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Night's End

Der Wiedergänger
von

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Labyrinth der Erinnerungen

Wie es Orpheu und Luca gelungen war, sich aus der Schlinge, die Mesalla ihnen mit Aki gelegt hatte, wieder herauszureden, um die Nacht nicht im Palast verbringen zu müssen, wussten beide nicht mehr genau zu sagen. Vermutlich war es Sjorns Aussage, dass er gut genug auf Aki achten könne und sie ohnehin niemand sehen wolle.

Fast schon erleichtert, verließen Ayco, Orpheu und Luca den Palast, dicht gefolgt von Lorn, der scheinbar seine Unterkunft in einem der Gasthäuser am Großmarkt hatte, denn dort verloren die drei Freunde ihn aus den Augen.

Die Straßen waren noch immer hell erleuchtet und es roch nach Braten, Brot, Wein, Bier, Parfum und Blumen. Über allem lag der salzige Duft des Meeres. Leuchten und Lampions luden in Lokale, Bordelle und Wirtshäuser ein. Hinter farbigen Fenstern spielte sich das häuslich familiäre Leben ab. Aus den Kaminen stieg, trotz der Wärme, Rauch auf. Musik aus dem nahen Theater mischte sich in Bardengesänge auf den Plätzen und in den Tavernen. Der Platz des Großmarktes war nun Bühne der Gaukler und fahrenden Spielleute. Männer und Frauen lachten, sangen, tanzten, aßen und tranken. In Hauseingängen und Gassen, dem Park und in Büschen, mischte sich der Duft von Schweiß und nackter Haut in die Luft. Leise Rufe und niedergezwungenes Stöhnen waren die Melodie, nach der sich Liebende bewegten.

Ayco klammerte sich an Lucas Arm. Der Magier sah seinem Geliebten sanft in die Augen. Trunken und dunkel vor Lust, erwiderte der Elf den Blick.

Seufzend rollte sich Tambren zusammen und versuchte sich so weit wie möglich aus Lucas Geist fern zu halten. Allerdings gelang es dem Drachling scheinbar nicht. Die Gefühle und Gedanken der beiden Männer machten ihn neugierig genug, als dass Luca ihn beständig in seinem Bewusstsein spürte.

„Was sollte das nun eigentlich?“, fragte Orpheu, der scheinbar sehr lange über Mesallas Spitzfindigkeiten nachgedacht hatte. Er sah gar nicht zu seinen beiden Freunden, sondern knirschte mit den Zähnen. „Ich bekomme noch einen von eurer Art vor die Nase gesetzt, dieses Mal einen Priester. Bin ich neuerdings als Heerführer so schlecht?!“

Offenbar legte Orpheu es als persönlichen Angriff gegen seine Fähigkeiten aus.

Luca seufzte leise. „Vielleicht geht er davon aus, dass wir beiden uns zu viele Gefühlsduseleien erlauben, Orpheu. Zumindest ist er der festen Auffassung, dass ich meine Arbeit als Magier vernachlässige.“

Er schwieg kurz. „Tue ich das?“, fragte er Ayco und Orpheu ernst. Beide schüttelten die Köpfe.

„Nachdem, was ihr beide in der Höhle gemacht habt, bin ich der Ansicht, dass es nicht viel gibt, was sich euch beiden Magiern in den Weg stellen kann“, erklärte Orpheu.

„Heilen kannst du auch, Luca, von daher sehe ich auch keinen Grund für den Priester“, setzte Ayco hinzu.

„Na ja, das ist Ansichtssache“, wehrte Luca ab. „Ich bin kein Heiler. Im Rahmen meiner Nekromantie kann ich Lebensenergie aufwenden, um sie anderen zu geben. Das ist die Umkehrung eines Zaubers, mit dem man normalerweise anderen wiederrechtlich Kraft raubt.“

„Lysander halt“, knurrte Orpheu. „Lieb wie immer.“

Ayco und Luca sahen ihn fragend an.

„Ich kann mir“, führte Orpheu seinen Gedanken weiter, „einfach nicht vorstellen, dass der Kerl je etwas Böses tut. Der ist ja nicht mal in der Lage jemand aus tiefstem Herzen zu hassen!“

Luca räusperte sich. „Äh, ich bin anwesend.“

Orpheu lächelte. „Ich weiß. Und außerdem seht ihr immer noch aus, als hättet ihr euch mit einem Igel geprügelt und hättet verloren.“

Luca sah an sich herab. Sein Hemd war an etlichen Stellen zerfetzt. Bei dem bunten Licht der Tavernen, konnte man nicht klar sagen, dass die Flecken Blut waren. Aber der Magier war sich sehr sicher, dass die nächste Stadtwache ihn abführen würde, wenn er nicht etwas aus dem Bereich der öffentlichen Straßen fern blieb.

„Justin wird wohl viel Spaß mit mir haben“, witzelte Luca böse.

Ayco sah verletzt zu ihm auf.

„Mit dem Heilen“, lenkte Luca ein.

Plötzlich trat Lea aus den Schatten vor ihnen. Der Magier hatte sie aus den Augen verloren, als sie den Palast verlassen hatten. Vermutlich schien es ihr nicht zu gefallen, dass Lorn nun Teil des Heeres war. Warum der Priester sie ignorierte, konnte sich Luca auch nicht erklären. Lea war all das, was er bekämpfen sollte.

Ayco verhielt mitten im Schritt, straffte sich und folgte Orpheu, der das Kind nicht sehen konnte. Da aber Luca sich nicht rührte, blieb der Hauptmann stehen. „Was habt ihr nun entdeckt? Einen verletzten Mistkäfer, um den ihr euch kümmern könnt, Lysander?“, knurrte Orpheu.

Ayco hob eine Braue und sah böse zu seiner Schwester. „So was in der Art, würde ich sagen, Orpheu“, bestätigte er.

Verärgert fuhr Lea zu ihm herum.

„Die Kleine zu reizen ist dumm!“, warnte Tam, der ein Lid hob und träge zu dem Geistermädchen schielte.

Ihre Stimmung sorgte dafür, dass sie auch für Orpheu sichtbar wurde.

Mit einem Satz war Orpheu direkt an Aycos Seite und richtete sein Schwert auf ihre Brust.

„Das ist Lea“, erklärte Ayco unwillig. „Meine verlogene Schwester!“

Das Schwert sank auf das Pflaster herab. „Willst du mir damit sagen, dass die ganze Zeit hindurch ein Geist bei uns war?!“, rief Orpheu aufgebracht. Eilig rammte er seine Klinge in die Scheide zurück und starrte nun zu Ayco. Wut entflammte seine Augen.

„Ruhe da unten!“, schrie eine schrille Frauenstimme.

Ein halb bekleidetes Paar stürzte aus einem Busch hastig davon. Das Mädchen schlug ein Abwehrsymbol gegen Geister.

Lea aber spie nur aus.

Der Drachling kletterte vorsichtig an Lucas Arm hinab und ging aufrecht Orpheu und Ayco entgegen. „Vielleicht sollten wir uns für eine Aussprache ein etwas friedlicheres Fleckchen aussuchen!“, mahnte er herrisch. Sein langer lauer Schwanz peitschte ärgerlich über den Boden. „Bei Justin zum Beispiel. Da könnt ihr euch nach Leibeskräften anbrüllen und beschuldigen, ohne dass sich jemand aufregt und mit Nachttöpfen nach uns wirft. Davon abgesehen, kann der Priester Luca wieder ganz machen und ich bekomme endlich was zu essen und sehe meine Schwester wieder!“

Orpheus Blick fixierte den Drachling, dann glitt er über Lea, Ayco und Luca. „Jetzt nehme ich schon Befehle von Minidrachen an. Mein Ruf geht endgültig dahin!“, beschwerte er sich kopfschüttelnd, wendete sich dann aber um und meinte: „An sich hat der Zwerg ja recht. Also lasst uns gehen!“
 

Sehr viel stiller als zuvor und auf dunklen Umwegen betraten die Freunde das Labyrinth durch den unbewohnten Stadtring, in dem die Geister und Ghoule lebten. Luca stellten sich die Nackenhaare auf, als er die Augen der Toten auf sich fühlte. In den Schatten, den Fenstern, unter den Türen, den dunklen Torfahrten, wusste er sie.

Ihre Schritte hallten lange nach und wurden zu unheimlichen Echos des Lebens außerhalb des Rings. Dumpf drangen noch die Laute des Großmarktes und der Bühne zu ihnen, eher wie Geräusche einer anderen Welt. Hier war der Ort der Toten, die Barriere, die das Labyrinth von den Lebenden trennte. Der Magier entsendete zwei kleine Schmetterlinge, die zu gleißenden Lichtgestalten ihrer selbst wurden, während sie ihre Schwingen schüttelten und die Spitze übernahmen.

Sand und Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Luca allerdings war sich nicht sicher, ob das beiläufige Knacken, was manches Mal erscholl und sich mehrfach in den leeren Höhlen der Häuser und Höfe brach, auch wirklich trockene Äste waren und nicht feine Knochen. Ayco hielt sich nur noch dichter an der Seite des Magiers. Für ihn war die Begleitung Leas normal, aber das hier war ein Ort der Verfluchten. Diese Geister meinten es niemals mit Sterblichen gut.

Fast schon gewann Luca den Eindruck, als würde Ayco zum ersten Mal hier hindurch gehen. Er war sich sehr sicher, dass dem nicht so war.

Nebelfelder krochen durch eine Gasse und sanken langsam über Schutthaufen und Ruinen zu Boden. Langsam wirbelten sie wieder auf und zogen weiter. Selbst Luca empfand im Moment tiefste Angst vor diesen Erscheinungen. Etwas schien die Geister in Aufruhr gebracht zu haben. Sie wichen nicht einmal wirklich vor dem Licht der Magie zurück. Das aber war bislang sein einziger Schutz dagegen gewesen.

Er sah zu Orpheu, der nervös mit dem Heft seines Schwertes spielte.

„Sie sind zornig“, kommentierte Tambren, der wieder auf Lucas Schulter Posten bezogen hatte und angestrengt in alle Richtungen spähte. „Etwas ist in der Stadt“, erklärte er. „Jemand, der sie verwirrt und erregt.“

„Lorn und Aki?“, schlug Luca vor. Er war nicht annähernd so entspannt, wie er klang. Seine Nerven begannen ihm Streiche zu spielen. In den Nebeln sah er Gesichter, Gestalten und Bewegung. Über Tam allerdings wusste er, dass es nur die Präsenz von einigen Seelen sein konnte, die stumm protestierten, also nicht wirklich böse waren.

„Das ist ein schrecklicher Ort“, flüsterte Ayco heiser.

Etwas in Luca erinnerte sich an ähnliche Worte aus demselben Mund. Damals aber war er noch ein Kind gewesen.

Er atmete tief durch und schloss die Augen, um sich zu sammeln.

„Schritte!“, warnte Ayco plötzlich. Sein feines Gehör hatte etwas erfasst. Luca spähte angestrengt in die Richtung, in die Ayco wies. Eilig durchdachte er seine ihm noch offenen Zauber. Untote zu entdecken würde ihm sicher kaum weiterhelfen, so lange er mitten unter ihnen stand. Einen Zauber, der ihm helfen konnte, Untote zu kontrollieren, hatte er noch offen. Der Schmetterling stieg auf und verschwand in den Nebeln. Einen Moment später löste sich Justin aus den Nebeln, den Schmetterling in seinen roten Locken.

„Lass den Unfug, Luca!“, tadelte er ärgerlich.

Der Magier lächelte erleichtert, spürte aber Ayco, der sich an seinem Arm versteifte und den Kopf zwischen die Schultern zog. Im ersten Moment bildeten sich vor seinem geistigen Auge Bilder, dass Justin ihm womöglich Gewalt angetan haben könnte. Dafür allerdings war der junge Mann zu entspannt und zu wenig ängstlich.

Justin stützte die Fäuste in die Hüften und blies eine Strähne aus der Stirn. Sein langer, blauer Mantel bauschte sich, als sanfter Wind aufkam und die Nebel weiter weg trieb.

Er sah verärgert aus.

„Wenn du mir noch einmal davon läufst, mache ich mit dir das gleiche, was ich schon getan habe, als du noch ein kleiner Bub warst!“, zischte Justin ärgerlich.

Aycos Blick umwölkte sich. Luca musste lächeln, als er sah, dass sein schöner, diebischer Geliebter trotzig sein konnte wie ein kleiner Junge.

Orpheu räusperte sich, sah sich um und machte eine wedelnde Handbewegung. „Lasst uns gehen, los doch, schnell!“
 

Entspannt und mit halb geschlossenen Lidern saß Orpheu in dem großen Lehnsessel in Justins Schlafraum. Seine Finger spielten versonnen mit dem Weinkelch, den er sich bereits zweimal neu gefüllt hatte. Das letzte bisschen dunkler Flüssigkeit bedeckte den Boden und schimmerte wie Blut in dem Licht der Kerzen.

Der elfische Priester hob die Karaffe an, schätzte, wie lange Orpheu noch brauchen würde, um sie zu lehren und zog an der Klingelschnur für seine Dienerin S’ielle.

Ayco saß auf der Bettkante neben Luca und hielt ihn zärtlich in seinen Armen, während Tambren auf dem seidenen Kopfkissen lag und den Geräuschen seines leeren Magens lauschte. Der Drachling beschwerte sich im Abstand weniger Augenblicke, dass er gleich eines grauenhaften Hungertodes sterben würde, wenn er nicht umgehend etwas bekäme, was die Leere zwischen seinen Rippen füllen könne. Lea hingegen stand am Fenster und starrte in den verwilderten Garten. Ihre Gedanken schienen fern allem hier zu sein.

Luca betrachtete sie von seinem bequemen Platz in Aycos Armen aus. Nachdem Justin ihn unsanft aus seinen Kleidern geschält, diese zum Verbrennen deklariert und ihn geheilt hatte, trug der Magier nur einen von den langen Mänteln des Elfenpriesters.

Der rothaarige Herr des Labyrinthes hatte sich nicht weiter über Ayco aufgeregt und auch Luca mit den üblichen Phrasen verschont. Viel eher wollte er wissen, was ihnen alles wiederfahren war. In der Zeit war seine Bedienstete, S’ielle, eine andere schwarzhäutige Elfe, mehrfach herein gekommen, hatte Wasser und Wein gebracht, Lucas Kleider mitgenommen und versprochen, dass es in kürzester Zeit etwas zu Essen gäbe. Allerdings konnte sie sich kein einziges Mal einen schlagfertigen oder ironischen Satz verkneifen, der entweder Tambren oder Luca betraf.

Orpheu hingegen starrte ihr nach und schien versonnen zu sinnieren, sobald sie den Raum verließ. Scheinbar gefiel ihm diese schwarze Schönheit mit der scharfen Zunge nicht nur außergewöhnlich gut, sondern eroberte sein Herz binnen Sekunden.

Luca erinnerte sich, das Orpheu nicht das erste Mal hier war, aber scheinbar hatten sich diese beiden auch immer verpasst.

„Liebe auf den ersten Blick“, kommentierte er leise zu Ayco.

Der Elf grinste breit. „Unser Hauptmann ist im Reich der Liebe eingetaucht. Das wird Nea nicht gefallen, oder?“

Luca hob die Schultern. „Das müssen die beiden unter sich ausmachen.“

„Scheinbar trinkt er sich gerade Mut an“, knurrte Justin und legte sich auf dem Bett nieder, um hinter dem Kopf die Arme zu verschränken.

Luca sah sich zu ihm um und betrachtete das schöne Gesicht, die weichen Lippen, die ihn so oft geküsst hatten. Justin spürte ganz offensichtlich Lucas bewundernde Blicke, denn er streckte sich elegant, präsentierte dem Magier seinen schönen Leib, die schlanken, langen Glieder, die Muskeln, die sich hart unter seinen samtenen Hosen spannten, seine zerbrechliche Taille und seine schlanke Brust, die sich unter der Seide seines Hemdes abzeichnete.

Seine Lider senkten sich mit dichten Wimpern über die dunklen Augen. Er versuchte Luca zu verführen.

Der Magier lächelte, senkte die Lider und sank wieder gegen Aycos Schulter. Müdigkeit ergriff ihn. Dieses weiche Bett, sie Wärme und der berauschende Duft des Weines ließen ihn die Starpatzen der vergangenen Wochen erst recht spüren. Baden, essen und schlafen waren drei Dinge, die ihn weitaus mehr reizten als Justins Schönheit.

Gähnend setzte er sich dennoch wieder auf. „Trödeln hilft ja nichts“, murmelte er mit bösem Seitenblick zu Orpheu. „Justin, hast Du Tusche, Feder und Pergament für mich?“, fragte er und streckte seine verspannten Muskeln. „Für einen gewissen Herren darf ich ja mal wieder den Schreiber spielen!“

Die Spitze verlor sich vollständig im Nichts, weil Orpheu ihm gar nicht zuhörte.

„Ich helfe dir“, lächelte Ayco gutherzig. „Wenn wir zusammenarbeiten, schaffen wir die Rüstliste schneller, oder?“

Luca lächelte dankbar. „Vielen Dank, mein Liebster.“

Bevor Justin einen giftigen Kommentar geben konnte, klopfte S’ielle.

„Das Heldenmahl ist bereitet. Und, Lysander, ich habe besonders darauf geachtet für dich wenig Flüssiges zu kredenzen. Dann kann auch nichts aus dir heraustropfen.“

Luca streckte ihr die Zunge heraus.

Sie grinste und streckte ihm ebenfalls die Zunge heraus.

Gegenüber S’ielle musste er sich nicht zurückhalten. Sie waren enge Freunde.

Tambren richtete sich auf seinem Kissen auf. Ein langes, ausdauerndes Knurren seines Magens begleitete diese Bewegung.

Die großen, schwarzen Mandelaugen der Elfe funkelten spöttisch, als sie sich entspannt, etwas lasziv, in den Türrahmen lehnte, beide Hände hinter dem Rücken gefaltet. Die vollen Brüste drängten sich gegen ihr dunkelrotes Mieder und schienen es sprengen zu wollen. Orpheus Blick strich über ihr Gesicht, zu dem Dekolleté und haftete an ihren schönen Rundungen fest. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt weit und formten Worte, die er nicht aussprach. Fahrig stellte er das Glas zielsicher neben den Tisch und bemerkte die Scherben nicht. Ihre vollen Lippen kräuselten sich leicht, als sie ihn ansah.

Justin murmelte einen Fluch und federte vom Bett. Sie winkte aber ab. „Das mache ich schon, Herr.“

Dann sah sie zu dem Drachling, der auf Lucas Schulter geklettert war.

„Tam, Du hattest leider Pech. Dein Futter ist bereits in einem anderen Drachenmagen gelandet“, lächelte sie, während sie ihre Hand in elegantem Schwung hoch hielt. Ein roter Drachling pendelte mit wutfunkelnden Augen an der Schwanzspitze herab.

„Goldy war leider schneller als du, wie immer...“, lachte S’ielle.

Tam biss die Kiefer aufeinander und sprang von Lucas Arm wieder herab, um sich breitbeinig auf dem Boden abzustützen. „Goldy, du Vielfraß!“

Das Drachenmädchen hangelte sich geschickt auf S’ielles Arm und sprang zu Boden. Sie streckte sich, elegant wie eine Katze und schüttelte ihre rotgoldenen Schwingen auf.

Dann setzte sie sich gesittet nieder, rollte ihren langen Schwanz um sich und sah ihn herablassend an.

„Fettsack!“, stieß sie hervor. „Abnehmen kann dir nicht schaden! Lysander bricht ja irgendwann ein, wenn du noch fetter wirst!“

Tam setzte sich auf und sah zu Luca. „Teilen wir wieder?“, fragte er leise und setzte dabei seinen schönsten Bettelblick ein.

Ganz automatisch nickte der Magier. Ayco allerdings kniete nieder und bohrte dem Drachen mit einem Finger in den Fettpölsterchen herum. „Du bist aber wirklich dick. Wenn ein Drachling aussehen sollte wie sie, dann sollte wohl aus dir zwei der Art werden, oder?“

„Ich bin ein Neutrum, die sind alle gewichtiger!“, verteidigte sich Tam verärgert. „Außerdem kostet Denken auch viel Kraft!“

Goldy rollte elegant ihren Schwanz auf und schritt leichtfüßig, auf allen Vieren, zu Tambren hinüber.

„Dann hast du also eine Denkerfigur?“, fragte sie leise.

Tam beachtete sie nicht, sondern wartete, bis Luca sich dazu erbarmte, ihn wieder auf den Arm zu nehmen. Aber der Magier blieb stehen. Verdutzt drehte Tam sich zu ihm um und bedeutete ihm so wenig elegant, wie es nur ging, dass er auf die Schulter seines Meisters wollte.

„Lysander ist auch ein Denker, aber er ist auffallend unterernährt im Vergleich zu dir!“, rief Goldy. „Bei dir kann ich die Speckringe zählen, bei ihm die Rippen.“

Ayco grinste vergnügt. „Die kleine Dame ist ja genauso wenig auf den Mund gefallen wie S’ielle!“

„Meine Schule!“, lachte die Elfe.

Während Goldy Ayco einen verliebten Blick zuwarf, winkte S’ielle kurz. „Das Essen wird kalt!“
 

Zum ersten Mal seit Wochen fühlte Luca sich satt, aber noch erschöpfter, nachdem S’ielle die Teller und Schüsseln abgeräumt hatte. Nachdenklich betrachtete der Magier seinen Hauptmann, der im Moment gar nicht ansprechbar erschien, wendete sich dann aber Justin, Ayco und Lea, die Luca im Moment überall hin folgte, an.

„Ich habe dir“, er blickte noch einmal zu Orpheu, der aus dem großen Panoramafenster, das von dichtem Efeu vollkommen überwachsen war, hinaus, in das Blattwerk starrte. „Irgendwie wirklich nur ich. Mit ihm ist heute gar nichts mehr anzufangen“, sagte er mit gehobenen Brauen, allerdings mehr zu sich selbst. „Gleich wie“, schob er das Problem von sich und konzentrierte sich wieder auf seine Freunde. „Ich hatte nun erzählt, was bei Mesalla vorgefallen war. Nun würde mich allerdings auch interessieren, was du und Ayco, beziehungsweise ihr alleine jeweils getan habt. Konntet ihr euch denn untereinander ein wenig austauschen?“

Er betrachtete erst Ayco, dann Justin.

„Er hatte mir von Gerome erzählt“, begann Justin. „Allerdings wurde das zu einem besonderen Auslöser. Er bat mich um etwas sehr seltsames.“

Ayco maß Justin mit einem Blick, den man nicht als freundlich deuten konnte. Dennoch ging er nicht darauf ein.

„Er fragte mich, ob ich eine Möglichkeit habe, alle Siegel und Barrieren, die Ihad wohl über ihn gesprochen hatte, aufzuheben und ihm sein volles Erinnerungsvermögen wiederzugeben.“

Lucas Lippen klafften auf. Er wusste, dass Justins Macht weit genug reichte.

„Hast du?“, fragte er leise.

Der Elfenvampir nickte. „Ja.“

Ayco und Luca sahen sich an. Die Blicke versanken ineinander. Plötzlich bemerkte Luca das Feuer in Ayco Blick, die Erinnerung an sein ganzes Leben. Er war im Moment kein Knabe mehr, auch wenn er diese Maske gerne nutzte. Dieses Mal war es ein Mann, dem Luca in die Augen sah.

„Dann bist du unser beider Gedächtnis“, flüsterte der Magier. „Meine Erinnerungen sind immer noch verborgen und kommen zu den unmöglichsten Augenblicken zu Tage.“

Langsam nickte Ayco. „Nach und nach werde ich Dir auch alles erzählen, Luca. Aber im Moment müssen wir uns auf anderes konzentrieren.“ Er sah zu Lea, die sich hinter Luca an dem Stuhl festklammerte. Sie versteckte sich schon fast vor ihrem Bruder.

„Du bist gemeint, Lea!“, sagte er scharf. „Du kleines …“ Er ballte die Fäuste und ließ sie auf den Tisch niederfahren. Tam und Goldy, die beide mit den Schnauzen in einer Obstschale hingen, fuhren erschrocken zusammen.

Langsam atmete Ayco durch, füllte seine Lungen mit Luft. Behutsam legte Luca seine Finger über Aycos Faust. Er spürte den Zorn und die Anspannung in seinem Geliebten. Dann allerdings ließ der Elf locker und seine Finger sanken entspannt auf die dunkle Holzplatte nieder, suchten nach Lucas und umgriffen sie zärtlich.

„Sie hat mir die letzten Jahre immer wieder nur Bruchteile der Wahrheit gesagt, nicht einmal wirklich gelogen, nur verschwiegen und inhaltlich verdreht. Außerdem muss sie Gregorius im Kessel bereits erkannt haben. Aber anstatt mich zu warnen, wäre sie sogar bereit gewesen mich sterben zu lassen!“

Lea wich zurück. Luca sah sich zu ihr um. Angst spiegelte sich in den kindlichen Zügen wieder.

Schnell wendete er sich zu Ayco um. „Heute hätte er sie fast selbst umgebracht, Liebster. Er hat sie nur benutzt und heute endgültig verraten.“

„Das ändert aber nichts daran, dass sie mich in den sicheren Tot geleitet hat!“, zischte der Elf. „Leandra wusste, dass Gregorius unser Dorf vor hundert Jahren zerstört hatte. Sie hat ihn sogar sehnsüchtig im Segnungsraum unserer Mutter erwartet! Sie hat deinen Tot mitzuverantworten gehabt, weil sie mitbekommen hatte, wie viel wir uns bedeuteten. Sie war es, die sich gegen uns Lebenden stellte!“

Er federte so rasch von seinem Sitz auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und polternd zu Boden fiel.

Hilflos verdrehte Justin die Augen. „Leiser!“, mahnte er streng. „Das Haus ist auch ein Spital!“

Offensichtlich ignorierte Ayco ihn, denn er schritt schnell um den Tisch herum. Lea wich noch weiter zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß und halb darin eintauchte.

„Warum?!“, fragte er Lea. „Haßt du mich so sehr? Oder alles, was glücklich ist?!“

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

Behutsam berührte Luca Aycos Hand. Der Elf schüttelte sie ab. Dieses Mal wollte der Magier nicht aufgeben. Er stand auf und schlang seine Arme um Ayco. Sanft drückte er seinen Geliebten an sich. „Beruhige dich, Liebster. Gib ihr die Möglichkeit zu erklären, warum sie es getan hat.“

In Lucas Umarmung wurde Ayco ruhiger. Er drängte sich an den Magier und umklammerte ihn fest.

Lea allerdings wich durch die Wand zurück und verschwand.

„Sie kann mir gerne für den Rest meines Lebens vom Hals bleiben, Luca“, flüsterte Ayco düster.

„Wird sie sicher nicht“, mischte sich Orpheu plötzlich wieder ein. Scheinbar hatte er die ganze Zeit zugehört.

„In meinem Volk nennt man diese Geister die Fessel der Lebenden. Sie sind unzufriedene und neidische Geschöpfe, die mit Verrat und Betrug die, an die sie sich binden, hinab ziehen und demütigen, teils so sehr, dass sich die Lebenden umbringen.“

Er stützte sich mit beiden Armen auf der Tischplatte ab, die unter seinem Gewicht ächzte.

Tam nickte bedauernd. „Das ist leider wahr“, bestätigte er. „Das einzige, was man tun kann, ist diese Geister zu vernichten, oder in das Leben zurück zu zwingen. Das eine wie das andere sind sehr gefährliche Sachen.“

Er machte eine Kopfbewegung zu Justin.

„Er kann sicher mehr dazu sagen.“

Mit gesenkten Lidern sank der Vampir in seinen Stuhl zurück. „Sie ins Leben zurückzurufen, wäre das einfachste, wenn es noch irgendetwas von ihren sterblichen Überresten gibt, Ayco. Dann ist sie auf ein eigenes Leben angewiesen und muss auf eigenen Beinen stehen, am besten fern ab von dir.“

„Das hat sie gar nicht verdient!“, fuhr der junge Elf auf.

„Aber sie bekommt eine Chance, Ayco“, flüsterte Luca. „Sie kann sich von Grund auf ändern. Willst Du ihr diese Chance nehmen?“

Wenig elegant ließ sich Goldy auf dem Tisch nieder. „Sie ist eine Frau im Geisterleib eines Kindes. Nie wird sie das fühlen, was du fühlst, Ayco“, erklärte sie sanft. „Sie wünscht sich Liebe, einen Partner, ein eigenes Leben, einen Körper, der ihr wirklich gehorcht, und den sie ihr eigen nennen kann. Was immer sie von diesem Gregorius dachte, dass er für sie wäre, sie hat sehr schmerzhaft gelernt, was es bedeutet selbst verraten zu werden. Wahrscheinlich schon als man sie getötet hat.“

Der Elf ballte die Fäuste. Tambren übermittelte Luca Aycos Gefühle. Der Widerstreit zwischen Wut und Mitleid in dem Herzen des Jungen war hart. Verzweifelt lehnte er sich an Luca, vergrub sein Gesicht an seiner Halsbeuge und umklammerte ihn noch enger.

„Ich will im Moment darüber nicht nachdenken“, bat er leise. „... nur mit Luca allein sein und wenigstens einmal alles um mich vergessen.“

Orpheu senkte den Blick und zuckte mit den Schultern. „Ich mache die Liste. Aber wenn ihr fertig seid, Magier, bewegt ihr euren Hintern zu mir und helft mir, verstanden?!“
 

Das Gefühl seidener Kissen und Laken unter seiner nackten Haut, gab Luca das Gefühl zu Hause zu sein. Obwohl er nicht wirklich lange geschlafen hatte, lag er noch immer in seinem Bett, die Augen zur Decke gerichtet, versunken in seine Erinnerungen an die ersten Jahre, die er hier bei Justin verbrachte. Der Elf hatte ihm einen großen Raum nah des seinen gegeben, ausgestattet mit allem, wonach Lucas Herz verlangte. Ein zierlicher Sekretär stand zwischen den beiden Buntglasfenstern, die zauberhafte elfische Waldfesten zeigten, und in deren filigraner Pracht ein leiser Hauch dessen spiegelte, was eins das Labyrinth war. Der vergangene Glanz der schönsten elfischen Hochkultur. Licht fiel keines in den Raum, das verhinderten die hohen, verfilzten, abgestorbenen Bäume in Justins parkartigem Garten, aber dieser Ort war ein Platz des Vergessens und der Dunkelheit. Elegante Kristallleuchter, die eher organisch und gewachsen erschienen hielten schlanke, weiße Talgkerzen. Helle Teppiche dämpften jeden Schritt in dem Raum. Hier hatte Luca seine eigene kleine Bibliothek mit Büchern über Historien, Götter, Könige, Strategien, Magie und Alchemie, allerdings auch Bände mit Gedichten, Erzählungen, Märchen und Heldensagen. Als Kind liebte er es Justins sanfter Stimme zu lauschen, wenn er ihm vorlas, oder mit ihm zusammen Gedichte verfasst. In diesem Raum lag mehr Kindheit, als in seinem Vaterhaus. Hier hatten er und auch Ayco zusammen gelacht und gespielt, gelernt zu singen und zu tanzen. Luca sah zu der Schilfrohrflöte, die sauber abgestaubt auf dem Sekretär lag, die Laute, die ihm Justin geschenkt hatte und dachte an die schönen Klänge und die Zauberstimme des Elfenvampirs. Seine Blicke strichen weiter, zu der alten Truhe, in der er seine Bilder aufbewahrte, alte Zeichenbücher und Gedichte, die er nicht wagte Justin zu zeigen, weil sie von Sehnsüchten nach einem anderen Mann sprachen. Vermutlich hatte der Vampir sie dennoch gelesen, aber Lucas Wunsch war nie Justin als Liebhaber zu bekommen. Nun lag der Mann, nach dem er sich sein Leben lang gesehnt hatte, schlafend in seinen Armen, nackt und schön. Stunden der Zärtlichkeit hatte Luca genutzt, um Ayco wirklich alles Leid vergessen zu lassen, wenn auch nicht für lange. Aber so viel hatte ihn Justin gelehrt, dass es ihm nicht schwer fiel, jeden Mann glücklich zu machen und ihre Körper wie Instrumente zu nutzen.

Der junge Elf schmiegte sich enger an Luca und flüsterte den Namen des Magiers. Lächelnd streichelte er über Aycos Haar und flocht die silbernen Strähnen um seine Finger. Vorsichtig hob er das feine Gespinst vor seine Augen und betrachtete es bewundernd. Aycolén war schön, rein und natürlich gegen ihn. Er hatte sich vollkommen neu in den jungen Mann verliebt, völlig ungeachtet von all den Gefühlen, die vorher existierten, und an die er sich klammerte. Das Lachen, die Emotionalität und Ehrlichkeit gefielen ihm, sein Mut, sein ungebrochener Wille bei Luca zu sein, seine Stärke, aber auch das schutzbedürftige, kindliche in ihm. Ayco war verletzlicher als er selbst, in sich aber unglaublich gefestigt, sonst hätten ihm all die Erkenntnisse der letzten Tage den Verstand zerbrochen wie das Kristallglas, dass Orpheu vorhin fallen gelassen hatte.

Luca schwor sich, diesen Jungen niemals weh zu tun und ihn mit Leib und Seele zu beschützen.

Sanft streichelte er Aycos Wangen und küsste sein Haar. Wenn er ihn so betrachtete, konnte Luca sich allerdings auch nur eingestehen, dass ihn der schöne junge Mann unglaublich anzog. Seine unschuldige Art verführte Luca, aber genauso seine sehnsüchtigen Augen und die vollen weichen Lippen, die er in dieser Nacht so oft geküsst hatte. Der empfindsame Körper Aycos reagierte auf die sanftesten Berührungen Lucas. Wenn er ihm mit einer seiner Haarsträhnen über die Wirbelsäule strich, genauso, wie er unter dem sanften Hauch von Lucas Atem erschauerte und die Lider schloss, sobald der Magier seine Haut mit den Lippen streifte.

Sehnsüchtig seufzte Luca und schloss die Augen, um den Duft von Aycos Haut ganz in sich aufzunehmen.

Den Gedanken an Orpheu und der ihm zugesagten Hilfe, verschob er weit in den äußersten Winkel seines Bewusstseins. Viel mehr wollte er noch einmal die Wärme Aycos Körper genießen und die Leidenschaft des Jungen erneut anfachen.

Insgeheim schimpfte sich Luca dafür sogar aus, denn Ayco war als Elf mit seinen hundertfünfundfünfzig Jahren einem vielleicht siebzehn- oder achtzehnjährigen Menschen adäquat. Aber das schien Ayco kaum zu stören, waren sie sich doch schon als Kinder und Jugendliche sehr nah gewesen.

Luca spielte mit dem Haar des Elfs und neckte ihn sanft damit, bis der Junge im Halbschlaf leise unter den Berührungen stöhnte.

Sollte Orpheu ruhig noch ein wenig auf ihn warten...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anfang 2015 erscheint im Incubus-Verlag ein weiterer Roman der in Äos (der Welt von Night's End) spielt.

Mehr zu meinen Projekten findet ihr auf Facebook und meinem Blog Komplett anzeigen

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