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Rot, rot, rot

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Schreifalter, es tut mir unendlich leid, dass ich hier so viel ändern muss. Danach ist Schluss, versprochen... ^^° Komplett anzeigen

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Glad to See You Go

Das Rotkäppchen kommt vom Weg ab

Die Großmutter schimpft mit dem Rotkäppchen

Der Jäger kontrolliert sein Revier

Der Wolf bekommt den Kuchen
 

"Wo ist der Kuchen?", fuhr die alte Frau Tim an, der im Türrahmen stand und noch nicht einmal Zeit gehabt hatte, sie zu begrüßen, ihr die Blumen zu geben und sich hinzusetzen.

"Welcher Kuchen?", stellte sich Tim dumm. Er stellte den Topf mit dem Grünzeug auf dem Nachttisch ab und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.

"Der Kuchen, den deine Mutter mir für heute versprochen hat."

Mann, die hatte ein Gedächtnis, wenn sie wollte, dachte Tim. "Ich weiß nichts von einem Kuchen", log er.

"Zwei Stück!", beschwerte sich seine Oma weiter. "Sie wollte ihn dir mitgeben, damit du auch mal wieder den Weg hierher findest."

"Habe ich ja geschafft – auch ohne Kuchen." Nach dreimaligem Verfahren, fügte Tim in Gedanken hinzu. Dabei war es doch gerade einmal sieben Monaten her, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Oder Acht. Achteinhalb. Höchstens.

"Nimm die Karten aus der Schublade", fuhr ihn die alte Frau in dem Moment an, als Tim gerade im Begriff war, sich zu setzen.

"Bitte nicht schon wieder", jammerte Tim. Immer diese dämlichen Karten!

"Wie sonst auch", sagte seine Oma mit unverhohlener Genugtuung. Lächelnd wartete sie, bis Tim das Kartenpäckchen aus ihrer Kommode genommen hatte. "Hilf mir beim Aufstehen", wies sie ihren Enkel an und hielt ihm demonstrativ ihren dürren Arm hin.

Das nächste Mal dachte er an den Kuchen, schimpfte sich Tim selbst aus. Verfluchter Kuchen! Den vergaß er sicher nie wieder...
 

Im Schneckentempo ging Tim neben seiner Oma über den Flur. Die alte Frau hatte sich bei ihm untergehakt und quakte ihm die Ohren zu, seit sie vor circa 200 Jahren ihr Zimmer verlassen hatten.

Tim hatte das Gefühl eingeschlafen oder gestorben zu sein, noch ehe sie das Gemeinschaftszimmer, das lediglich 20 Meter entfernt war, erreicht haben würden.

Das machte die Alte doch absichtlich, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Und dann dieses Lächeln. Und die Karten. Das war das letzte Mal, dass er hierher gekommen war.

"Johan hat sicher noch ein Stück Kuchen übrig", unterbrach seine Oma Tims Gedanken. "Da du meinen ja vergessen-"

Und schon hörte er ihr wieder nicht zu.
 

Nach einer Ewigkeit kamen sie endlich im Gemeinschaftszimmer an, wo seine Oma direkt auf einen Tisch in der Mitte des Raums zusteuerte und dort schwerfällig Platz nahm.

"Die Karten", sagte seine Oma gerade, aber Tim verstand den Rest nicht.

Der eingeschaltete Fernseher, der in einer Ecke stand, war so laut, dass sein Gehäuse vibrierte. Ein paar alte Menschen saßen in den Sesseln davor und starrten konzentriert auf den flimmernden Bildschirm, auf dem ein Western in schwarz-weiß lief.

Liebend gerne hätte Tim mit einem von ihnen getauscht. Was war ein gesundes Gehör schon gegen die Tatsache, dass er jetzt hier vor seiner Oma saß und ihr zusehen durfte, wie sie ein Kartenspiel für eine Person spielte. Jedes Mal das gleiche.

"Warum kommst du nie?", begann seine Oma wieder das leidige Thema. Im Zeitlupentempo mischte sie die Karten.

"Ich habe halt Zeug zu tun", brüllte Tim gegen den ebenfalls brüllenden Fernseher an. "Ich habe einen Job."

"Immer noch bei diesem Bestatter?"

"Ja, Oma", rief Tim. So langsam schmerzte sein Hals vom vielen Schreien.

Unbeeindruckt von der Lautstärke, die um sie herum herrschte, legte seine Oma ihre Patience. "Vermutlich sehen wir uns dann erst wieder, wenn du mich mit dem Leichenwagen abholen kommst..."

Überrascht von dem Zynismus, den seine Oma da an den Tag legte, schnappte Tim nach Luft. "Ja, Oma, das nächste Mal hole ich dich mit dem Leichenwagen ab", versuchte Tim den Lärm um sich herum zu übertönen. Hoffentlich hatte sie das gehört!

In diesem Augenblick verstummte der Fernseher und das gebrüllte das nächste Mal hole ich dich mit dem Leichenwagen ab schallte gut hörbar durch den Raum, in dem es mit einem mal so still wurde, dass Tim die knarrenden Federn eines Sessels hören konnte, als sich der alte Mann darin zu ihm herumdrehte. Jedenfalls hoffte Tim, dass es die Federn gewesen waren, die dieses Geräusch erzeugt hatten.

Tim wurde aus einem Dutzend mehr oder weniger klar sehender Augen angesehen. Ein Paar davon blitzte amüsiert auf: die, die zu dem Pfleger gehörten, dem Tim vor dem Heim in die Arme gelaufen war und der gerade den Ton des Fernsehers abgestellt hatte.

Vor ihm lachte seine Oma gehässig über Tims rotglühende Wangen, während sie weiter ihre Patience legte.

"Mein Enkel", verkündete seine Oma grinsend den Anwesenden. "Er hat meinen Kuchen vergessen."
 

"Hier ist Ihr Kuchen, Esther." Der Pfleger stellte einen Teller vor seine Oma und wandte sich dann lächelnd an Tim. "Möchte der Enkel auch ein Stück?"

Noch ehe Tim etwas dazu sagen konnte, hatte seine Oma das für ihn übernommen.

"Der braucht keinen Kuchen, der hat zuhause zwei Stück", schnarrte sie und piekte ihre Gabel triumphierend in ihr Stück Apfelkuchen.

"Wenn der Wolf ihm noch was übrig gelassen hat", witzelte der Pfleger und fing sich einen verwirrt-ratlosen Blick von Tim ein.

Esther fand das wohl ziemlich lustig, auch wenn sie gar nicht wissen konnte warum.
 

Ein Stück Kuchen und zwei Stunden später legte Esther immer noch eine Patience nach der anderen, ohne sich großartig um Tim zu kümmern, der gelangweilt neben ihr saß und in die Gegend starrte. Was er jetzt zu Hause alles hätte tun können...

Gegenüber des Gemeinschaftsraumes befand sich das Stationszimmer. Durch die großen Glasfenster, die sich über drei Seiten zogen, hatten man von drinnen einen guten Blick auf alles, was draußen passierte. Jedes Seitenfenster war auf einen der beiden Flure gerichtet, während man durch das Fenster an der Front den Bereich des Zimmers überblicken konnte, in dem er mit seiner Oma saß. Und von draußen konnte man genauso gut hineinsehen. Was Tim auch seit ungefähr fünfzehn Minuten tat.

Der Pfleger hatte es gut, bemitleidete sich Tim selbst. Der saß da in seinem Zimmer, ordnete irgendwelche Papiere, tippte etwas in den Rechner ein und sah nur ab und zu mal auf. Gerade telefonierte er und lachte dabei.

Vielleicht sollte er sich zu ihm setzen, überlegte Tim. Anders als er hier draußen, hatte der ja offensichtlich Spaß.

Tim stützte seinen Kopf auf eine Hand.

Dieses Zimmer hatte was von einem Aquarium, wenn auch ohne Wasser. Und der Typ könnte gut ein Fisch sein. Ein Guppy würde zu ihm passen, so geschäftig wie er da gerade in dem Zimmer hin und her lief und Aktenschränke öffnete, um darin herumzukramen.

Der Gedanke ließ Tim grinsen und in diesem Moment sah der Pfleger hinter der Scheibe auf. Er erwiderte das Lächeln, das Tim vor Schreck im Gesicht festfror.

Mist, Mist, Mist!, dachte Tim, als der Pfleger in seinem Zimmer aufstand, zur Tür herauskam, die er sorgsam verschloss, um dann zu ihnen ins Gemeinschaftszimmer geschlendert zu kommen. Er hielt direkt auf Esther und Tim zu.

Verzweifelt bemühte sich Tim seine Wangenmuskulatur zu entspannen, was ihm nicht gelang, weil er immer noch an den Guppy denken musste.

Tim lächelte auch noch als der Pfleger sich vor ihm aufbaute, allerdings hatte es mittlerweile etwas hilfloses an sich.

'Der wird doch nicht...' Tims Befürchtungen, was der Pfleger jetzt von ihm halten mochte, fuhren Karussell in seinem Kopf.

"Wie wäre es, wenn wir essen gehen?", fragte der Typ gerade und sah zu Tim, der ihn mit angehaltenem Atem anstarrte.

"Was – wieso – wir – wohin?" Klasse, Tim, noch mehr W-Wörter fallen dir nicht mehr ein, schimpfte er sich selbst aus und spürte im gleichen Augenblick, wie sich sein verkrampftes Lächeln endlich löste, während das seines Gegenübers breiter wurde. "Ich weiß nicht..."

"Schon wieder?", hörte Tim seine Oma in der selben Sekunde neben sich fragen. "Ich bin noch vom Kuchen satt."

In dem Moment kapierte Tim, dass die Frage mit dem Essen überhaupt nicht ihm gegolten hatte.

"Eine Scheibe Brot geht sicher noch, oder?" Der Pfleger half Esther dabei, aufzustehen, ohne Tim aus den Augen zu lassen. "Bis morgen früh ist es noch lange."

"Na schön", stimmte Esther schließlich zu.

Gott, hatte der Typ ihm etwa gerade zugeblinzelt?! Tim senkte seinen Blick und schob die Karten zusammen, die in Reihen nebeneinander auf dem Tisch lagen, ehe er den Stapel in die Packung verfrachtete. Was war er für ein Volltrottel? Wenigstens konnte er jetzt endlich gehen.

Möglichst ohne wieder etwas blödes zu sagen oder zu tun gab Tim dem Pfleger die Karten.

"Tschüs", murmelte Tim ungewohnt schüchtern.

"Bis bald", erwiderte der Pfleger lächelnd.

"Vermutlich nicht", quäkte Esther dazwischen. "Das dauert jetzt wieder ein halbes Jahr, bis er sich hier wieder blicken lässt."

"Was?" Tim stand mit offenem Mund vor seiner Oma. "Werde ich nicht."

"Ja, ja", murrte Esther. Ein müdes Lächeln umspielte ihre faltigen Mundwinkel. "Ich bin froh, dass du wieder gehst!", rief sie ihrem Enkel nach, der sich noch einmal an der Tür zum Treppenhaus umdrehte, auf die er wütend zugestürmt war.

"Ich komme wieder!", entgegnete Tim.

"Das glaube ich dir nicht", erwiderte Esther böse.

Gereizt winkte Tim ab und drehte sich um.

Der Pfleger, der das Ganze belustigt verfolgt hatte, sah dem jungen Mann mit dem knallroten Ramones-T-Shirt und dem ebenso knallroten Gesicht nach, der – dieses Mal ohne sich noch einmal umzudrehen – um die Ecke des Flurs verschwand.

"Der kommt wieder", lachte Esther leise.

Der Pfleger sah die alte Dame erstaunt an. "War das Absicht?"

Esther lachte und ihre knochigen Schultern bebten dabei.

"Sie sind ganz schön raffiniert."

Stolz sah Esther den jungen Mann an ihrer Seite an. "Ich bin 91 ¾, was haben Sie denn erwartet?"
 

Esther lag im Bett und sah müde Johan zu, der gerade den Fallschutz an der Seite des Bettes hochzog. Als sie ihre Hand auf seine Hand legte sah er auf.

"Ich verraten Ihnen mal etwas, Johan." Esther winkte ihn mit ihrem Zeigefinger ein bisschen näher zu sich. Ihre Stimme nahm einen verschwörerischen Klang an. "Wissen Sie", begann sie leise, "immer wenn mein Enkel zu Besuch kommt - also alle Schaltjahre einmal -, dann unternehme ich Sachen mit ihm, von denen ich weiß, dass sie ihn schrecklich langweilen."

Johan, dem vor Verblüffung kurz die Kinnlade herunter geklappt war, fing sich gleich darauf wieder. "Das kannte ich bisher nur anders herum. Das Kartenspielen auch?"

"Nein, das nicht." Esther schüttelte leicht ihren Kopf. "Aber das nächste Mal werde ich ihn bitten, mit mir eine Runde im Garten zu drehen. Wissen Sie, wie langsam ich gehen kann?"

"Esther, ich bin entsetzt", lachte Johan auf. Die alte Frau hatte es faustdick hinter den Ohren. "So gehässig kenne ich Sie ja gar nicht."

Ihre Augen blitzten belustigt auf. Sie zeigte auf ihren Nachttisch. "Da, Junge, nehmen Sie die Blumen mit, ich schenke sie Ihnen."

Zweifelnd betrachtete sich Johan sein Geschenk. "Ihr Enkel wird sich wundern, wenn sie nicht mehr da sind."

"Als ob der sich das nächste Mal noch an irgendetwas erinnern könnte, was wir heute miteinander gesprochen oder getan haben..." Esther gähnte hinter vorgehaltener Hand.

"Vielen Dank." Johan nahm den schief in Folie eingewickelten Blumentopf an sich und verließ leise das Zimmer. "Schlafen Sie gut."
 

Im Stationszimmer stellte Johan die Blumen vor sich auf den Schreibtisch, betrachtete sie sich eine Weile und hoffte, dass sich Esthers Enkel sehr wohl noch an die Sachen erinnern konnte, die heute passiert waren. Nicht an alles, aber an einiges. An ihn zum Beispiel.
 

"Auf dem Balkon", wurde Tim zuhause fröhlich von Marek begrüßt.

Müde warf Tim seine Schuhe in die eine und die Autoschlüssel in die andere Ecke.

"Na, wie war's?", war die erste Frage, die Marek Tim stellte, als dieser den Balkon betrat, wo Marek saß und sich das Gesicht von den letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen ließ. "Hat sich deine Oma über deinen Besuch gefreut?"

"Ja, und wie..." Tim schnaubte. "Schrecklich war es. Oder hast du was anderes erwartet?"

"Du Ärmster." Marek tat, als bedauere er Tim, der tatsächlich wie ein Häufchen Elend aussah. Er schnappte sich Tims Hand und zog diesen zu sich auf den Schoß. "Bekomme ich jetzt zwei blaue Augen?", fragte Marek scheinbar zusammenhangslos.

Tim, der müde seinen Kopf gegen Mareks Kopf gelehnt hatte, setzte sich auf. Er sah Marek fragend an, der sich das Lachen verbeißen musste. "Wie meinst du das?"

"Ich habe den Kuchen gefunden", gestand Marek kleinlaut.

"Und hast beide Stücke gegessen, richtig?" Vorwurfsvoll schüttelte Tim den Kopf. "Du hättest mir ja wenigstens was davon abgeben können."

"Kann ich doch." Marek blinzelte unschuldig, was Tim erst recht misstrauisch werden ließ.

"Will ich es wissen?"

Marek grinste bis über beide Ohren. Er schlang seine Arme um Tims Taille und drückte sein Gesicht in Tims Rücken. "Ich kann dir was von der Energie abgeben, die ich durch den Kuchen bekommen habe", murmelte er dumpf.

Tim musste unweigerlich lachen. "Wenn ich nicht so müde wäre..."

Marek brummelte irgendetwas vor sich hin, was Tim einfach überhörte. Er hatte für heute genug von essen. Stattdessen durfte er sich jetzt Gedanken darüber machen, wie er beim nächsten Besuch bei seiner Oma dem Pfleger gegenüber möglichst unauffällig so tun konnte, als wäre nichts geschehen. Als hätte es den Zwischenfall mit der Frage nach dem Essen gar nicht gegeben.

Tim seufzte auf, was Marek einfach zum Anlass nahm, ihn noch ein bisschen fester zu umarmen.

"Vergiss es, Vielfraß!"
 

Schon  als er die Tür zum Stockwerk öffnete, auf dem seine Oma lebte,  konnte Tim Johans Stimme hören. Zu sehen war er nicht. Vielleicht  schaffte er es ja, ungesehen am Stationszimmer vorbei zu kommen und  vor allem, ohne auf den letzten Besuch angesprochen zu werden.

"Oh  Hallo", wurde Tim prompt von einem fröhlich lächelnden Johan  begrüßt, kaum dass er einen ersten Schritt in Richtung zum Zimmer  seiner Oma getan hatte.

So  viel zu seinem Plan, sich vorbeizuschleichen.

"Wenn  das mal nicht Esthers vergesslicher Enkel ist", scherzte der  alte Mann, der, auf einen Krückstock gestützt, langsam neben Johan  herging.

"Ja,  genau der", antwortete Tim und grinste verlegen. "Heute  habe ich Kuchen dabei." Wie zum Beweis hielt Tim die Stofftasche  in die Höhe, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte.

"Ich  weiß nicht, ob sie Appetit auf Kuchen hat", sagte Johan und  zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Sie war müde und hat  sich gerade etwas hingelegt."

"Wir  haben sie aufs Zimmer gebracht", informierte der Alte Tim, der  sich mit einem schnellen 'Ich  schaue mal nach ihr'  davon machte, bevor das zur Sprache kam, weswegen er Johan eigentlich  hatte aus dem Weg gehen wollen.
 

Stumm  verharrte Tim in der Zimmertür, die halb offen stand, und sah ratlos  in das kleine gemütliche Räumchen.

Seine  Oma lag, die Augen geschlossen, still in ihrem Bett.

Klasse,  dachte Tim, jetzt konnte er gleich wieder verschwinden, ohne Ärger  zu bekommen. Und den Kuchen ließ er als Beweisstück einfach da.

Vorsichtig  betrat Tim das Zimmer, das von einer eigentümlichen Stille  beherrscht wurde. Durch den Spalt des gekippten Fensters drangen zwar  gedämpft die Geräusche von draußen herein, aber alles schien sich  nur außerhalb abzuspielen. Vögel zwitscherten in den Bäumen, in  deren Blätterkronen der Wind rauschte. Geschäftige Insekten surrten  am Fenster vorbei und unten vor dem Haus hörte man ein paar Leute  miteinander schwatzen und lachen. Wenn er sich nicht irrte, hatte er  gerade Johan gehört.

Im  Zimmer seiner Oma war alles anders.

Die  antike Standuhr, deren Pendel träge und von einem kaum hörbaren  Seufzen begleitet von einer Seite auf die andere schwang, verstärkte  den Eindruck der unheimlichen Stimmung im Zimmer. Draußen war alles  voller Leben - und hier bei ihnen? Als gäbe es eine Barriere  zwischen dem lebhaften Draußen und dem in sich gekehrten Drinnen.
 

Etwa  einen Meter vor dem Bett seiner Oma blieb Tim stehen.

Er  sah zu seiner Oma hinüber, die noch immer bewegungslos in ihrem Bett  lag. Die leichte Decke, die bis zu ihrer Brust hinaufgezogen war,  bewegte sich kein Stück. Nicht einmal ein Atmen war zu erkennen.

Tim  legte die Stofftasche mit dem Kuchen auf den Nachttisch und stieß  dabei gegen ein leeres Wasserglas, welches wiederum klirrend gegen  die Flasche daneben stieß.

Spätestens  jetzt musste seine Oma wach werden.

"War  keine Absicht", entschuldigte sich Tim und wartete auf die  Ermahnung seiner Oma, doch ein bisschen vorsichtiger zu sein.

Reglos  blieb Esther im Bett liegen und Tim wurde langsam mulmig zumute.

Mit  klopfendem Herzen machte Tim einen Schritt auf das Bett zu. Sein Mund  war trocken und sein Hals kratzte. Er räusperte sich, auch, um auf  sich aufmerksam zu machen.

'Die  alte Hexe wird doch nicht-' Ein erster Impuls ließ Tim darüber  nachdenken, den Pfleger zu rufen, doch dann schüttelte er den  aufkommenden Gedanken schnell ab. Alte Leute schliefen nun einmal  besonders tief, oder nicht?

Vorsichtig  streckte Tim seine Hand nach der Hand seiner Großmutter aus, die  neben ihr auf der Bettdecke ruhte.

Das  erste Mal bemerkte er die unzähligen Altersflecke und die violett  schimmernden Adern, die unter der blassen, dünn wie Seidenpapier  wirkenden Haut hervortraten.

Im  ersten Augenblick zuckte Tim zurück, als seine Hand die kühle Haut  berührte.

Das  war also Mareks Job?

Tim  biss sich auf die Unterlippe.

So  etwas sah er mehrmals in der Woche?

Nicht  nur alte Menschen,  dachte Tim und schluckte, um das riesig wirkende Hindernis in seinem  Hals loszuwerden, das ihm die Luft abschnürte.

Er  war bisher kein einziges Mal dabei gewesen, wenn Marek die  Verstorbenen abholte und für die Bestattung vorbereitete. Marek  hatte einen Assistenten, der immer mit ihm fuhr. Er selbst half bei  allem anderen, was so anfiel. Bürokram eben. Bestellungen,  Buchführung. Das reichte Tim. Mehr als die Namen erfuhr er nie von  den Verstorbenen und mehr wollte er auch gar nicht damit zu tun  haben. Alles, was über den schriftlichen Kontakt mit Ämtern  hinausging, überließ er Marek, der ihm das bisher noch nie  vorgeworfen hatte.

"Oma?"  Tims zitternde Stimme verhallte unbeantwortet in dem ruhigen Zimmer.

Er  sah auf die dünne Hand hinab, die immer noch still da lag und bis  jetzt auf keine Berührung reagierte. Ihre Hand war so mager, dass  man darunter jeden einzelnen Knochen spüren konnte. Tim drückte  leicht zu. Selbst wenn seine Oma tief schlief, musste sie seinen  Händedruck doch wenigstens reflexartig erwidern.

Es passierte nichts.



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