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Ein zweites Leben

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel geht es darum, was Oscar in ihrer Ohnmacht sieht und um der seltsamen Stimme in ihr. Es ist ein trauriges Kapitel, aber liest selbst. ;-)
Falls Unstimmigkeiten und Fragen im Bezug der Handlung entstehen sollten, könnt ihr ruhig ein Kommentar hinterlassen. Ich werde mich über eure Meinung freuen. ;-)
Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen. ;-) Komplett anzeigen

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Erstes Wiedersehen

Oscar schwankte mit geschlossenen Augen. Sie fiel in Ohnmacht. Dunkelheit umfing sie und wie aus der Ferne, hörte sie Andres entsetzten Schreckenslaut. Sie sackte zusammen und spürte nur, wie Andre sie in seinen Armen auffing. Dann breitete sich Stille aus und eine nachtschwarze Dunkelheit umgab sie.
 

Schon bald tauchte in ihrem Unterbewusstsein eine hochgewachsene Frau auf - wie in ihrem Traum. Sie trug braune Hosen, schwarze Stiefel und ein weißes Hemd. Ihre langes, blondes Haar hing ihr leicht wellig über die Schultern. In ihren himmelblauen, trüben Augen, zeichnete sich unsagbarer Schmerz, Trauer, Bitterkeit und Reue ab. Ihr blasses Gesicht war hager und verhärmt, ihr schlanker Körper, kraftlos und entmutigt. Vom Alter her, erinnerte sie an eine alte, gebrechliche Frau, wobei sie nicht einmal Mitte Dreißig zählte. Oder besser gesagt, gezählt hatte - bevor sie starb.
 

„Nicht schon wieder diese grenzenlose Dunkelheit!“, rief die Frau verzweifelt und sah so aus, als würde sie weinen. Aber keine Tränen kamen ihr über die Wangen gelaufen. Sie hatte sie schon längst vergossen gehabt - als ihr Geliebter verstarb. Das war nur ein einziger Tag vor ihrem eigenen Tod gewesen.
 

„Und schon wieder dieser Schmerz!“ Die Frau fasste sich ans Hemd beim Brustkorb, ihre Stimme stockte: „...der Schmerz, der noch schlimmer ist, als all die Kugeln, die mich getroffen haben!“ Sie verlor ihr Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Mit der freien Hand stützte sie sich am Boden ab, obwohl es keinen Boden gab - zumindest keinen Richtigen. Sie konnte nichts als Schwärze sehen. Nicht einmal ihre eigene Hand vor den Augen. Das war beängstigend, aber sie hatte keine Angst. Nur dieser bittere Schmerz und qualvolle Reue in ihr. „...wenn ich dich nur schon früher geliebt hätte! Dann wären wir glücklich und du hättest nicht soviel Leid ertragen müssen! Vergib mir, mein geliebter Andre... Ich wünschte, ich könnte dich noch ein Mal sehen...“
 

Die blondgelockte Frau kniete weiterhin regungslos. Es war aussichtslos, hier etwas unternehmen zu wollen. Nur die Hoffnung blieb, dass ihr wiedergeborener Körper aus der Bewusstlosigkeit erwachen und sie wieder mit derer Augen sehen können würde. Aber wollte sie das? Wollte sie das alte Leben erneut durchleben und zusehen, wie sie all die Fehler wieder begeht, die sie dann später sehr bereuen würde? „Ach, Andre, es wäre viel schöner, wenn du jetzt bei mir wärst... so wie du im Leben immer da warst... du weilst jetzt sicherlich an einem besseren Ort als ich. Das gönne ich dir! Und trotzdem fühle ich mich so einsam ohne dich...“
 

Die Frau hörte urplötzlich ein leises Rauschen. Oder war das ein Windhauch? Sie erhob sich auf ihre Beine und da begann sich die Dunkelheit zu lichten. Wie das Dämmerlicht oder der Morgengrauen, der sich sehr schleichend, noch bevor die Sonne aufgeht, in der Umgebung ausbreitet. Es wurde immer heller. Sie erkannte, dass sie jetzt auf einer Wiese stand, die noch im milchigen Nebel verhüllt war. Dennoch sah sie das sanfte Grün unter ihren Füßen. Und ein Hügel, direkt vor ihr.
 

Die Dunkelheit war vertrieben und um sie herum herrschte nun der weißer Nebel. Vorsichtig und neugierig stieg sie auf den Hügel. Der Nebel wurde durchsichtiger und sie blickte erstaunt ins Tal herunter, das sie an eine Gegend in Arras erinnern ließ. Arras, der Ort wo sie mit Andre zu ihren Lebzeiten schon mal gewesen war! Und das war nicht das Erstaunlichste! Unzählige weiße Rosen, schmückten das ganze Tal, so wie es einst Andre an ihrem Porträt beschrieben hatte! Eine einzige Eiche wuchs mittendrin und wirkte in dem ganzen Rosenfeld irgendwie verloren. Dennoch stieg in ihr eine Wärme und Glücksgefühl auf, als ein Mann hinter dem Baum hervortrat und zu ihr auf den Hügel hinaufblickte. Er trug wie sie dunkle Hosen und ein weißes Hemd. Sein kurzes, braunes Haar verdeckte ihm sein linkes Auge und den Wangenknochen. Er war nur ein Jahr älter als sie und nur einen Tag vor ihr gestorben. Er löste sich von dem Baum.
 

„Oscar? Bist du das?“ Zuerst war sein Gesichtsausdruck erstaunt, dann aber breitete sich ein seeliges Lächeln auf seinen Lippen aus und er lief eilig auf sie zu. „Oscar!“
 

Sie hat ihn zwar nicht deutlich gehört, aber sie erkannte ihn auch ohne Weiteres. „Andre! Du bist es wirklich!“, hauchte sie atemlos und eilte ihm schon entgegen, den Hügel hinab.
 

Die Wiedersehensfreude war beiden ungemein. Er schloss sie in seine Arme, sie drückte sich fest an ihn und ihre Lippen trafen leidenschaftlich aufeinander, als wären sie ausgehungert. Wie lange sie da ineinander umschlungen standen, wusste keiner der beiden. Und es war ihnen auch nicht von Bedeutung. Nach einer berauschenden Weile, lösten sie sich gesättigt von dem Kuss, aber nicht aus der Umarmung.
 

„An diesem Ort weilst du also!“, begann Oscar mit glänzenden Augen zu sprechen: „Es ist schön hier. Wie in dem Bild, das du für mich beschrieben hast.“
 

„Ja, das stimmt.“ Andre sah sich ganz kurz um und blickte gleich wieder seine Oscar an, so als würde er noch nicht glauben, dass sie jetzt bei ihm war und er sie in seinen Armen hielt. „Aber ich bin hier erst jetzt angekommen. Zuvor irrte ich in der Dunkelheit, bis ich deine Stimme hörte und ihr gefolgt war. Danach wurde es heller um mich herum und ich entdeckte dieses Rosenfeld.“
 

„So wie bei mir...“ Oscar lehnte ihren Kopf seitlich an seine Brust und schmiegte sich mehr in seine Arme hinein. „Ach, Andre, jetzt sind wir wieder zusammen.“ Sie sah nicht, wie er seine Augenbrauen stutzig zusammen zog. Leise äußerte er seine schlimme Vorahnung: „...aber wenn du auch hier bist, dann...“
 

„Ja, Andre, ich bin auch gestorben“, vollendete sie für ihn den Satz: „...am nächsten Tag, nachdem ich dich verloren hatte, wurde die Bastille gestürmt. Ich führte meine Soldaten an, stellte mich in vorderste Reihe zu den erbeuteten Kanonen und wurde von der gegnerische Besatzung erschossen...“
 

„Meine Oscar...“ Andre drückte ihren Körper fester an sich. „Es tut mir so leid...“
 

„Mir nicht...“ Sie spürte den festen Druck seiner Arme, aber ihr tat das nicht weh. „...ich wollte sterben, Andre. Ich wollte dir nahe sein, denn ohne dich ist mein Leben auf Erden nichts mehr wert... nur mit dir, für dich habe ich gelebt...“
 

„Ach, Oscar...“, seufzte Andre schwer. Er lockerte etwas seine Umarmung und vergrub sein Gesicht in ihren weichen Locken. „...wir sind im Jenseits oder in einer Zwischenwelt gelandet, wie es aussieht. Hier spielt Zeit keine Rolle. Wir könnten für immer und ewig hier bleiben...“
 

„Ja...“, sagte Oscar leise und überglücklich: „...und ich brauche nicht mehr in meinen wiedergeborenen Körper zurückkehren...“
 

„Wie meinst du das?“ Andre hob verwundert seinen Kopf und entfernte seine Geliebte etwas von sich.
 

„Das weiß ich selbst nicht so genau.“ Auch Oscar schaute ihm jetzt ins Gesicht und versuchte es ihm zu erklären: „Wie es scheint, bin wiedergeboren worden. Aber die Erinnerungen an mein altes Leben sind nicht gelöscht. Es ist das gleiche Jahrhundert, in dem wir gelebt haben und die gleichen Menschen. Sogar du und ich sind die Gleichen. Und die Oscar, in der ich wohne, begeht dieselben Fehler wie ich.“
 

„Moment, Oscar!“ Andre fasste sie bei den Schultern. Er war noch mehr verwundert als bisher. „Verstehe ich das richtig? Du bist wiedergeboren, aber dein Geist ist der Alte geblieben?“
 

„So etwa in der Art.“ Oscar legte zart ihre Hände um seinen Nacken. Seine Hände ruhten dagegen bereits an ihren Hüften. Sie versuchte es ihm weiter zu erklären, wobei sie selbst kaum eine Ahnung davon hatte: „Nach meinem Ableben irrte ich auch in der Dunkelheit. Ich habe verzweifelt nach dir gesucht, bis ich irgendwann umfiel. Ich weiß nicht, wie lange ich da lag. Aber als ich erwachte, befand ich mich auf meinem Zimmer, bei mir auf Anwesen. Das hat mich irritiert und mein neuer Körper war mir zu klein. Viel zu klein, bis ich feststellte, dass ich noch ein Kind von fünf Jahren war. Das war nachdem ich vom Ertrinken in dem See gerettet wurde. Ich hielt mich zurück, denn meine Kindheit war unbeschwert und sorgenlos. Ich habe sie doch zusammen mit dir beschritten. Während mein Körper heranwuchs, wurde mir klar, dass ich eine neue Chance bekommen habe, meine Fehler zu korrigieren und deswegen suchte ich die andere Oscar seit ihrem vierzehnten Lebensjahr heim. Zuerst wenn sie schlief, in ihren Träumen und nun auch im wachen Zustand.“
 

„Das arme Mädchen.“ Andre verzog ein mitleidiges Gesicht. Innerlich jedoch freute er sich für seine Oscar, dass sie noch eine Chance für ein neues Leben erhalten hatte. „Ich hoffe, du plagst die zweite Oscar nicht allzu sehr?!“
 

„Sie wird das schon überleben. Vater erzieht sie doch nicht umsonst wie einen Mann.“ Oscar fuhr ihm mit ihren Fingern sachte durch das dichte Haar: „Aber sag, warum du nicht wiedergeboren wurdest?“
 

„Das weiß ich nicht“, erwiderte er schwermütig und traurig: „Ich wusste nicht einmal, dass so etwas wie Wiedergeburt gibt...“
 

„Hmpf.“ Oscar überlegte angestrengt. „Ich glaube, ich habe da eine Lösung! Warum suchst du deinen neuen Körper nicht auch in seinen Träumen heim? So wie ich es bei den meinen getan habe? Dann könnten wir im neuen Leben schneller vereint sein!“
 

„Das könnte durchaus funktionieren!“ Andre erstrahlte mit neuem Hoffnungsschimmer im Auge. „Ich werde es versuchen!“ Er zog Oscar schwungvoll wieder an sich. „Wie ich dich liebe!“
 

„Ich dich mehr, mein Andre.“ Oscar zog ihr Gesicht zu ihm und erneut verschlossen sich ihre Lippen zu einem innigen Kuss.
 

„...du wirst es schaffen, Oscar. Hörst du deinen Vater? Du darfst nicht sterben!“
 

Oscar und Andre fuhren erschrocken auseinander, aber sahen nirgends jemanden stehen. Nur nebliger Dunst um sie herum und Sträucher mit blühenden, weißen Rosen. „Mir war so, als hätte ich General de Jarjayes gehört“, murmelte Andre und schaute sich noch einmal auf beiden Seiten um.
 

„Mir auch“, meinte Oscar, legte ihren Kopf in den Nacken und sah nach oben, aber außer den dicht verhangenem Nebel entdeckte sie nichts.
 

„...lieber Gott, bitte lass unsere Lady Oscar nicht sterben...“ Eine weinerliche Frauenstimme hauchte wie eine Windbrise an ihnen vorbei.
 

„Das war doch meine Großmutter!“ Andre konnte wieder niemanden entdecken, aber die Stimme hallte leise wie ein Echo weiter. Das waren stumme Gebete. Andre war besorgt. Wie kann das sein, dass er seine Großmutter hören aber nicht sehen konnte? Das gleiche betraf auch den General! Was war da passiert? Und was ging hier vor? Er schaute wieder seine Oscar an und ergriff sachte ihre Hände. „Weißt du zufällig, was das alles zu bedeuten hat?“
 

„Ich glaube schon. Wir hören die Stimmen der Menschen, die sich um mein Krankenlager versammelt hatten. Mein neuer Körper scheint noch bewusstlos zu sein.“
 

„Aber warum hören wir sie?“ Andre verstand das nicht so recht.
 

„Vielleicht, weil ich in der Oscar, um die sie sich sorgen, noch immer wohne...“, vermutete Oscar nachdenklich.
 

„Heißt es etwa, dass ich vielleicht auch in ihr wohne?“
 

„Das könnte natürlich möglich sein, Andre...“
 

„Oscar, komme bitte wieder zu dir... Oscar, öffne die Augen... Ich schäme mich so... Du hast dein Leben für mich riskiert und ich habe gedacht, dass ich dir völlig gleichgültig bin... “ Erneut hauchte eine verzerrte, knabenhafte Stimme an ihren Ohren vorbei: „Ich habe mich geirrt, du bist immer noch so wie du in unseren Kindheit gewesen bist...“
 

Andre erstarrte verdattert. „Das war doch ich!“
 

„Ja, mein Geliebter, das war deine Stimme.“ Oscar schmunzelte bei seinem verdutzten Gesichtsausdruck.
 

Für Andre war das alles etwas völlig Neues und Unglaubwürdiges, seine eigene Stimme irgendwo aus der Ferne zu hören. Und das obwohl er sich ganz sicher war, dass er in seinem früheren Leben solche Worte nie laut ausgesprochen hatte. „Sage mir bitte, Oscar, in welchen Kapitel deines neuen Lebens bist du schon angekommen?“
 

„Dort wo ich Marie Antoinette vom durchgegangenen Pferd gerettet habe und dort wo der König dich für den Unfall verantwortlich machen wollte“, berichtete ihm Oscar und lehnte sich wieder an ihn. „Das ist aber unwichtig. Wir sind jetzt zusammen und nichts kann mehr uns trennen.“
 

Andre schloss sie zart in seine Arme und sie sah nicht mehr, wie er mit seiner Stirn runzelte. Eine Unruhe tauchte in ihm auf und breitete sich in ihm schwer lastend aus. Es würde gleich etwas geschehen, was immer wieder geschah seit er nach seinem Ableben in der Dunkelheit herumirrte. Er wollte das nicht. Er hatte seine Oscar wiedergefunden und wollte bei ihr bleiben. Aber es war anscheinend von Schicksal bestimmt, dass er nicht einmal nach dem Ableben seinen Frieden finden konnte. Dann hörte er schon den altbekannten Gewehrschuss. Oscar hörte ihn auch und entriss sich abrupt von ihm. „Was war das?“
 

Andre schob sie ungewollt von sich und fasste sich mit verzerrtem Aufstöhnen an den Brustkorb. „Es ist gleich vorbei...“
 

Oscars Augen weiteten sich vor Sorge, als sie sah, wie die linke Seite seines Hemdes sich dunkelrot verfärbte und zwischen seinen Finger das Blut sickerte. „Nein!“, schrie sie entsetzt. Jetzt wusste sie auch, was das für ein Schuss war. „Bitte nicht! Nicht schon wieder!“
 

Andre verzog sein Gesicht und schwankte in ihre Richtung. Oscar fing ihn auf und hielt ihn fest. Sie spürte deutlich sein Gewicht, seine Kraftlosigkeit und sackte mit ihm zusammen auf die Knie. Sein Kopf lehnte an ihrer Schulter, eine Hand verdeckte seine Schusswunde und die andere legte sich um die Mitte seiner Geliebten. „Verzeih mir, Oscar... ich habe dir etwas verheimlicht...“
 

Oscar war wie versteinert. Ihre Augen brannten von anlaufenden Tränen, die sie schon längst vergossen und aufgebraucht zu haben glaubte. Aber sie waren wieder da, wie damals, als er in ihren Armen starb. Jetzt rannen sie ihr haltlos über die Wangen, ihre Kehle schnürte sich zusammen und ihre Stimme stockte. „Warum, Andre? Warum geschieht es wieder?“
 

„Ich weiß es nicht...“ Auch seine Stimme klang verstockt und brüchig. „...seit ich in der Dunkelheit irre, erlebe ich es immer wieder, nach einer absehbaren Zeit. Ich spüre keinen Schmerz, aber es zerrt mich auf. Dann fühle ich mich leicht und trotzdem so einsam... Ich sehe nichts außer Dunkelheit... Vergibst du mir, dass ich es dir nicht gesagt habe?“
 

„Ja...“, hauchte Oscar verbittert: „...ich vergebe dir alles, mein Andre.“
 

„Es wird gleich vorbei sein, ich spüre das...“, sagte er beinahe tonlos: „Nur einen Moment Geduld... und dann können wir gemeinsam durch das Rosenfeld spazieren...“
 

„Ja, du hast recht, das können wir tun...“ Sie wollte ihm glauben, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte, dass sie ihn erneut verlieren würde, denn sein Gewicht wurde leichter, sein Körper durchsichtiger. „Bitte lasse mich nicht allein... Nimm mich mit... Ich liebe dich...“
 

„Ich liebe dich auch, Oscar...“
 

Der Nebel verdichtete sich um sie, hüllte alle beide in eine grauweiße Decke und Oscar sah ihren Andre nicht mehr. Er war fort. Er hatte sich in ihren Armen einfach aufgelöst. „Komme sofort zurück!“, schrie sie verzweifelt, aber nicht einmal ein Echo antwortete ihr. Sie schluchzte, presste sich überkreuzt ihre Arme an die Brust, krallte ihre Finger in die Ärmel ihres Hemdes und schrie seinen Namen aus voller Kehle, bis es schmerzte. Warum konnte sie nicht einmal im Tod mit ihm vereint sein? Wieso haben sie sich wiedergefunden, wenn sie sowieso auf die gröbste Weise voneinander getrennt werden?
 

Oscar beugte sich vor und schlug mit ihren Fäusten wütend auf den Boden. Aber was war das? Perplex realisierte sie, dass es kein Gras mehr unter ihr gab. Das sanfte Grün war genauso verschwunden wie ihr Andre. Unwillkürlich musste sie ihre Trauer beiseiteschieben. Was würde jetzt geschehen? Dieser Ort war schön und unberechenbar zugleich. Man konnte nie wissen was als nächstes kommen würde. Langsam erhob sie sich auf ihre Füße, strafte ihre Schultern und sah gefasst geradeaus. Die Sträucher von Rosen, der Baum mittendrin und der Hügel hinter ihr, existierten auch nicht mehr. Das zeigte ihr der Nebel, der in der Umgebung und um sie herum schwächer wurde.
 

Direkt vor ihr tauchte eine Steinmauer auf. Grau wie ein Schatten. Aber das war kein Schatten und das war keine einfache Mauer aus Stein. Im nächsten Augenblick kamen schon die Türme zum Vorschein und Oscar erkannte eine Festung. Groß, bedrohlich und uneinnehmbar: Die Bastille! Oscar lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie ahnte, was jetzt kommen würde und da hallten schon Schüsse von mehreren Gewehren. Sie sah keine Menschenseele, weder auf Bastille, noch sonst irgendwo in der Nähe. Der Nebel verdichtete teilweise die Umgebung. Die abgefeuerten Kugeln bohrten sich wie scharfe Messerstiche in ihren Leib, aber sie verspürte keine Schmerzen dabei. Der Verlust von Andre war ihr größter Schmerz, der alle andere Empfindungen überdeckte. Oscar wurde nach hinten geschleudert und prallte hart gegen den Boden. Die Schüsse hörten auf und der Nebel umschlang die Festung.
 

Oscar lag auf dem Rücken, unfähig sich zu bewegen und starrte in den Nebel. Ihr weißes Hemd war rot vor Blut. Ihrem Blut. Auch ihre blonden Haare wiesen einzelne rot verfärbte Strähnen auf. Sie atmete flach und stoßweise, als würde sie gleich sterben. Aber sie war doch schon tot! Wie kann es dann sein? Sie bildete sich ein, eine Taube gesehen zu haben. Aber da oben war nichts außer dem grau verhangenem Nebel. Sie schloss ihre Augen und erneut umfing sie die Dunkelheit. Würde es jemals ein Ende haben? Würde sie ihren Geliebten jemals wiedersehen? Wenn ja, würde sie ihn dann erneut verlieren? Ihn in ihren Armen sterben sehen, obwohl er auch schon längst verstorben war? Würde sie das jedes Mal ertragen können? Und warum musste er so viel Leid ertragen? Er war doch vollkommen schuldlos! Sie hatte die Qual verdient - nicht er! Oscar wünschte, ihr wiedergeborener Körper möge aufwachen, damit wenigstens die Dunkelheit um sie herum verschwindet!
 

„Oscar!“, rief eine traurige Kinderstimme nach ihr. Sie war sich sicher, dass war Andre - aber nur als Kind. Überrascht schlug sie ihre Augen auf und erblickte blauen Himmel über sich. Sie lag auf einer Blumenwiese und war selbst noch ein Kind. „Oscar!“, hörte sie ihn wieder rufen. Sie erinnerte sich, dass sie ihm an diesem Tag eines ihrer Schwerter geschenkt hatte. Er war begeistert darüber gewesen. Sie hatten die Waffen sogleich ausprobiert, dann einen Ausritt miteinander unternommen und nun lag sie hier auf der Wiese. Sie kniff ihre Augen zu und atmete den milden Duft der Wildblumen ein. Ihr Körper entspannte sich, sie war wieder sie selbst. Die Kugeln aus ihrem Leib waren verschwunden, ihr Hemd wieder weiß und unversehrt. Was wohl Andre gerade machte? Ob es ihm genauso ergeht wie ihr? Irrte er weiter durch die Dunkelheit oder hatte er doch einen besseren Ort gefunden?
 

„Oscar“, vernahm sie erneut seine Stimme, diesmal aber fester und tiefer. Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes in sehr jüngerem Alter.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  hunny123
2014-07-20T14:29:42+00:00 20.07.2014 16:29
wow, sehr schönes kapitel, tolle idee, mir gefällt die richtung wo es hingeht/hingehen könnte. kann gerade keine worte finden, muss weiter lesen :)
Antwort von:  Saph_ira
20.07.2014 20:46
Dies ist mein zweitliebste Kapitel. Es hat mich schon beim Schreiben auf eine Art berührt. Es freut micht, dass es dir sehr gefällt. Vielen, lieben Dank für deine Worte. ;-)
Von:  black-flower
2014-02-16T19:25:14+00:00 16.02.2014 20:25
hallo. wollte doch hier noch einige Kommentare loswerden. also.

das kapitel gefäl mir sehr gut. ich habe so mit den beiden mitgefühlt. eine sehr schöne Begegnung die du da beschreibst.
Antwort von:  Saph_ira
16.02.2014 21:25
Hallo^^
Dankeschön für deine Kommentare. Ich freue mich, dass dir die Begegnung der beiden in der Zwischenwelt gefällt. Mir übrigens auch. ;-)
Von: abgemeldet
2014-01-08T22:10:27+00:00 08.01.2014 23:10
Es ist dein bestes Kapitel bisher! Man merkt, wie du dich in deinem Schreibstil von Kapitel zu Kapitel weiter entwickelst. Es ist manchmal nur ein einzelner Satz, der jedem Kapitel so viel Gefühl verleiht.

Deine Geschichte ist und bleibt spannend und ich kann es kaum erwarten, bis das nächste Kapitel da ist. Schnell weiter schreiben! ;)
Antwort von:  Saph_ira
09.01.2014 17:57
Einen herzlichen und lieben Dankeschön für deinen Kommentar. Und das nächste Kapitel ist schon unterwegs. ;-)


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