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Ein zweites Leben

von

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Rose oder Distel?

Madame de Soisson erwartete sie alle am festlich, aber bescheiden gedeckten Tisch. Sie gratulierte dem frisch vermähltem Paar bei der Ankunft von ganzem Herzen und führte sie auf die Ehrenplätze am Kopfende der Tafel. Es gab keine Geschenke. Aufgrund der Armut und des Leides des Volkes wollten Oscar und Andre ohnehin keine haben. Die Feier selbst, im Kreise ihrer engsten Freunde und deren hilfsbereite Unterstützung in allen Dingen, waren ihnen Geschenk und Freude genug. Das Gleiche galt auch für die Speisen. Gebratener Fisch, gebackenes Hähnchen in Würzsoße, Kartoffeln und dazu weiches Brot. Es war nicht viel, aber es schmeckte und machte satt. Und nicht vergessen der Wein, der ausnahmsweise edler Sorte war.
 

An Fröhlichkeit und Spaß mangelte es auch nicht. Besonders Alain ließ seine anzüglichen und derben Scherze auf Kosten des Bräutigams fallen. Bei der Braut war er vorsichtiger, trotz dem übermäßigen Genuss von Wein. Es fehlte nur noch Musik und Tanz zur heiteren Unterhaltung.
 

„Wir haben doch ein altes Klavier im oberen Stockwerk stehen!“, fiel es Bernard irgendwann spontan ein.
 

„Und ich kann gut spielen!“, fügte Rosalie an seiner Seite hinzu.
 

„Was machen wir dann noch hier? Nichts wie hin!“ Alain erhob sich auf schwankenden Beinen und rieb sich die Hände. „Ich würde schon gerne mal mit der Braut ein Tänzchen absolvieren!“
 

„Nichts da!“ Andre schoss auch in die Höhe. Im Gegensatz zu seinen Freunden waren er und Oscar nüchtern. Außer einem kleinen Schluck zum Anstoßen hatten sie nicht viel getrunken. „Ich bin der Einzige, der mit Oscar tanzt! Und ich wüsste nicht, dass du überhaupt tanzen kannst!“
 

„Es wird schon gehen!“ Alain kam auf ihn lachend zu, um ihm wieder einmal die Schulter zu drücken. „Und selbstverständlich tanzt du mit ihr als erster, Kumpel! Danach komme ich dran!“
 

„Vorerst fragt ihr beide mich!“ Oscar stellte sich unverhofft, in all ihrer Größe und Anmut zu ihrem Mann. „...sonst werdet ihr ohne mich tanzen müssen! Und ich spiele Klavier!“ Sie hakte sich selbstherrlich bei Andre ein und zeigte den anderen am Tisch ein zugewandtes Lächeln. „Ich schlage vor, wir nehmen unsere Gläser, gehen nach oben und entscheiden uns dort.“
 

„Ein ausgezeichneter Vorschlag, Lady Oscar!“, stimmte ihr Bernard gutheißend zu und führte sie dann alle in das obere Stockwerk.
 

Dort befand sich ein nicht allzu großer Salon, ausgestattet mit Stühlen, einem Kamin und ein Klavier. Überraschenderweise war das ganze Mobiliar staubfrei. Schnell wurden in den Halterungen an der Wand die Kerzen angezündet, die Stühle beiseite gerückt und in der Mitte ein freier Platz geschaffen.
 

Der erste Tanz galt traditionell dem Brautpaar. Rosalie setzte sich an das Klavier und begann zu spielen. Bernard stand bei ihr, nippte zwischendurch an seinem Wein, hörte der Musik seiner Frau zu und beobachtete aufmerksam das tanzende Paar. Neben ihm stand Alain mit seiner Mutter und seiner Schwester. Bei Diane und Madame de Soisson glänzten vor Faszination und Rührung die Augen. Alain betrachtete das frisch vermählte Paar mit einer Mischung aus Unglaube und Gefallen. Andre und Oscar schwebten unter dem lieblichen Klang der Melodie leichtfüßig, wie eine kreisende Feder in der Luft - hin und her, dann im schwungvollen Kreis. Ein höfischer Tanz, ohne nahen Kontakt der Körper. Nur ihre Hände berührten sich sachte.
 

Die Musik spielte zu Ende, das Paar vollführte ihre letzten Tanzschritte und kam bei dem Grüppchen am Klavier zum Stehen.
 

„Gestattet Ihr mir jetzt mit Euch zu tanzen, Oberst?“, bat Alain, bemüht höflicher zu wirken als es sonst seine karge Art war. „Ich habe Euch gerade zugesehen und finde, dass so ein Tänzchen jeder meistern kann.“
 

„Nun gut, ich bin einverstanden. Aber wehe dir, wenn du mir auf die Füße trittst!“ Oscar reichte Alain ihre Hand und deutete Rosalie mit einem Nicken, die Melodie noch einmal zu spielen.
 

Ungern ließ Andre seine Oscar mit Alain tanzen. Das lag nicht an seinem Freund. Er wollte sie im Allgemeinen heute nur für sich haben. Das war selbstsüchtig, aber an solch einem einmaligen Tag seines zweiten Lebens, war sein Wunsch berechtigt. „...wenigstens tanzt sie nicht mit von Fersen...“, redete sich Andre zeitgleich ein. Zur Ablenkung von seinen Gedanken und zur Verkürzung der Wartezeit sprach er die zwei Damen neben sich an: „Madame de Soisson? Diane? Erweist mir eine von euch die Ehre, mit mir zu tanzen?“
 

„Meine Knochen sind schon zu alt dafür, Andre“, lehnte Madame de Soisson freundlich ab.
 

Diane dagegen senkte betrübt den Kopf. „Und ich kann nicht so tanzen wie du und Lady Oscar...“
 

„Das ist ganz einfach“, Andre reichte ihr seine Hand und schmunzelte: „Komm mit, ich zeige dir wie es geht.“
 

Diane ließ sich von ihm überreden. Andre war ein guter Tänzer und sie lernte schnell. Sie brauchte dabei nicht viel zu tun, außer sich seiner Führung zu überlassen.
 

Oscar hatte es dagegen mit ihren Tanzpartner etwas schwieriger. Alain kannte nur den Volkstanz und nicht den von der adligen Gesellschaft. Er gab sich Mühe, schaffte es gar, Oscar nicht auf die Füße zu treten, aber es gelang ihm nicht so recht, mit ihr Schritt zu halten. Er wirkte tölpelhaft und wenn man dazu noch die Menge Wein mitzählte, die er getrunken hatte... „Ein ausgezeichneter Fechter, aber kein guter Tänzer...“, dachte Oscar bei sich und rief sich einige Momente aus ihrem früheren Leben in Erinnerung, als sie mit Alain ein Duell ausgetragen hatte.
 

„Ich glaube, ich gebe es lieber auf“, entriss Alain sie aus den Gedanken und blieb mit ihr unerwartet stehen. „Ich muss zugeben, im Tanz bin Euch nicht gewachsen, Oberst.“
 

„In der Tat.“ Oscar nickte ihm zustimmend zu.
 

„Deine Tanzkunst kann man doch nicht mit ansehen, Alain!“ Bernard tauchte wie aus dem Nichts bei ihnen auf und vollführte vor Oscar eine galante Verbeugung: „Habe ich die Ehre, mit Euch auch zu tanzen, Lady Oscar?“
 

„Warum auch nicht.“ Oscar war einverstanden und tanzte mit ihm bis zum Ende der Melodie. Bernard erwies sich als viel besserer Tänzer und trotzdem wünschte sich Oscar, es möge bald ein Ende haben. Sie mochte eben keine Tänze, aber da es ihre eigene Hochzeit war, wollte sie nicht unhöflich sein. „Ich spiele nach Rosalie das Klavier“, sagte sie zu Bernard: „Sie würde bestimmt auch gerne tanzen wollen.“
 

„Mag schon sein, Lady Oscar, aber Ihr seid die Braut und...“
 

„Das macht mir nichts aus“, ließ sie ihn nicht weiter sprechen: „Jeder soll seinen Spaß haben. Und außer mir und Rosalie, kann ohnehin keiner am Klavier spielen. Oder etwa doch?“
 

„Ihr habt schon recht, Lady Oscar.“
 

So bekamen die Anwesenden ein weiteres Vergnügen. Es war schon interessant, Lady Oscar beim Klavierspiel zuzuhören und unter ihrer extravaganten Musik zu tanzen. Andre kam nicht dazu, bei ihr am Klavier zu stehen. Mit Bernard tauschte er häufig die Tanzpartnerin. Zuerst tanzte er mit Diane, dann mit Rosalie und danach wieder mit Diane. Insgeheim fragte er sich, wie lange es noch dauern würde und wann er wieder bei Oscar sein könnte. Er wusste mit Sicherheit, dass sie morgen ihre Uniform wieder anziehen und ihre alten Gewohnheiten aufnehmen würde. Heute war eine Ausnahme, die sie nie mehr eingehen würde.
 

Irgendwann endete die Musik, aber Oscar wollte nicht mehr tanzen. Weder mit ihm, noch sonst mit jemanden. Für Andre war das bedauerlich, aber er nahm es leichthin. Hauptsache er konnte wieder an der Seite von Oscar stehen und ihre Hand halten. Ihre Gegenwart und das Wissen, dass sie seine rechtmäßig angetraute Frau war, versöhnte ihn schon mit allem.
 


 


 

Spät nachts ging die Feier zu Ende. Gutgelaunt, angetrunken, satt und zufrieden, aber von einer nahenden Müdigkeit geplagt, verabschiedeten sich die Freunde vom Brautpaar. Oscar und Andre wurden in die bisher verschlossenen Räumlichkeiten im unteren Stockwerk geleitet. Bernard öffnete für sie die große Doppeltür und gab Oscar den Schlüssel. „Noch alles Gute euch beiden. Wir sehen uns morgen wieder.“
 

„Und macht nicht so laut!“, bemerkte Alain lallend und zwinkerte dem Paar zweideutig zu.
 

Oscar strafte ihn mit ihrem scharfen Blick und Andre wollte ihn ermahnen, aber Alain torkelte schon lachend davon.
 

„Nehmt ihn bitte nicht ernst“, meinte sogleich seine Mutter: „Er ist immer so.“
 

„Es ist schon in Ordnung, Madame.“ Oscar milderte ihren Gesichtsausdruck. „Wir nehmen es ihm nicht übel.“
 

Nach Madame de Soisson verabschiedeten sich auch Diane und Rosalie mit zusätzlichen Glückwünschen. Oscar und Andre betraten danach die Räumlichkeiten, die Bernard für sie geöffnet hatte. Und Oscar verschloss sie auch gleich wieder hinter sich mit dem Schlüssel. Der Raum war genauso groß wie der, in dem sie gefeiert hatten. Nur gab es hier keine Kochstelle, keinen Tisch mit Stühlen, aber genauso die sich gegenüberliegenden Zimmertüren. Ein kleiner Kerzenleuchter an der Decke erhellte die Umgebung. Jemand war anscheinend schon vor ihnen hier gewesen. Andre erinnerte sich, dass gegen Ende der Feier Bernard abwechselnd mit Rosalie und Diane den Festsaal für einige Minuten verlassen hatte und dann wieder zurückkehrte. Alles war gut geplant und organisiert. Für sie beide!
 

„Hier können wir noch etwas tanzen“, sagte Oscar vor Andre stehend.
 

„Ohne Musik?“, wunderte sich Andre, aber er legte sogleich seinen linken Arm systematisch um ihre Mitte und zog sie zu sich.
 

Oscar warf ihm einen schelmischen Blick unter ihren Wimpern hervor. „Stelle dir die Musik einfach vor, mein Gemahl.“
 

Schon alleine das Wort „Gemahl“ klang wie eine sanfte Melodie in seinen Ohren. Und erst recht ihre liebreizende Stimme. „Du bist einfach wunderbar, Oscar, meine Gemahlin.“ Er nahm ihre Linke in seine Rechte.
 

Oscar hielt mit der rechten Hand etwas ihre Röcke und der Tanz begann von Neuem. Diesmal Körper an Körper, ohne Distanz. Er führte sie und sie schwebte mit ihm. Wie die fallenden Blätter von den Bäumen im Herbst.
 

„Ich habe noch eine Überraschung für dich“, gestand ihm Oscar im Rausch des Tanzes.
 

„Noch eine?“ Andre bekam langsam ein schlechtes Gewissen. Oscar hatte für ihn heute schon so vieles getan: Sie trug ein Kleid, tanzte mit ihm und das Größte - sie hatte ihn geheiratet! Sie hatte damit an nur einem einzigen Abend all seine Wünsche erfüllt und hatte zusätzlich noch etwas für ihn! So, als würde er nicht genug bekommen! „Oscar, bitte tue das nicht. Sonst muss ich mich schämen. Im Gegensatz zu dir habe ich keine Überraschung für dich!“
 

„Das macht mir nichts aus.“ Oscar lächelte ihn verschmitzt an: „Du bist mir Geschenk und Überraschung genug, Andre.“
 

Andre fühlte sich geschmeichelt, aber ermahnte sie trotzdem: „Aus Liebe zu dir, nehme ich diese eine Überraschung noch an. Aber versprich mir, dass keine Weiteren danach folgen werden!“
 

„In Ordnung, Geliebter. Ich verspreche es dir: Ich werde dich mit keinen weiteren Überraschungen mehr quälen.“
 

„Dann bin ich beruhigt.“
 

„Hat es dir heute überhaupt gefallen?“, wechselte Oscar prompt das Thema.
 

„So sehr, dass ich immer noch keinen richtigen Ausdruck dafür finde. Ich...“ Andre blieb nach einer Drehung plötzlich stehen. Er sah ihr noch tiefer, noch eindringlicher in die Augen. „Ich habe schon oft davon geträumt; es mir vorgestellt. Aber ich hätte nie gedacht, dass es jemals wahr sein würde. Du hast aus meinem Traum Wirklichkeit gemacht und dafür liebe ich dich umso mehr.“
 

„Das habe ich nur für dich getan. Und weil ich dich von ganzem Herzen liebe“, gestand ihm Oscar aufrichtig. Kaum merklich durchzog ein schmerzlicher Stich ihren Brustkorb. Das, was sie für ihn bereits getan hatte, erschien ihr nicht genug. Es war in ihr das Gefühl, sie müsse noch mehr tun; ihm mehr von sich geben - als Ausgleich für die Liebesqual, für die sie in ihrem früheren Leben verantwortlich war. Sie hatte schon oft versucht, nicht daran zu denken, es zu ignorieren, aber es war manchmal da, als eine Art Erinnerung aus ihrer Vergangenheit. Damit würde sie bestimmt bis ans Ende ihrer Tage leben und sich daran gewöhnen müssen. Wie ihr wiedergeborener Körper daran gewöhnt war, mit ihr in Form einer Stimme und mit Traumbildern zu leben. Das gehörte jetzt aber nicht der Gegenwart an. Sie hatte sich mit ihrem zweiten Ich verschmolzen, war mit ihr eins geworden und nun war sie sie selbst. Das betraf auch Andre und sie wollte ihn glücklich machen. Noch glücklicher, als er es jetzt schon war. „Willst du noch tanzen?“
 

Andre verstand den verborgenen Hintergedanken und schmunzelte breit. „Nicht unbedingt. Es sei denn, du willst es.“
 

„Du bist der Mann von uns, Andre. Mein Mann - und ich folge dir.“
 

Jetzt hatte sie ihn dort, wo sie ihn haben wollte. Und ganz nebenbei stand sie zu ihren eigenen Gefühlen als Frau! Seiner Frau! Das hatte sie bisher nur im Verborgenen getan, wenn sie ihre Liebeleien ausgetauscht hatten. „Also gut“, gab Andre nach: „Ich denke, wir haben für heute schon genug getanzt. Lass uns schlafen gehen.“ Er ließ von ihr ab, nahm sie stattdessen bei der Hand und schaute sich im Raum um. „Hmm? Welches von beiden Zimmern nehmen wir?“
 

„Das, wo ein Bett für uns beide bereit steht“, half ihm Oscar auf die Sprünge und zeigte mit ihrem Kinn auf eine der geschlossenen Zimmertüren. „...dort drüben, zusammen mit der Überraschung.“
 

Andre verkniff sich eine Bemerkung. Er wollte keine Überraschungen mehr. Aber solange sie ihm versprochen hatte, dass es die letzte sein würde, schluckte er es herunter.
 

Das Bettzimmer war auch nicht allzu groß. So ähnlich wie der Raum, in dem er sich umgekleidet hatte. Nur stand hier ein breites Bett und nahm fast die Hälfte des Zimmers ein. Am anderen Ende knisterte und prasselte ein Feuer im Kamin. An dem kleinen, mit dichten Vorhängen zugezogenen Fenster, standen zwei Gestelle. Eins mit ihrer Uniform und das andere mit seiner Alltagskleidung! Aber wie kamen die Sachen hierher? Alains Mutter fiel Andre ein. Sie war doch hier geblieben, während alle in der Kirche waren! Also musste sie das gemacht haben! Sonst fiel ihm keiner mehr ein, der ihre Sachen hierher gebracht haben könnte. Und das war die Überraschung? Wenn dem so war, dann konnte er damit leben. „Sehr gemütlich hier“, meinte Andre vielsagend: „Und schön warm ist es hier auch.“
 

„Hast du schon auf den Kamin geschaut?“, wies Oscar ihn betonend hin. „Dort steht nämlich die Überraschung.“
 

„Wirklich?“ Das hatte er anscheinend übersehen. Er ging darauf zu und musterte den Kamin ausgiebiger. Auf dem Kaminsims sah er zwei Vasen mit frischen Blumen. Aber das konnte man doch nicht als Überraschung bezeichnen! Es war im Allgemeinen beliebt, Blumen in Vasen zu stellen, um Räume mit ihrem frischen Duft zu erfüllen.
 

Oscar folgte ihrem Gemahl kaum merklich. Sie war auf seine Reaktion gespannt. Andre betrachtete jetzt die Vasen mit den Blumen aus näherer Sicht. In einer standen prachtvolle, weiße Rosen. Andre lächelte vor sich hin. Er mochte weiße Rosen am liebsten. Also war das doch die zusätzliche Überraschung von Oscar. Wie nett und aufmerksam von ihr.
 

Sein Blick schweifte auf die andere Vase und seine Stirn krauste sich dabei verwundert. Darin standen keine Rosen. Eher eine Unkraut, mit Dornen versehen und kratzig. Von einem Moment auf den anderen fiel ihm der Name dieses Unkrauts ein. Er drehte sich zu Oscar um. „Disteln?“ Er verstand den Sinn nicht. Was wollte sie damit bezwecken? Es hatte bestimmt etwas mit ihrem früheren Leben zu tun! Das war also die Überraschung! Sie wollte ihm damit etwas andeuten, etwas sagen oder auf etwas Bestimmtes hinweisen!
 

Oscar sah nicht zu ihm. Ihr Blick wechselte von den Rosen zu den Disteln. In ihren blauen Augen spiegelte sich der Lichtglanz vom Kaminfeuer und ihre feinen Gesichtszüge wirkten geistesabwesend. „Ich habe oft über mein erstes Leben nachgedacht. Mich hat niemand gefragt, ob ich wie ein Mann erzogen werden will. Wobei das auch seine Vorzüge hat. Ich gebe niemanden die Schuld dafür, vor allem nicht meinem Vater. Mit seiner Erziehung hatte er mir viele Möglichkeiten eröffnet, die einer Frau nicht gestattet sind. Dafür bin ich ihm sogar dankbar. Aber irgendwann können Gefühle erwachen und stärker werden – sie können ein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen. So war es bei mir und ich möchte es nicht noch einmal erleben. Ich gebe dir recht, Andre: Man kann nicht gegen die Natur ankämpfen, aber auch eine Rose hat Dornen. Wenn die Rose verdorrt, bleiben nur die grässlichen Dornen von ihr übrig. Mit der Distel ist es das Gleiche. Nur ist sie nicht so schön anzusehen, wie die Rose. Ich will damit sagen, dass Frauen sehr wohl wie Männer sein können. Man darf dabei nur nicht vergessen, wer man wirklich ist und seine eigenen Gefühle nicht verdrängen. Ich werde ab heute ein Doppelleben führen - für dich! Mit dir an meiner Seite werde ich als Frau leben und für den Rest der Welt werde ich wie ein Mann auftreten. So, wie es die Erziehung von mir verlangt.“ Sie entriss ihren Blick von den Vasen und richtete ihn auf ihren Mann.
 

Andre hatte ihr aufmerksam zugehört. Jetzt schluckte er, um seine Stimme wieder zu finden. „Aber Oscar... man kann nicht Rose und Distel gleichzeitig sein... Das geht nicht...“
 

„Ich werde dir das Gegenteil beweisen!“ Oscar trat näher an ihn heran, überwand die letzte Distanz zwischen ihnen und legte ihm sachte die rechte Hand auf die linke Wange. „Mag sein, dass Rosen und Disteln grundauf verschieden sind, aber sie haben eine Gemeinsamkeit.“
 

„Die wäre?“, hackte Andre ahnungslos nach.
 

Oscar fuhr mit ihrem Daumen die Kontur seinen Lippen nach. Ihr stechender und gleichzeitig liebevoller Blick bohrte sich in ihn und ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. „Rose und Distel, mein lieber Mann, wissen ihre Dornen gut einzusetzen.“
 

Das stieß Andre ein wenig vor den Kopf. Seine Meinung, eine Rose könne niemals eine Distel sein, begann zu schwanken. Oscar war für ihn so schön wie eine Rose, aber manchmal konnte sie auch so unausstehlich wie eine Distel sein. Diese zwei Gegensätze schienen gut zu ihr zu passen. „Das ist wohl wahr“, kam er auf ihren letzten Satz zurück. Er legte seine Arme um sie und seine Finger tasteten sich blindlings an ihrem Rückgrat entlang, auf der Suche nach den Schnüren ihrer Korsage. Er schmunzelte vergnügt und sah sie ebenso durchdringlich an. „Dann habe ich also das Privileg, diese Dornen zu stutzen.“
 

„Mach, was du nicht lassen kannst. Aber nur heute. Ab morgen übernehme ich wieder die Führung“, erwiderte ihm Oscar keck und ihre Hände glitten ihm um den Nacken. Das Feuer der Leidenschaft entfachte sich in ihr immer stärker. Ihre Finger nestelten an seinem Haarband, ihr Brustkorb hob und senkte sich schneller. Die Korsage schien ihr noch mehr die Luft zu rauben als bisher. Sie reckte ihren schlanken Hals, zog ihr Gesicht zu ihm und drückte ihre weichen Lippen sehnsuchtsvoll auf seinen Mund.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Madame_Malou
2015-03-06T00:45:49+00:00 06.03.2015 01:45
Ich kann mich denn anderen nur anschließen. Die ganze Hochzeit und die Feier sind, wenn auch schlicht, wunderschön und passen perfekt zu den beiden. Ich denke das Oscar, selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte offiziell zu heiraten, die schlichte Variante für ihren Andrè vorgezogen hätte um ihm zu beweisen das sie keinen Wert auf ihren Adelstitel und den Prunk der besseren Gesellschaft legt. Deine Allegorie mit der Rose und der Distel ist einfach treffend, Oscar ist wie eine wilde Rose, schön anzusehen und mit bedacht zu behandeln, denn so schön sie ist, so gefährlich ist sie auch.
Antwort von:  Saph_ira
06.03.2015 20:19
Dankeschön. ;-) Ich denke auch, dass Oscar in jeder Hinsicht die schlichtere Variante von ihrer Hochzeit bevorzugen würde - schon alleine wegen Andre, und weil sie einfach das ganze Pomp und laute Gesellschaft nicht sonderlich mag. XD Zu der Rose mit scharfen Dornen und Distel sage ich noch dazu: Nur gucken, nicht anfassen, sonst verbrennt man die Finger. ;-)
Von:  hunny123
2014-07-30T12:58:25+00:00 30.07.2014 14:58
Yeah eine tolle Fete! Sehr schöne Umsetzung, auch der Vergleich der beiden Blumen, sehr gut gelungen. Volltreffer!
Antwort von:  Saph_ira
30.07.2014 20:15
Vielen, lieben Dank. Das mit den Blumen fand ich auch sehr vortrefflich für Oscar, dass ich diesen Vergleich unbedingt mitreinbeziehen wollte. ;-)
Von:  FeelLikeParadise
2014-05-09T12:12:53+00:00 09.05.2014 14:12
Einfach toll, wie du die Hochzeitsfeier beschrieben hast. Mit all den Details! Auch wenn es eher schlicht war, so ist sie trotzdem auf ihre ganz eigene Weise wunderbar gewesen.:)
Meinen zwei Vorgängern muss ich mich anschließen: Die Metapher mit den Rosen und Disteln ist wirklich sehr einfallsreich und passt einfach perfekt zu Oscar:)
LG:)
Antwort von:  Saph_ira
09.05.2014 21:49
Herzliches Dankeschön für deinen Kommentar ;-)
Liebe Grüße :-)
Von:  alandatorb
2014-05-08T15:40:11+00:00 08.05.2014 17:40
ich muss mich Broedl anschließen - ein zauberhafter Vergleich und eine wunderschöne Entwicklung für die beiden als Paar.
Schreib weiter so!
LG
Alanda
Antwort von:  Saph_ira
08.05.2014 20:35
Ein liebes Dankeschön für deine Worte. ;D
Liebe Grüße :-)
Von: abgemeldet
2014-05-08T13:00:58+00:00 08.05.2014 15:00
Es ist immer wieder erstaunlich für mich: dass du so schöne Vergleiche ziehst um Gegebenheiten zwischen den beiden zu beschreiben. Die Metapher von Rose und Distel hast du einwandrei aufgegriffen. Ich mag den Ergänzung mit den Dornen - es ist so treffend für Oscar!

Wirklich mal wieder ein sehr schönes Kapitel!
Antwort von:  Saph_ira
08.05.2014 20:34
Vielen, lieben Dank. ;D


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