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Night's End

Der Wiedergänger
von

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Das Felsenkind

Unangenehmes Schaukeln und das Gefühl, dass diese Bewegung seinen Mageninhalt endgültig zum Überlaufen bringen wollte, begeleitete Lucas Rückweg in die Wirklichkeit. Für einen Moment verkrampfte er sich und das Rauschen eines Wasserfalls in seinen Ohren schwoll zu dumpfer Betäubung an. Er hatte kaum Kontrolle über sich, das spürte er noch zu deutlich. Seine Glieder pendelten wie an Fäden aufgehängt herab und unterstützten den Gedankengang, dass er ein Kinderkreisel war, der sich in wackligen, unkontrollierten Pirouetten um seinen Magen drehte. Allein die Verbildlichung dieser Idee ließ Lucas Welt hinter seinen geschlossenen Lidern aus dem Rahmen kippen. Es dauerte noch einmal einige Zeit, bis sich sein Bewusstsein so weit geklärt hatte, dass er nicht mehr nur den Blutstrom in seinem Körper wahr nahm und realisieren konnte, dass er eigentlich fror, aber zugleich feucht von eisigem Schweiß war, die Sonne, die zeitweise seine Haut berührte, ihn zu verbrennen vor hatte und das beständige Klappern, was sich nach einem Würfelspiel mit Knochen anhörte, nichts als seine eigenen Zähne waren. Das reibende Gefühl auf seiner Haut musste Orpheus Leinenhemd sein, dessen Gewebe sicher ein unregelmäßiges Muster auf seiner Haut hinterlassen hatte. Der Geruch nach Staub, Schweiß und Metall drang ihm in die Nase. Er musste nicht die Augen öffnen, um zu wissen, dass er von Orpheu getragen wurde. Im Moment kam er sich unbeholfen und schwach vor. Dazu realisierte er, dass sein Schädel wie leer gefegt war. Kein einziger Zauber, kein bisschen fließendes magische Kraft, die ihn stärkte und ihm das Gefühl gab nicht mehr als ein unbeholfener Klotz am Bein zu sein. Der Preis für I’Eneels Antworten war sehr hoch gewesen. Allerdings begriff Luca auch nicht, warum die zwei Zauber, in denen er seine Lebenskraft gebunden hatte, ausreichen konnten, um den Magier so weit damit zu überladen, dass er in das Leben zurückkehrte – sicher, um sofort wieder zu sterben. Aber das konnte nicht er allein gewesen sein. Luca vermutete Justins Hilfe dahinter. Das unendliche Reservoir an reiner Energie, das der Elfenvampir in sich verschlossen hielt, vermochte solche Wunder zu bewirken. Lucas Nekromantie reichten nie an die Fähigkeiten seines Freundes heran.

Allerdings verschob er alle weiteren Überlegungen auf einen anderen Zeitpunkt. Es gab so viel, was er zu sagen hatte, und weitere Fragen, die ihm seine Freunde vielleicht erklären konnten.

Langsam und vorsichtig hob er die Lider, bereute es aber schnell wieder. Das Tageslicht brannte in seinen Augen und weckte Kopfschmerzen, die er bis dahin gar nicht als solche Wahrgenommen hatte.

Leise stöhnte er auf und verkroch sich dichter an Orpheus Brust. Der Elf blieb stehen und zog Luca enger an sich. Dem Magier war die Situation unsäglich peinlich, aber im Moment brachte er nicht einmal die Kraft auf, direkt die Lider zu heben.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Hauptmann besorgt.

Luca wollte aus einem Impuls heraus nicken, gab es aber sofort wieder auf. Was hatte er getan, dass sein Körper ihm gar nicht mehr gehorchte?

Er konnte nicht einmal eine Hand heben.

„Leg’ ihn ab“, bat die Luca wohl vertraute Stimme Justins.

Der Magier nahm wahr, wie Orpheu ihn in das weiche Gras legte. Die Erde unter dem Körper Lucas strählte Kälte aus. Sie mussten im Wald sein, dort wo wenig Wärme den Boden berührte. Wieder begannen seine Zähne vor Kälte zu klappern. Selbst der Urinstinkt, sich zusammenzurollen wie ein Kind, funktionierte nicht. Lucas Muskeln hatten ihm den Dienst versagt. Er spürte, dass jemand etwas über ihn breitete. Der schwere Stoff roch nach Ihad. In seinem Herzen breitete sich ein starkes Gefühl der Zuneigung und Wärme für seinen Meister aus. Einen Moment später hoben sanfte, geschickte Finger Lucas Kopf im Nacken an. Er fühlte, wie Ayco sich nah an ihn heran schob und ihn liebevoll umarmte. Der Gedanke, dass all seine Freunde sich so um ihn bemühten, berührte in Luca etwas. Er sah im Moment in ihnen nicht die Bedrohung, keine Gegner, oder die, die seine Flügel stutzten und ihn einsperrten. Jeder einzelne von ihnen war für ihn da und gab ihm das Gefühl, dass Luca ein wichtiger Teil ihres Lebens war.

Besonders Aycos Nähe half Luca, seine Wärme und die Gefühle, die jede einzelne Berührung für den Magier transportierte.

‚Jeder hat eine gute und eine schlechte Seite, Luca’, hörte er Tam in seinen Geist flüstern. ‚Und was Ayco ausgestanden hat, um bei dir zu sein, war mehr als dieser Kampf gegen den Halbelfen.’

Luca wollte ihn fragen, wollte alles erfahren, denn sein Geist war wach, aber alles in ihm, sogar die telepatische Verbindung zu Tam, versagte ihm den Dienst. Es ärgerte ihn maßlos nun gefangen in seinem unbeweglichen Körper zu sein. Aber allein das Denken, die Momente, in denen er wach war, ermüdeten ihn. Bald schon versank seine Welt wieder in verwirrenden Nebeln, die ihn zurückzogen.
 

Dunkelheit umfing ihn, als er erneut erwachte. Dieses Mal war es allerdings nicht die Finsternis hinter seinen Lidern, sondern die Tatsache, dass es Nacht war. Er lag unbekleidet in seinem Bett bei Thorn Rotbart und fröstelte leicht. Das Fenster stand offen, und er konnte die schimmernden Mondkreise, die sich einander näherten, halb hinter Wolken verborgen sehen. Der Duft der Wälder stieg ihm in die Nase, ebenso der Geruch der Tiere, der Ziegen, Schafe, Gänse und Kühe. Allerdings überlagerte der Duft von Aycos Haaren alles andere. Er hatte sich offenbar gründlich gebadet und seine silberne Haarpracht mit Seife gereinigt. Das Aroma des Elfs umhüllte ihn verführerisch und wunderbar. Die Wärme seines Körpers, der sich gegen Lucas schmiegte, der angenehme, gleichmäßige Herzschlag und das leise Rauschen seines Blutes, zogen Luca zusätzlich in seinen Bann.

Lucas Verlangen nach Ayco wuchs mit jedem Gedanken, an den Elf. Langsam realisierte Luca, dass er so viel Kraft verloren hatte, dass sein Körper ausgelaugt und fast unbrauchbar geworden war. Er war ausgebrannt. Der Gedanke erschreckte ihn nicht wirklich. Oft hatte er am Rande des Abgrundes gestanden. Die Höhle, der unkontrollierte Zauber, die Erkenntnisse in I’Eneels Haus und das Wissen über die Verbindung zwischen Aycolén und ihm zusammen mit dem wenigen, was er an Nahrung zu sich genommen hatte und der Anstrengung durch die ständige Abgabe von Lebenskraft, um andere zu heilen oder um über seine magischen Energien hinaus noch zaubern zu können, hatten alle Reserven aufgezehrt. Die momentane Situation kannte und fürchtete Luca ein wenig. Er wusste, dass die Gestalt des Seraphin übernahm, was die menschliche Form nicht mehr zu leisten im Stande war. Als Luca eine Hand hob, um seine Haut im Mondlicht zu betrachten, wunderte es ihn gar nicht, dass sie nicht bleich sondern porenlos und schwarz war. Der Dämon in ihm hatte alle Funktionen übernommen. Er senkte die Lider leicht und betrachtete den schlafenden Elf, Der Anblick des unschuldigen, knabenhaften Wesens schürte seine Lust, aber zugleich auch die Sehnsicht nach Lebenskraft. Er wollte Ayco lieben, aber im selben Atemzug sein Blut kosten. Der Gedanke sich ganz mit ihm zu vereinigen war so greifbar nah. Wie einfach es doch wäre, den Jungen im Schlaf zu verführen, sich seinen Körper untertan zu machen und in seiner höchsten Lust das Band zwischen ihnen mit Blut zu besiegeln. Lange betrachtete er Ayco, ließ sich von Geisterfingern seiner Vorstellungskraft liebkosen und in die Höhen des Verlangens tragen, genoss die Vorstellung und die Hitze, die sich in ihm anstaute und drängte sich dabei sehnsüchtig enger an seinen geliebten Freund. Ayco allerdings schlummerte friedvoll und still an seine Schulter gedrängt, so unschuldig, dass Luca sich in seiner Hitze selbst geißeln musste und den Gedanken mit aller Gewalt von sich schob. Es viel ihm unsäglich schwer, mit dem Wesen an seiner Seite, was für ihn bestimmt war. Er konnte sich nicht vollkommen zurücknehmen. Das war unmöglich. In dem Moment verstand er auch Justin, dem es so wenig möglich war, sich zu kasteien, wenn die Person, nach der er verlangte, die ganze Zeit um ihn war. Lucas Augen füllten sich mit Tränen. In seinem Herz stauten sich alle Facetten seiner Gefühle für Ayco und Justin. Die Liebe zu beiden überwog alles andere. Aber dieses Mal war es kein Gefühl tiefen Friedens und Glückes, sondern Unruhe, Zwang, ein Druck, den Luca sich kaum erklären konnte. Er glaubte sein Herz mit Blei ausgegossen zu haben.

Schuldgefühle gegenüber Justin erwachten, Wärme, liebevolle Nähe und das zwingende Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, weil er die körperliche Nähe des Vampirs nach 19 Jahren plötzlich zurückwies und sich nicht mehr den zärtlichen Händen Justins hingeben wollte. Zugleich wollte er sich für diese Zeit und die vielen Männer in seinem Leben vor Ayco entschuldigen ihm sagen, dass sein Herz nur ihm gehörte und dass nur seine Nähe ihn glücklich machte. Es verhielt sich auch nicht anders. Als Partner brauchte er nur diesen jungen Elf, aber Schamgefühl und Betroffenheit, sich nicht gezügelt zu haben für den Mann, den er die ganze Zeit suchte, nach dem er verlangte, ließen nicht die Nähe zu, die er sich die ganze Zeit ersehnte. Außerdem wusste er, dass Aycos feuriges Temperament schnell überkochte und er, ohne es zu wollen, schnell mit Ayco in Streit geraten konnte, besonders wenn der Elf etwas nicht hören wollte.

Luca suchte mit den Blicken den Raum nach Tam ab. Er sehnte sich nach seinem friedlichen, sanften Freund, der seine Gedanken und seine Liebe teilte. Tam war sein Ruhepol. Aber der Drachling, selbst völlig erschöpft von den Geschehnissen, lag zusammengerollt neben seinem Kopf auf dem Kissen und schlief so fest, dass Luca nichts außer narkotischer Schwärze aus seinem Geist extrahieren konnte.

Der Magier hatte das Gefühl getrieben von seinen Gefühlen, hinaus zu wollen, in die Nacht und die kalte Luft, die ihm sagte, dass er frei war.

Behutsam schob er sich unter Ayco fort und bettete den Jungen sanft in Kissen und Decken. Seine Schwingen behinderten ihn, selbst so eng an seinen Körper angelegt waren sie in dem engen Zimmer eine Last. Der Ruf des Windes war kaum noch erträglich. Er wollte hinaus, fliegen und vergessen. Langsam schritt er zu dem offenen Fenster hinüber und umklammerte mit einer Hand den Rahmen. Die Wolken zogen frei über ihm hinweg. Kälte streichelte seinen erhitzten Körper und weckte sein Verlangen erneut. Der Dämon, der Seraphin, der er war, zeriss ihn innerlich.

Wenn das unruhige Erbe seiner Mutter ihn auf diesem Weg in Besitz nehmen konnte, wollte er es nicht annehmen. Er sehnte sich nach dem ruhigen Ausgleich, der sonst in seiner Seele herrschte.

Aycos sanfte Finger strichen durch Lucas Haarmantel langsam seine Wirbelsäule hinab und riefen einen wunderbaren Schauer hervor. Wie schon zuvor hatte er den Elf nicht wahrgenommen, bis er direkt bei ihm stand.

„Ohne dich fehlt mir die Wärme“, sagte der Elf leise. Ohne ein weiteres Wort umklammerte er Lucas Taille und schmiegte sich in das weiche, schwarze Gefieder und das über den Boden fließende Haar.

Die Lider des Magiers schlossen sich. Der dämonische Seraphin fand plötzliche Ruhe. Die wenigen Worte Aycos hatten die Macht Lucas Herz zu beruhigen.

„Du bist mein Herz und meine Seele“, flüsterte Luca. Langsam drehte er sich von dem Fenster und der kalten Nachtluft, seiner Freiheit, ab, um Ayco in seine Arme zu schließen. „Ich liebe Dich, Ayco.“
 

Dieses Mal erwachte der Magier zusammen mit Ayco, glücklich und immer noch wohlig erschöpft von der letzten Nacht. Er konnte zwar nicht behaupten, dass seine magischen Kräfte wieder zurückgekehrt waren, aber innerlich hoffte er auch darauf, dass er sie in den nächsten Tagen nicht wirklich brauchen würde. Von Thorn erfuhren sie, dass es der letzte Tag in Night’s End sein würde, bevor sie ihren Rückweg nach Valvermont antreten würden. Der Tross sollte groß sein. Aki Valstroem, Sjorn, die drei Mädchen – obgleich Luca bezweifelte, dass Ria die Bezeichnung gerne hörte – Linette und Gerome würden ihnen folgen und ziemlich alle Gefangenen, die sie gemacht hatten. Ebenso natürlich auch die beiden Ordensgroßmeister und Justin. Allerdings würden sich diese Drei in der Feistadt von ihnen trennen. Ihr Weg war dort zu Ende. Von Valvermont aus, so beschloss zumindest Orpheu, mit stillem Einverständnis von Luca, wollten sie gen Süden über die Küstenstrecke mit dem Schiff die letzte Etappe bewältigen. Sarina allerdings war wesentlich weiter entfernt als die Eisenberge von Valvermont. Ayco zumindest wehrte sich sehr gegen die Vorhersage, dass sie mehrere Zehntage an Bord eines Schiffes reisten. Durch die Halbherzigkeit seiner Einwürfe, nahmen die wenigsten Teilnehmer an dieser Versammlung ihn ernst. Luca konnte wieder einmal nur aus seinen Gefühlen heraus urteilen, aber er spürte ganz deutlich die panische Angst seines Geliebten vor dem Wasser und der offenen Weite des Meeres. Auch der Gedanke, dass sie nur wenige Meilen von der Küste entfernt dahinsegelten, machte Ayco nicht sicherer.

Luca beschloss, ihn, wenn nicht alle Gefährten und Freunde um sie versammelt waren, und er Gerome für eine kurze Zeit endlich loswerden konnte, zu fragen, was der Grund dieser Ängste war.

Insgesamt hatte Luca noch so viele verschiedene Fragen an Ayco. Das, was er gehört hatte, bevor er in dem Herrenhaus das Bewusstsein verlor, was seine Freunde gesehen und gefunden hatten, aber auch das, was er so dringend Ayco mitteilen musste, dass es nicht Kyle war, der Night’s End vernichtete, sondern sein einstmaliger Adjutant Gregorius.

Außerdem musste er sich mit Ayco wegen Gerome austauschen. Ihm war aufgefallen, dass der Kleine keinen Moment ausließ, sich Ayco anzubieten, und der Elf, der dieses Verhalten mitbekommen hatte, wusste oft kaum, wie er sich diesen, ihm peinlichen Situationen entgehen konnte.

Zu allem Überfluss brauchte Luca etwas zu essen.

Leider musste Luca bis zum bitteren Ende neben Orpheu die Beratung ertragen, und war, wie sein Mentor und sein Großmeister, sowie auch Ayco, dazu gezwungen, mit knurrendem Magen den anderen beim Essen zuzusehen. Im Gegensatz zu Ayco oder Cyprian ließ ihm Orpheu, der einige verführerisch duftende Stücke Honigbrot mit frischer Sauerrahm-Butter vor sich liegen hatte, die Luca das Wasser im Mund zusammen laufen ließen, nicht die Möglichkeit das eine oder andere Mal den Schankraum zu verlassen, in dem sie sich versammelt hatten.

Der Durst quälte ihn fast genauso schlimm. Manchmal wurde es Luca schwindelig vor Hunger und er hatte in manchen Situationen eher das Essen seines Gesprächspartners zu fixieren, als die Person. Einigen fiel es nicht auf, Orpheu allerdings bemerkte es mit spöttischem Funkeln in den Augen und Ihad mit einigem Tadel im Blick.

Luca fühlte sich wie ein kleines, zurechtgewiesenes Kind. Einerseits entglitt ihm seine sonst so starke Selbstdisziplin, zum anderen sah er sich selbst als furchtbar unhöflich seinen Gefährten gegenüber.

Ihad hatte es sicher einfach. Der konnte bereits auf seinem Zimmer etwas zu sich nehmen. Cyprian sicher auch. Ayco würde sicher bei seinen Wegen durch die frische Luft den einen oder anderen Beerenstrauch oder Apfelbaum besuchen. Das Leben konnte ja so grausam sein, besonders mit Orpheu als Hauptmann, der alle Schwächen Lucas kannte und sie weidlich ausnutzte. Tief in sich schwor Luca grausame Rache, hatte aber den Gedankengang schon längst wieder vergessen, als die Versammlung sich gegen Mittag auflöste. Ayco erwartete Luca bereits an der Tür in den Hof. Er hatte es vermieden, sich zu setzen. Die letzte Nacht musste ihre Spuren hinterlassen haben. Mit einiger Sorge dachte Luca daran, dass sie ab morgen die meiste Zeit im Sattel verbrachten, bis sie die Freistadt erreichten.

Tambren, der es im Moment vorzog, selbst zu laufen, weil die Gefahr bestand, dass Luca ihn vielleicht versehentlich fallen ließ, verdrehte seinen Kopf zu seinem Herren und betrachtete ihn. „Du solltest vielleicht bei Ayco etwas vorsichtiger sein. Er ist das Spiel noch nicht gewohnt. Sein Körper ist zerbrechlicher als der Deine.“

Darin konnte Luca ihm nur zustimmen, auch wenn sich der Magier, dessen Gestalt wieder menschlich war, immer noch fühlte, als könne ihn jeder stärkere Windstoß umstürzen.

„Ayco, Luca, wartete auf mich!“, schrie Gerome und trampelte über die Dielen. Luca war es vollkommen unverständlich, wie ein solch zierliches Kind den Auftritt eines ausgewachsenen Steintrolls in der Größe Manos, haben konnte. Selbst die Tonbecher auf den Tischen bebten. Langsam drehte er sich um und überlegte einen Herzschlag lang, ob er einfach nur zur Seite treten und den Kleinen an sich vorbei stürmen zu lassen, verwarf die Idee allerdings ganz schnell wieder.

Gerome sprang Luca mit ausgebreiteten Armen an. Der Junge machte so offenkundig den Eindruck glücklich zu sein, dass es dem Magier wieder gut ging, dass Luca die ganzen negativen Gefühle und sein Misstrauen von sich wies. Im Moment hatte er wieder das Gefühl, einen kleinen Bruder zu haben, auf den er aufpassen und ihn erziehen musste. Der Sprung Geromes endete, allerdings nicht in Lucas Armen. Wie immer Orpheu es gelungen war, den Kleinen wieder einzufangen, konnte Luca gar nicht genau sagen. Das Kind hatte ihn wieder so von seiner Umwelt abgelenkt, dass sein Sichtfeld sich auf den schwarzhaarigen Jungen konzentrierte.

Allerdings hielt Orpheu ihn am Hosenbund hoch und trug ihn zu seinem Tisch zurück.

Gerome wetterte und einige sehr unfeine Flüche entglitten seinem Mund.

Tadelnd hob Kione den Zeigefinger und drohte ihm leise. Sie war wieder ganz die Edeldame aus Rouijin, zumindest so lange Justin in ihrer Nähe war. Nea schob ihm einen vollen Becker heißer Milch hin und deutete mit einer Geste auf den Platz neben sich, der bei Ablehnung lediglich eine Ohrfeige bedeuten konnte. Justin hielt dem Jungen etwas Honigbrot hin. Allerdings lehnte Gerome ärgerlich ab. Justin zuckte die Achseln und bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, den Luca nur als blankes Misstrauen interpretieren konnte. Die Zwergin Ria schob Gerome etwas zur Seite und ließ sich nahe dem noch immer speisenden Elfenvampir nieder. Luca tauschte mit Ayco einen langen Blick. „Wir sind bald wieder da, Orpheu!“, rief der Elf.

Mit erhobenem Teebecher nickte ihnen der Hauptmann zu.

„Ich will mit!“, insistierte Gerome.

„Lass die beiden erst mal wieder halbwegs werden, Kleiner“, winkte Orpheu ab. „Außerdem hat sich hier bislang noch keiner entschieden, dich auf einen Spieß zu ziehen und über dem Feuer aufzuhängen.“

Luca wendete sich erleichtert ab. Immer wenn Gerome nicht in seiner Nähe war, konnte er klar denken.

Bereits auf der Treppe, folgte ihnen noch das Gespräch zwischen ihren Gefährten und dem Jungen.

Tambren hüpfte träge die einzelnen Stufen hinab und watschelte breitbeinig über den ausgesandeten Innenhof. Luca beobachtete seinen kleinen Freund. Ihm gefielen der warme Boden und das Sonnenlicht.

Einige der Händler saßen auf den Bänken und stillten ihren Durst und Hunger. Niemand nahm Notiz von den beiden Männern und dem kleinen Drachen. Dieses Gefühl tat Luca gut und es hielt sich auf ihrem Weg durch Night’s End.

Sie verließen das Dorf in Richtung des Flusses. Aber bereits auf der Hälfte des Weges zog Ayco ein Bündel aus seinem Hemd und reichte es Luca mit breitem Grinsen. Luca betrachtete den Stoffbeutel, nahm ihn dem Elf ab und schmunzelte. Wo immer der junge Mann das Honigbrot her hatte, es war noch schön warm, und der Duft drang durch das Tuch hindurch.

„Frisch geborgt aus dem Ofen der Wirtin“, bekannte Ayco.

„Geborgt?“, wiederholte Luca zweifelnd.

„Geklaut“, erklärte Tam. „Sag’ mal, hast du Intelligenzbestie immer noch nicht begriffen, dass Ayco ein Dieb ist?“, tadelte ihn der Drachling barsch.

Luca hob eine Braue. „Damit habe ich ja gerechnet“, gestand er. „Aber Ayco“, er sah dem Elf in die Augen, „sollte mir das von sich aus sagen.“

Der junge Mann errötete. „Das entspricht sicher nicht deinem Gefühl für Gerechtigkeit und Anstand, oder?“, entschuldigte er sich hilflos. „Ich meine, ich weiß ja, dass du als Kind schon ehrlich und gerade heraus warst und ich...“

Luca legte ihm die Finger über die Lippen und sah ihn strafend an. Aycos Mimik war ein Spiegelbild vollständigen Leides. Der junge Mann machte den Eindruck, als würde die Welt um ihn zusammenbrechen.

Luca grinste plötzlich. „Wenn du redest anstatt etwas von dem warmen Brot zu versuchen, bist du selbst daran schuld.“

Fassungslos klappte Aycos Unterkiefer herunter. „Oh, du Gauner, und ich dachte, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst, wenn ich dir das sage!“, schnappte er wütend.

Luca öffnete das Tuch und warf Ayco einen verschmitzten Blick aus dem Augenwinkel zu. Behutsam brach er etwas von dem dunklen Brot ab und fühlte die weiche, warme, klebrige Krume in seinen Fingern. Bevor der Elf mehr sagen konnte, hielt Luca ihm etwas von der köstlichen Süßspeise vor die Lippen. Er lächelte dabei. Der Elf zögerte kurz, nahm es dann aber sanft mit dem Lippen auf.

Das Gefühl, was in Luca erwachte, war mehr als Wärme und Zuneigung. Am liebsten hätte er den jungen Mann in seine Arme geschlossen und nie wieder losgelassen.

„So, oh großer Meister, nun kannst du Tammy und mich ruhig weiter füttern!“, forderte Ayco Luca lachend auf.

Der Magier ließ sich von dem zärtlichen Glücksgefühl gänzlich erfüllen. Ein gutmütiges Lächeln huschte über seine Lippen und er brach das nächste Stück für Tam ab, um seinem Drachling auch eine Freude zu machen. Wesentlich weniger sanft als Ayco schnappte er danach und biss Luca leicht in die Fingerkuppen. Der Magier sog die Luft zwischen den Zähnen ein, sagte aber nichts. Tams Gier konnte er verstehen. Er suchte sich einen angenehm schattigen Platz am Wegesrand und ließ sich dort nieder. Ayco und Tam setzten sich rechts und links nieder. Hungrig starrten Beide das Brot in Lucas Händen an. Der Magier grinste. „Worauf wartet ihr?“
 

Wohl gesättigt und träge lag Luca im Gras am Bach und hielt Ayco in seinen Armen. Tam hatte sich zusammengerollt und zwischen die beiden Männer gedrängt, um die Wärme beider Körper zu haben. Luca wusste, dass er nicht schlief. Tam war viel zu neugierig, wie Luca auf Aycos Erzählung der Dinge, die er in dem Haus I’Eneels Haus erlebt hatte, reagieren würde.

„Was habt ihr gefunden?“, fragte der Magier leise.

„Das ist gar nicht so einfach zusammengefasst“, erklärte der Elf leise. „Fang einfach dort an, wo wir im Garten getrennt wurden?“, schlug Luca vor.

Der Elf wiegte den Kopf. „Das war der Moment, in dem Gerome sich losgerissen hatte.“

„Gerome“, murmelte Luca nachdenklich. Er war sich so sicher, dass der Junge ein Spitzel Gregories war.

„Das Hauptportal stand einen Spalt offen und der Kleine hatte sich durchgezwängt. Leider waren Orpheu und ich nicht so schnell. Ich kam vorbei, allerdings musste der Hauptmann die Türen fast aus den Angeln reißen, um hindurch zu passen. Justin war es, der mir folgte. Zu Anfang waren Gerome, Justin und ich allein in dem Haus. Von euch haben wir weder etwas gesehen noch gehört. Das lag aber auch an Orpheu, der wie eine lebende Barriere in der Tür klemmte und sie aufhebelte. Ihad muss ihm wohl dabei geholfen haben. Justin und mir allerdings blieb gar nicht die Zeit, uns um sie zu kümmern. Der Junge war bereits in einer der oberen Etagen und uns blieb nichts, als ihm zu folgen. Ein solches Bürschchen, zu fein um Leinen zu tragen, hätte sich an dem Dreck auf dem Boden eher die nackten Fußsohlen zerfetzt.“

„Und, hatte er das?“, fragte Luca vorsichtig. Er kannte die Antwort.

„Nein“, knurrte Ayco. „Dafür konnte ich mir später spitze Steine, Splitter, Holz und Nägel aus meinen Fußsohlen ziehen, und ich bin gewohnt ohne Schuhe zu laufen.“

Luca nickte. „Der Kleine ist seltsam. Er ist so offenkundig ein Verräter. Warum macht er das? Weshalb lässt er es darauf ankommen, dass es eskaliert?“

„Das tut er nicht. Er hat dich und mich, die immer wieder weich werden“, erklärte Ayco mit einiger Wut in der Stimme.

„Wo habt ihr ihn wieder eingesammelt?“, lenkte Luca das Gespräch zurück.

„In meinem Turm“, gestand Ayco. „Er saß an dem Turmfenster und sah nach draußen. Die alte Wolldecke von mir hatte er um sich geschlungen und sog den modrigen Gestank ein. Das war unheimlich. Justin sagte mir, er wolle lieber in den Schatten bleiben, sozusagen als mein Trumpf, würde etwas passieren.“

„Ist etwas passiert?“ Luca hatte dieses Mal ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

„Ja. Und ich war sehr froh, dass Justin bei mir geblieben ist!“ stieß Ayco hervor. „Irgendwie bin ich in ein morsches Brett getreten und hatte mir das Fußgelenk verdreht. Aber dabei bin ich auch wieder auf die Kiste aus unserer Kindheit gestoßen. Das Ding, in dem all unsere Schätze verborgen lagen. Glaskugeln, Zeichenkohle, einen Holzkreisel, getrocknete Blumen, alte Zeichnungen von dir und mir, ein Eisenring und noch einiges mehr.“

Luca glaubte sich daran zu erinnern. Es waren Leas Glasmurmeln, Aycos Zeichenkohle und ein graues Seidenband, mit dem Lucas Haar einstmals zusammengebunden worden war.

„Ja, ich glaube ich weiß, was da alles lag. Auch mein Haarband, oder?“

Ayco nickte.

„Das hatte dir gefallen. Das und meine …“ Luca verstummte und wendete den Kopf. Er versuchte in Ayco Augen etwas zu lesen, eine Antwort darauf, was er noch in I’Eneels Haus verborgen hatte. „Meine Ordensrobe, die Gewänder, die mir Ihad vor einhundert Jahren hatte nähen lassen“, flüsterte er tonlos.

„Das habe ich dann auch erkannt. Ihad hat dich damals schon in seinen Fängen gehalten und es dir jetzt verschwiegen. Das waren Kleider, die nur einem Kind passen konnten. Aber was ich auch fand war ein versteinertes Herz, Luca. Es war klein, das Herz eines Kindes.“

Der Magier schwieg. Er wusste, dass Ayco sein Herz in Händen gehalten hatte.

„Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass es ein Herz war, aber dann, als ich es anfasste und es Gerome, der es wie einen Stein wegwerfen wollte, entzog, kamen die Visionen wie alptraumhafte Erinnerungen zurück. Ich habe das Bild eines Mannes gesehen, der dir dieses Herz heraus nahm und es I’Eneel als Unterpfand gab.“

Luca schreckte die Vorstellung nicht mehr. Er nahm den Gedankengang still hin.

„Der Kleine war plötzlich über Ayco und hatte ihn in seinem Bann“, erklärte Tam anstatt des Elfs. Ayco sah den Drachling verwirrt an. „Davon habe ich nichts mitbekommen!“, rief er hilflos.

Tam ignorierte ihn „Gerome feilschte zu Anfang mit ihm um das Herz, schaffte es aber nicht. Dann zwang er Ayco an sich und versuchte ihn mit seinen Reizen zu zwingen, ihn zu verführen. Und das schrecklichste dabei war, dass er seine Gestalt veränderte. Er sah aus wie eine kindliche Form von Luca, allerdings mit blauen Augen. Ayco war gar nicht mehr in der Lage sich so gegen ihn zu wehren, wie er es wollte. Anhand seiner Gedanken war ich mir sicher, dass er auch dich sah, Luca.“

Der Elf erbleichte und klammerte sich an seinen Geliebten. „Ich wollte es nicht!“

Luca strich ihm durch das Haar. „Du trägst keine Schuld“, versuchte er ihn zu beruhigen, war aber selbst zornig.

Tam hob den Kopf. „Gerome hatte das Herz bereits in den Händen. Er hat aber nicht von Ayco abgelassen. Er will ihn besitzen, Luca. Ihn, sein Leben und seinen Geist. Ohne Justin wäre nun alles verloren gewesen. Er hat Ayco aus seinem Bann befreit und dem Jungen das Herz entrissen.“

Luca umarmte seine beiden Freunde fester und umklammerte sie mit aller Kraft. Er hatte mehr Angst Ayco und Tam zu verlieren, als sein Leben aufzugeben. Der Gedanke, dass Gerome Ayco etwas tun konnte, war schlimmer als alles sonst.

„Aber warum habt ihr nicht …“, begann Luca.

„Gerome ist kein Kind, Luca“, fiel ihm Tam ins Wort. „Es ist derselbe, der Lea, Lyeth und dich getötet hat.“
 

Der Magier empfand wenig Überraschung bei Tams Worten. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass ihm der Schreck tief in die Glieder fuhr. Die Reaktion Aycos allerdings war eher eine Mischung aus Schrecken und plötzlicher, sehr tief sitzender Angst. Offenbar hatte auch er die ganze Zeit über etwas Vergleichbares vermutet, aber darüber geschwiegen.

„Aber er ist ein Kind“, murmelte Ayco. „Und ich habe meinen Vater in den Flammen gesehen. Lea, warum sagt sie, es war Kyle?!“, fragte er nun mit Nachdruck.

Luca schwieg. Er ließ die Dinge, die er durch I’Eneel erlebt hatte, noch einmal an sich vorüber ziehen. Kyle war bei dem Angriff nicht dabei gewesen. Er hatte ihn weder gesehen noch gefühlt, dafür allerdings Gregorius und I’Eneel. Diese beiden Gesichter hatten sich nun unauslöschlich in seinen Kopf gebrannt. Lea, was hatte sie getan? Luca glaubte sich zu erinnern, dass sie auf etwas wartete. Sich in der Kapelle aufhielt, nicht um zu beten, sondern weil sie wartete.

Auf wen? Die Hilfe ihres Vaters? Kyle musste zu spät gekommen sein, erst zu dem Zeitpunkt, als Gregorius bereist sein Werk vollendet und abgezogen war. Wie lang hatte Ayco gebraucht, sich aus dem Herrenhaus zu befreien? Es musste genügend Zeit in Anspruch genommen haben, um Gregorius abziehen zu lassen. Warum hatte I’Eneel Aycos Leben geschützt? Der alte Magier sperrte den Jungen damals ein, weil er wusste, was in Night’s End passieren würde. Er war derjenige, der den Pakt mit Kyle gebrochen hatte. Aber warum? Was war sein Hintergrund?

Die Geheimnisse um Night’s End waren noch nicht gelüftet. Ebenso der Zusammenhang mit seiner eigenen Person zu dem Ort. Warum war er damals hier gewesen, in nahezu der gleichen Gestalt und mit dem gleichen Namen wie den er jetzt trug? Warum war er damals ebenfalls in Ihads Orden? Zumindest konnte sich Luca Ihads massives Interesse an seiner Person nur so erklären, dass der Großmeister der Pentakel etwas über ihn wusste, was Luca verborgen blieb. Wahrscheinlich war es etwas in Lucas Bestimmung, die ihn für Ihad unersetzlich machte. Deshalb hatte er den Jungen seiner gesellschaftlich und finanziell maroden Familie für eine Summe abgekauft, mit der man eine kleine Stadt erwerben konnte.

Ihn konnte Luca fragen, aber er zweifelte mehr denn je daran vorzeitig auch nur eine Information zu erhalten, die die Pläne des Feuerdämons aus den Kalifaten aufdeckten.

Cyprian war sicher nicht in alles eingeweiht. In vielen Punkten misstraute Ihad seinem Bruder, schon weil Cyprian als Lucas Mentor, seine ganze Seelenkraft für seinen Schüler opferte und sicher bereit war alles zu tun, um ihm zu helfen. Die Neigungen des Eisdämons waren schon immer klar. Er tat alles für seinen Schützling.

Es gab wenige, von denen Luca passende Antworten erhalten konnte. Einer von ihnen lebte nicht mehr.

Kyle würde er, mit etwas Glück, in Sarina wieder sehen. Aber bis dahin hatten sich seine Fragen verdreifacht. Allein jetzt trug er eine Masse unbeantworteter Dinge mit sich herum und sah, dass jede Lösung neue Fragen aufwarf.

Gerome, oder Gregorius, wusste sicher alles, aber ihn auch nur wissen zu lassen, dass sein Geheimnis keines mehr war, konnte für alle Beteiligten gefährlich werden.

„Luca, ich rede mit dir!“, zischte Ayco und riss den Magier wieder in die Gegenwart zurück. „Es wäre schön, wenn du deine Gedanken auch mit mir teilst!“

Das, was Luca allerdings in Aycos Augen las, war mehr als Ärger. Sein Freund war hilflos und fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Er hatte so wenige Antworten parat wie Luca, nein, sogar weniger.

Der Magier seufzte leise und schloss die Augen, zog Ayco eng an sich und drückte den Kopf des Jungen gegen seine Brust. Tam arbeitete sich, bevor er endgültig erdrückt wurde, unter Ayco hervor.

„Was Night’s End betrifft, Ayco, habe ich nur Vermutungen für dich als Antwort.“

„Dann sag’ sie mir“, flehte Ayco und klammerte sich mit beiden Händen in Lucas Hemd.

Unschlüssig nagte Luca an seiner Unterlippe. „Da gibt es so viel, Ayco. Auch was mit meinem Traum gestern früh zusammen hängt. Meine eigenen Gedanken stehen noch lange nicht in Einklang damit.“

„Dann lass es uns gemeinsam...“

„Zu dritt!“, unterbrach Tam Aycos Satz.

„... herausfinden. Gut, zu dritt“, gab der Elf nach.

Tam legte sich flach auf Lucas Bauch und rollte zufrieden seinen Drachenschwanz um seinen Körper.

„Dann fang an mit deinem Traum, Luca“, bat Ayco.

Der Magier nickte nachdenklich. „Der Traum war eine lodernde Szenerie aus dem inneren eines Vulkans. Allerdings nehme ich an, dass es nichts anderes als eine Darstellung Night’s Ends war. Der Findling war ein Teil des Traumes, du als Kind, aufgehängt an Ketten, aber genauso Lea. Sie war eine Puppe aus Leichenteilen, deren Fuß in die gleiche dünne Goldkette verharkt war, die sich um deinen Bauch wand.“

Luca wagte einen Blick zu Ayco. Es war nicht seine Art normal von seinen bizarren Träumen zu erzählen. Aber er hatte das Gefühl, dass, so verwirrend die Bilder erschienen, alles ganz einfach und nicht sinnbildlich zu verstehen war.

Der Elf hatte die silbrigen Brauen zusammengezogen und hörte still zu.

„Es gab noch einen Seraphin mit sechs Flügeln, einen sehr hohen Seraph, ein kleiner Junge aber. In seinen Fingern lief die Kette zusammen. Er saß auf einer Basaltzunge inmitten des Infernos. Hinter ihm waberte eine fast erdrückende Unendlichkeit. Allerdings hatte ich das Gefühl, als sei er vollkommen paralysiert, apathisch.“

„Wer war das?“, fragte Ayco nun neugierig.

Luca deutete ein Schulterzucken an. „Ich weiß es nicht. Einen Seraph mit sechs Schwingen kenne ich, einen mächtigen, uralten Seraph, noch aus der ersten Periode des Äons. Amoth ist sein Name. Aber das ist auch der einzige Sechsgeflügelte, der mir einfällt. Und als Kind kann ich ihn mir kaum vorstellen.“

Luca lächelte versonnen. „Wenn er das war, dann hätte ich ihn am liebsten sofort in die Arme geschlossen und ihn beschützt. Er sah wirklich hilflos und traurig aus.“

Ayco schmiegte sich enger an Luca, zog Tam mit, bettete seinen Kopf auf dem runden Kugelbauch des Drachlings und ignorierte jeden Einwand des kleinen Kerls.

Luca streichelte beiden über die Köpfe.

„Dann hing an dir ein Seraphkind, ein kleiner Junge mit vier Flügeln. Er war ein Synonym für Gerome, darin bin ich mir sicher, Ayco.“

Der Elf verzog angewidert die Lippen. „Stell dir vor, dieser Junge war oft in den Eisenbergen in meiner Nähe, und näherte sich mir oft beim Baden, oder begleitete mich durch die Höhlen.“

Luca hob eine Braue. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. „Davon hattest Du mir nichts gesagt.“

Ayco seufzte leise, verzog die Lippen und murmelte: „Ich wollte ja, war mir aber unschlüssig wegen Orpheu. Du und er, ich wollte den Kleinen nicht in Gefahr bringen, wenn ich offen sagte, dass er Gregories Leibdiener und Gespiele war. Der Kleine hatte sich seinen Erzählungen nach nie wirklich gut dabei gefühlt und oft meine Nähe gesucht. Also wollte ich ihn schützen. Orpheu wäre sicher bereit gewesen, ihn vor Sarinas höchste Richter zu schleifen.“

In Luca erwachte tiefe Eifersucht, die sich seiner Gefühle bemächtigte und sein Herz zusammenzog. Einige Sekunden schwieg er, zwang den Gedanken, dass Gregorie ständig in Aycos Nähe war, ihn mit seiner naiven, kindlichen Gestalt bezaubert und in seinen Bann gezogen hatte, nieder und atmete schließlich tief durch.

„Jetzt würde ich ihn am liebsten höchst persönlich bei dem Kaiser abliefern und die Avatare der Götter zu seinen Richtern machen!“, sagte Luca bissig.

„Luca, Ayco hat es verstanden!“, mahnte Tam verärgert. „Du musst nicht noch in der Wunde bohren.“

Luca kam sich selbst schäbig vor. Ihm war allerdings nicht klar, wie er den Jungen weiterhin in Sicherheit wiegen sollte mit dem Zorn, den er in seinem Herzen trug. Luca war so schon nie ein guter Schauspieler gewesen, aber das ging sicher über seine Kräfte.

„Erzähl bitte weiter“, drängte Ayco, dem offenbar die Situation mehr als peinlich war.

„Er krallte sich an ein Amulett, das dein kindliches Ich in den Händen hielt...“

Der Elf zuckte entsetzt zusammen und fuhr auf. „Dieses kleine...“ Dicht neben Lucas Kopf rammte er seine Faust in das Erdreich.

Tam zuckte und schlang in einem Reflex seinen Schwanz um die Schnauze, sodass nur noch seine goldnen Augen und eine Ohrquaste, die langsam ebenfalls versank, zu sehen war. Langsam, fast träge folgte Luca der Bewegung seines elfischen Freundes und hob eine Braue. Ein kleines Pusselteilchen fügte sich zu einem klareren Bild in seinem Traum ein.

„Diese Ratte hat mein Amulett!“, zischte Ayco und betrachtete seine aufgeschlagenen Fingerknöchel, ohne wohl den Schmerz zu registrieren. „War es ein Feueramulett mit Flammenkranz und Rubinen?“, fragte er Luca ernst.

Der Magier nickte. „Es war ein besonders wertvolles Ordensamulett“, entgegnete er. „Ayco, es ist nur ein Traum“, warnte er. „Verrenn’ dich besser nicht.“

Der Elf sah ihn mit brennender Leidenschaft an. „Das Amulett hatte mir meine Mutter gegeben, an dem Tag bevor Night’s End fiel. Seither hatte ich es immer bei mir. Ich dachte, als ich in den Eisenbergen als Spion aufgefallen war, dass ich es nie wieder sehen würde. Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass Ihad es in seinem Wahn dort eingeschmolzen hatte. Aber wenn dein Traum stimmt, hat Gregorius es. Diese Ratte!“

Der Elf sprang auf und machte sich daran sofort loszustürzen.

„Langsam!“, sagte Luca in einem sehr harten, befehlenden Ton, der den Elf sofort zusammenfahren ließ.

Jetzt erwachte der Widerspruchsgeist Aycos erst recht. „Verdammt, dieses kleine Mistvieh rennt mit meinem Anhänger durch die Gegend!“ Er machte eine Handbewegung Richtung Night’s End. „Diese Kröte hat meine Mutter und Lea ermordet, er hat dich getötet, Luca, reicht das nicht?!“ Aycos Stimme überschlug sich fast in seinem hitzigen Zorn. „Er hat Hunderte anderer Wesen getötet, sie in diesem Lager zu Tode quälen lassen, und er war bereit alles zu tun um an das versteinerte Herz zu kommen, was Justin, er und ich gefunden haben!“

Luca verstand Aycos rachsüchtigen Zorn zu gut. Am liebsten hätte er die Liste mit allen Punkten, die ihm noch einfielen, verlängert. Aber in seinem Kopf warnte bereits wieder die Stimme der Vernunft.

„Und, Ayco, er hat eine Königin und Göttin gefangen und eingesperrt. Er hielt die Herrin des Todes in seinen Klauen“, sagte er ruhig. „Das sollte dir sagen, dass wir vernachlässigbar sind für ihn, keine Gegner, die er auch nur eine Moment lang ernst nimmt.“

Der Elf erblasste. Luca konnte sehen, wie alle Kraft aus ihm wich. Diesen Punkt hatte Ayco offensichtlich verdrängt.

„Meinst du, er wusste, wer Aki ist?“ fragte Ayco leise und kniete sich wieder neben Luca.

Der Magier wich seinem Blick aus. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ja. Beschwören kann ich es nicht. Aber ich denke, es war kein Zufall, dass wir die Königin der Nordlande in seinen Fängen vorfanden. Selbst wenn es ihm nicht klar war, hatte er doch die Macht, sie zu binden. Das sollte dir noch mehr zu denken geben, Ayco.“

Der Elf hob hilflos die Arme. „Was hält ihn denn davon ab, mit uns allen einfach nur so zu verfahren, wie er es mit den Wesen in der Höhle getan hatte?“

Luca legte den Kopf schräg. „Vielleicht ist es etwas in Night’s End, vielleicht dieses versteinerte Herz. Was habt ihr eigentlich damit gemacht?“, fragte er nun mit einiger Neugier.

„Eigentlich wollten Justin und ich es beerdigen, aber dann wurdest du ohnmächtig, und die Reaktion von Gerome hat uns beiden ziemlich zu denken gegeben.“

Er hob die Schultern. „Wir haben etwas beerdigt. Einen wunderschönen, großen Eckstein von einem kleinen Feld.“

„Justins Idee, oder?“, fragte Luca.

Tam peitschte Luca kurz mit seinem Schwanz. Im ersten Moment wollte sich der Magier darüber beschweren, wusste aber einen Herzschlag später, warum der Drachling das getan hatte.

„Gar nicht!“, beschwerte sich Ayco. „Das war meine Idee!“

Er strich sich einige seiner Haarsträhnen aus den Augen. „Ich bin der Dieb, nicht Justin.“

„Der hat zuweilen auch klebrige Finger“, murmelte Luca mehr zu sich selbst als zu Ayco.

Geflissentlich überhörte der junge Mann die Worte des Magiers. Luca vermutete, dass er dem Stolz des Elfs gerade einen gehörigen Schlag versetzt hatte.

„Du hoffst, dass Gerome darauf hereinfällt?“, fragte Luca. Leider gelang es ihm nicht ganz seine Skepsis aus der Stimme zu verbannen.

„Im Moment hat Justin es. Er sagte mir, er würde es aus der Reichweite Geromes an einem vollkommen sicheren Ort unterbringen.“

Luca ahnte, wo sein alter Freund dieses Herz verbergen wollte. Gelegentlich würde er Justin danach fragen.

„Nun erzähl’ bitte weiter“, drängte Ayco.

Luca ließ sich wieder in das Gras zurück sinken, streckte sich und verschränkte die Arme im Nacken.

Tam krabbelte auf seinen angestammten Platz auf seiner Brust und räkelte sich ebenfalls, bevor er sich wieder zusammenrollte und schläfrig die Lider senkte.

Ayco hob eine Braue, nahm den Drachling hoch, der sofort wild protestierte, schmiegte sich dann aber an genau die Stelle auf Lucas Brust und umschlang den Drachling wie eine Kind eine Strohpuppe.

Tam gab es auf. Erschöpft hing er in den Armen des Elfs und starrte beleidigt zu Luca hinüber, von dem er zumindest irgendeine Art der Hilfe erwartete.

Der Magier lächelte. „Die Ketten zogen sich um den Findling, das Felsenkind, zusammen. Allerdings steuerte das nicht der Seraph mit den sechs Schwingen sondern Gregorius, Gerome, wie immer er wirklich heißt.“ Für einen Moment stand ihm das Bild seines Traumes und das Erlebnis bei I’Eneel wieder vor Augen. Er spürte in beiden Fällen, wie die Ketten seinen Körper zerstörten. Zögernd sprach er weiter. „Das Felsenkind wurde zu einem lebenden Wesen. Die Kettenglieder zerrissen es. Damit endete mein Traum.“

Ayco schauderte. „Von Ketten zerschnitten zu werden muss ein grauenhafter Tot sein, Luca.“

Kälte durchkroch Lucas Körper. „Ist es Ayco. So hat Gregorius mich vor hundert Jahren hier in Night’s End töten lassen.“

Ayco riss die Augen auf. „Wie?!“

Luca sah ihn ruhig an. „Bevor I’Eneel starb, zeigte er mir in diesem Duell die letzten Momente bevor Night’s End fiel. Ich weiß nicht, ob es seine Taktik war, mich mit der Illusion der Vergangenheit zu schwächen, oder ob es wirklich seine Art war, mir meine Fragen zu beantworten, aber es war in jedem Fall ein Geschenk an mich, Ayco.“

Der Magier lächelte, als Ayco auffahren wollte.

„Das ist kein Geschenk, wenn er dich durchleben lässt, was du schon einmal ertragen hast!“, ereiferte er sich.

Tam packte eine Haarsträhne des Elfs und zog daran.

„Au!“, rief der junge Mann. „Bist du verrückt?!“

„Anders ignorierst du mich ja“, erklärte Tam. „Du musst versuchen zu denken wie Luca und I’Eneel. Luca sieht in allem noch etwas Gutes. I’Eneel hatte ihm die Wahrheit gezeigt, weil er sie ihm nicht sagen konnte. Der Mann, mit dem er seinen Pakt gegen die Stadt abgeschlossen hatte, war bei dir, in dem Moment in seinem Haus. I’Eneel hatte dich immer gerne, das konnte ich in den Gemäuern spüren. Er hat dich beschützt, Luca die Informationen gegeben, ihn aber auch zum Handeln gezwungen, damit er seinen Frieden bekommt. Mit seiner Erlösung dieses untoten Daseins als Leichnam, konnte er sich auch der Rache Gregories entziehen. Soweit verständlich?“, fragte Tam nach, dem scheinbar Aycos große Augen nicht entgangen waren.

Der Elf nickte zaghaft. „Aber, wenn er mich so gerne hatte, warum hat er das dann getan? Was hat ihm Gregorius geboten, was Kyle ihm nicht bieten konnte?“, fragte Ayco nun neugierig.

„Vielleicht etwas sehr wertvolles, vielleicht Magie, vielleicht dich.“ Tambren deutete ein Schulterzucken an.

Der Elf schauerte leicht unter den Worten.

„Meint ihr“, begann er leise, „Wir finden noch etwas, wenn wir uns das Haus alleine ansehen? Jetzt dürften keine Gefahren mehr da sein. Justin hatte es gesegnet, bevor wir gestern gingen.“

Luca, in dem Neugier und natürliche Vorsicht gerade einen wilden Kampf gegeneinander führten, nutzte das Argument, sofort zu Gunsten seiner eigenen, immer noch abenteuerlustigen Seele. Etwas in ihm rief ihm deutlich zu, dass er sich magisch gar nicht zur Wehr setzen konnte, dass seine Reaktionen noch eingeschränkt und langsam waren und es Hunderte, oder Tausende Schwertkämpfer gab, die besser waren als er, aber er ignorierte diese Stimme und verschloss sie in sich. Vielleicht lag es auch daran, das Tam ebenfalls neugierig war und ihn dasselbe Fieber ergriff.

„Überzeugt“, lächelte er. „Lass uns gehen.“
 

Luca bereute es nicht. Er genoss es, allein mit Tam und Ayco durch den Wald zu gehen, seine eigenen, körperlichen Fähigkeiten zu testen und mitzubekommen, dass seine Ausbildung im Orden jenseits der staubigen Bücher, mit Schwert und Dolch, auf Parcours und Hindernisstrecken, gar nicht so schlecht waren. Er konnte sich nicht immer darauf verlassen, dass seine Magie ihm den Hals rettete.

In ihm erwachte der kindliche Eifer, seine eigenen Talente auszureizen und mehr Abenteuer zu erleben, in denen er sich gruseln und Geheimnisse aufdecken konnte.

Dieses Mal, ohne die Entourage an Freunden, kamen sie schnell voran. Es gab keinen quengelnden Jungen, der sich lieber tragen ließ, keinen Ihad, der sich darüber aufregen konnte, dass seine Roben sich in dem Unterholz verfingen und keinen Orpheu, für den schmale Durchgänge nicht breit genug waren.

In vielleicht der Hälfte der Zeit erreichten sie das alte Herrenhaus.

Sie näherten sich dem Gemäuer von einem etwas anderen Punkt, bedingt durch ihren wesentlich direkteren Weg, den sie gewählt hatten. Das Tor lag genaugenommen ihnen gegenüber. Allerdings hielt sich Ayco nicht mit dem Marsch um die Umfriedung auf, sondern hangelte sich mit unsäglicher Leichtigkeit an einem nahe stehenden Baum hinauf, um über einen Ast auf die andere Seite zu gelangen. Luca blieb einige Sekunden bewundernd stehen. Er betrachtete seinen Freund im Moment mit völlig anderen Augen. Der Elf besaß die Grazie und Geschicklichkeit einer Katze. Er balancierte über den leicht gen Himmel gereckten Ast hinauf, die Arme ausgebreitet, verwoben in sein langes, offenes Silberhaar. Allerdings verlor das Bild etwas an Reiz, als er jenseits der Mauer hinab sah und den Halt verlor. Mit einem spitzen Schrei verschwand er im hohen Gras. Luca glaubte, ihm müsse das Herz stehen bleiben. Sofort zog er sich an einem tief hängenden Ast hoch und kletterte, wesentlich weniger elegant, hinter Aycolén her. Doch der Elfe schien sich nichts getan zu haben. Er fluchte lediglich wie ein Brunnenputzer und versetzte der Mauer einen Tritt.

Luca, der ihm gefolgt war, ging nun auf dem Ast in die Hocke. Er hielt sich vorsichtshalber fest, spürte aber, wie sich das Holz unter seinem Gewicht bog. Dennoch war er sich sicher, dass der Baum seine Belastung leicht verkraftete.

„Na, immer noch höhenschwindlig?“, spottete er ausgelassen. Ayco warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Dann allerdings grinste er und sprang nach oben, um den Ast, auf dem Luca kauerte, zu erreichen. Der Magier bemerkte die Absicht und sprang. Er war nicht so geschickt und geschmeidig wie Ayco, der vermutlich sogar seinen Fall zu kontrollieren in der Lage war. Tam klammerte sich in Lucas Haaren fest, breitete aber sicherheitshalber die Schwingen aus.

Der Magier kam recht leicht auf und federte schnell auf die Füße zurück. Sein Freund stand vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt und kritisch. „Nicht wirklich elegant“, knurrte er. Allerdings wusste Luca, dass das nicht stimmte. Seine tänzerischen Fähigkeiten kamen ihm oft zugute, auch im Kampf und bei solchen Situationen. Er hob nur eine Braue, grinste dann aber unverschämt breit.

„Komm schon, das Abenteuer wartet!“
 

Dieses Mal suchten sie sich ihren Weg durch den einstmaligen Kräutergarten, vorbei an den kleinen Versorgungsgebäuden, die sich auf der Rückseite zur Küche hin befanden. An das Wasch- und das Backhaus und den Brunnen erinnerte sich Luca noch. Einmal hatte I’Eneel ihm damit gedroht, ihn, wenn er Ayco weiterhin besuchen würde, in das Waschhaus einzusperren und dort zu vergessen. Luca lief ein eisiger Schauer dabei über den Rücken. Den Gedanken schob er allerdings mit viel Wehmut von sich, als er sah, in welch bedauernswertem Zustand sich alles hier befand. Der weiße Anstrich der Gebäude war schimmlig grün und platzte in großen Placken ab. Feine Spinnweben überzogen den Bruchstein darunter und die Feuchtigkeit gab allem einen unangenehmen Geruch.

Luca nahm noch den Brand- und Rauchgeruch aus dem Backhaus wahr, der sich über so viele Jahre darin festgesetzt hatte. Es vermittelte ihm ein eigenartiges Gefühl von zu Hause.

Ayco ergriff, als Luca nicht gleich reagierte, seinen Arm und zog ihn mit sich. Der Magier stolperte einige Stufen hinter Ayco hinab und stand vor einer schief in den Angeln hängenden Holztür mit zerbrochenem Glaseinsatz. Die Spinnweben und der Dreck machten es unmöglich nach innen zu sehen.

„Das ist der Zugang zur Küche“, erklärte Ayco lächelnd.

Luca sah kurz das Bild eines verwinkelten Raumes mit tönernen Bodenkacheln, einer Feuerstelle und Holzregalen, in denen Teller und Becher standen. Von der Decke hingen Haken herab, an denen kupferne Pfannen und dreibeinige Töpfe befestigt waren. Allerdings zerbrach das Bild, als Ayco ohne große Scheu durch das dichte Gespinst der Spinnen griff und von innen den Riegel löste. Als er die Tür – zugegeben sehr laut – in ihren verrosteten Angel aufschob, bot sich ihnen ein bizarr verwunschenes Bild. Im Halbdunkel der Küche lag knöchelhoch das Laub und der Staub. Spinnen hatten die Küche für sich erobert, allerdings auch Vögel, denn aus einigen Gefäßen ragten dürre Äste, trockene Blätter und Federn hervor. Leises zwitschern erfüllte den Raum. Luca sah einige braune, weit aufgerissene Schnäbel, junge Vögel, die nach Futter verlangten. Leichter Wind wehte das Laub über den Boden, bis hinüber zu der hohen, leicht gewedelten Treppe, die in den Flur führte.

Luca trat tiefer in den Raum und sah sich noch einmal gründlich um. Etwas rührte an seinem Herzen. Es tat ihm von Herzen Leid, dass dieses schöne, alte Anwesen verfiel, und damit auch das Andenken an I’Eneel.

Der Magier hatte ihm selten etwas gutes getan, aber er empfand tiefen Respekt vor ihm.

Im Moment spürte er den Hauch der Verwesung hier, aber genauso die starke Präsenz der Persönlichkeit I’Eneels.

Ayco huschte wie ein Schatten an ihm vorüber zu den Stufen. Er betrachtete den Raum von einem erhöhten Punkt. „Egal was er getan hat, Luca, er fehlt mir“, gestand der junge Mann. „Das ist sein Haus, und ich habe das Gefühl, ihm hier so nah zu sein.“

Luca deutete ein Nicken an. „Ich verstehe dich“, flüsterte er.

„Ihr seid schlicht sentimental!“, kommentierte Tambren verächtlich.

Luca gab seinem Freund einen leichten Nasenstüber. „Vorlauter Kerl“, lächelte er.

Tams Eindruck allerdings, das konnte Luca deutlich erkennen, unterschied sich in keiner Weise von dem seinen.

„Lass uns weiter gehen“, bat Ayco, wendete sich ab und trat durch die RundbogenTür ohne Türblatt in den dunklen Flur.

Mit einigen Schritten hatte Luca Ayco eingeholt.

Gemeinsam durchschritten sie den langen Gang zu der Haupthalle. Dieses Mal drängte Luca weiter, denn der Ort, an dem I’Eneel sein Leben aushauchte, war wie eine gewaltige Schuld auf seiner Seele. Ayco schien keine Einwände zu haben. Dennoch musste Luca etwas wissen. „War es Justin, der I’Eneel in das Leben zurückgerissen hatte?“

Tam zuckte mit den Schultern. „Ungefähr in dem Moment, in dem du ohnmächtig wurdest, habe auch ich das Bewusstsein verloren, Luca.“

„Ja“, sagte Ayco fast zeitgleich. Er trat aus den Schatten neben I’Eneel. Das war ein Bild, dass ich nie wieder vergessen werde. Es kam mir in dem Moment vor, als wäre er nicht mehr unser Freund, sondern ein überirdisches Wesen. Er war ein Gott, der das Leben selbst in sich trägt; ein heiliges Wesen.“

Luca deutete ein Nicken an. „Das ist er wirklich, Ayco. Dabei hat er noch lange nicht seine vollkommene Macht erreicht.“

Der Elf senkte den Blick und sah zu der Stelle, an der I’Eneel starb. Schweigend wendete er sich ab und huschte die Stufen hinauf. Luca sah die stumme Flucht und eilte ihm hinterher, holte ihn aber erst im ersten Obergeschoss wieder ein. Hier lag ebenfalls Laub und Dreck auf den Fluren. Grüngefiltertes Sonnenlicht malte bewegliche Muster auf Wände und Boden. Efeu hatte die glaslosen Fenster in Besitz genommen. Luca sah sich um. Er erinnerte sich, dass I’Eneel hier ein Labor hatte, in dem er alchemistische Versuche machte. Allerdings befanden sich auch sein Schlafzimmer und das Aycos aus Kindertagen auf diesem Flur. Er glaubte einen Moment lang wieder der Junge von damals zu sein, der sich nachts durch den Flur zu Ayco schlich, alle Zauber I’Eneels überlistete, nur um das Zimmer seines Freundes zu erreichen, der mit ihm dann manchmal die Nächte draußen verbrachte, mit ihm spielte, mit ihm sogar wagte zu fliegen, oder mit ihm an regnerischen, kalten Tagen, im Winter, das Bett teilte.

Luca spürte noch gut den Reiz des Verbotenen, seine Angst und seine Freude, wenn er Ayco sah und sie ein weiteres Mal I’Eneel heimlich verspotteten.

Der Elf stand auch vor seiner ZimmerTür, strich mit den Fingern über das, von der Witterung gequollene, Holz und drückte sie auf.

Luca folgte ihm. I’Eneel hatte nichts verändert. Das riesige Bett dominierte noch immer den Raum, aber die Strohmatratze hatte sich in etwas sehr Unansehnliches verwandelt und auf den zerschlissenen, vergammelten Decken lag der Schmutz eines Jahrhunderts.

Luca sah das kleine Schreibpult in der Ecke neben dem Fenster, sorgsam so gestellt, dass die Kälte dem Jungen nichts anhaben konnte.

Alles hier war alt, modrig und kurz vor der endgültigen Verwesung, aber es berührte in Ayco und Luca etwas. Wunderschöne Stunden hatten sie hier zugebracht. Teilweise hatten sie zusammen unter der Decke gekauert und gemeinsam Zauber geübt. Oder Luca hatte Ayco Geschichten erzählt, Märchen, die er aus den Kalifaten kannte, wohl Erzählungen von Ihad. Sie hatten hier gespielt, gerauft, sich geliebt.

Ayco schlug die Hände vor das Gesicht und vergrub sich in Lucas Armen. Der Magier selbst kam sich schlecht vor, hin und hergerissen von seinen Gefühlen und seinen Erinnerungen.

Tam sprang von seiner Schulter herab und landete unsanft in dem hohen Laub. Staub wirbelte hoch und ließ den Drachling mehrfach niesen.

Luca beobachtete ihn mit einer gehobenen Braue.

Scheinbar suchte der Drachling etwas, oder folgte einem Gedanken, den er vor Luca verbarg.

Nun sah auch Ayco auf und zog seine Brauen zusammen.

„Was machst du, Tammy?“, fragte er leise.

„Was suchen“, entgegnete der Drachling und schnüffelte über den Boden und in der Luft. Allerdings hatte sich der Staub noch nicht ganz gelegt. Er begann wieder zu niesen.

„Und was?“, fragte Luca, der Ayco nun wieder los ließ.

Langsam, fast herablassend, wendete sich der Drachling um, verschränkte seine Ärmchen vor der Brust und legte seinen Kopf schräg. „Hättest du dich nicht gestern fast tot gezaubert, würdest du es auch merken!“, tadelte er Luca.

Ayco sah seinen Freund an, der nur hilflos die Schultern hob.

„Hier hängt noch der Geruch des Untoten in der Luft“, belehrte Tam sie beide. „Gestern war I’Eneel noch in diesem Raum, und wahrscheinlich kurz bevor wir hier aufgetaucht sind, oder vielleicht währenddessen.“

„Es ist sein Haus“, vermutete Ayco arglos.

Luca schüttelte leicht den Kopf. „Wenn die Präsenz noch nicht alt ist, muss er bei Tageslicht hier gewesen sein, das kostet einen wirklichen Untoten sehr viel Kraft.“

Ayco sah ihn nachdenklich an. „Meint ihr, er kam nicht das eine oder andere Mal nachts hier her?“

Tam hob seinen Kopf und betrachtete Ayco einige Herzschläge lang. Luca konnte beobachten, wie der junge Mann immer weiter unter dem Blick zu schrumpfen schien.

„Wenn er nicht unbedingt gerade in dich verliebt war, glaube ich das weniger, Ayco“, bequemte sich Tam zu sagen. „Er mochte dich sehr, denke ich“, merkte er aber an.

„Vielleicht war er auch in der Nacht hier“, räumte er ein, „Allerdings weiß ich nicht warum.“

Er wendete sich ab und sah sich dann um. „Luca?“, rief er seinem Meister zu. „Kannst du mich mal hoch heben?“

Er deutete auf den Schreibpult.

Der Magier wollte etwas Giftiges antworten, verkniff es sich aber, schon weil er auf die mentalen Fähigkeiten des Drachlings angewiesen war, so ganz ohne eigene Magie.

Er kniete nieder und nahm ihn hoch. Tam sah ihn erwartungsvoll an.

„Nein, ich tue dir nicht den Gefallen nachzufragen, was du ausheckst, Tam“, sagte er ärgerlich.

Der Drachling zuckte mit den Schultern. Beleidigt drehte er dem Magier den geflügelten Rücken und sein breites Hinterteil zu. Der Magier musste lächeln.

Er hob ihn auf das Schreibpult und griff sofort nach, als er merkte, dass Tams Gewicht das morsche Holz bestenfalls zum Einsturz brachte.

„Kannst du mal die Klappe anheben?“ bat Tam nach einiger Zeit neugierigen Schnüffelns.

Luca tat ihm den Gefallen. Er setzte seinen Freund in seinen Nacken und ergriff sehr vorsichtig die alte Holzplatte, die mit kleinen, schwarz fleckigen Messingscharnieren gehalten wurde, an. Er spürte, wie das Holz unter seinen Fingern zusammengedrückt wurde und zu splittern begann.

Eine aufgeschreckte Spinne krabbelte aus dem Pult und ließ sich an einem feinen Faden nach unten, um im Laub zu verschwinden.

Ayco trat an Lucas Seite. Neugierde sprach aus seinem Blick. „Was ist da drin?“, fragte er.

„Wahrscheinlich die Überreste deiner Lehrbücher“, mutmaßte Luca und hob die Klappe ganz an.

Völlig Unrecht hatte der Magier nicht. Darin lagen noch alte Bücher, eine Schiefertafel und das, was einst Aycos Schreibfeder gewesen war, nun aber Eigenleben entwickelt hatte.

Allerdings lag hier auch ein gesiegelter Brief. In dem Wachs eingeprägt war die Eule auf der Kristallkugel, das Zeichen I’Eneels.

Das Pergament war sicher nicht sauber und neu, aber auffällig wenig verstaubt und in keiner Weise schimmlig und feucht, im Gegensatz zu Aycos Büchern.

Der Elf zögerte einen Moment und griff schließlich danach.

„Das war, was ich gerochen habe, Ayco“, sagte Tam.

Der Elf sah den Drachling und dann Luca an.

„Öffne es schon!“, befahl der Drachling. „Du bist doch genauso neugierig wie Luca und ich!“

Der Magier konnte Tam leider nur zustimmen.

Nachdenklich senkte der Elf den Kopf, schien zu grübeln.

„Meint ihr es ist an mich?“, fragte er zaghaft.

Luca tauschte einen Blick mit Tam und nickte. „Wäre es sonst hier, in deinem Pult?“

„Vielleicht, wenn er sich mit Gregorius zusammen getan hatte, war es für ihn bestimmt? Die kleine Giftkrabbe ist mir ja gestern den ganzen Tag hinterher gerannt.“

„Mag sein“, sagte Tam spitz. „Aber du findest es erst heraus, wenn du den Brief entfaltest und liest!“

Ayco schluckte hart, dann aber brach er das Siegel auf.

Was immer der Junge erwartet hatte, es geschah nichts. Weder brach das Herrenhaus in sich zusammen, noch schlugen die Feuer der Hölle über ihnen zusammen.

Vorsichtig, deutlich furchtsam, entfaltete er den Brief. Und betrachtete das wirre, unruhige Schriftbild.

Es war kein Brief sondern eine Urkunde. Ayco stieß einen leisen Schrei aus und sah zu Luca.

„Das ist unfasslich!“, rief er aufgeregt. „Das ist die Besitzurkunde des Hauses!“ Er drückte das Schriftstück in Lucas Hände. „I’Eneel hat mir das Haus vermacht. Es gehört mir!“

Luca sah verblüfft auf das Pergament hinab und versuchte die zittrige, kleine Schrift und all die Schnörkel in den Buchstaben zu entziffern. Es dauerte einige Zeit, bis er sich an den veralteten Schrifttypen gewöhnt hatte. Dann nickte er allerdings fasziniert. „Das Haus und der Titel gehen damit an dich, Ayco.“ Er sah auf und lächelte. „Und das Dorf. Du bist der neue Herr von Night’s End.“
 

Mit deutlich mehr Spannung und Neugier durchstreifte Luca nun dieses alte Gemäuer. Er war sehr froh, dass Ayco, Tam und er noch einmal hier her gekommen waren. Ayco war nun ein junger Adeliger, Herr über ein kleines, aber ausnehmend schönes Stück Land und Besitzer dieses Hauses.

Allerdings beantwortete diese Urkunde noch keine der Fragen, die er hatte. Sie hatten den Raum gewechselt. I’Eneels Schreibzimmer war ein Fundus an alten, raren, wundervollen Abhandlungen über Zauberei und Luca musste sich sehr zusammen nehmen, sich nicht völlig in diese Glanzstücke magischen Wissens zu vertiefen. Während er sich gründlich in den Regalen umsah, in einige Schriften las, bewies Ayco sein Talent Schlösser aller Arten öffnen zu können, ohne dem Möbelstück auch nur den geringsten Schaden zuzufügen.

Der Elf hatte sich des großen, erstaunlich gut erhaltenen Sekretärs angenommen, der dieses Zimmer neben den Regalen dominierte.

Kein Schubfach hatte eine Chance gegen den jungen Mann, dessen geschickte Finger einen Holzspan oder den Dorn einer Gürtelschnalle genauso zu nutzen wusste wie einen Schlüssel.

Luca sah immer wieder fasziniert zu ihm hinüber und musste zugeben, dass Mesalla in ihm einen perfekten Spion hatte. Aycos unschuldiges, manchmal sehr kindliches Aussehen, verschaffte ihm Narrenfreiheiten und freien Zugang überall hin, während seine Neugier und Fingerfertigkeit den Rest erledigten.

Binnen kürzester Zeit hatte der junge Mann eine Anzahl Schriftrollen, Augengläser, einige Münzen, einen Kompass und unzählige Briefe, Federn und Schnitzmesser zu Tage gefördert, die er sauber auf der Arbeitsplatte des Sekretärs aufreihte. Einiges las er auch flüchtig, runzelte manchmal die Stirn, oder gab ärgerliche Laute von sich.

„Was hast du gefunden?“, fragte Luca, ohne den Blick von einer wunderschönen Kristallkugel zu nehmen, die I’Eneel wie eine Buchstütze benutzte.

„Einige Verträge mit meinem Vater“, sagte Ayco. „Hier ist Kyles Siegel eingeprägt worden. Sie haben um die Landerweiterung bis zu der Holzfällersiedlung verhandelt. Das bedeutet, dass Night’s End von der Grundfläche fast so groß ist wie Valvermont.“

Luca wendete ihm nun doch den Kopf zu. „Das ist ein gewaltiges Areal über mehrere Quadratmeilen, Ayco“, bestätigte er.

„Dann ist da ein komischer Zauber dabei, den ich nicht lesen kann.“

Ayco hob eine Rolle hoch und wedelte achtlos damit durch die Luft. „Schaust du sie dir mal an?“

Luca lächelte nachsichtig. „Wenn es eine magisch gesicherte Schrift ist, kann ich sie im Moment nicht lesen, mein Liebster. In mir fliest zurzeit nicht mal genug Magie, um einen Lichtzauber zu erschaffen.“

Der Elf hielt ihm dennoch auffordernd die Rolle hin. Luca löste sich schweren Herzens von dem Regal, durch das er gerade gestöbert hatte.

Schon als er das Pergament in Händen hielt, kam es ihm vertraut vor. Neugierde ergriff ihn wie ein Feuer. Er entrollte es und bis sich vor Schrecken auf die Zunge. Wieder überfielen ihn Bilder einer Vergangenheit die er nicht erlebt haben konnte oder sollte.

Ayco, der ihn beobachtete, sah ihm nun fragend über die Schulter.

Für den Elf waren diese fremdartigen Schriftzeichen nichts, was er verstehen konnte, aber Luca kannte sie und den Mann, der sie geschrieben hatte. „Das ist Ihads Handschrift. Es ist sein Zauber!“, rief Luca aufgebracht. „Das ist der Zauber den Tod zu fangen und ewiges Leben zu erlangen!“

Ayco schluckte hart. Tam, der auf eigenen Wegen in einem der Regale unterwegs gewesen war, trat gerade neben das Brett und polterte mit einigen Wahrsagekarten zu Boden.

„Aua“, knurrte der Drachling und rappelte sich auf, um, ungeachtet der schönen Karten, zu Ayco und Luca zu krabbeln. „Das ist der Zauber, der ihm gestohlen wurde, oder Luca?“, fragte er leise.

Der Magier nickte. Dann sah er Ayco an. „Ihad sagte, dass der Zauber nicht funktioniert.“

Verständnislos beobachtete Ayco Lucas Gesicht.

„Na ja, nicht funktionieren ist falsch“, gab der Magier zu. „Es schafft ewiges Leben zwischen den Welten, ausgestoßen von den Lebenden und nicht eingelassen bei den Toten.“

Ayco zuckte zusammen. „I’Eneel hatte den Zauber an sich ausprobiert!“, hauchte er tonlos. „Das bedeutet, der Zauber macht mächtige Magier zu mächtigen Untoten!“

Luca nickte schwer. Er rollte das Pergament zusammen und legte es auf dem Sekretär nieder.

„Ihad muss mir einige Fragen beantworten, wenn er den Zauber wieder zurück haben will!“

Er ballte die Faust, bis seine Knöchel weiß hervor traten.

„Was immer er mit I’Eneel zu tun hatte, der Halbelf wusste von dem Zauber.“

„Ist das so ungewöhnlich?“, fragte Ayco. „Etwas so mächtiges müsste sich in der Welt der Eingeweihten schnell herum sprechen.“

„Wenn ein Zauber, den man entwickelt, einwandfrei funktioniert, Ayco“, erklärte Luca, „stellt man ihn der Öffentlichkeit vor, zumindest, wenn man ihn verkaufen oder publizieren will. Das aber ist Magie, die ein Zauberer für sich entwirft, weil die Bekanntmachung dessen eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes hervorriefe. Ihad hat diese Magie entworfen, und ich weiß davon, weil ich damals dabei war.“ Luca deutete auf die Rolle. „Darin sind kleine Anmerkungen in meiner Handschrift.“

„Du hast ihm geholfen?“, fragte Ayco verständnislos.

„Vor hundert Jahren muss ich bei Ihad aufgewachsen sein, nehme ich an. Fragmente dieser Zeit fange ich nur auf, wenn ich etwas aus dieser Zeit in den Händen habe. Verdammt!“ Luca starrte auf die Rolle hinab. „Die Siegel die Ihad über mich gelegt hat, wollen nicht brechen! Ich kann mich an nichts erinnern, bis ich damit direkt konfrontiert werde!“

Er presst die Lippen aufeinander. „So, wie Du I’Eneels Spielball bist, bin ich der Ihads. Und dieser verdammte Dämon hat alles in meinem Kopf zerstört und geleert, um mein Bewusstsein mit Magie bis zum Rand zu füllen! Was bezweckt er mit seinem Lügengespinst?!“

„Frag’ ihn das“, flüsterte Tam. „Wenn du dich nicht wagst, wirst du niemals eine Antwort erhalten.“

Luca senkte den Blick und ergriff die Rolle erneut. „Das ist nur eine Rohfassung. Sie ist nicht mehr als ein magisches Konzept. Aber vielleicht war das I’Eneels Bezahlung für den Verrat an Night’s End.“

„Dann muss er aber davon gewusst haben“, erinnerte Ayco Luca.

„Vielleicht“, gab Tam zu bedenken. „War er irgendwann mal Ihads Schüler? Den Orden gibt es unter Ihads Herrschaft seit mehr als 700 Jahren.“

Luca deutete ein Nicken an. „Vielleicht. Aber wahrscheinlicher ist, dass er von mir etwas erfahren hat. Ich war ein Kind, oder?“

Tam sank ein Stück in sich zusammen. „Auch das wird sich erst klären, wenn Ihad dir antwortet.“

Bestätigend nickte der Elf. „Ich werde dich aber nicht allein zu ihm lassen, Luca. Der alte Magier hat uns schon einmal mit seiner Zauberkraft getrennt.“

Behutsam ergriff er den Magier am Arm. „Lass uns weiter suchen. Vielleicht finden wir hier noch weitere Antworten.“

„Wenn I’Eneel nicht so nett war uns seine Tagebücher zu überlassen, sind wir vermutlich bald am Ende unserer Erfolge hier“, flüsterte Luca düster.
 

Fast erwartete Luca nicht mehr noch etwas zu finden, nachdem sie alle möglichen Räume durchsucht hatten. Er war kurz davor zu verzagen. Tam schien auch der Drang und die Euphorie zu fehlen, die sein kleines, begeisterungsfähiges Herz bisher voran getrieben hatte. Einzig Ayco trieb sie mit unglaublicher Beharrlichkeit von Raum zu Raum.

Schließlich musste aber auch er zugeben, dass er sich ausgelaugt und müde fühlte. Das Haupthaus bot, bis auf die Baderäume nichts, was sie nicht gründlich durchsucht hatten. Warum der Elf Luca auch noch durch die einstmals sehr prachtvollen Bäder führte, konnte Luca nicht sagen. Allerdings war er ihm im Nachhinein dankbar dafür. Auch hier hatte der Verfall Einzug gehalten. Blätter lagen auf dem Boden und das stinkende Brackwasser in den Becken schien mehr eine schleimige Masse denn flüssig zu sein. Aber das nahm auch Lucas Blick nicht gefangen, sondern die unglaublichen, kunstvollen Deckenfresken.

All die Bilder ergaben scheinbar die Geschichte von Night’s End. Das, was allerdings Lucas Blick gefangen hielt, war der sechsgeflügelte Seraph, der aus dem Felsenkind einen Seraphin formte; einen schwarzen Engel, der das Gesicht Lucas trug.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anfang 2015 erscheint im Incubus-Verlag ein weiterer Roman der in Äos (der Welt von Night's End) spielt.

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