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Rot, rot, rot

von

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Gimme Gimme Shock Treatment

Die Großmutter liegt in ihrem Bett

Das Rotkäppchen erschrickt

Der Jäger ist auf der Pirsch

Der Wolf freut sich auf das Rotkäppchen
 

Traurig betrachtete sich Tim das Gesicht seiner Oma, das ebenso fragil und zerbrechlich wirkte, wie der Rest ihres Körpers. Ihr schneeweißes Haar trug sie zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengebunden. Ein paar Haare hatten sich gelöst und ringelten sich widerspenstig um ihre Ohren.

Tim streckte die Hand aus und strich seiner Oma die seidig weichen Locken aus dem Gesicht.

Seine Mutter war nie müde geworden, jedem zu erzählen, dass er die Haare von seiner Oma geerbt hatte. Die gleiche dunkelblonde Haarfarbe – er konnte es sich nicht einmal vorstellen. Er kannte seine Oma, die eigentlich schon seine Ur-Oma war, nur mit weißem Haar. Er hatte nie ein Bild gesehen, auf dem sie noch jung war. Und es hatte ihn nie interessiert.

Jetzt war es zu spät, seine Oma kennenzulernen. Tim konnte sich ein leises Fuck nicht verkneifen.

Verdammter Mist, verdammter. Tim beugte sich zu seiner Oma hinab, um ihr zumindest jetzt noch einen Kuss zu geben. Es würde wohl der letzte sein. Und, wie er sich traurig eingestehen musste, vermutlich auch der erste, seit er sich erinnern konnte.

Gerade als Tim sich soweit zu Esther hinab gebeugt hatte, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, sah er das leichte Pulsieren ihrer Schläfen.

Erschrocken fuhr Tim auf und seine Blicke trafen die seiner Oma, deren helle Augen amüsiert und vor allem sehr lebendig aufblitzten.

"Angeschmiert!", jubelte Esther triumphierend und begann laut zu lachen.

"Verdammt, Oma!", war alles, was Tim herausbrachte.

Esther lachte nur noch lauter über das perplexe Gesicht ihres nun sprachlosen Enkels.

"Sag deiner Oma, dass du sie lieb hast", krähte Esther fröhlich, "wer weiß, wie lange du sie noch hast?"

Tim schwankte zwischen aus dem Zimmer zu stürmen und nie wieder zurückzukommen, und laut loszulachen. Er entschied sich für Ersteres und rannte dabei fast Johan über den Haufen, der in diesem Moment im Türrahmen erschien.

"Die alte Hexe ist kerngesund", zischte Tim und ließ den verdutzten Johan einfach stehen.

Das letzte, was Tim noch hörte, bevor er das Treppenhaus betrat, war seine Oma.

"Johan, was heißt Fahack?"
 

Johan musste immer noch über Esther lachen, als er später am Tag nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. Er zückte das Feuerzeug, um seine Zigarette anzuzünden, und stolperte im gleichen Moment über ein Hindernis vor sich auf der Treppe, das dort normalerweise überhaupt nicht sein dürfte.

"War keine Absicht", entschuldigte sich Johan bei Tim, der auf vorletzten Stufe saß und noch nicht einmal aufgesehen hatte, als Johan gegen ihn stieß.

Johan setzte sich neben Tim, der sich stumm seine Schuhspitzen betrachtete.

"Du sitzt hier doch nicht wirklich schon seit zwei Stunden, oder?"

Ohne aufzusehen nahm Tim die angebotene Zigarette entgegen.

"Was war denn los?", hakte Johan geduldig nach.

Tim, der die Zigarette in den Händen hielt, ohne sie anzuzünden, schnaubte unwirsch.

Johan streckte die Beine aus und ließ seine Blicke über den parkähnlichen Garten gleiten, der sich vor ihnen erstreckte.

"Das kann sie echt gut, was?"

Das erste Mal sah Tim Johan an, seit der sich zu ihm gesetzt hatte. "Was?"

"Flach atmen", antwortete Johan, während er seine brennende Zigarette festhielt, ohne einen Zug davon zu nehmen.

"Wie meinst du das?"

"Hat sie sich tot gestellt?", fragte Johan mit einem Tonfall, als kenne er die Antwort darauf schon, und sah Tim an, der verwirrt zurück starrte.

"Ja, hat sie", stieß Tim verblüfft aus. "Woher weißt du das?"

"Weil sie das schon mit uns allen gemacht hat." Johan sah dem Rauch nach, der von der Spitze seiner Zigarette aufstieg und sich im sanften Wind kräuselte, bis er nicht mehr zu sehen war.

"Ich fasse es nicht." Tim musste unweigerlich grinsen. "Dann war das also kein persönlicher Service um dem gehassten Enkel ein schlechtes Gewissen zu machen?"

Johan lachte auf. "Nein, war es nicht. Außerdem hat sie sich schon die ganze Woche auf deinen Besuch gefreut."

Tim sah Johan ungläubig an. "Hat sie das gesagt?"

"Nicht wortwörtlich", gab Johan zu.

Tim stieß die Luft durch die Nase aus. Er hätte sich auch gewundert...
 

"Danke übrigens", sagte Johan nach einer Weile in die Stille hinein.

"Wofür?"

"Dafür, dass ich deiner Oma das neue Wort erklären musste, das du ihr beigebracht hast." Johan sah grinsend zu Tim, der ihn mit offenem Mund anstarrte.

"Welches Wort?", fragte Tim unschuldig und hoffte, dass Johan ihm abkaufte, dass er es vergessen hatte.

Johan kaufte es ihm nicht ab. Er nahm seine verglühte Zigarette, von der er, seit er sie angezündet hatte, keinen einzigen Zug genommen hatte, und drückte sie in dem Blumenbeet neben der Treppe aus.

"Hast – hast du es ihr gesagt?" Tim spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen und die Stirn stieg.

Johan lachte leise. "Ich habe ihr gesagt, dass es das Wort nicht gibt. Es wäre dir nur rausgerutscht, weil du dich so erschrocken hättest."

"Na klasse, jetzt denkt sie, ich hätte einen Schlaganfall gehabt..." Tim grinste schief.

"Nein, sie denkt nur, dass du sie jetzt nie wieder besuchen wirst." Johan lächelte Tim an, der nun nicht mehr so blass war, wie zu Anfang ihres Gesprächs.

"Käme mir nicht in den Sinn", murmelte Tim. Er meinte es tatsächlich so, stellte er fest und war von sich selbst überrascht.

"Dann ist ja gut", erwiderte Johan. Er machte eine kurze Pause. "Sonst hätte ich mir was anderes einfallen lassen müssen."

Tim hob den Kopf und sah seinen Nebenmann an. "Einfallen lassen? Wofür?"

"Na ja", Johan wich kurz Tims Blicken aus. "Das mit dem Essen weiß ich noch."

"Ach das." Tim fühlte sich, als sei sein Kopf mit kochender Lava gefüllt.

"Möchtest du deiner Oma noch Auf Wiedersehen sagen, damit sie beruhigt ist?" Johan stand auf und wartete darauf, dass Tim es ihm gleich tat.

"Wird wohl besser sein", stimmte Tim zu. Er erhob sich von seinem Sitzplatz und hielt Johan seine unberührte Zigarette hin, damit er sie zurück nahm – doch statt nur der Zigarette nahm Johan einfach den Rest von Tim gleich mit dazu, als er ihn in seine Arme zog und dem irritiert dreinsehenden Tim einen forschen Kuss auf den Mund drückte.

"Das mit dem Essen gehen war mein Ernst", sagte Johan, ohne Tim aus seiner Umarmung zu lassen.

"Dachte ich mir", stotterte Tim, der nicht wusste, wohin mit seinen Händen und wohin mit dem Chaos, das Johans Kuss und seine Umarmung gerade in ihm anrichteten.

Der nächste Kuss war dafür umso sanfter und Tim spürte, wie seine Knie weich wurden. Er öffnete seine Hand, die die mittlerweile zerdrückte Zigarette festhielt. Das malträtierte Tabakröllchen fiel unbeachtet zu Boden und Tim hatte endlich die Hände frei für Johan.
 

"Schämen Sie sich, Johan!", empfing sie Esther, die quicklebendig im Gemeinschaftszimmer in einem Sessel vor dem Fernseher saß.

Johan setzte sein strahlendstes Lächeln auf. "Warum denn das?"

"Wegen ihm!", schimpfte Esther weiter und zeigte anklagend auf Tim, dem vor Verblüffung alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war..

Tim und Johan wechselten einen ratlosen Blick miteinander.

"Was habe ich denn getan?", fragte Tim zögerlich. Er rechnete mit allem. Aber nicht mit seiner Oma.

"Was kennst du denn für Wörter?", empörte sich Esther weiter. Dann wandte sie sich an Johan. "Und Sie nehmen ihn auch noch in Schutz!"

Johan lachte erleichtert auf. Er ging zu Esther. "Und woher wissen Sie das?"

"Von Wilhelm." Esther zeigte mit dem Finger auf den alten Mann im Sessel neben ihr, der seine Hände auf den Krückstock gestützt hatte und Johan frech angrinste.

"Ich hab's ihr erklärt", bestätigte Wilhelm und nickte dabei stolz.

Tim, der noch in sicherer Entfernung gestanden hatte, kam näher. "Ich geh dann mal heim und denke darüber nach, welche Wörter ich kenne, okay?"

"Aber warum denn?" Esther war sichtlich enttäuscht. "Du bist doch gerade erst gekommen."

"Ich-ich-"

"Er ist glaube ich müde", übernahm Johan Tims Versuch, nach einem Grund für sein frühes Verschwinden zu suchen.

Esther verzog den Mund. "Jetzt schon? Es ist doch noch früh."

"Er hat scheinbar eine wilde Nacht hinter sich", witzelte Johan und Tim war sich sicher, dass er hier gleich in Grund und Boden versank. Wie kam Johan auf so etwas?

"Ich bin nächste Woche wieder hier", bemühte sich Tim, seine Oma zu trösten.

"Heute ist doch erst Donnerstag", Esther klang fast wie ein Kind, dem man den einzigen Wunsch abgeschlagen hatte, den es gehabt hatte.

"Vielleicht schaffe ich es auch früher, gut?"

"Gut." Esther sah zufrieden ihren Enkel an. "Aber schlaf dich vorher aus, damit du nicht wieder so früh verschwindest", tadelte sie ihn noch.

"Ja, mache ich, Oma." Tim sah zu Johan, der sich königlich amüsierte. Er wusste noch immer nicht, warum und worüber. "Bis denn."

"Bis bald", sagte Johan. Nächste Woche? Das hatte Esther Tim vielleicht abgekauft, nicht aber Johan. "Viel Spaß."
 

Mit weichen Knien ging Tim zu seinem Auto. Mit weichen Knien fuhr er nach Hause und mit ebensolchen weichen Knien stieg er die Treppe zur Wohnung hinauf.

Mit weichen Knien ging er in die Küche und nahm sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und mit weichen Knien schaffte er es gerade noch so bis zum Sofa, wo seine weichen Knie endgültig nachgaben.

Das erste Mal seit Johans Küssen spürte Tim seine weichen Knie nicht mehr. Er atmete tief durch und war erleichtert.

"Na, Schatz, war es so anstrengend bei deiner Oma?"

Langsam schlug Tim die Augen auf. Marek stand über ihn gebeugt da und lächelte auf ihn hinab. Er musste eingeschlafen sein, ohne gemerkt zu haben, dass er müde gewesen wäre.

"Bist du schon lange zurück?" Tim setzte sich auf. Die Colaflasche lag ungeöffnet auf seinem Bauch. Er hatte es also nicht einmal mehr geschafft, etwas zu trinken.

"Ich sitze hier schon seit einer Stunde und schaue dir beim Schlafen zu." Marek lachte über Tims erschrockenes Gesicht. "Bleib locker, war nur Spaß", fügte er hinzu. "Ich bin gerade erst gekommen."

"Dir traue ich fast alles zu", sagte Tim und streckte sich ausgiebig.

"Nur fast?" Marek zog die Augenbrauen zusammen.

Tim schüttelte grinsend den Kopf. "Hattet ihr noch viel zu tun?"

"Meinst du damit, ob wir noch Kundschaft hatten?" Marek blinzelte unschuldig und Tim verdrehte die Augen, was Marek wiederum dazu veranlasste, Tim leicht in die Wange zu kneifen, als wäre er ein kleines Kind. "Sag doch mal Verstorbener."

"Willst du mich veralbern?" Erfolglos versuchte Tim Mareks Händen zu entgehen, der sein Kinn gepackt hatte und Tims Gesicht so zu sich herumdrehte, dass er ihn anschauen musste.

"Probier's doch mal", säuselte Marek so nett er konnte. "Ver-stor-be-ner. Ist ganz leicht."

"Du-kannst-mich-mal", antwortete Tim stattdessen und befreite sich lachend aus Mareks Griff. "Ich geh ins Bett."

"Ich komme mit", rief Marek tatendurstig und folgte Tim auf dem Fuße.
 

"Scheiße, Marek, was ist das?"

Marek spuckte den Zahnpastaschaum aus und spülte mit Wasser nach. Er sah Tim, der neben ihm am Waschbecken stand, von oben bis unten an.

"Ein halbnackter Tim, wobei die Betonung auf halbnackt liegt", scherzte Marek und lachte über seine eigene Genialität. Oder wie immer man das auch nennen mochte.

"Ich meine das da!" Vorwurfsvoll deutete Tim auf einen kleinen lila-roten Flecken, direkt auf seinem Schlüsselbein.

"Immer noch nur ein halbnackter Tim."

Tim funkelte Marek an, der sich vor Lachen kaum noch halten konnte.

"Du hast da übrigens noch einen." Marek näherte sich Tim. Sein Zeigefinger fuhr über Tims Nacken, bis er an einer Stelle kurz vorm Haaransatz anhielt. "Und noch einen."

"Oh Gott, bitte nicht", stöhnte Tim.

"Ist doch nicht schlimm." Mareks Mund strich erst sachte über den Fleck und dann biss er zart hinein. "Ich mag die."

"Die sind ja auch von dir!" Tim wand sich aus Mareks Umarmung. Er wirbelte herum und sah seinen Freund tadelnd an. "Ich habe so die ganze Zeit vor meiner Oma gesessen!" Und vor Johan.

"Ja und?" Marek kapierte das Drama immer noch nicht. "Als ob deine Oma wüsste, was das ist."

"Ich frage sie das nächste Mal..." Tim hielt sich die Hände vors Gesicht. Plötzlich wusste er, was Johans Anspielungen gesollt hatten. Er ist müde. Er hat 'ne wilde Nacht hinter sich. Viel Spaß. "Himmel..."
 

"Wie geht’s deiner Oma denn?"

"Sie hat sich totgestellt." Tim kroch zu Marek unter die Decke und rückte so nah wie möglich an ihn heran. Er hoffte, auf ein bisschen Verständnis zu treffen, aber schon gleich nach dem Satz spürte er wie Mareks Brustkorb bebte.

"Es-es-es tut mir so leid für dich", presste Marek mühevoll hervor.

"Du kannst ruhig lachen, kein Problem, tu dir keinen Zwang an."
 

Seit geschlagenen zehn Minuten hatte Tim nun schon geduldig zugesehen wie Marek sein Fünfeinhalb-Minuten-Frühstücksei zuerst sorgfältig mit seinem Messer geköpft, mit Salz bestreut und schließlich genüsslich verspeist hatte. Er selbst hatte seinen Toast darüber kalt werden lassen.

Jetzt war Marek bei Ei Nr. 2 und Tim wusste immer noch nicht, ob er ihn wirklich darauf ansprechen sollte, was ihm schon seit Ei Nr. 1 auf der Seele brannte.

Die erste Hälfte der letzten Nacht - des schlaflosen Teils zumindest - hatte Tim damit zugebracht über Johan nachzudenken. Worüber er natürlich nicht mit Marek sprechen konnte. Aber da war ja noch die andere schlaflose Hälfte und die lag ihm gerade auf der Zunge, als Marek den Kopf hob, Tims Blicke bemerkte und ihm ein so dermaßen liebes und ohne Hintergedanken versehenes Lächeln zuwarf, das Tim beinahe dazu brachte, alles Gedachte über Bord zu werfen, sich Marek zu schnappen und mit ihm den schönsten Tag seit sicher zwei Wochen zu verbringen.

Sie könnten endlich mal wieder das tun, wozu kaum Zeit gewesen war. Irgendwo hin fahren, ohne vorher alles zu planen. Unterwegs kaufen, was sie bräuchten - wenn es nach Marek ging, wäre das wahrscheinlich nur eine Decke, die sie auf irgendeiner Wiese ausbreiten würden, um sich darauf zu legen. Und das einzige, was Tim dem noch hinzuzufügen hätte, wäre das ein oder andere kalte Getränk. Und Marek natürlich. Am liebsten pur. Ohne alles.

Tim wurde erst wieder daran erinnert, dass Marek in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, als er den belustigten Blicken seines Gegenübers begegnete.

Mareks Lippen bogen sich zu einem Lächeln, das Tim ständig aus dem Konzept zu bringen drohte. Mit genau so einem Lächeln hatte Marek so gut wie immer gewonnen. Und das wusste er. Leider.
 

"Ein Kuss für deine Gedanken..."

Tim spürte, wie sein Herz einen aufgeregten Takt zulegte. Er biss sich auf die Unterlippe.

Hör auf, so zu lächeln, hör auf, sonst weiß ich nicht, was ich sage. Es hätte sicher was mit einer Decke und Marek zu tun und mit dem kleinen Feuermal in Form einer Schneeflocke an der Stelle, die außer ihm und Marek nur der Storch gesehen hatte, wie Marek ihm einmal lachend erklärt hatte.

Widerstrebend löste Tim seine Blicke von Marek, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. Nicht einmal Ei Nr. 2 beachtete er mehr.

"Kann ich heute mit dir kommen?" Tim hatte Mühe, die Frage auszusprechen. Es war nicht einfach, das zu sagen, was besser war, wenn man eigentlich etwas völlig anderes wollte. Und er wollte etwas völlig anderes. Er wollte Marek. Mit oder ohne Decke. Jetzt sofort.

"Wohin?", fragte Marek gerade und Tim war einen Moment lang irritiert.

Ja, wohin denn nun? Tim schob das Feuermal und die Decke beiseite.

"Wohin du eben so musst", sagte Tim in möglichst normalem Tonfall.

"Bist du sicher?" Marek hatte Ei Nr. 2 nun endgültig vergessen. Er wartete, ob Tim sein Gesagtes nicht doch nochmal korrigieren wollte, aber Tim sah ihn unbeirrt an. Marek legte den Löffel aus der Hand. Er beugte sich etwas vor und suchte erfolglos in Tims Gesicht nach einem winzigen Anzeichen Unsicherheit.

"Aber du weißt, was heute ansteht, oder?" Mareks Tonfall war ruhig, fast lauernd.

"Du holst die Urne für die Bestattung morgen ab." Keines dieser Worte war Tim schwer über die Lippen gekommen, weder Urne noch Bestattung. "Ich organisiere das alles, falls du das vergessen hast..."

Marek schien immer noch zu zweifeln. Doch Tim hielt auch diesen Blicken ohne zu zögern stand.

"Na schön, da du ja weißt, wo wir hin müssen, soll es mir recht sein." Marek hielt kurz inne. "Wenn es dich im Krematorium hinhaut und ich dich ins Auto tragen muss, erwarte ich selbstverständlich eine Wiedergutmachung."

"Alles, was Sie wünschen, Chef", flötete Tim und warf Marek einen Kuss über den Tisch hinweg zu.

"Du machst dich über mich lustig?" Marek stand auf und begann, das Essen vom Tisch zu räumen. "Tja, das war's dann wohl mit der Gehaltserhöhung..."

Tim folgte ihm mit dem benutzten Geschirr. Er blieb bei Marek stehen, der das Marmeladenglas zuschraubte und noch immer grinsend auf die Antwort wartete.

"Schade um den Nachtisch, den ich mir ja leider nicht mehr leisten kann", blödelte Tim und lachte dann hämisch über Mareks sich verfinsternde Augen.
 

"Was willst du denn mit der Decke?" Die Hände in die Hüften gestützt, stand Marek zwischen den beiden parkenden Wagen auf dem Hof und sah zu, wie Tim das zusammengerollte Stoffteil hinter den Vordersitzen des roten Sprinters verstaute.

"Wer weiß", antwortete Tim ausweichend. Er wollte sich an Marek vorbeischlängeln, als der ihn am Ellenbogen festhielt und so an der Flucht hinderte.

"Nicht so schnell", erstickte Marek Tims ungewohnten Eifer im Kern. Er wunderte sich kurz über Tims ertappt wirkenden Gesichtsausdruck und lächelte ihm sanft zu. "Wir sind die letzte Zeit fast nur aneinander vorbei gerannt-"

"Außer im Bett", unterbrach Tim Marek albernd.

"Ja, außer im Bett", gab Marek amüsiert zu. Er schlang seine Arme um Tims Taille und zog ihn zu sich. Eigentlich war es seine Aufgabe, anzügliche Witze zu machen und Tim lachte meistens darüber. Marek blickte in Tims Augen. Er liebte sie. Sie waren Grau und hatten hier und da grüne Flecke. "Du weißt, dass du nicht mitfahren musst, um mir einen Gefallen zu tun?"

"Weiß ich." Tim schüttelte leicht mit dem Kopf. "Mach doch jetzt kein Drama daraus", fügte er fast enttäuscht wirkend hinzu.

"Ich meine ja nur", entgegnete Marek zerknirscht. Er löste seine Blicke von Tim und sah an ihm vorbei zum Haus. Im geschlossenen Laden brannten lediglich die Lampen in den beiden Schaufenstern.

Tim war jetzt seit einer Woche ununterbrochen bei ihm. Normalerweise nahm er sich spätestens nach drei Tagen immer ein paar Tage Auszeit vom Zusammenleben mit Marek und schlief dann wieder eine Weile bei sich zu Hause. Fast so, als wolle er nicht, dass Marek dachte, er hätte endlich beschlossen, bei ihm zu bleiben. Hieß das nun, er hatte sich entschieden?

Vorsichtig befreite sich Tim aus Mareks Umarmung. "Fahren wir? Wenn du mich noch ein paar Mal fragst, ob ich mir sicher bin, überlege ich es mir vielleicht doch wieder..." Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er versuchte, Mareks forschenden Blicken auszuweichen. Wahrscheinlich war es doch keine so gute Idee gewesen, ausgerechnet um etwas zu bitten, was bei Marek mehr Fragen als Antworten hinterließ.

Sich die Decke und Marek zu schnappen wäre wohl wirklich besser gewesen.



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