

Noch nie in seinem Leben war er so müde gewesen.

Seine Stirn fühlte sich taub an und ein schwaches Ziehen in den Schläfen kündete bereits jene Kopfschmerzen an, die ihm heimsuchen würden, wenn er nicht bald schlafen ging. Die Augen brannten, trocken und gerötet vom Zigarettenrauch, an den er sich erst noch gewöhnen musste. Ryou konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, überwältigt und überreizt von den Eindrücken der vergangenen Tage. Das man ihn jetzt aufs Dach ließ - alleine - erfüllte ihn mit einer merkwürdigen Zufriedenheit. Von dort würde man einen wunderbaren Blick auf den Sonnenaufgang haben.

Zur Ruhe kommen könnte er jetzt ohnehin nicht. Die Gedanken in seinem Kopf rasten, schrieen die immer gleichen Phrasen gegen seine Schädeldecke, ließen die immer gleichen Bilder vor seinen Augen auftauchen. Noch immer spürte er die gierigen Finger seiner Kunden auf der Haut.

Es war hoffnungslos, sich aufgekratzt, wie er war, ins Bett zu legen. Es würde ihm nur quälende, ruhelose Stunden bescheren.

Was er jetzt brauchte, war Zeit. Allein, nur für sich. Wenigstens für einen Moment wollte er die Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht spüren, bevor er zurück in sein Zimmer, seinen Käfig, ging.

Ein dünnes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

Noch nie zuvor hatte er einen Sonnenaufgang gesehen. Ryou war niemand gewesen, der an den Wochenenden so lange feierte, bis der nächste Tag anbrach. Wie sein Vater es von ihm erwartete, hatte er gelernt und sich mit ruhigen, aber kunstfertigen Hobbys die Zeit vertrieben.

War er ein langweiliger Mensch?

Ein ungläubiges Lachen verließ seine Kehle, verdeckt von dem atemlosen Keuchen, dass ihn mit jedem seiner Schritte ereilte. Kaum zu fassen, was für ein braves, ödes Leben er einmal geführt hatte. Es schien ihm endlos her zu sein, fühlte sich fremd und belanglos an.

Die Treppe endete überraschend. Er war so schnell gelaufen, dass er bedrohlich schwankte, als er zum Stehen kam. Vor ihm befand sich eine massive, aus schwerem Stahl gefertigte Brandschutztür. Leise seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar, zog den schwarzen Haargummi heraus, den Bakura ihm Stunden zuvor gegeben hatte, und schüttelte den Kopf. Dabei wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, atmete durch, während sein Herz wie wild in seiner Brust pochte.

Wortlos ließ er eine Hand in die Hosentasche gleiten und zog den Schlüssel hervor. Als er ihn ins Schloss stecken wollte, stockte er.

„Nanu?“

Verwundert legte er den Kopf schief und musterte die Stelle, an der Tür und Rahmen zusammen trafen. Man hatte gar nicht abgeschlossen. Die Tür stand offen. So etwas war - das wusste er bereits nach dieser kurzen Zeit - ungewöhnlich. Alle Türen, die nicht unmittelbar den Kunden zugänglich waren, hielt man penibel verschlossen.

Sie riegeln das Haus hermetisch ab, damit niemand türmt, schoss es ihm durch den Kopf. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass die Zeiten, in denen er frei über seinen Aufenthaltsort entscheiden konnte, vorüber waren.

Mit dieser ernüchternden Erkenntnis schloss er die Hand um den Türknauf und schob die Tür vorsichtig auf. Dabei gab sie ein leises Knarren von sich.

Sofort schlug ihm der beißende Winterwind ins Gesicht, so heftig, dass er einen Schritt zurück machen musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Fröstelnd wandte er sich ab, griff nach der gefütterten Kapuze, die nutzlos über seinen Schultern hing und zog sie sich über. Erst dann fasste er sich ein Herz und betrat das Dach.

Mit dem ersten Schritt sank er knirschend einige Zentimeter ein. Verwundert ließ Ryou den Blick sinken, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als ihm klar wurde, dass es sich um das Geräusch frischen, makellosen Schnees handelte, der jeden Zentimeter dieses Ortes bedeckte.

All das, der Wind, die frische Luft, selbst die Kälte - für einen Moment fühlte er sich schwerelos, fast - durfte er das denken? - frei.

Ryou hob die Augenbrauen und runzelte die Stirn, ehe er den Kopf hob und erstarrte. Direkt vor seinen Füßen befanden sich frische Fußabdrücke im Schnee.
 

~*~
 

Es war kein Auftrag gewesen, den er so schnell vergessen würde. Sie hatte geschrien und gekämpft bis zum letzten Atemzug, dieses verdammte Miststück. Einige Kratzer und blaue Flecken würde er behalten und Bakura betete, dass dies keine Spuren hinterlassen hatte, die sie irgendwann zu ihm führen würden.

Sie hatte nicht geweint, nicht um ihr Leben gebettelt und das rechnete er ihr hoch an. Mit starken, unnachgiebigen Augen hatte sie ihn angesehen. Dieser Ausdruck in ihren Pupillen war erst verblasst, als die Kugeln ihr Gehirn durchsiebt hatten. Bakura hatte gewonnen und doch war es kein Sieg, der ihn mit Freude erfüllte.

Er atmete tief durch, ehe er sich eine Zigaretten zwischen die Lippen klemmte und einen langen, stummen Zug nahm. In solchen Nächten rauchte er mehr als gewöhnlich, präventiv und vorausschauend. Es waren diese Nächte, in denen das Zittern zurückkam, ihn überwältigte, wie einen kleinen Jungen. Dann konnte er keinen Stift mehr halten, war kaum in der Lage, zu arbeiten. Er hasste es, wenn das geschah. Das Rauchen hielt die Nerven ruhig, brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen, wenn sein Gehirn im Begriff war, sich selbstständig zu machen.

Wenn er im Bett lag, zu müde, um sich zu bewegen, stürmten sie auf ihn ein, die kleinen, hartnäckigen Stimmen und erinnerten ihn an all die Dinge, die er glaubte, längst vergessen zu haben. So fand man keine Ruhe.

Drei Mal hatte er auf sie schießen müssen, bevor ihr Kopf endlich leblos nach vorn geklappt war. Der letzte war ein aufgesetzter Kopfschuss gewesen. Dieses Biest. Nicht einmal Stahl war so zäh wie der Schädel dieser Frau.

Bakura schüttelte den Kopf. Drei Mal. Verdammt.

Er nahm einen weiteren Zug und atmete den Rauch aus, der sich, kaum sichtbar, mit einer kreuzenden Windböe vereinte. Es war weiter abgekühlt in dieser Nacht, der Wind pfiff heulend über die Dächer. Seine Finger und Füße waren bereits taub, doch er machte sich nichts daraus.

Wenn er bemerkte, dass es ihm zu viel wurde, wenn er ins Grübeln verfiel, kam er hierher. Dann betrachtete er den Sonnenaufgang bevor er schlafen ging, rauchte etwas, genoss die Stille und versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.

Er hatte sich an das Geländer gelehnt, die Arme verschränkt darauf abgelegt, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Wind zerzauste sein Haar, aber wen kümmerte das.

Als er hinter sich das leise Quietschen der Tür vernahm, rührte er sich nicht. Manchmal öffnete sie sich von selbst, denn sie war als und marode wie alles hier. Erst, als das Knirschen des Schnees hinzu kam, schloss er genervt die Augen. Ein lautloses, beherrschtes Seufzen drang über seine Lippen. Marik, sicherlich. Es musste Marik sein. Er konnte es nicht lassen, dieser verdammte Stricher, hatte ihm die Abreibung heute nicht gereicht? Konnte er ihm nicht einfach seinen verdammten Feierabend lassen?

Bakura fuhr herum, das Gesicht zu einer grimmigen Maske verzogen, den Mund bereits geöffnet, um seinem Missgefallen Ausdruck zu verleihen, da hielt er auf einmal inne.

Es war nicht Marik, der da im Schnee stand. Es war Ryou.

Er trug noch immer die gleiche graue Jeans vom Vorabend. Dort, wo das Haargummi gesessen hatte, lag das weiße Haar in leichten Wellen. Wahrscheinlich kam er gerade von seiner Schicht. Er war dick eingepackt, trug den dunkelblauen Parka aus Canvas und hatte die mit Kunstpelz besetzte Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, noch jemanden vorzufinden und so taxierte Ryou ihn aus einem Paar brauner Augen, scheu und verschreckt wie die eines Rehs. Er sah müde aus.

„Was willst du?“

Bakura war zu überrascht um unfreundlich zu klingen. Hatte er ihm überhaupt von diesem Dach erzählt? Oder war er von selbst auf diese Idee gekommen? An eine solche Unterhaltung konnte Bakura sich nicht erinnern.

Der Junge zögerte. Unschlüssig stand er am Eingang, die Augen huschten abwechselnd zwischen dem Eingang und Bakura umher. Er ist eingeschüchtert, dachte Bakura und ein dünnes, amüsiertes Schmunzeln zuckte über sein Gesicht.

Schließlich, als einige Sekunden verstrichen waren, zog Ryou die Tür heftig hinter sich ins Schloss und kam näher, jeder Schritt von einem leisen Knirschen begleitet. Als er neben Bakura zum Stehen kam, lehnte er sich gegen die Brüstung, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er anschließend aufsah, blickte er Bakura unverwandt an, mit einem Ausdruck, dem nichts zu entnehmen war. Stumm hob Bakura die Augenbrauen und schwieg.

Der Kleine sah so erschöpft aus, als könne er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Selbst das Rot seiner Wangen war aus dem blassen Gesicht gewichen, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen.

„Ich will mir den Sonnenaufgang anschauen“, antwortete er nach kurzem Zögern und fügte, wohl um jeden potenziellen Konflikt im Keim zu ersticken, hinzu: „Jonouchi sagt, es ist in Ordnung. Er rechnet gerade ab.“

„Ist das so?“, kommentierte Bakura tonlos, ehe er den Blick abwandte und hinaus zur Stadt blickte. Jonouchi hatte das also erlaubt, so, so. Vielleicht sollte er sich mal wieder etwas eingehender mit ihm unterhalten, mit diesem Grenzen überschreitenden Barkeeper. Andererseits - wenn er ehrlich zu sich war, wusste er es - was sprach schon dagegen? Stumm verzog Bakura das Gesicht und richtete den Blick wieder auf Ryou, der nach wie vor unbewegt am Geländer stand und ihn mit großen, neugierigen Augen musterte.

„Den Sonnenaufgang?“, hörte Bakura sich letztlich fragen, wobei er zu seiner eigenen Verblüffung ehrlich verwundert klang.

„Ja.“

Ryou legte den Kopf schief und ließ die Augen über Dominos Dächer gleiten. Dieses Haus, in dem sie arbeiteten, lag verglichen mit den umliegenden, merkwürdig exponiert, und so hatte man von hier oben eine weitreichende Aussicht, die fast bis zum Horizont reichte. Ein stummer, verträumter Ausdruck schlich sich in Ryous Gesicht, gefolgt von einem dünnen, abwesenden Lächeln.

„Ich hab noch nie einen gesehen“, murmelte Ryou schließlich. „Und jetzt kann ich sowieso nicht schlafen, also…“

Er warf Bakura, der ihn noch immer wortlos anstarrte, einen flüchtigen Blick zu und schenkte ihm ein unverbindliches Lächeln. Es war subtil, strahlte jedoch eine unverkennbare Wärme aus, so ehrlich, dass Bakura sich abwenden musste, es mit einem schwachen nicken abtat, ohne etwas darauf zu erwidern. Stattdessen schnippte er die Zigarette fort, nur, um sich im Anschluss die nächste anzuzünden. Heute war einfach nicht sein Tag.

Ryou verfolgte die Handbewegungen aus den Augenwinkeln und runzelte schweigend die Stirn. Dabei fuhr eine erneute Windböe in seine Kapuze und hätte sie ihm fast vom Kopf gerissen. Die gestuften Strähnen, die sein Gesicht einrahmten, flatterten umher, als er sich an den Kopf griff, um alles dort zu halten, wo es hingehörte.

„Du rauchst viel, oder?“, bemerkte er und der Tonfall seiner Stimme verriet den Versuch, es möglichst beiläufig klingen zu lassen.

„Es ist nur“, fuhr er fort und blickte hinüber zum Horizont, der sich langsam rötlich färbte. „Ich habe dich noch nie ohne Zigarette gesehen.“

Auf Bakuras Lippen trat ein müdes Schmunzeln. Er hatte, während Ryou sprach, mit dem Feuerzeug gekämpft und nun einsehen müssen, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war, den Wind zum Kampfe herauszufordern.

„Wieso nur fragen mich das heute alle?“

Stumm steckte er Zigarette und Feuerzeug zurück in Mariks Etui, dann schob er es in seine Hosentasche. Als Ryou das kleine Behältnis erblickte, veränderte sich dessen Gesichtsausdruck auf eine merkwürdige Art, die Bakura nicht zu deuten wusste.

Der Junge ist total aufgekratzt, schoss es ihm durch den Kopf, während er ihn still musterte und dann hinüber zum Horizont blickte, wo die Sonne langsam über einige Hausdächer empor stieg. Erste Sonnenstrahlen fielen auf sie, brachen sich im umliegenden Schnee und tauchten alles in ein rötliches, warmes Licht.

Es wunderte ihn, dass Ryou so unbefangen neben ihm stand, war er doch überhaupt erst dafür verantwortlich, dass er nun hier war. Während er die vergangenen Tage still und weinerlich alles über sich hatte ergehen lassen, machte er nun einen kindlichen, fast unbeschwerten Eindruck auf ihn. Vielleicht der Schlafmangel. Ryou wirkte, als sei ihm alles egal.

„Haben die Kunden dich in Ruhe gelassen?“, fragte Bakura schließlich nach einigen Minuten der Stille. Er erinnerte sich an sein Versprechen, nach dem Rechten zu sehen und daran, dass er es bereits Minuten später gebrochen hatte. Ryou schwieg, sah ihn nicht einmal direkt an, leckte sich nur kurz über die bläulich schimmernden Lippen, mied Bakuras Blick. Das war Antwort genug.

„Es ist ruhig hier oben“, begann Ryou schließlich und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Bakura ahnte bereits, dass Ryou, sobald er etwas aufgetaut war, sicherlich endlos vor sich hinplappern würde. Er hatte niemanden hier und von den Menschen, die ihm bekannt waren, kannte er Bakura noch am längsten. Ohnehin war es mit Marik und Jonouchi kaum möglich, Gespräche zu führen, die über den intellektuellen Anspruch des Wetterberichts hinausgingen.

Geschweige denn mit Yuugi.

„Bist du oft hier?“, fuhr Ryou fort und bestätigte den Verdacht des Anderen.

„Ja.“

„Wissen die anderen davon?“

Misstrauisch hob Bakura die Augenbrauen.

„Nein.“

Seine Stimme kam einem leisen Knurren gleich, perplex über die unverhohlene Neugierde seines Gesprächspartners. „Wäre auch besser, wenn das so bleibt.“

Wenn er auf eines verzichten konnte, dann darauf, sich auch noch hier oben mit Marik herumschlagen zu müssen. Oder mit Malik. Oder sonst wem.

Ryou nickte nachdenklich und tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand mehrmals lächelnd gegen den oberen Rand seiner Kapuze.

„Roger.“

Sodann schloss er für einige Sekunden die Augen, ehe er den Blick wieder auf die aufgehende Sonne richtete. Ryou benahm sich auf eine Art, die Bakura nicht verstand. Als er ihm ängstlich und weinend gegenüber gesessen hatte, war er ihm leichter zugänglich gewesen als jetzt.

„Was ist los mit dir?“, fragte Bakura schließlich und erwischte sich bei dem Gedanken, das Zigarettenetui wieder hervor zu holen.

„Ich bin bloß müde…“

Mit schlanken Fingern strich Ryou erneut Strähnen hinter die Ohren. Nur Momente später rutschten sie ihm wieder ins Gesicht. Ryou seufzte resigniert, dann legte er die Hände wieder zurück auf das Geländer. Er hatte etwas fragiles an sich, so dünn und schmal, wie er war. Dabei trug er den Gesichtsausdruck einer Person, die langsam verstand, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Bakura lächelte schwach ließ die Fingerspitzen über den gefrorenen Schnee gleiten.

„Wie lange arbeitest du schon hier?“, vernahmt er Ryous Stimme nach einer kurzen Periode des Schweigens im Hintergrund.

„Ein paar Jahre.“

Er sprach nie über solche Dinge. Es gab zu viele unangenehme Erinnerungen, die unweigerlich mit seiner Zeit hier verknüpft waren. Diese Dinge gingen niemanden etwas an.

Ryou hakte nicht nach, beließ es dabei und hing, nachdem er sich abgewandt hatte, stumm seinen eigenen Gedanken nach. Bakura hob den Kopf und betrachtete den jungen Mann, der so geistesabwesend den Sonnenaufgang anstarrte. Das Licht zauberte etwas Farbe in das bleiche Gesicht, das weiße Haar funkelte fast golden.

„Mein Gott, das ist wunderschön“, flüsterte Ryou plötzlich leise, wohl mehr an sich selbst als an Bakura gerichtet. Er positionierte die Ellenbogen auf dem Geländer und legte sein Gesicht in seine Hände.

„Kaum zu fassen, dass ich neunzehn Jahre darauf gewartet habe.“

Wieder breitete sich ein dünnes Schmunzeln auf Bakuras Gesicht aus. Man merkt, dass er jung ist, dachte er. Jung und behütet. Ryou war eines dieser Kinder, die sich nie den Kopf hatten zerbrechen müssen, wie sie die nächste Miete zahlen sollten. Oder die halbjährlichen Studiengebühren. Er war mittelständisch unbefleckt.

Schließlich bemerkte Ryou Bakuras Starren und hob den Kopf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, ehe ein erneuter Windstoß Ryou endgültig die Kapuze vom Kopf riss. Leise fluchend Band er die Haare wieder zu einem Kopf zusammen und richtete seine Kleidung. Dabei kehrte das zarte Rosa in seine Wangen zurück.

Das dunkelrote Licht der aufgehenden Sonne war, ohne, dass sie es bemerkt hätten, in ein kräftiges Orange übergegangen. Mit der Zeit ebbte der Wind ab und die letzten, verbliebenen Vögel zwitscherten tapfer gegen die betäubende Kälte an.

„Hast du keine Angst mehr?“, fragte Bakura auf einmal, nachdem sie sich über Minuten hinweg angeschwiegen hatten. Inzwischen hatte er der Versuchung nachgegeben und sich eine Zigarette angezündet. Die ganze Zeit hier zu stehen, am Geländer, und nichts zwischen den Fingern zu haben, mit dem man herumspielen konnte, hatte ihn nervös gemacht.

Ryou ließ den Blick sinken und betrachtete still den Schnee. Er wirkte unschlüssig, was er auf diese Frage antworten sollte, und rang lange mit sch selbst, ehe er den Mund öffnete.

„Doch.“ Er hob den Kopf und schenkte Bakura einen ernsten Blick.

„Die ganze Zeit.“

Ryou lächelte verschmitzt und wandte sich ab. Ihm war das Thema offensichtlich unangenehm, lag darin scheinbar der Grund für seinen heimlichen Besuch auf diesem Dach. Ryou war ein getriebener, so wie er selbst. Lagen sie im Bett, rasten ihre Gedanken, brachten sie um den Schlaf. Bakura erinnerte sich daran, in seiner Anfangszeit ähnlich gefühlt zu haben.

Wie oft er schweißgebadet aus unruhigen Träumen geschreckt war, er vermochte es nicht zu sagen.

Mit einem Mal spürte er, wie jemand nach seinem Handgelenk griff und es mit einem energischen Ruck herumdrehte. Verwundert hob er die Augenbrauen und blickte Ryou an, der mit gerunzelter Stirn auf Bakuras Hände starrte. Ein dunkelroter Blutrand befand sich unter seinen Fingernägeln. Bakura hatte alles versucht, um ihn abzuwaschen, hatte aber letztlich kapitulieren müssen. Wie bereits erwähnt, dieses Biest war zäh. Selbst im Tod krallte sie sich an ihm fest.

„Was hast du da gemacht?“, fragte Ryou atemlos. Bakura war sich nicht sicher, ob er da Argwohn oder Sorge in dessen Stimme vernahm. Beides löste widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Er solidarisiert sich mit seinem Geiselnehmer, dachte er und runzelte die Stirn.

„Ich habe den Rost von einem der Geländer abgeschliffen“, log er ruhig. „Wir müssen sie neu streichen.“

„Ach so.“

Ryou betrachtete sein Gesicht auf eine Art, die Bakura nur zu deutlich zeigte, dass Ryou ihm nicht glaubte, dass er sehr wohl wusste, was es mit diesen Spuren auf sich hatte. Er ahnte, dass sie der Grund für sein abendliches Fernbleiben darstellten und sein puppenhaftes Gesicht, dass bislang offen und freundlich gewirkt hatte, versteinerte augenblicklich. Bakura konnte regelrecht spüren, wie sich der Junge ihm gegenüber verschloss. Die Verbindung, die sie die Minuten zuvor geteilt hatten, war abgerissen.

An diesem Morgen bestand keine Gelegenheit mehr, sie noch einmal herzustellen…
 

Verunsichert trat Ryou einen Schritt zurück. Dabei ließ er das Handgelenk des groß gewachsenen Mannes los, welches er soeben noch fest umklammert gehalten hatte. Mit einem Mal war in ihm ein Sturm widersprüchlicher Gefühle ausgebrochen. Er hatte sich fast wohl gefühlt, hier oben, auf dem Dach, in stiller Abgeschiedenheit. Die Gedanken, die sie miteinander ausgetauscht hatten, die stille Übereinkunft, einander hier oben zu dulden. Und jetzt… so etwas. Still hob er den Kopf, ließ den Blick ein letztes Mal über Bakuras Finger gleiten. Sofort zog sich alles in ihm zusammen. Diese blutroten Ränder. Sein ominöses Verschwinden, obschon er ihm versprochen hatte, ein Auge auf ihn zu haben.

„Hier draußen gibt es keine Treppengeländer“, flüsterte Ryou tonlos und holte tief Luft. Sein Puls beschleunigte sich. Still griff er sich an die Kehle, fühlte eine Woge kalter Angst in ihm aufsteigen. Schließlich wandte er sich ab, hob den Kopf gen Himmel, während seine Finger krampfhaft das Geländer umklammerten. Keine Wolke war dort oben zu sehen, nur strahlendes, eiskaltes blau.

Bakura antwortete nicht und Ryou war nicht mehr danach, das Gespräch zu suchen. Die positiven Emotionen, die er in den vergangenen Minuten durchlebt hatte, hatten sich binnen kürzester Zeit in Luft aufgelöst. Die subtile Sympathie, die er Bakura entgegen gebracht hatte, war verschwunden und hatte jener grenzenlosen, instinktgesteuerten Angst Platz gemacht, die ihm im Lagerraum zum ersten Mal ergriffen hatte.

Niemand von ihnen sprach ein Wort. So verharrten sie einige Minuten, bis Bakura, der derweil zu Ende geraucht hatte, den Zigarettenstummel von sich fort schnippte, und die Hände in die Hosentaschen schob. Während dieser Zeit hatte er Ryou den ein oder anderen Blick geschenkt, unfähig, etwas zu sagen, was die Situation entkrampfen würde.

Schließlich gab er auf, wandte sich ab und verließ das Dach. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Ryou erschöpft auf. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten. Es war zu spät. Viel zu spät. Seine Nerven lagen blank und die Müdigkeit tat ihr übriges. Er musste ins Bett, jetzt.

Aufgewühlt und übermüdet umklammerte er das Geländer, beugte sich vor und legte das Gesicht stumm auf den verschränkten Armen ab. Ein, zwei Minuten nur wollte er hier oben noch allein sein. Wollte er verdauen, was er gerade erfahren hatte. Auch, wenn sich dieser Mann ihm gegenüber fast freundlich verhielt, so war er doch nichts weiter als ein-

„Mörder“, flüsterte Ryou leise und schloss die Augen. Er nahm einen tiefen Atemzug, richtete sich auf und verließ mit schnellen Schritten das Dach, wissend, dass er auch jetzt keinen Schlaf finden würde. Heute war einfach nicht sein Tag.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  -Entchen
2014-05-16T17:39:17+00:00 16.05.2014 19:39
Das ist ein wirklich schönes Kapitel! Ich glaube mein liebstes bisher ♡
Von:  Arya-Gendry
2014-05-08T19:11:19+00:00 08.05.2014 21:11
Hi^^
Cool ein neues Kapitel. Was auch wieder sehr gut ist. Sind wohl so aus als hätte Ryou Gefühl für Bakura nur das er sie nicht war haben will. Und Bakura ist nun mal ein Verbrecher und ich denke nicht das ich das so schnell ändere wird. ;)

Bin schon auf das Nächsten Kapitel gespannt. ;)
Antwort von:  MadameFleurie
08.05.2014 21:13
Huhu! Ich hatte dich schon erwartet ;D Wie immer vielen Dank für den Kommentar! Du bist jetzt schon echt lange dabei :3
Von:  Sternenschwester
2014-05-08T09:20:59+00:00 08.05.2014 11:20
Es ist und bleibt eine starke FF und ich freue mich immer wieder wenn du weiter machst. Du schaffst es sehr gut weiterhin die Charaktere meines Erachtens IC bei diesem eher finsteren Thema zu behalten und ihr Innerstes weiterhin dreidimensional darzustellen. Dafür mal Respekt.
Besonderes beim letzten Kapitel hat mir das Gespräch zwischen Bakura und Ryou gefallen, vor allem ihre Gedanken dazu.
lg, Sternenschwester
Antwort von:  MadameFleurie
08.05.2014 11:27
Liebe Sternenschwester - vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich freu mich total : ] Gerade, wenn man so tolle Rückmeldungen bekommt, ist man total motiviert, direkt weiter zu schreiben. Danke dafür ♡


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