Eine Begegnung von Bedeutung. Teil 2.
„I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand
Could these sensations make me feel the pleasures of a normal man?
New sensations bear the innocence, leave them for another day
I've got the spirit, lose the feeling, take the shock away
[…]
What means to you, what means to me and we will meet again
I'm watching you, I watch it all, I take no pity from your friends
Who is right, who can tell and who gives a damn right now?
Until' the spirit, new sensation takes hold, then you know“
Joy Division - Disorder
Ryou erwachte lautlos, lediglich das sanfte Auf und Ab seines Atems schenkte einen sanften, wogenden Rahmen leisen Geräuschs. Blinzelnd schlug er seine Augen auf, die so schwer waren, dass er alle Anstrengung aufwenden musste, um sie überhaupt offen zu halten. Was für ein merkwürdiges Erwachen – hatte er überhaupt geschlafen?
Ohne sich zu regen blickte er sich um. Er befand sich in sein Zimmer, ja – aber er lag nicht in seinem Bett, wie es sonst immer der Fall war. Noch ganz benommen nahm er einen tiefen Atemzug und hob den Kopf sachte einige Zentimeter an. Langsam, während sich seine Gedanken stückweise aufklarten, keimte in ihm eine leise, stille Verwunderung. Es schien ihm unerklärlich, dass er hier unten auf dem Boden erwachte und nicht dick zugedeckt in seinem großen, weichen Bett. Normalerweise hätte er jetzt den Wecker pausiert und sich noch einmal für einige kostbare Minuten auf die andere Seite gerollt.
Er saß noch immer in der gleichen Ecke, in der er sich nur Stunden zuvor verdreckt und vor Angst zitternd zusammengekauert hatte. Es schien, als sei er buchstäblich zur Salzsäule erstarrt – Ryou verharrte immer noch in der gleichen Pose wie in der Nacht zuvor, die Beine fest an den Oberkörper gepresst, den Kopf auf den Knien abgelegt. Die dünnen, kalkweißen Arme, die er um seine Beine geschlungen hatte, waren an den Unterschenkeln entlang hinuntergerutscht und lagen nun wie Fremdkörper aus Porzellan neben ihm, mit ihm verbunden, aber regungslos und ohne Gefühl.
Erneut versuchte er, seinen Kopf einige Zentimeter anzuheben und stöhnte leise, als ein heftiger, stechender Schmerz durch seinen Oberkörper fuhr. Augenblicklich hielt er inne. Sein Nacken war ganz steif und unbeweglich geworden in der unbequemen Haltung, die er stundenlang durchgehalten hatte. Als Ryou seinen Kopf sachte etwas nach links drehen wollte, hielt er leise stöhnend immer wieder inne. Schließlich gab er auf. Das würde nicht einmal mehr eine heiße Dusche richten können, so viel stand fest.
Wenn Tage schon derartig unangenehm begannen, konnte es nur noch bergab gehen.
Vorsichtig setzte Ryou sich auf, zog die Arme zurück an seinen Körper und ballte die ausgekühlten Finger immer wieder behutsam zur Faust, während er verschlafen an sich herunterblickte und einige Momente benötigte, um sich daran zu erinnern, was in der vorigen Nacht geschehen war. Was ihn dazu veranlasst hatte, auf diesem unbequemen Holzboden zu nächtigen.
Als die Erinnerungen aufstiegen, in blassen, abgehackten Bildern, keuchte er deutlich vernehmbar auf, fuhr sich mit den Fingern seiner linken Hand durch das zerzauste, weiße Haar, und vergrub sie darin, ehe er innehielt und still verharrte. Die Panik, die er gestern nach einer schieren Ewigkeit verdrängen konnte, schoss mit einem Schlag zurück in seine Venen, der Puls begann zu rasen. Angsterfüllt fasste Ryou sich an den Hals und schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft, fest davon überzeugt, jeden Moment zu ersticken. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, die Bilder vor seinen Augen verwandelten sich in farblose, konturenarme Schatten.
So blieb er sitzen, für einige Minuten, ehe die Panik abflaute und er sich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Was nur so kurz angedauert hatte, schien ihm endlos anzuhalten.
„Es war kein schlechter Traum“, flüsterte er atemlos, während stumm zwei einsame Tränen über seine leicht geröteten Wangen rannen. „Es war kein schlechter Traum. Es war kein schlechter Traum.“
Immer wieder drangen die Wörter über seine Lippen, geformt von einer zarten, zerbrechlich dünnen Stimme. Das konnte alles nicht wirklich passiert sein. Nein. Nicht ihm. Ihm passierte so etwas nicht. Anderen vielleicht, aber nicht ihm.
Mit einem Schlag durchdrang brennende Übelkeit seine Magengegend. Apathisch presste Ryou die flache Hand darauf, tötete den Schmerz und mit ihm die aufsteigenden Tränen. Mit zusammengepressten Lippen schob er die Decke von sich fort. Wenn er hier sitzen blieb und darüber nachdachte, verlor er den Verstand. Es hatte keinen Zweck, er musste irgendetwas tun.
Es brauchte einige Sekunden, bis er sich vollends aufgerappelt hatte, und es kostete ihn einiges, sich auf den Beinen zu halten. Tapsig machte er einige Schritte durch den Raum, dann verharrte er in der Bewegung. Mit der Angst, die allmählich auf einen erträglichen Pegel abzusinken schien, entfaltete der Schmerz der Verletzungen, die er sich letzte Nacht zugezogen hatte, erst sein volles Ausmaß. Leise schnaubend verschränkte Ryou die Arme vor der Brust, als könne er so die Seele von seinem Körper abtrennen. Dann, langsam und schleppend, schlurfte er Richtung Bad. Dabei ließ er den Blick immer wieder durch sein kleines, dunkles Zimmer gleiten.
Es kam ihm merkwürdig unwirklich vor, fast so, als hätte er niemals dort gewohnt, geschlafen, gelernt und auf eine bessere Zukunft gehofft. Ein schmales Bett stand neben der Tür, das Kopfkissen unberührt, die Decke jedoch fehlend. Sie lag zerknittert hinter ihm auf dem Boden. Daran angrenzend fand sich ein hölzerner Schreibtisch, auf dem Bücher und Hefte verstreut lagen. Ryou ließ den Blick kurz an den alten Schulsachen hängen und legte den Kopf ein wenig schief, den aufkeimenden Schmerz bewusst ignorierend. Gehörten diese Dinge wirklich ihm? Das alles schien einem Leben anzugehören, dass er einmal vor unglaublich langer Zeit gelebt hatte. Dass er sich just gestern zum letzten Mal damit beschäftigt hatte, unvorstellbar.
Einige der weißen Strähnen fielen ihm in die Stirn und rissen ihn aus seinen Gedanken. Unwirsch wischte er sie zur Seite, humpelte aus dem Zimmer, und zog die Tür hinter sich zu.
Sie hatten ein großes Bad, mit weitläufigen, hoch angebrachten Fenstern, die direkt der Sonnenseite zugewandt waren. An der linken, längeren Wand, befanden sich zwei zusammenhängende Waschbecken. Platz, den sie früher einmal gebraucht hatten, der nun jedoch überflüssig war, da Ryou die meiste Zeit hier allein verbrachte. Man konnte genau sehen, welche Seite ihm gehörte. Die andere wirkte verwaist und leer. Ein Zahnputzbecher ohne Zahnbürste. Hygieneartikel in Probiergrößen. Unpersönlich und leer, wie in einem Hotel. Das portionierte Leben eines Vaters, der nicht einmal eine zweite Zahnbürste hatte, obschon er sich ständig auf Dienstreisen befand.
Angrenzend daran befand sich ein großer, die gesamte Wand einnehmender Spiegel, der das Zimmer viel größer erscheinen ließ, als es das in Wirklichkeit war. Ryou warf nur einen flüchtigen Blick hinein, als er das Bad betrat, und erschrak heftig.
Beherrscht schloss er, so leise es ging, die Tür hinter sich, trat in die Mitte des Raumes und betrachtete sich still. Im Spiegel stand ein junger, verstört wirkender, Mann, der ihn aus blutunterlaufenen Augen, groß, wie die eines Rehs, anstarrte. Die langen, weißen Haare fielen ihm ins Gesicht. Manche Hautpartien wiesen schorfige, rostrote Verkrustungen auf. Das linke Auge war angeschwollen und glühte rötlich – es war jene Stelle, mit der er auf den Boden aufgeschlagen war, just nachdem der Unbekannte ihm die Beine weggezogen hatte. Er trug immer noch die gleiche Kleidung, wie in der Nacht zuvor. Nicht einmal die Winterjacke und den Schal hatte er ausgezogen.
Ganz langsam wanderte sein Blick von seinem Gesicht hinab zum Oberkörper. Ryou musste schlucken. Am liebsten wäre er vor sich selbst davongelaufen. Auf dem grünen Segeltuchstoff seiner Jacke leuchteten dunkelrote, verhärtete Flecken. Da waren kleine, unscheinbare Sprenkel, und ein großer, verwischter Abdruck direkt an seiner Brust.
Einige Sekunden lang betrachtete er regungslos sein Spiegelbild, dann begann er, mit ungeahnter Heftigkeit, die Kleidungsstücke von seinem Leib zu zerren. Schicht für Schicht riss er herunter, warf alles zu Boden, bis er sich letztendlich nackt gegenüberstand. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so besudelt und schmutzig gefühlt.
Er erhaschte einen kurzen Blick auf seinen nackten Oberkörper und ließ beschämt den Kopf sinken.
An seinem Hals befanden sich dunkelrote Striemen. An ein paar Punkten schimmerten sie leuchtend rot. Vorsichtig streckte Ryou die Finger aus und tastete nach ihnen, machte ein paar Schritte auf den Spiegel zu und betrachtete sich ausgiebig, immer wieder leise, fast kläglich, stöhnend.
Oh nein, flüsterte es in ihm, wie aus weiter Ferne. Oh nein. Oh verdammt, was hast du mit mir gemacht...
An seinen Oberarmen befanden sich ebenfalls Prellungen, die in ihrem zarten Rosa aber weit hinter den Blessuren am Hals zurückblieben. Als er seine Hände näher betrachtete, fand er auch dort feine, dunkelrote Blutspritzer. Entsetzt wich er ein Stück zurück. In ihm rumorte es. Hitze und Kälte rollten mal abwechselnd, mal gleichzeitig über ihn hinweg. Wieder trat dünner, kalter Schweiß auf seine Stirn, während aufsteigende Übelkeit ihm die Kehle zuschnürte.
Dann, wie vom Blitz getroffen, hechtete er zur Toilette, klappte den Deckel hoch, sank auf die Knie und übergab sich mehrfach und heftig, zuckend von den heftigen Kontraktionen, die ihn immer wieder durchfuhren. Seine Augen begannen zu tränen.
Wenige Minuten später sank er vollkommen erschöpft in sich zusammen. Die Stirn lehnte er zaghaft gegen den hölzernen Toilettensitz, während er, benommen und zittrig, nach Atem rang. Wieso nur war das alles ausgerechnet ihm passiert?
Er wollte nicht. Er wollte dieses Schicksal nicht, und er wollte nicht Zeuge des Todes einer Person sein, die er nicht kannte, und die trotzdem vor seinen Augen ausblutete, wie ein schlecht geschlachtetes Tier. Er konnte ihn regelrecht fühlen, diesen Schmutz auf seiner Haut, wie er überall an seinem Körper anhaftete. Selbst der Geruch des Blutes klebte ihm noch in der Nase, süß und metallisch. Nur bei dem Gedanken daran stieg die Übelkeit wieder in ihm auf.
Laut prasselnd knallte der Strahl der Dusche auf den gefliesten Badezimmerboden. Ryou drehte die Temperatur so hoch, wie er sie nur eben noch ertragen konnte. Dann kauerte er sich auf den kleinen Schemel, der an die Wand gelehnt auf seine nächste Nutzung gewartet hatte. Wenn er diesen Dreck jetzt nicht los wurde, würde er ihn wohl für immer mit sich herumtragen müssen. Es war, als klebten Teile dieses furchtbaren Leichnams an ihm, als wolle ihn der Tote stets daran erinnern, unter welchen unwürdigen Bedingungen er umgekommen war.
Fahrig griff Ryou nach dem kleinen Schwamm, der in einer Nische immer bereit lag, und benetzte ihn mit so viel Duschgel, wie er in einem Rutsch aus der Tube pressen konnte. Anschließend begann er, seinen Körper systematisch abzuschrubben. Er startete bei den Füßen und arbeitete sich stückweise zum Hals hoch. Von einer Stelle ließ er erst ab, wenn sie so brannte, dass er sie unmöglich weiter abschrubben konnte. Dabei biss er sich auf die Unterlippe, die irgendwann so taub war, dass er sie kaum noch als solche bemerkte. Seine Haare und das Gesicht wusch er fünf Mal. Danach blieb er noch eine Weile unter dem Wasserstrahl des Duschkopfs sitzen, die leere Shampoopackung fest umklammert.
Schließlich, als das Brennen seiner Haut nachgelassen hatte, stellte er die Dusche ab und richtete sich auf. Dann beugte er sich über die Badewanne, in der aufgeheiztes Wasser immer bereit stand, und glitt hinein. Früher hatte er immer nach der Schule gebadet. Irgendwie hatte ihn das ganze immer beruhigt, hatte ihn die soziale Kälte und die blöden Sprüche vergessen lassen, so, dass er sich mit den Hausaufgaben befassen konnte, und seine Gedanken nicht stets auf jene Dinge gerichtet hielt, die ihn tief im Innersten belasteten.
Hatte diese Taktik sonst immer funktioniert, war er da heute nicht ganz so zuversichtlich.
Regungslos verharrte er im Wasser, die haselnussbraunen Augen lethargisch ins Nichts gerichtet, physisch anwesend, innerlich weit entrückt. Immer, wenn ihm das Wasser subjektiv zu kalt erschien, drehte er den Regler des Thermostats ein paar Grad weiter nach oben. So verblieb er, einer Puppe gleich, stumm und starr. Immer wieder zuckten Bilder des Geschehens in ihm auf, so, wie ein Blitz am Himmel für kurze Zeit die schwarze Nacht erleuchtete, ehe alles wieder in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt wurde. Wenn es geschah, schloss er die Augen und betete, dass es vorbei ging.
Wie gerne hätte er sich einfach vollends ins Becken gleiten lassen, tief eingeatmet und gewartet, bis alles vorüber war. Er hatte einst gelesen, dass es nicht mehr brannte, wenn sich die Lungen erst vollends mit Wasser gefüllt hatten, aber wer wusste das schon so genau. Ohnehin fehlte ihm für solche Dinge der Mut. Da konnte er sich nun so ausgelaugt und schuldig fühlen, wie er wollte. Das änderte nichts. In seinem Kern war und blieb er ein widerlicher kleiner Feigling.
Erst, als seine Finger aussahen wie alte Rosinen, verließ er das Wasser. Obschon er sauber hineingestiegen war, zog er den Stöpsel und betrachtete regungslos, wie die Flüssigkeit in einem kleinen, zirkulierenden Strudel verschwand. Er würde die Wanne schrubben müssen, schoss es ihm durch den Kopf. Die Wanne und die Dusche. Und den gefliesten Boden. Was eben noch an ihm geklebt hatte, klebte nun im ganzen Badezimmer. Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen. Stattdessen stand er verloren wirkend in der Mitte des Raumes, ein weißes, flauschiges Handtuch in der Hand. Er hatte es gestern Nachmittag erst aus dem Trockner geholt. Die Feuchtigkeit des vorangegangenen Bades rann stumm an seinen Beinen hinab, bildete eine farblose, klare Lache um ihn herum.
Als er sein Gegenüber im Spiegel erblickte, und er konnte beim besten Willen nicht sagen, warum, füllten sich seine Augen mit Tränen. Rüde, als wolle er, was gerade geschah, nicht wahrhaben, wischte er sie mit dem linken Unterarm fort, wickelte das Handtuch hastig um seine Hüfte und eilte zurück in sein Zimmer, ohne sich selbst eines weiteren Blickes zu würdigen.
~*~
Stumm lag Ryou auf seinem Bett. Die gesteppte Decke hatte er bis zum Kinn hochgezogen. Darunter trug er noch die Kleidung des letzten Tages, ein hellblaues Paar Jeans und ein weißes Hemd, dass inzwischen formlos und verknittert war.
Das Wochenende war an ihm vorüber gezogen, ohne, dass er sich wirklich erinnern konnte, womit er seine Zeit verbracht hatte. Die Stunden und Minuten hatte er mechanisch durchlebt, mit den Gedanken in Sphären fernab jeder greifbaren Realität.
Für einige Sekunden hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinen Vater anzurufen, und ihm von der ganzen Misere zu erzählen, in der er sich jetzt befand. Aber was hätte das schon genützt? Sein Vater war niemand, der wegen derartiger Dinge ins Flugzeug stieg und nach Hause kam. Er hatte Ryou immer für seine Selbstständigkeit und Reife gelobt. Was sollte er denken, wenn Ryou jetzt anrief? Er wollte ihn nicht damit belästigen – sein Vater hatte in seinem Leben schon viel zu viel durchmachen müssen. Und ändern konnte er ohnehin nichts.
Ryous Augen starrten trübe aus dem Fenster, und folgten den winzigen Flocken, die vom himmelweiten Nichts der Wolken hinab auf die Erde tanzten. Während der vergangenen Tage hatte es immer wieder zu schneien begonnen, und ein Blick aus dem Fenster enthüllte ein Meer aus weiß gepuderten Dächern. Kinderlachen drang von außen durch die geschlossenen Fenster hinein. Vermutlich baute man draußen Schneemänner und lieferte sich die ersten Schneeballschlachten des Jahres. Ob sie noch lachen würden, wenn sie wüssten, was Freitagnacht im Park geschehen war?
Eigentlich müsste er sich bei der Polizei melden. Wahrscheinlich suchte sie bereits nach Zeugen, Menschen wie ihm, die etwas gesehen hatten, und bei der Aufklärung dieser widerlichen Tat behilflich sein konnten. Ryou war sich darüber im Klaren, dass es seine Pflicht war, aber er fühlte sich zum aktuellen Zeitpunkt weder physisch noch psychisch dazu in der Lage, diese Geschichte zu erzählen, immer wieder, und wieder, und wieder, und wieder.
Momentan gab es nichts, was er mehr wollte, als den Wolken beim vorüberziehen zuzuschauen und an nichts weiter zu denken als an die zarten weißen Schneeflocken, die unschuldig vom Himmel herabfielen, unwissend, dass sie hier unten der sichere Tod erwartete.
Er hatte niemanden angerufen. Weder die Polizei, noch seinen Vater, noch sonst wen. Die Gesellschaft von Menschen würde ihn jetzt in den sicheren Wahnsinn treiben. Diese schlampig versteckte Teilnahmslosigkeit, das geheuchelte Mitgefühl, als das waren Dinge, die er jetzt unmöglich ertragen konnte. Ohnehin waren sie bis auf ihn alle zum Studieren fortgegangen. Es gab niemanden, den er anrufen konnte, selbst, wenn er gewollt hätte.
Sie waren alle gegangen, und alle hatten sie ihn vergessen.
Sein Magen knurrte leise. Müde rieb er sich über den Bauch, machte aber keine Anstalten, etwas dagegen zu unternehmen. Seine Kleidung, die er am frühen Samstagmorgen voller Wut auf den Boden des Badezimmers geworfen hatte, hatte er wenig später in den großen Mülleimer in der Küche gestopft, kurz nachdem er damit fertig wurde, das Badezimmer bis zur Erschöpfung zu putzen. Nun war der Mülleimer voll bis zum Rand und Ryou traute sich nicht länger zurück in die Küche. Allein das Blut am Ärmel der Winterjacke, der noch aus dem Eimer heraus lugte, reichte aus, um ihn an die Präsenz dieses unheimlichen, weißhaarigen Mannes zu erinnern. Sobald Ryou den Mülleimer betrachtete, verschwand sein Appetit und er begann, schneller zu atmen und unkontrolliert zu zittern.
Das alles war nicht mehr als ein Albtraum, aus dem er nicht mehr erwachen konnte.
Ryou seufzte leise und schloss die Augen. Zeitweise war es ihm, als habe man sein Herz in einen Schraubstock gespannt. Hin und wieder bequemte sich jemand und erhöhte die Spannung, und schmerzhafter Druck durchströmte Herz und Brust.
Still zog er die Beine an den Oberkörper, die Decke mit einem nahezu lautlosen Schnaufen über das zerzauste Haar. Vielleicht würde er ja wieder einschlafen, wenn er es nur hartnäckig versuchte. Wenn er schlief, kamen die Gedanken in seinem Kopf endlich zum Stehen. Das Einzige, was von seinen Träumen blieb, war der kalte Schweiß an seinem Körper, jeden Morgen, wenn er erwachte. Dann duschte er sich ab, und die Zeit der traumlosen Ruhe war vorüber.
Es klingelte an der Haustür.
Überrascht hob Ryou den Kopf einige Zentimeter und spähte durch den schmalen Spalt zwischen Decke und Matratze an den Kalender, der an der gegenüberliegenden Wand über seinem Schreibtisch hing. Montag, 8. November 1993. Ryous Augen wanderten an der mit hellblauer Tapete bezogenen Wand einige Zentimeter nach unten, bis sie an der hölzernen Tischplatte hängen blieben, auf der eine große, antike Uhr stand, die sein Vater vor Jahren einmal aus Europa mitgebracht hatte. Es war kurz vor acht am Morgen.
Stumm verharrte Ryou einige Sekunden, unschlüssig, wie er mit der Situation umgehen sollte. Dann schlug er die baumwollene Steppdecke zurück und setzte sich auf, ließ die Schultern hängen und fuhr sich mit den schlanken, langen Fingern durch das feine, weiße Haar. Der Zeitungsjunge, flüsterte die Stimme seiner Gedanken leise. Er kam jeden Morgen um diese Zeit, klingelte, damit Ryou die Zeitung persönlich entgegen nehmen konnte. Sie handhabten dies bereits seit einigen Jahren auf diese Weise, nachdem ein unbekannter Scherzkeks damit begonnen hatte, die Morgenausgabe der „Domino Daily“ in stiller Regelmäßigkeit aus Ryous Briefkasten zu klauen. Ryou hatte nie erfahren, wer sich diese Dreistigkeit erlaubt hatte – genau genommen wollte er es auch gar nicht wissen. Ihm war bewusst, dass ihn die blanke Wahrheit nur weiter resignieren lassen würde.
Ein wenig schmerzfreier als am Morgen des vergangenen Samstages, kämpfte Ryou sich aus dem Bett und schlich, vor lauter Müdigkeit noch etwas instabil auf den Beinen, die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, dann in die Diele. An dem Beistelltischchen für das Telefon stieß er sich den großen Zeh. Zischend zog er die Luft durch die Zähne, dann schossen ihm Tränen in die Augen. Was für ein wunderbarer Start in den Tag.
„Blöder Mist“, fluchte er, zog das Knie an den Oberkörper und sprang kurz auf der Stelle. Warum nur konnte ein so kleines Körperteil solche miesen Schmerzen verursachen? Der Tisch stand seit mehr als zehn Jahren an der gleichen Stelle, wie kam es bloß, dass er ausgerechnet heute derart ungeschickt war?
Als der Schmerz abklang, setzte Ryou vorsichtig den Fuß zurück auf den Boden, und humpelte an dem kleinen Tischchen vorbei. Irgendetwas musste sich gegen ihn verschworen haben, da war er sich ganz sicher.
Schließlich erreichte er die Haustür. Scheu spähte er durch den Spion, den man einst in das dunkelbraune, durchsichtig lackierte Holz eingelassen hatte. Da war niemand. Ryou runzelte die Stirn und presste sein Auge etwas dichter gegen das linsenartige Glas. Vermutlich hatte der Zeitungsjunge schon das Weite gesucht, nachdem Ryou ungefähr das Dreifache der üblichen Zeit in Anspruch genommen hatte, um ihm die Tür zu öffnen.
Der Tag schien nicht sonderlich vielversprechender zu werden als die Tage zuvor. Vielleicht sollte er die Chance nutzen und heute zur Polizei gehen, dann hätte er alle unangenehmen Geschehnisse auf einen Tag gebündelt. Nächste Woche würden die Brückenkurse für die universitären Aufnahmeprüfungen beginnen, doch schon heute Nachmittag fand ein verbindlicher, einführender Termin statt, den Ryou schon seit Tagen mit Argwohn betrachtet hatte. Es war, als würde man ihn in die Schule zurückschicken. In eine Schule voller Versager, die sich nur mit ihm abgeben würden, um seine Hausaufgaben zu ergattern.
Ihm schauderte beim bloßen Gedanken daran.
Vorsichtig tastete Ryou nach dem Haustürschlüssel, den er gestern beim Aufräumen zurück ans Schlüsselbrett gehangen hatte. Ein Blick in die Zeitung würde nicht schaden – sicherlich hatten sie über das Unglück im Park unlängst einige Artikel veröffentlicht. Vielleicht konnte er daraus entnehmen, ob seine Aussage überhaupt noch benötigt wurde.
Langsam schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Klackend sprang der Riegel auf.
Vielleicht fand er Informationen über das Opfer. Oder den Täter. Über die äußeren Umstände. Er konnte sich nicht erklären, woher dieses innere Bedürfnis kam, mehr über das alles zu wissen. Hoffte er auf inneren Frieden? Auf Absolution? Und wenn ja, wofür? Nicht er war der Mörder.
Ryou schloss die Hände um den kalten Metallgriff und drückte ihn hinab. Dann zog er die Tür einen Spalt auf.
Noch ehe er reagieren konnte, flog ihm das braune Holz kraftvoll entgegen, als hätte man auf der anderen Seite nur darauf gewartet, dass Ryou die Tür öffnete. Vor lauter Schreck entwich ihm ein atemloses, hohes Keuchen, dann wandte er sich um, um Abstand zwischen sich selbst und dem Eindringling zu schaffen. Er kam nicht weit.
Bevor er sich umdrehen konnte, drückte ihm der Angreifer die Hand auf den Mund, packte seinen Arm und presste ihn mit dem Oberkörper gegen die anliegende Wand. Das alles geschah so schnell, dass Ryou kaum begreifen konnte, was hier vor sich ging. Laut knallend fiel die Tür zurück ins Schloss.
Mit großen, weit aufgerissenen Augen starrte Ryou gegen die Wand. Er konnte das Blut in seinen Adern rauschen hören, sein Herz trommelte laut dröhnend in seinem Kopf. Verängstigt ließ er den Kopf hängen und presste die Stirn gegen die die spröde, cremeweiße Tapete.
„Zu schade, dass du deine Mütze im Park verloren hast, nicht wahr?“, flüsterte ihm eine weiche, markante Männerstimme ins Ohr. Ryou erkannte sie augenblicklich. Schreckensstarr spürte er den sanften Hauch eines fremden Atems in seinem Nacken. Hinter ihm ertönte ein Lachen, kurz und leise, voller Boshaftigkeit.
„Allerdings hast du mir damit einige Unannehmlichkeiten erspart. Ich muss mich wohl bei dir bedanken, schätze ich.“
Ein hartes Keuchen kam über Ryous Lippen. Tatsächlich. Die Mütze war nicht unter jenen Dingen gewesen, die Ryou am Samstag weggeworfen hatte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie fehlte, geschweige denn, dass er sie an dem besagten Abend getragen hatte. Es musste diesem Mann ein leichtes gewesen sein, anhand des kleinen Einnähers, auf dem sein Name stand, seinen Wohnort herauszufinden. So viele Menschen mit seinem Namen und identischer Schreibweise würde es in Domino nicht geben. Wahrscheinlich hatte ein kurzer Blick ins Telefonbuch genügt, und er hatte alle Informationen gehabt, die er brauchte. Ryou hatte die ganze Zeit freiwillig in seiner eigenen Mäusefalle gesehen. Fassungslos wurde ihm klar, was für ein leichtes Opfer er abgegeben hatte.
Voller Verzweiflung stemmte Ryou die freie Hand gegen die Wand und versuchte, sich mit aller Kraft aus dem Griff des Mannes zu befreien. Die Reaktion darauf war schlicht und effizient. Man presste ihm den rechten Arm auf den Rücken und drückte ihn mit einem Ruck nach oben. Es fühlte sich an, als würde man ihn jeden Moment in zwei Teile brechen. Ein spitzer, strahlender Schmerz schoss vom Ellenbogen in jeden Winkel seines fragilen Körpers. Ryous Widerstand erstarb augenblicklich, ein hoher Schmerzensschrei verließ seine Kehle, doch die Hand, die man immer noch fest auf seinen Mund gepresst hielt, erstickte diesen im Keim.
Hinter ihm gluckste der Fremde amüsiert.
„Mach‘ dir keine Mühe“, flüsterte er genussvoll, und Ryou bemerkte, dass ihm der andere so nah war, dass er die Wärme des fremden Körpers spüren konnte. Angewidert wandte er den Kopf ab. Der Andere schnaubte amüsiert.
„Es ist besser für dich, wenn du dich nicht wehrst. Damit ersparst du uns beiden einiges an Ärger, hörst du?“
Etwas eiskaltes legte sich um eines von Ryous Handgelenken und rastete laut klickend ein. Dann bemerkte er auch am anderen diese metallische Kälte. Handschellen. Ryou spürte, wie das aufputschende Adrenalin allmählich einer ängstlichen Resignation wich. Dieser Mann schien ihm haushoch überlegen, nicht nur rein körperlich. Die stille Professionalität, die er ausstrahlte, schüchterte Ryou ein und verstärkte seine Angst um ein Vielfaches.
Langsam vergrub der Andere eine Hand in Ryous Haaren, dann, ehe er reagieren konnte, knallte er mit der Stirn gegen die Wand. In seinen Ohren krachte es.
Einen Moment lang wurde es ganz still und schwarz um ihn herum. Dann, als sich das Sichtfeld wieder aufzuklaren begann, explodierte der Schmerz in seinem Schädel, als hätte man eine Bombe direkt vor seiner Stirn gezündet. Alles, was er noch an Kraft und Gefühl in seinen Gliedern verblieben war, schwand augenblicklich, bunte Sterne tanzten vor seinem geistigen Auge. Endlich ließ man ihn los.
Ryou stolperte einige Schritte zurück, versuchte zunächst schwankend, sich auf den Beinen zu halten, ehe seine Knie einknickten und er, ohne es tatsächlich wahrzunehmen, auf den dunkelroten, dicken Teppichboden des Flurs sank. Benommen wanderten seine Pupillen auf und ab, starrten gegen die dunklen Holzdielen an der Decke, doch er sah sie nicht wirklich. Schließlich nahm er verschwommen wahr, wie sich der Eindringling langsam und schemenhaft über ihn beugte. Mühevoll blinzelnd fokussierte er den sich bewegenden Schatten und versuchte angestrengt, scharf zu stellen, was er sah. Langsam, ganz allmählich, nahmen die Formen und Farben um ihn herum Gestalt an.
Der Mann mit den weißen Haaren kniete neben ihm auf dem Boden. Ryou bemerkte, dass er die gleiche Kleidung trug wie am vergangenen Freitag, nur war sie dieses Mal nicht in Blut getränkt. Dunkle Hosen, ein weißes, frisch gestärktes Hemd.
Ryou konnte den Veilchenduft des Waschmittels noch riechen. Die Ärmel hatte er wieder pragmatisch nach oben gekrempelt, und entblößte somit zwei sehnige, schlanke Unterarme.
Konzentriert, fast mitfühlend wanderten die dunkelbraunen Augen über Ryous Gesicht. Dieser erkannte ihn kaum wieder, so gepflegt wirkte er. In dem schmalen, spitz zulaufenden Gesicht spannte sich die weiße, glatt rasierte Haut. Vereinzelte Strähnen dichten Haars fielen ihm in die Stirn. Er wirkte nicht mehr wütend, wie an dem Abend, an dem sie sich das erste Mal trafen, viel mehr wirkte er unglaublich ruhig und kontrolliert. Ryou erwiderte den Blick ohne das Gesicht zu verziehen und spürte, wie die Angst Stück für Stück aus ihm wich. Dann, ganz plötzlich, war nur noch Ruhe.
„Was willst du von mir?“, flüsterte Ryou mit seiner weichen, für einen Mann ungewöhnlich hohen Stimme und musste blinzeln, als der Schmerz in seiner Stirn erneut aufzulodern begann. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. In seinen Ohren klang das rasselnde Heben und Senken des eigenen Brustkorbes.
Kaum, dass Ryou den Satz beendet hatte, trat ein dünnes Schmunzeln auf die Lippen seines Gegenübers. Er wandte sich von Ryou ab und starrte in die Ferne, als müsse er sich angestrengt daran erinnern, was er hier eigentlich vorgehabt hatte. Schließlich sah er ihn wieder an, und in seinem Blick lag etwas spöttisches.
„Ganz ruhig“, wisperte er, als wolle er ihn tadeln. Seine Augen blitzten, aufmerksam und wach, brennend vor Gier auf das, was jetzt kommen würde.
„Wir machen einen kleinen Ausflug, du und ich.“
Das Schmunzeln auf seinen Lippen wurde breiter.
„Ich denke, es wird dir gefallen.“
Sichtlich amüsiert beugte er sich ein Stück tiefer über Ryou und drückte ihm etwas klebriges, breites Auf die Lippen. Kraftlos versuchte Ryou, den Kopf abzuwenden, doch der Andere hielt ihn hartnäckig mit der freien Hand am Boden. Schließlich blitzten weiße Punkte an der von der winterlichen Morgensonne erleuchteten Dielendecke. Wie Löcher, die man in einen laufenden Farbfilm brennt, wurden sie kontinuierlich größer.
Ryou blinzelte noch einmal. Und noch einmal.
Dann verlor er das Bewusstsein.