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Rot, rot, rot

von

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Now I Wanna Be A Good Boy

Das Rotkäppchen wird brav

Die Großmutter hat Neuigkeiten

Der Jäger stellt das Wild

Der Wolf hat das Rotkäppchen ganz für sich alleine
 

Es hatte ihn im Krematorium nicht umgehauen. Nicht vor Angst jedenfalls.

Tim war beeindruckt gewesen von dem modernen Gebäude, das er zuerst überhaupt nicht als Krematorium wahrgenommen hatte, wären da nicht die hohen Schornsteine gewesen.

Natürlich war ihm im ersten Moment flau gewesen, als sie auf den Eingang zugingen, aber kaum hatte sich die Holztür hinter ihnen geschlossen und die Alltagsgeräusche von draußen verstummen lassen, hatte es sich Tim nicht verkneifen können, die riesige Vorhalle mit offenem Mund zu bestaunen.

Hohe, verschieden dicke Säulen, die bis knapp unter die Decke reichten, standen dort wie Bäume aus Stein, genauso ungeordnet wie in einem Wald und ebenso erhaben. Dort, wo die Säulen an der Decke endeten, waren runde Oberlichter in das Dach eingelassen und durch eben diese schien die Sonne und warf lange hellstrahlende Lichtzylinder zu Füßen der Säulen.

Ehrfürchtig ging Tim durch einen der hellen Lichtkreise, die die Sonne auf den kühlen grauen Granitboden malte. Auf seiner Haut fühlte er die prickelnde Wärme der Sonnenflecken, die sich mit den schattigen Stellen abwechselte, kaum dass man aus ihnen heraustrat. Tim hob die Hand und strich sachte über die kalte Oberfläche einer Säule. In den Stein war eine Struktur gemeißelt, die an Baumrinde erinnerte, und an manchen Stellen befanden sich runde und ovale Stellen, fast wie Astlöcher.

Tim hob den Kopf und sah zu Marek, der einige Meter vor ihm im lichtdurchfluteten Steinsäulenwald stand und geduldig auf Tim wartete, der sich kaum vom überwältigenden Anblick seiner Umgebung lösen wollte. Lange Sonnenstrahlen streckten ihre Finger nach Marek aus und hüllten seinen Körper in einen warmleuchtenden Kokon, in dem winzige Staubpartikel umherwirbelten.

Mareks Mund, der in der vergangenen Nacht noch fast jeden Zentimeter von Tims Körper geküsst hatte, bog sich nun zu einem liebevollen Lächeln, das Tim wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte.

Im Zickzackkurs schlenderte Tim durch den Säulenwald, schritt durch Licht und Schatten, bis er schließlich Mareks warme Hand in seiner eigenen, kalten Hand spürte.
 

An all das dachte Tim, als er wieder neben Marek im Leichenwagen saß und auf die Urne in seinen Händen hinabsah.

Er hatte immer nur an alle unheimlichen Details gedacht, die Mareks Beruf mit sich brachte, aber nie an die andere Seite, an die stille Zeit, das zur Ruhe kommen. Er hatte, seit Esther sich tot gestellt hatte, immer wieder darüber nachdenken müssen, wie es Marek wohl schaffte, nicht überzuschnappen, bei all dem Leid, das er zu sehen bekam. Er selbst hatte sich ja davor gefürchtet, irgendwann mal den Verstand zu verlieren.

Als sie sich kennen gelernt hatten, hatte sich Tim ein halbes Jahr geweigert, bis er endlich Marek das erste Mal zuhause besucht hatte. Und obwohl es überhaupt nicht gruselig gewesen war, war ihm danach noch ein weiteres halbes Jahr jedes Mal flau geworden, wenn er den Laden betreten hatte und an die Räume dachte, die dahinter lagen.

Die Räume, in denen Marek und sein Assistent die Verstorbenen herrichteten, waren für Tim tabu. Nicht, weil Marek das so wollte, sondern er selbst hatte sich diese Grenze gezogen. Es hatte ihm gereicht, die Namen der Verstorbenen und deren Hinterbliebenen zu erfahren. Er hatte die nötigen Termine vereinbart und alle Behördengänge erledigt, mit Gastwirten über Zimmerbuchungen und Kuchenauswahl gesprochen und, wenn es mal keine Beerdigungen gab – was natürlich auch vorkam – Mareks grauenhafte Buchführung korrigiert.

Das war alles, was er vom Tod wissen wollte. Was er von ihm auszuhalten gedacht hatte.

"Hier", unterbrach Marek Tims Gedanken.
 

Marek reichte Tim einen weinroten Samtbeutel.

"Was ist das? Schmuck der Verstorbenen?" Tim betrachtete sich den Beutel, der oben zusammengebunden war. Er ertastete das Innere. Nein, Schmuck war es keiner. Viel zu groß und zu schwer und mit seltsamen Auswüchsen. Fragend sah er zu Marek, der sich auf den Straßenverkehr konzentrierte. "Ein Stein?"

"Fast", Marek bremste an einer roten Baustellenampel. Er sah zu Tim hinüber, der den Beutel in der Hand wendete. "Ein Glasherz, so weit ich weiß."

"Und was ist damit?" Tims Augen wurden größer. "Soll-soll das in die Urne?" Ihm war auf einmal schwindelig. Wollte Marek, dass er die Urne öffnete und- und-

"Nein." Marek lachte leise. "Es ist für dich."

Tim atmete erleichtert aus. Er öffnete die beiden Bänder, zog die Öffnung auseinander und drehte den Samtbeutel herum. Der Gegenstand darin glitt in Tims geöffnete Handfläche. Er war tatsächlich aus Glas. Und es war tatsächlich ein Herz. Anatomisch korrekt. Und drinnen befand sich eine rote Flüssigkeit, die hin und her schwappte, als Tim sich das Herz von alle Seiten betrachtete.

"Das ist – irgendwie", Tim suchte nach den passenden Worten, während Marek gespannt auf die Reaktion wartete. Die rote Flüssigkeit schlug winzige Wellen in den beiden Herzkammern und den Vorhöfen, als Tim zu lachen begann.

"Dein neuer Briefbeschwerer – oder Waffe..." Amüsiert beobachtete Marek Tim, der in einer Hand das Glasherz hielt und mit der anderen Hand die Urne auf seinem Schoß stützte, damit sie nicht fiel.
 

Noch völlig aufgekratzt vom Besuch im Krematorium und den folgenden Tagen schritt Tim auf das Altenheim zu. Garten und Terrasse waren nahezu leergefegt. Die meisten Alten mussten sich an diesem heißen Sommertag auf ihren kühleren Zimmern befinden.

Er fand seine Oma im schon obligatorischen Gemeinschaftszimmer vor. Sie saß alleine an ihrem Tisch und spielte wie immer Patience.

Von Johan keine Spur. Er konnte ihn weder hören, noch sah er ihn irgendwo.

Erste Hürde: seiner Oma klarmachen, dass er dieses mal wirklich keine Zeit gehabt hatte.

Zweite Hürde: Johan treffen.

Tims Hand schloss sich fester um die Henkel der Stofftasche, in deren Innerem ein Plastikbehälter mit Kuchen darauf wartete, ausgepackt zu werden. Er atmete tief ein und betrat dann das Zimmer, in dem seine Oma saß.
 

Die erste Hürde erledigte sich quasi von selbst.

"Tim! Tim!"

Unnötigerweise winkte Esther ihren Enkel zu sich und bedeutete ihm, sich zu setzen. Was Tim auch tat. Gerne sogar.

"Hallo, Oma", begrüßte Tim Esther, deren Gesicht heute frisch und rosig zu strahlen schien. Er legte den Behälter mit dem Kuchen auf den Tisch und setzte sich dann Esther gegenüber.

Esther begann auch gleich einen Redeschwall über ihn herabprasseln zu lassen, dem Tim nur wortweise folgen konnte. Seine Blicke suchten das Stockwerk nach Johan ab.

Mit halbem Ohr hörte Tim Esther etwas über den Bäcker erzählen, der normalerweise das Heim mit Backwaren belieferte. Aber nichts darüber, dass er nicht wie versprochen noch letzte Woche zu Besuch gekommen war.

Wo war Johan?

Das Stationszimmer war leer. Die Flure auch, soweit er das hatte sehen können. Und sonst war alles still.

Unruhig zupfte Tim am Saum der Tischdecke. Er wollte endlich sehen, wie Johan reagierte. Er selbst hatte sich alle möglichen Szenarien vorgestellt. Angefangen dabei, dass Johan tat, als wäre alles wie immer, weil sie hier an seinem Arbeitsplatz waren, bis hin zur völligen Horrorvorstellung, dass Johan tatsächlich so tun könnte, als wäre nichts gewesen, weil es für ihn eben nichts gewesen ist, und Tim in dem Moment verstand, dass er der größte Idiot des Planeten war – was Tim aber wiederum bezweifelte, wenn er an ihre letzte Begegnung dachte.

Die Tischdecke auf Tims Seite wurde immer länger und die Karten und der Kuchen darauf waren um etliche Zentimeter zu ihm hingerückt.

Genau genommen wollte Tim nur sehen, wie er selbst reagierte. Weil er zu wissen meinte, was Johan tat.

Esther redete und redete und redete. Und Tim hörte nicht zu. Bis ein Name fiel.

"Was?" Aufmerksam geworden setzte sich Tim auf seinem Platz gerade hin.

"Wir haben kein Brot bekommen, weil der Bäcker-"

"Nein, das andere, was du davor gesagt hast." Mit angehaltenem Atem starrte Tim seine Oma an, die nachdenklich einen Zeigefinger an ihren Mund legte und in Gedanken durchging, was sie gesagt hatte.

"Du hast was über Johan gesagt", half Tim ihr auf die Sprünge. Doch Esther erwiderte seine Blicke nur stumm. Ihre Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen.

Oh Gott, was war nur mit seiner Oma los? Sie sah ihn an, als wären sie sich gerade das erste Mal begegnet.
 

"Holst du mir bitte eine Tasse Kaffee?" Esther hatte die Frage ihres Enkels vergessen, was Tim nahezu wahnsinnig machte. Ausgerechnet jetzt, als das Thema auf Johan zu sprechen gekommen war.

Widerstrebend ließ Tim die Tischdecke los und stand auf. Mit hölzernen Schritten ging er zu einem Servierwagen, auf dem Geschirr und drei große Thermoskannen standen. Er nahm eine der Tassen, die dort auf Tabletts gestapelt standen und ging damit zu den Kannen, an denen beschriftete Schilder klebten.

Auf der ersten stand Tee, auf der daneben Kaffee entkoffeiniert und auf der dritten Kaffee.

In Wirklichkeit aber hatte Tim nur Johan, Johan und Johan gelesen.

Mit fahrigen Bewegungen nahm Tim die mittlere Kanne und füllte die Tasse mit koffeinfreiem Johan.

Unsinn!

Mit koffeinfreiem Kaffee natürlich.

Das Geschirr auf dem Servierwagen klirrte leise, als Tim die Kanne mit zittrigen Händen etwas zu fest absetzte.

"Milch?" Er hörte seine eigene Stimme wie durch Watte. Der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt noch immer irgendwelchen Geräuschen, die auf Johans Anwesenheit hindeuteten.

"Drei Stück Zucker bitte", rief Esther von ihrem Platz.

Tim wusste nicht, ob er seiner Oma geantwortet hatte. Seine Lippen waren ausgetrocknet und seine kalten Finger griffen nach einer Schale, in der in Papier eingewickelte Zuckerstücke lagen. Er nahm drei heraus und legte sie auf die Untertasse.

"Milch?" Hatte er das nicht schon mal gefragt?

"Nein, danke", antwortete Esther brav.

"Und auch nur ein Stück Zucker", hörte Tim eine Stimme neben sich. Er erschrak so heftig, dass Kaffee über den Rand der Tasse schwappte und sich Tim die Finger daran verbrannte. Der Schmerz in seiner Hand sagte ihm, die Tasse sofort fallen zu lassen, aber sein Anstand und der Schock über Johans plötzliches Auftauchen ließen ihn die Tasse festhalten.

Mühevoll unterdrückte Tim den Fluch, der ihm auf der Zunge lag.

Johan lächelte ihn vergnügt an und Tim lächelte gequält zurück.

"Spielverderber!", kreischte Esther heiser und Johan lachte über Tims irritiertes Gesicht.
 

Johan nahm Tim die Tasse aus der Hand. Seine Hand hielt für einen kurzen Moment Tims Hand fest.

Als Tim seine tauben Finger endlich dazu brachte, die Tasse loszulassen, stellte Johan diese beiseite. Er nahm eine saubere Tasse, setzte sie auf eine frische Untertasse und griff dann nach der mittleren Kanne, wie auch Tim zuvor.

Tim bewegte sich kein Stück, auch nicht, als ihm Johan dabei so nahe kam, dass er dessen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.

"Wo warst du denn die ganze Zeit?"

Die Frage, vor der er sich gefürchtet hatte, dass seine Oma sie ihm stellen könnte. Und jetzt sollte er sie demjenigen beantworten, der ihm, ohne es zu wissen, einige schlaflose Nächte beschert hatte.

Tim presste die Lippen fest zusammen. Sein pulsierendes Blut rauschte in seinen Ohren wie ein Wasserfall. Ohne darüber nachzudenken, griff er in die Schale mit den Zuckerstücken. Er hielt Johan das eingewickelte Zuckerstück entgegen.

"Hier, Zucker", krächzte Tim und fühlte, wie er in der gleichen Sekunde unter Johans belustigten Blicken errötete.

"Ich habe dich schon vermisst." Johan nahm den Zuckerwürfel und legte ihn auf die Untertasse, ohne Tim dabei aus den Augen zu lassen.

"Ach was!" Tim lachte gepresst. Ich dich auch, hätte er lieber gesagt. Seine Haut kribbelte noch immer dort, wo Johan ihn berührt hatte. "Nicht mal Oma hat mich vermisst." Er strich sich fahrig durch sein Haar.

"Ihr reicht ja auch der Kuchen, den du ihr vorbeibringst. Auf den Kuchen kann ich aber verzichten..." Johan zwinkerte Tim frech zu und ließ ihn dann am Servierwagen zurück.
 

"Das ist kein Spiel", sagte Johan beschwichtigend zu Esther, die die Tasse mit giftigen Blicken ansah, die Johan vor ihr auf den Tisch stellte.

Benommen griff Tim nach einem Kuchenteller und einer kleinen Dessertgabel. Ohne es zu registrieren legte er eine Serviette auf den Teller und ging mit allem zum Tisch seiner Oma.

Geduldig sah Johan zu, wie Esther das Zuckerstück auswickelte und in die Tasse fallen ließ. "Sie haben mit einem Stück Zucker schon genug Energie."

"Ja, ja", murrte Esther und rührte geräuschvoll mit dem Löffel in der Tasse. Sie nahm die Gabel und piekte sie so fest in den Kuchen, den Tim mittlerweile auf ihren Teller gelegt hatte, als wäre es seine Schuld, dass Johan ihr den Spaß verdorben hatte. Dabei war es so leicht und vor allem so lustig Tim immer wieder hereinzulegen. "Wollten Sie nicht Pause machen, Junge?", fuhr sie Johan verstimmt an.

"Die kann ich ja jetzt beruhigt machen", entgegnete Johan unbeeindruckt auf die spitze Bemerkung. "Ich bin gleich wieder hier."

Seelenruhig aß Esther ihren Kuchen. Sie hatte beschlossen, Johan zu ignorieren.

"Jetzt brauche ich eine Zigarette", murmelte Johan.

"Ich komme mit." Tim war von seinem Platz aufgesprungen. "Wenn das in Ordnung ist", fügte er hinzu, als ihm seine eigentlich gute Erziehung wieder einfiel.

"Klar, warum nicht?"

Tim sah zu seiner Oma, die nun auch ihn ignorierte und ihre Aufmerksamkeit nur dem Kuchen auf ihrem Teller zukommen ließ.

Zusammen mit Johan verließ Tim das Zimmer. Als sie durch die Tür gingen, hörten sie Esther, die ihnen etwas nachrief.

"Das werde ich mir für's nächste Mal merken, wenn Sie wieder was über meinen Enkel wissen wollen, Johan."

Johans Kopf wirbelte zu dem neben ihm gehenden Tim herum und dieses Mal war er es, der die Überraschung nicht verbergen konnte. Er fasste sich allerdings schneller, als Tim, dem der Satz seiner Oma den Atem verschlagen hatte.

"Das kann ich ihn jetzt ja alles selbst fragen", antwortete er Esther.
 

Sie setzten sich draußen auf die gleichen Stufen wie beim letzten Mal.

Johan bot Tim wieder eine Zigarette und Feuer an und schweigend rauchten sie ihre Zigaretten.

Jetzt hatte er seine Antwort darauf, wie Johan ihr letztes Treffen hier draußen eingeordnet hatte, dachte Tim. Johan hatte also seine Oma nach ihm ausgefragt? Interessant.

Johan sah zu Tim, der stumm vor sich hin grinste. "Ich habe sie nur nach deinem Namen gefragt." Er glaubte selbst nicht, was er da sagte. Und Tim glaubte es ihm auch nicht.

"Klar." Ohne etwas von dem Grinsen zu verlieren, stieß Tim den Rauch aus.

Johan musste lachen. "Ich wollte vor dem nächsten Kuss ja zumindest mal deinen Namen wissen."

Tim hustete, als er sich an dem eingeatmeten Rauch verschluckte.

"Sag bloß", ächzte Tim, während sein Hals kratzte und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er schnippte die halb gerauchte Zigarette ins Blumenbeet und wischte sich die Tränen weg. "Wie kommst du darauf, dass es noch einen gibt?"

Johan antwortete wie damals, als sie das erste Mal hier draußen waren. Seine Hand legte sich auf Tims Wange. Er drehte dessen Gesicht zu sich herum und küsste ihn einfach.

Heute saß Tim nicht wie erstarrt da. Er rückte so nahe zu Johan hinüber, bis sich ihre Schultern berührten.

"Warum bist du denn sonst hier?", neckte Johan Tim, als er den Kuss kurz unterbrach.

"Omi besuchen", murmelte Tim mit roten Wangen. Er musste sich Mühe geben, Johan nichts von dem Tornado merken zu lassen, der gerade durch seinen Magen tobte. Johans Augen schienen in Tim hineinzusehen und er fühlte sich einen Moment bei etwas erwischt, was er vielleicht nicht tun sollte. Oder, was er vielleicht nicht mal denken sollte.

Sachte strich Johans Hand über Tims Kinn. Seine Fingerspitzen berührten Tims Mund. Johan, der sich zuerst hinüberbeugte, um Tim erneut zu küssen, richtete sich wieder auf. Er sah Tim forschend an, der sich verlegen auf die Unterlippe biss.

"Vergiss das Essen", sagte Johan plötzlich.

Augenblicklich verschlug es Tim die Sprache und den Atem.
 

Johans  Hand glitt langsam von Tims Kinn. Er drehte sich von Tim weg und  drückte den Rest seiner Zigarette in die Erde des Blumenbeets.

All  das tat er unter Tims betretenem Schweigen und den ratlosen Blicken,  die jedes Krümmen seiner Finger und jede noch so winzige Bewegung  seiner Gesichtsmuskulatur beobachteten und zu analysieren versuchten.

Endlich,  gerade als Tim schon gedacht hatte, das Ausdrücken der Zigarette  würde sich noch ewig hinziehen, wandte sich Johan ihm wieder zu.

"Ich  habe am Wochenende keinen Dienst."

Dazu  fiel Tim jetzt nichts ein.

"Ich  meine, wenn du schrecklich hungrig bist, können wir auch was essen  gehen, aber ich dachte da eher an anderes, was man so tun könnte."

Jetzt  fielen Tim alle möglichen Sachen ein.

"Erst  mal kennenlernen", fügte Johan schmunzelnd hinzu und Tim sah  ihn ertappt an.

"Ja...  natürlich." Wie gab man sich möglichst harmlos, wenn man  überrumpelt wurde, ohne dass andere Anwesende merkten, wie gestellt  das alles wirkte? Jedenfalls nicht, indem man stotterte und sich  dann, wenn man es bemerkte, räusperte, um dann ein heiseres Okay  hervorzupressen, obwohl es eigentlich hätte unbeeindruckt klingen  sollen.

In  so etwas war Tim mies. Gott sei Dank wusste Johan das nicht. Deshalb  tat Tim auch das, wovon er hoffte, besser darin zu sein: er drehte  den Spieß um und zwar so schnell, dass dem anderen gar keine Zeit  blieb, viel nachzudenken.
 

"Samstagabend  um Acht vor dem Ostpark am Yoga-Fisch." Tim dachte nicht daran,  es wie eine Frage klingen zu lassen. Und er dachte erst recht nicht  daran, Johan zu Wort kommen zu lassen, so lange er ihn küsste. "Und  ja, ich bin immer schrecklich hungrig. Und ich mag Steak."

Johan,  der sich plötzlich in der Rolle des Geküssten fand, als Tim sich  blitzschnell zu ihm hingedreht hatte, wartete brav ab, bis Tim nach  der Ansage mit dem Treffpunkt und dem Steak seine Lippen von Johans  Mund löste und diesem nun gestattete, auch mal was zu sagen.

"Gut,  einverstanden." Johan konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.  Er hatte Tim da wohl kurzzeitig unterschätzt. Blöder Fehler. Er  stand auf und wartete auf Tim. "Lösen wir meine Kollegin ab und  schauen mal, ob deine Oma mit dem Kuchen fertig ist?"

Tim  nickte, auch wenn er lieber hier draußen geblieben wäre. Aber der  Samstag war ja nicht mehr lange hin.
 

Er  war viel zu früh dran. Von acht Uhr war die Rede gewesen und Johan  stand bereits seit zwanzig Minuten hier vor dem Ostpark und schaute  alle zwanzig Sekunden auf seine Uhr, ob die verbleibenden zehn  Minuten jetzt endlich vorüber waren.

Seine  Zigaretten lagen im Auto. Vermutlich auf dem Beifahrersitz. Direkt  neben seinem Handy. Entweder hatte er am Ende des Abends ein  aufgebrochenes Auto und ein gestohlenes Handy oder ein aufgebrochenes  und gestohlenes Auto inklusive gestohlenem Handy, auf dem eine  Nachricht von Tim auf ihn wartete, dass er es sich anders überlegt  hatte und sich lieber doch nicht mit ihm treffen wollte. Und er würde  es nie erfahren...

Noch  sieben Minuten.

Johan  schlenderte an der Graffitiübersäten Parkmauer entlang, die kaum  noch etwas von ihrer ursprünglichen Farbe hatte.

Am  Yoga-Fisch hatte Tim gesagt.

Johan  sah sich den Teil der Parkmauer noch einmal an, vor der er gerade  stand.

Ja,  er war hier richtig. Hier zwischen dem Graffiti mit den  Strichmännchen, die von oben in einen riesigen Trichter fielen und  unten als kunterbunter Regenbogen herausflossen, und einem Zebra,  dessen eigentlich schwarze Streifen aus verschieden grauen Punkten  bestand wie ein verstellter Fernsehsender, dazwischen saß ein  mannshoher Fisch mit geschlossenen Augen und selig lächelndem Mund,  die Hinterflossen zum Lotussitz untergeschlagen und die Vorderflossen  auf den 'Knien' ruhend.

Loose  lips sink ships  stand in einer Denkblase neben dem Fisch.

Vier  Minuten.

Nervös  suchten Johans Hände seine Hosentaschen ab, bis ihm wieder einfiel,  wo seine Zigaretten lagen.

"Ich  dachte, ich wäre Erster."

Johan  drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm erklang. Erleichtert  erwiderte er Tims Lächeln.
 

"Rare,  medium oder durch?", begrüßte Johan Tim.

"Medium",  erwiderte Tim ohne groß nachzudenken. Johans Blicke zogen ihn sofort  in ihren Bann. Er sah Tim an, als wisse er schon längst, was er  selbst wollte – und als wisse er, was Tim wollte. "Und du  rare."

Johan  konnte nicht verbergen, dass Tim ihn kurz aus dem Konzept brachte.  "Da muss ich wohl an meiner Tarnung arbeiten, wenn ich so leicht  zu durchschauen bin", murmelte Johan scheinbar nachdenklich und  sah an sich hinab.

"So  schaust du also ohne Arbeitskleidung aus", entfuhr es Tim  unbewusst, als er sich Johan näher ansah. "Mit  Kleidung, natürlich. Privat. Nicht ohne  Kleidung insgesamt", fügte er hastig hinzu und merkte  verzweifelt, wie er sich mit jedem weiteren Wort mehr und mehr um  Kopf und Kragen redete. Was Johan natürlich lustig fand.

"Du  wolltest ja unbedingt zuerst essen gehen", neckte Johan Tim, der  Johan zuerst mit großen Augen angesehen hatte, dann seinen Blicken  beschämt ausgewichen war und sich gerade mit der Hand über die  Stirn strich und den Kopf schüttelte, bevor er endlich auch  losprustete.

"Toller  Anfang", stieß Tim zwischen zwei Lachsalven hervor.

"Ich  hätte es nicht besser hinbekommen", bestätigte Johan lachend.  "Na, immer noch hungrig?"

Tim,  der gehofft hatte, das Thema sei nun endlich vom Tisch, wusste nicht,  wohin er noch schauen oder was er noch sagen konnte, ohne dass es  nicht noch zweideutiger wurde. Gott, wie peinlich...

"Das-das  war keine Absicht", stammelte Tim verlegen.

"Ich  weiß, deshalb ist es ja so lustig." Johan wischte sich die  Lachtränen aus den Augen. Er sah zu Tim, der in einem fort Oh,  Gott-Oh, Gott vor  sich hinmurmelte und unbewusst auf Abstand zu Johan ging. Auf der  Stelle bekam Johan Mitleid. Gut, eigentlich musste er sich dazu  zwingen, nicht weiter zu lachen.

Sachte  griff Johan nach Tims Hand und zog ihn wieder zu sich. Dann, als Tim  keine Anstalten machte, flüchten zu wollen, legte er einen Arm um  Tims Taille und ging schweigend neben ihm her. Zufrieden nahm er  wahr, wie Tim es ihm gleich tat und nun auch seinen Arm um Johans  Hüfte legte. Es wirkte noch ein bisschen hölzern, aber irgendwann  merkte Johan, dass Tims Anspannung nachließ.
 

Da  hast du den Salat,  dachte Tim nach zwanzig Metern geknickt und warf einen schnellen  Blick zu Johan, der völlig gefasst neben ihm herging und noch nicht  einmal eine Zigarette geraucht hatte, seit sie sich gesehen hatten.  Vermutlich war Tim der einzige von ihnen, der einen Grund hatte,  nervös zu sein. Und was für einen Grund er hatte...

Johan  sah zu Tim, als dessen Arm von seiner Hüfte glitt. Er ging etwas auf  Abstand und steckte seine nun freien Hände in die Hosentaschen.

"Entschuldige",  stieß Tim kaum hörbar hervor.

"Kein  Problem." Johan lächelte Tim aufmunternd zu.

Tim  wich den Blicken aus. Was für ein Idiot er war! Nicht nur Marek  gegenüber, sondern auch Johan gegenüber.

Wie  dumm, dass er gedacht hatte, einfach so tun zu können, als wäre das  hier ein normales Date. Er hätte das gleich sein lassen sollen.  Nicht jetzt, sondern schon viel früher. Schon damals, als Johan ihn  auf der Treppe zum Seiteneingang des Altenheims geküsst hatte.  Davor, um genau zu sein. Jetzt war es zu spät. Er fühlte es in  seiner linken Hand, die er um Johan geschlungen hatte. Sie kribbelte  noch immer wie elektrisiert und auch jetzt meinte er, den Stoff von  Johans T-Shirt an seinen Fingerspitzen fühlen zu können; die  Muskeln, die sich darunter mit jedem Schritt bewegt hatten.

"Wohin  wolltest du überhaupt?", riss Johan Tim aus den düsteren  Gedanken.



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