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Rot, rot, rot

von

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Swallow My Pride

Die Großmutter hat ihre Ruhe

Der Jäger bringt das Wild zur Strecke

Der Wolf macht große Augen

Das Rotkäppchen bekommt mehr als gedacht
 

Tim sah das erste Mal zu Johan, seit er seinen Arm weggenommen hatte. Sie hatten den Park längst hinter sich gelassen und standen nun an der Kreuzung Richtung Altstadt.

"Ich denke, dort werden wir sicher was finden", sagte Tim und nickte zur gegenüberliegenden Straßenseite, von wo aus laute Musik zu ihnen hinüberschallte.

Und vor allem konnte man in der Menschenmenge gut abtauchen, fügte Tim in Gedanken hinzu.
 

Zusammen schlenderten sie nebeneinander durch das Labyrinth der Gassen. Jetzt war der Abstand zwischen ihnen zwar wieder geringer, doch außer dass sich ihr Arme ab und an berührten – manchmal wirkte es sogar unabsichtlich –, war es ungezwungener als der Weg am Park entlang. Immerhin hatte er hier eine Entschuldigung dafür, dass sie nicht einen halben Meter Anstandsabstand zwischen sich lassen konnten.

"Das schaut doch gut aus", lenkte Johan Tim von seinen Gedanken darüber ab, welcher Abstand zwischen ihnen angemessener war. Er nahm Tims Hand und zog ihn auf eine Lücke zwischen zwei Häuser zu, über der eine bunt flimmernde Leuchtreklame ein Bistro im Hinterhof versprach.

Tim folgte Johan durch den schmalen Durchgang, den er ohne Schild am Vordereingang nie im Leben betreten hätte. Ihr Weg ging über ungleichmäßig hoch verlegtes Kopfsteinpflaster, bis sie schließlich, als sie schon dachten, der enge Durchgang habe überhaupt kein Ende mehr, in einem weitläufigen Hinterhof ankamen.

"Ein Tisch für Zwei?", wurden sie nur wenige Schritte später von einer Kellnerin empfangen.

Johan hielt immer noch seine Hand, bis sie an ihrem Tisch ankamen. Erst dann ließ er ihn los und Tim griff schnell nach der Karte, die in der Mitte des Tischs in einem Halter klemmte.
 

"Was möchtest du?"

"Keine Ahnung, ich habe mir noch nicht alles durchgelesen", antwortete Tim zerstreut auf Johans Frage.

"Du starrst schon seit fünf Minuten auf die gleiche Seite."

Tim hob wie benommen den Kopf. Johan grinste ihn an. Hatte er das wirklich getan? Johan machte Witze. Oder?

"Ich habe mir mal erlaubt, etwas für dich mitzubestellen. Du hast die Wahl zwischen Bier und Bier." Johan zeigte auf die beiden Gläser, die am Rande des Tisches standen.

Okay, er hatte keinen Witz gemacht. Perplex nahm Tim eines der Biergläser, das ihm Johan zuschob.

"Beim Essen war ich mir nicht sicher. Die haben hier kein Steak, sonst hätte ich dir was bestellt", entschuldigte sich Johan ohne etwas von seinem Grinsen zu verlieren. Er hatte sich eine Packung Zigaretten geben lassen und zündete sich gerade eine davon an. Höflich hielt er Tim die Packung hin, der aber den Kopf schüttelte.

"Ich denke, ich habe keinen Hunger." Tim klappte die Karte zusammen, von der er außer dem Namen des Bistros kein einziges Wort behalten hatte.

"Gut, ich auch nicht." Johan schnippte die Asche von seiner Zigarette in den Aschenbecher. Er musterte Tim, der den Blicken tapfer standhielt. "Ist das dein Laden oder arbeitest du dort?"

"Ich bin dort angestellt."

"Du bist also Florist?", schloss Johan.

Tim schüttelte den Kopf. "Nein, was ich auch nicht bedauere."

"Bestatter?", hakte Johan interessiert nach, als er sich an den unteren Teil des Schriftzugs auf dem roten Transporter erinnerte.

"Bloß nicht", entfuhr es Tim entsetzt, worüber Johan lachen musste.

Johan ließ nicht locker. "Gärtner dann eben?"

"Knapp daneben. Ich mache den Bürokram. Buchführung, Bestellungen und so was eben." Tim griff nach dem Bierglas, das seine Hand angenehm kühlte. Er wischte über das kondensierte Wasser und betrachtete sich die bogenförmige Spur, die sein Daumen hinterlassen hatte. "Ich bin sozusagen die Sekretärin", fügte er so bitter hinzu, dass Johan nicht anders konnte, als wieder zu lachen.

"Schade, dass ich keinen eigenen Laden habe", seufzte Johan, worüber nun Tim lachen musste.

Johan beugte sich weiter über den Tisch hinüber zu Tim. "Dann hast du sicher auch Ahnung von Steuererklärungen, oder?", fragte er und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu, als sei es ein Geheimnis, das nur Tim hören sollte: "Kennst du ein paar – Extras?"

"Ein oder zwei", antwortete Tim schmunzelnd. "Die bleiben aber unter uns."

"Selbstverständlich", versprach Johan mit möglichst ernsten Gesichtsausdruck. "Setzt du das hier als Geschäftsessen ab?"

Tim musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. "Ich bin mir nicht sicher, wie ich das meinem Chef erklären sollte", gab er amüsiert zurück und erschrak im gleichen Moment.

Johan beobachtete Tim aufmerksam, dessen Gesichtsausdruck von einer Sekunde auf die andere wie versteinert wirkte. Er war so bleich geworden wie jemand, dem im Flugzeug mitten über dem Atlantik einfiel, dass er Zuhause den Herd nicht ausgeschaltet hatte.

Tim biss sich auf die Unterlippe. Da hatte er aus Versehen die Wahrheit gesagt und im gleichen Atemzug Marek verleugnet. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit voller Kraft in den Magen geboxt.
 

Johan griff über den Tisch nach Tims Hand, die das Bierglas so fest umschloss, dass seine Knöchel weiß unter seiner Haut hervortraten.

Sprachlos sah Tim auf Johans Hand hinab. Er hätte den Griff um das Glas gerne gelockert, aber die Verbindung zwischen seinem Kopf und seiner Hand schien völlig blockiert zu sein. Wie betäubt nahm er die Musik und das Stimmengewirr um sie herum wahr. Die bunten Lichterketten, die über ihnen hingen und sanft im warmen Sommerwind hin und her schaukelten, lösten Schwindel in Tim aus.

Sachte schob Johan seine Finger unter Tims verkrampfte Hand, bis er merkte, dass deren Kontakt zum Glas langsam nachließ. Er nahm Tims eiskalte Hand in seine und wartete, bis die Kälte gewichen war. Er hätte Tim gerne gefragt, was plötzlich mit ihm los war, verwarf den Gedanken aber, als er Tims erwidernden Händedruck fühlte.

"Also", sagte Johan auf einmal in die Stille hinein, die zwischen ihnen ausgebrochen war. "Ich glaube, ich sollte dir was gestehen."

Tim ließ den Blick von Johans Händen, die noch immer seine eigene festhielten. "Okay", murmelte Tim. Warum nicht weitermachen mit Zugeständnissen? Dann war der Abend jedenfalls schneller vorbei, als er gedacht hatte.

Tim atmete tief ein und machte sich auf das gefasst, was ihn gleich erwarten würde.
 

"Die Frage nach dem Essengehen-", Johan unterbrach sich selbst. Seine Finger strichen über jeden Zentimeter von Tims Hand, die endlich wieder eine gesunde Temperatur angenommen hatte. "Also damals - als du mich vom Gemeinschaftszimmer aus im Stationszimmer beobachtet hast und ich dann rauskam, um zu fragen, ob wir essen gehen-"

"Und du eigentlich meine Oma gemeint hattest?", beendete Tim Johans ungewohnt holprigen Satz.

"Genau", erwiderte Johan und machte wieder eine kurze Pause, in der er nachzudenken schien. "Da hatte ich nicht unbedingt nur deine Oma angesprochen."

"Echt jetzt?", entfuhr es Tim verblüfft. Was wollte Johan denn damit sagen? Und warum wich er Tims Blicken aus und starrte konzentriert auf seine Hand?

"Ich wollte wissen, wie du reagierst", gestand Johan schließlich nach einer Weile. Er sah auf und blickte direkt in Tims Augen, die ihn etwas desorientiert ansahen.

Tim schwieg. Johan war noch nicht fertig mit reden. Da fehlte noch was, hatte er das Gefühl. Ein Knaller, sozusagen.

"Und ich denke, ich weiß, was du gerade am Überlegen bist", fuhr Johan fort. Seine Blicke glitten an Tims Kopf hinab über seinen Hals und stoppten in Höhe seiner Schulter. "Ich weiß es seit dem Tag als Esther sich tot gestellt hat."

Er wusste sofort, auf was Johan da anspielte. Tims freie Hand fuhr gleich zu der Stelle mit dem mittlerweile nicht mehr sichtbaren Flecken, wo Marek ihn im Eifer des Gefechts gebissen hatte.

Er musste aussehen wie eine der brennenden Fackeln, die in den Ecken des Innenhofs standen. Jedenfalls fühlte sich Tim so. Fahrig griff er nach dem Bierglas und hob es an seine Lippen. Wenn Johan noch ein Wort in dieser Richtung sagte, fiel Tim hier tot vom Stuhl, da war er sich absolut sicher.

Doch Johan sagte nichts mehr. Er saß da und beobachtete Tim mit dem gleichen wissenden Lächeln auf den Lippen, mit dem er damals Tims Reaktion auf die Frage mit dem Essen quittiert hatte.

Das Bier war mittlerweile schal geworden und Tim bereute den Schluck, den er gerade aus Verlegenheit genommen hatte.

"Ich wette, du willst jetzt lieber nach Hause, oder?"

Tim brachte nicht mehr als ein leises Hm hervor.
 

Am Yoga-Fisch angekommen sah Tim das erste Mal seit sie das Bistro verlassen hatten Johan direkt an.

Er war selbst schuld. Was benahm er sich auch wie der letzte Trampel? Was dachte Johan jetzt wohl von ihm?

"Ich habe nächste Woche Mittagschicht", beantwortete Johan Tims unausgesprochene Frage. "Und ich hoffe, du besuchst deine Omi?"

Tim wäre am liebsten im Erdboden versunken. Nach all dem, was Johan jetzt wusste? Jetzt, wo er wusste, wie skrupellos Tim war? Ernsthaft?

In genau diesem Moment spürte er Johans Arme, die sich um seinen Oberkörper legten, um ihn sanft und bestimmt zu sich zu ziehen.

Ohne viel nachzudenken kam Tim Johan entgegen, der den Kopf zu ihm hinab geneigt hatte und ihn küsste.

Tims Hände gruben sich auf der Suche nach Halt in den dünnen Stoff von Johans T-Shirt. Er merkte, wie seine Knie wieder zu Wachs wurden, während ihr Kuss andauerte.

Damit war dann auch die letzte Frage beantwortet.
 

Das erste, was Tim tat, als er die Wohnung über dem Blumenladen betrat, war, einen Moment zu horchen, ob Marek zuhause war.

Anscheinend nicht, wenn er die Stille richtig deutete. Oder er schlief schon.

Tim öffnete die angelehnte Schlafzimmertür und schaltete das Licht ein.

Das Bett schien unberührt. Zumindest sah es noch so aus, wie Tim es von heute Morgen in Erinnerung hatte. Es war nicht unbedingt perfekt gemacht, aber immerhin waren die Decken glatt gezogen.

Er löschte das Licht wieder und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.
 

Frischgeduscht ließ sich Tim zwanzig Minuten später erschöpft auf das Sofa im Wohnzimmer fallen.

Er suchte nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Eine Weile zappte er unkonzentriert durch die Programme.

Im Wohnzimmer war es heiß und stickig. Offenbar war Marek den ganzen Tag noch nicht hier gewesen.

Tim versuchte, sich daran zu erinnern, ob er irgendetwas gesagt hatte, warum er später kam, aber es fiel ihm nichts ein. In seinem Kopf fuhren gerade sämtliche Gedanken Karussell – besonders die, die mit Johan zu tun hatten; und das hatten sie alle irgendwie...

Und dann noch diese unerträgliche Hitze hier.

Entschlossen stand Tim auf. Er ging zur Balkontür hinüber und riss sie auf, um frische Luft hineinzulassen. Aber alles, was er bekam, war die restliche Hitze des vergangenen Tages, die sich zwischen den Häusern angestaut hatte.

Tim seufzte und ging wieder zurück zum Sofa.

Er zwang sich, in den Fernseher zu gucken – was er auch erfolgreich schaffte. Allerdings blieb es auch beim in den Fernseher starren. Vom Programm bekam er nichts mit. Jedes Mal, wenn er dachte, die nächste Werbung für Bausparverträge könnte ihn ablenken, sah er stattdessen Johan vor sich, wie er sein Gesicht mit beiden Händen stützte, fühlte seinen Mund auf seinem und hörte den letzten Satz, den er zu ihm gesagt hatte.

"Wir sehen uns bald wieder, ja?"

Tim raufte sich die Haare. Wie sollte er jetzt noch seine Oma besuchen, wenn er sich ständig fragen musste, ob er nicht nur noch wegen Johan dort war?

Weshalb hatte ihn die Tatsache, dass sich Tim ja offensichtlich noch mit jemand anderem traf, überhaupt nicht gestört?

Und warum war er mit mehr Fragen als Antworten nach Hause gegangen?
 

"Scheiß Hitze!", entfuhr es Tim. Er lehnte sich auf dem Sofa zur Seite und schaltete den Ventilator ein, der dort stand und sogleich damit begann, die warme Luft im Zimmer gleichmäßig zu verteilen.

Tim sank zurück auf seinen Platz.

Seit wann war das Sofa so unbequem? Jede Naht und jede Feder schien ihn zu drücken.

Er wechselte seine Position. Erfolglos.

Tim schlug sich die Hände vors Gesicht.

Ein Gedanke ließ ihn auffahren.

Vielleicht war er ja auch nur eine Nummer für Johan? Eine Nummer zwischen 0 und 99?

Eiskalt kroch dieser Gedanke in Tim.

Warum war Marek nicht hier? Er hätte ihn ablenken können. Von diesen Gedanken – und vor allem von diesem Gedanken. Dem Letzten...

Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Seufzend wischte ihn Tim weg – und hielt dann inne.

Im Fernsehen lief gerade eine Werbung über das zigste Auto, das garantiert noch sparsamer, schneller und umweltfreundlicher war, als die zehntausend davor.

Das war's!

Tim sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Hektisch zog er sich an, rannte zurück in den Flur, zog dort seine Schuhe an und wurde einen Moment panisch, als ihm nicht mehr einfallen wollte, wo er den Autoschlüssel hingeworfen hatte.

Auf dem Bett! Natürlich! Dort, wo er zuerst hingesehen hatte.

Den gefundenen Autoschlüssel in der Hand und den Rest von ihm mit Mut angefüllt, verließ Tim die Wohnung, ehe er es sich wieder anders überlegen konnte.
 

"Guten Abend, mein Schatz, dein Lieblings-Chef ist hier!" Marek wartete auf eine Erwiderung nach dem Motto: Wo ist meine Gehaltserhöhung? Aber alles, was ihn empfing, war ein laufender Fernseher.

"Hallo, Fernseher", begrüßte Marek den Kasten. "Und einen schönen Guten Abend, Ventilator. Habt ihr Tim gesehen?" Schulternzuckend setzte sich Marek in Bewegung. "Bist du schon im Bett? Ich hoffe, ja.", rief er gut gelaunt in Richtung Schlafzimmer. Spätestens jetzt hätte ihm Tim eine passende Antwort an den Kopf geschleudert. Dass keine kam, konnte nur bedeuten, dass er wirklich nicht zuhause war.

"Das ist die letzte Gelegenheit, bevor ich mir eine andere Beschäftigung suche – und du weißt, was das heißt!" Atemlos horchte Marek in die anhaltende Stille. "Gut, du hattest deine Chance. Ich nehme mir jetzt was zu trinken und leiste dann dem Fernseher Gesellschaft..."
 

Mit der Absicht, keinen Krach zu machen, öffnete Tim die Wohnungstür und hielt inne, als er die Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte.

Er hatte vergessen, den Fernseher auszuschalten. Oh, und den Ventilator. Und das Licht. Und die Balkontür stand auch offen.

"Hallöchen", wurde Tim fröhlich aus dem Wohnzimmer begrüßt. Zuerst dachte er, die Stimme käme aus dem Fernseher, bis er Mareks Schuhe im Flur sah.

Er war also hier und anscheinend noch wach. Schlechtes Timing, dachte Tim. Er streifte die Schuhe ab und legte den Autoschlüssel auf das niedrige Schränkchen im Flur.

"Du machst es ja ganz schön spannend, was?" Marek lachte ihn so herzlich an, als Tim endlich zu ihm ins Wohnzimmer kam, dass Tim auf der Stelle wieder Bauchweh bekam.

"Bist du schon lange zuhause?"

"Geht so." Marek legte seinen Arm um Tim, der sich neben ihn setzte, und gab ihm einen Kuss. "Wir hatten noch was zu feiern."

"Ja? Und was?" Tim lehnte den Kopf gegen Mareks Schulter. Hatte er doch etwas vergessen?

"Thomas hat seine Prüfung geschafft", verkündete Marek nicht ohne Stolz in der Stimme. "Und weißt du, was das heißt?"

"Nein", entgegnete Tim und unterdrückte ein Gähnen.

"Er kann demnächst alleine los und ich", Marek unterbrach sich, um sich zu Tim umzuwenden. "Ich hätte dann mehr Zeit für dich."

Marek neigte seinen Kopf zu Tim hinab, der ihn erschrocken ansah, und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. "Das müssen wir feiern, oder was meinst du?"

"Wart ihr nicht schon feiern?" Tim lächelte gequält. "Du bist sicher nicht mehr fit..."

"Nicht mehr fit wofür?", neckte Marek Tim, der sich plötzlich auf dem Rücken liegend auf dem Sofa vorfand.

"Um-um-um – du weißt, wofür." Tim versuchte, sich um die Antwort zu drücken, was Marek mit einem breiten Grinsen quittierte.

"Bin ich nicht", sagte Marek sanft. Sein Mund strich sachte über Tims Hals. "Überzeugt?"

Tim griff nach Mareks Kopf. Er zog ihn zu sich und küsste ihn so forsch, dass Marek einen überraschten Laut von sich gab, als Tim ihm dabei in die Unterlippe biss.

"Hast du nicht behauptet, ich wäre der Wolf?", lachte Marek, als ihn Tim kurz losließ.

"Ich glaube, du bist das Rotkäppchen", antwortete Tim.

Marek lachte auf. "Wieso denn Rotkäppchen?"

"Die Oma ist schon vergeben", erwiderte Tim und blinzelte unschuldig.

Marek richtete sich ein wenig auf. "Und was ist mit dem Jäger?"

"Auch schon vergeben, tut mir leid." Tim zuckte scheinbar bedauernd mit den Schultern.

"An wen?" Marek schien empört, aber seine Augen verrieten das Gegenteil. "Na los, sag mir, an wen."

Tim lachte, als ihn Mareks freie Hand zu kitzeln begann. Er wand sich unter Marek, der ihm allerdings keine Chance zur Flucht ließ. "Ich-ich – ich sag's nicht", stieß Tim atemlos hervor.

"Ich werde nicht damit aufhören, bis du mir sagst, wer der Jäger ist."
 

Mareks Hände schienen wirklich überall zugleich zu sein, egal, wie sehr sich Tim auch aus seiner ungünstigen Position zu befreien versuchte.

"Irgendwann wirst du lockerlassen müssen", keuchte Tim nach Atem ringend.

"Was denkst du, warum ich so große Hände habe?" Marek schnappte nach Tim, der es doch tatsächlich geschafft hatte, ein paar Zentimeter Freiraum zu gewinnen.

"Weil du ein Spinner bist?", rief Tim lachend. Er bekam so langsam Seitenstechen vom falschen Atmen.

"Falscher Text", entgegnete Marek scheinheilig grinsend. "Ich glaube, Rotkäppchens Fragen sind etwas anders, soweit ich mich erinnern kann."

"Okay, okay", Tim musste ein paar Mal durchatmen. "Ich bin ganz friedlich, siehst du?" Wie zum Beweis hielt Tim endlich still.

"Gut", murmelte Marek, der dem Frieden nicht ganz traute. "Deine Frage muss lauten, warum ich ein so großes Maul habe. Verstanden?"

Tim verschluckte sich beinahe, als er Marek antworten wollte, der gebannt an seinen Lippen hing. "Damit liegst du richtig, auch ohne Rotkäppchen."

Marek gab einen empörten Laut von sich. "Damit ich dich besser fressen kann", berichtigte Marek Tim und begann im gleichen Moment, dessen Hals mit zarten Bissen zu übersäen.

"Schön, du hast gewonnen", rief Tim.

"Der Wolf gewinnt doch nicht", unterbrach Marek Tim. "Kennst du das Märchen überhaupt?"

"Ja, ja klar." Tim machte sich auf eine erneute Beißattacke gefasst und versuchte, Mareks Kopf auf Abstand zu halten. "Und was muss ich jetzt fragen? Warum du so große Ohren hast?" Er zog sachte an Mareks linkem Ohr, der daraufhin überrascht die Luft einsog. Tim prustete vor lachen.

"Lach nicht den Wolf aus!" Marek tat schockiert.

"Wie kommst du denn auf die Idee?" Es kostete Tim mittlerweile echt Mühe, Mareks Hände abzuwehren, die an seinen Kleidern zerrten, dass die Nähte krachten. Oh, und das Atmen durfte er zwischen dem Lachen und dem Geküsstwerden auch nicht vergessen.

Dann hielt Marek plötzlich inne. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete sich stumm Tim.

"Was ist denn los?", alberte Tim. "Was machst du denn für große Augen?" Er versuchte, sein Lachen zu verbergen, aber sein ganzer Körper bebte.

Marek grinste zufrieden. "So langsam lernt das Rotkäppchen."

"Sind damit endlich alle Fragen beantwortet?"

"Noch lange nicht", flüsterte Marek und beugte sich zu Tim hinab.

"Ich kenne das Märchen", warf Tim protestierend dazwischen. "Mehr als Maul, Ohren, Hände und Augen gibt es nicht."

Marek sah Tim eine Weile stumm an, der unter ihm lag und abwartend zu ihm aufsah. Er strich ihm durch das Haar, das mittlerweile noch verwuschelter war, als ohnehin schon. Mareks Finger strichen die Konturen von Tims Augenbrauen nach, seinen Nasenrücken entlang bis sie einen kurzen Moment auf Tims Mund zur Ruhe kamen. Dann neigte Marek seinen Kopf zu Tim hinab und küsste ihn sachte. Seine Zunge glitt über Tims Lippen, bis diese sich öffneten.

"Kennst du schon die ab-18-Version von Rotkäppchen?", flüsterte Marek, ohne seine Lippen von denen Tims zu lösen. "Ich hätte da noch eine passende Frage für das Rotkäppchen."

Tim grinste. "Die Frage erübrigt sich wohl – das Rotkäppchen kennt die Antwort darauf schon längst."
 


 

Der Wolf gewinnt doch nicht – Tim dachte schon seit vorletztem Abend über diesen Satz nach, den Marek nur nebenher gesagt hatte. Für Marek hatte er keine weitere Bedeutung gehabt. Anders als für Tim. Er war sich einen Moment lang wie überführt vorgekommen. Aber woher sollte Marek auch nur ahnen-

"Weißt du, wo die Calla sind?" Marek stand in der Mitte des Ladens und sah sich ratlos um.

Tim, der hinter dem Tresen stand und den Unterschied zwischen Tüll- und Organzabändern herauszufinden versuchte, hob den Kopf. "Was sind Calla? Und wie sehen die denn aus?"

"Wie Calla eben aussehen. Schmale grüne Blätter, trichterförmige Blüten. Und die, die ich suche, waren orange."

So hatten die Blumen ausgesehen, die er seiner Oma mitgebracht hatte. "Die Gerbera?"

Marek sah Tim mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Jetzt sag bloß, du hast die Calla mitgenommen, weil du dachtest, es seien Gerbera?"

"Na ja, sie waren halt orange..." Entschuldigend hob Tim die Schultern.

"Ach, Schatz." Marek stand auf der Kundenseite der Theke und sah zu Tim, der schuldbewusst seinen Blicken auswich. Er nahm Tims Hand, mit der er gerade konzentriert einem grünen Steckschwamm eine neue Form gegeben hatte.

"War das eine Sonderbestellung?"

"Nein." Marek wartete, bis Tim ihn endlich ansah. "Du bist mir jetzt allerdings etwas schuldig."

"Ich habe doch alle Schulden bezahlt. Die alten und die, die ich noch machen wollte", protestierte Tim und verbiss sich das Grinsen.

Mareks Mundwinkel bogen sich zu einem milden Lächeln. "Dieses Mal wirst du bezahlen. Aber nicht so, wie du denkst", sagte er so ruhig, dass Tim misstrauisch wurde.

"Was meinst du damit?" Tims Grinsen war wie weggewischt.

"Ab sofort bekommst du Unterricht in Pflanzenkunde."

"Können wir nicht noch mal darüber reden?", unterbrach Tim Marek.

Marek schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid." Er stupste Tims Nasenspitze an, der sein Gegenüber bittend ansah.

"Du weißt, dass das keinen Zweck hat." Tim hoffte, Marek noch umstimmen zu können, doch der ging kein Stück darauf ein.

"Ich werde dir jede einzelne Pflanze so lange erklären, bis du sie im Schlaf aufsagen kannst."

"Das glaubst du doch selbst nicht", lachte Tim trocken auf.

"Abwarten, Herzchen." Mit Genugtuung nahm Marek Tims sich wandelnden Gesichtsausdruck wahr. Er schien noch zu überlegen, wie genau Marek das Ganze nahm. "Ich werde den Unterricht auch interessant gestalten", fügte Marek großzügig hinzu. Er musste sich zusammenreißen, seinen Worten auch den nötigen Ernst mitzugeben.

"Wusste ich's doch, dass das noch einen Haken hat." Tim lachte triumphierend auf.

"Freu dich nicht zu früh, ich bin ein strenger Lehrer." Marek spitzte die Lippen und wartete auf einen Kuss.

"Ich seh's", witzelte Tim. "Du hältst nicht mal fünf Minuten durch."

"Ab morgen", murmelte Marek und wusste im gleichen Augenblick, dass Tim jetzt schon recht hatte.
 

Nachdem Marek den Laden verlassen hatte, wanderten Tims Gedanken wieder zu Vorgestern. Er war zu Johan gefahren und dann hatten sie das getan, was sie die ganze Zeit schon taten: sie saßen zusammen und redeten.

Tim hatte ihm von Marek erzählt, auch wenn es ihn zuerst einiges an Überwindung gekostet hatte. Und Johan hatte es genauso locker genommen, wie ein paar Stunden davor, als Tim es schon angedeutet hatte. Oder besser gesagt, als Johan von alleine darauf gekommen war und Tim sich verzweifelt um eine Antwort gedrückt hatte.

Und genau das war der Punkt, der Tim keine Ruhe mehr ließ.

Johan hatte Fragen zu Marek gestellt. Scheinbar nebenher. Und Tim hatte sie genauso aufgefasst. Aber Johan hatte nichts darüber gesagt, wie er die Situation fand.

Durch das Schaufenster sah Tim wie Marek draußen den roten Sprinter mit Gartengeräten und verschiedenen Pflanzen belud. Der schwarze Kombi war weg. Thomas hatte ihn.

Jetzt wusste Johan also von Marek. Oder eher davon, dass Tims Chef mehr war, als nur sein Chef. Mareks Name war nie gefallen. Tim wusste nicht, warum. Und er wusste immer noch nicht, was Johan dazu brachte, sich wieder mit ihm treffen zu wollen.

Dumpf schlugen die Hecktüren des Transporters zu und Marek kam wieder zurück zum Laden.

"Heute wird es nicht so spät wie am Samstag", versuchte Marek Tim zu trösten, der ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. "Ich bin den ganzen Tag draußen."

Draußen hieß auf dem Friedhof Gräber frisch bepflanzen.

"Okay, viel Spaß", antwortete Tim und stieß den Kartenständer vor sich auf der Theke an, der quietschend zwei Drehungen um die eigene Achse machte.

"Möchtest du nicht mitkommen? Dann könnten wir gleich mit dem Unterricht anfangen", schlug Marek belustigt vor.

Tim rollte mit den Augen. "Nein, danke, ich weiß, wie das endet..."

"So streng bin ich jetzt auch wieder nicht", lockte Marek Tim, der ihn kopfschüttelnd ansah.

"Ja, eben." Tim wehrte sich halbherzig gegen Mareks Kuss. "Siehst du, du kommst ja nicht mal aus dem Laden raus."

"Was du immer von mir denkst." Marek tat als wäre er beleidigt. Oder war er es? Tim bekam Zweifel.

"Ich fahre vielleicht noch zu Oma", fügte Tim versöhnlicher hinzu und sah erleichtert, wie sich die nachdenklichen Falten auf Mareks Stirn wieder glätteten.

"Sag ihr einen schönen Gruß von mir – und deinem Jäger auch, wenn du ihn siehst." Zum Glück konnte Marek nicht sehen, wie bleich Tim auf einmal wurde. Er nahm einfach nur den Autoschlüssel und sah sich noch einmal im Laden um, ob er nicht doch etwas vergessen hatte. "Sperrst du bitte hier ab, wenn du gehst?"

"Klar, wie immer."

"Beeil dich, sonst hast du gleich den Laden voller Kundschaft und wer weiß, was du denen dann verkaufst", neckte Marek Tim, der ihn mit einem finsteren Blick bedachte, was Marek wiederum mit einer Kusshand quittierte.

Tim spürte, wie die Muskeln seiner Beine zuckten, als er einen kurzen Moment darüber nachdachte, doch mit Marek mitzufahren. Ablenkung war vielleicht ganz gut, auch wenn er dafür auf dem Friedhof stehen und unter Mareks Anweisung Blumen auf Gräber pflanzen musste.

Die Klingel über der Ladentür begleitete Mareks Verschwinden und Tim blieb regungslos hinter der Theke stehen.
 

Marek rannte über den Hof und stieg in den Sprinter. Der Motor heulte auf. Marek kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte Tim fröhlich zu, ehe er vom Hof fuhr. Tim winkte zurück.

Das wurde ja immer besser. Er übertrug seine eigenen Zweifel auf Marek und verunsicherte sich dann selbst damit. Und Marek warf einen harmlosen Satz hin, der Tim den Atem verschlug.

Der Kartenständer drehte eine quietschende Pirouette nach der anderen, als Tim ihn gedankenverloren anstieß. Sein Blick fiel auf das Glasherz, das neben der Kasse auf der Theke lag. Er nahm es in die Hand, schwenkte es hin und her und ließ die rote Flüssigkeit darin von einer Herzkammer in die nächste fließen.

Heute würde er seine Oma nicht besuchen.

Und Johan auch nicht.
 

Heute Abend wieder vor dem Ostpark am Yoga-Fisch?

Ratlos sah Marek auf die Nachricht, die ihm Tim gerade geschickt hatte.

Warum wollte sich Tim mit ihm am Ostpark treffen? Abends? Er wusste doch, dass Marek den ganzen Tag am anderen Ende der Stadt unterwegs war und nicht erst nach Hause fahren konnte, um zu duschen, sich umzuziehen und dann wieder quer durch die Stadt zu rasen.

Das Display verdunkelte sich, während Marek immer und immer wieder die Nachricht las und doch nicht hinter die Absicht kam. Er stellte die Gießkanne ab, mit der er später die frisch eingepflanzten Blumen begießen wollte, und zog die erdverkrusteten Handschuhe aus.

Noch ehe Marek einen einzigen Buchstaben tippen konnte, kam bereits die nächste Nachricht an.

Heute wird nicht geredet. Ok?

Seufzend wischte sich Marek die Haare aus der verschwitzten Stirn. Vielleicht war ihm hier auf dem Friedhof direkt unter der sengenden Sonne ja die Hitze zu Kopfe gestiegen, aber das klang wie ein Date. Eines der spezielleren Sorte.

Marek lachte vor sich hin und sah sich dann blitzschnell um, ob keine anderen Friedhofsbesucher in der Nähe waren, die ihn sehen konnten. Es kam bei trauernden Leuten womöglich nicht so gut an, wenn man gerade mit Spaten und Schaufel vor einem zerwühlten Grab stand und dabei lachte...

Gute Idee eigentlich. "Darauf hätte ich auch selbst kommen können", murmelte Marek belustigt vor sich hin.

Gerne, schrieb er zurück. Wann? Oh, und ich bin ziemlich schmutzig, aber das weißt du ja. Zwinkernder Smiley.
 

Mit offenem Mund starrte Tim auf die Antwort die er gerade bekommen hatte. Sie war nicht von Johan, dem er eigentlich geschrieben hatte.

Hatte er?

Nein, hatte er nicht...

Jetzt hatte er nicht nur keine Prinzipien oder einen Hauch von Willenskraft, sondern litt auch noch unter einem akuten Mangel an genügend Rückgrat. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass er die Nachrichten wieder neu tippte und dieses Mal an den richtigen Empfänger schickte, ohne aber Marek zu antworten.



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