Zum Inhalt der Seite

Behind the Wall

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Wissen als Omen der Vergangenheit

Kapitel 10 Das Wissen als Omen der Vergangenheit
 

Am Montag bin ich früher als gewohnt auf Arbeit. Schon wieder habe ich die halbe Nacht nicht schlafen können, aber diesmal war es der nagende Zweifel, der sich durch mein Gehirn grub und fraß. Alle seltsamen Momente der letzten Tage liefen bildhaft vor meinem geistigen Auge ab. Das wegfahrende Auto vor meiner Wohnung oder vor dem Restaurantbesuch mit Kaley. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, aber warum fuhr es genau in dem Moment davon, als ich es entdecke? Der seltsame Anruf. Bisher gab es keinen weiteren. Vielleicht war es nur ein Streich? Allerdings war da auch noch der Typ mit der Zigarette, der immer noch dieses kitzelnde Gefühl des Bekanntseins in mir auslöst. Aber es bleibt ein Kitzeln. Vielleicht irre ich mich auch. Aber egal, denn im Prinzip sagt auch, das nichts aus. Ich kann ihn überall her kennen oder auch nirgendwoher.

Aber vor allem natürlich geistern die Bilder der schlanken, blonden Frau durch meinen Kopf. Das Kind auf ihrem Arm. Sind sie aus Versehen in meinem Briefkasten gelandet? Auf dem Umschlag gab es keinen Absender und keine angegebene Adresse. Sie müssen persönlich hin gesteckt worden sein. Die Nacht über zermarterte ich mir das Hirn und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein.
 

In meinem Spind krame ich nach den Arbeitsklamotten und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Die Kette und der Ring prallen gegen meine Brust und automatisch denke ich an Richard. Ich lasse mich müde auf der Sitzbank für meinen Schrank nieder. Die Bilder. Wieder und wieder habe ich die junge Frau darauf angestarrt. Ich kenne sie definitiv nicht. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass es etwas mit damals zu tun hat. Besonders der Anblick des Kindes hatte etwas in mir ausgelöst, was ich schwer definieren kann. Ein beschämendes, mahnendes Kribbeln. Wie falsch ist das mit Rick wirklich?

Ich rede mir krampfhaft ein, dass die Bilder nur im falschen Briefkasten lagen. Es muss so sein. Es muss.

Ich lasse meinen Kopf gegen den kühlen Schrank kippen und schließe die Augen. Das Arbeitsshirt bleibt in meinem Schoss liegen. Richards lächelndes Gesicht bildet sich in meinem Kopf. Die schönen, warmem Augen, die mich stets so liebevoll und kostbar angesehen haben. Damals, wie heute. Wärme durchfährt meinen erstarrten Körper und lässt mich einen Moment mit einem zärtlichen Kribbeln ausatmen. Ich entspanne mich.. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden, doch allein diese letzten zwei Tage haben mir Kraft geschenkt.

Das Klacken des Türschlosses lässt mich auf schrecken. Kai steht am Ende der Schrankreihe und sieht mich schüchtern an. Ich muss eingeschlafen sein.

„Guten Morgen", sage ich leise und ziehe mir schnell das Shirt über den Kopf.

„Morgen", murmelt er mir entgegen und wendet seinen Blick von mir ab. Seit ich ihn wegen Steven angesprochen habe, ist er mir mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Wir haben uns immer nur kurz gesehen und dann war er schnell abgehauen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er auch jetzt schnell seine Sachen verstaut und dann in den Aufenthaltsraum verschwindet. Es wirkt, als wäre ihm irgendwas unangenehm, aber ich weiß einfach nicht was. Ich ziehe mich komplett um und nehme mir das Arbeitstelefon zur Hand. Ein Anruf in Abwesenheit. Ich erkenne die Nummer als die der Heizungsfirma wieder und rufe sie zurück. Eine nette Dame erklärt mir, dass der Anruf nur bestätigen sollte, dass sich heute einer der Monteure bei uns einfinden wird. Ich bitte darum, mir dessen Nummer zu geben, doch sie versichert mir, dass er sich bei mir melden wird. Wann er bei uns auftaucht, könne sie nicht sagen. Vielleicht zum frühen Nachmittag. Einen weiteren Versuch mir seine Nummer anzuvertrauen, duldet sie ebenso wenig, wie den ersten und wünscht mir einen guten Tag. Bereits jetzt habe ich im Gefühl, dass der Tag nicht sonderlich gut laufen wird. Im Aufenthaltsraum begrüße ich die anderen Kollegen, sehe erneut Kais beschämten Blick und entdecke dann die Nachricht vom Chef, die mir mitteilt, dass ich in der dritten Etage eine Feinjustierung der Klimaanlage durchführen soll. Das Diagnosegerät bekomme ich bei ihm. Gut, dass ich mir um Arbeit keine Sorgen mehr machen muss, so was dauert ewig. Samt Gerät und mulmiges Gefühl latsche ich die Treppe rauf in die dritte Etage und beginne meine Arbeit. Immerhin ohne irgendwelche Störenfriede.

„Eleen!" Kaleys Stimme lässt mich zur Seite blicken. Ich lege das Diagnosegerät zur Seite und stehe auf. Meine Knie knacken durch die lange Belastung und das bleibt auch der dunkelhäutigen Schönheit nicht verborgen.

„Oh, das klang, aber böse."

„Ja, ich bin nichts mehr gewöhnt", sage ich lächelnd und sehe in ihre tiefen, braunen Augen. Das strahlende Lächeln des heutigen Tages steht ihr besonders gut.

„Ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken, dass du mich am Freitag begleitet hast", plappert sie los.

„Du musst dich nicht bedanken. Immerhin habe ich das leckere Gratisessen bekommen und ich habe es gern gemacht. Es war ein schöne Erfahrung.", kommentiere ich ruhig und versuche mir nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, dass das die erste solcher Erfahrungen für mich gewesen ist.

„Wenn es dir geschmeckt hat, freut es mich umso mehr. Gehen wir heute zusammen Mittagessen?", fragt sie mich und ich schaue kurz auf die alte Armbanduhr um meinem Handgelenk.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wann ich heute Pause machen kann. Ich erwarte den Monteur der Heizungsfirma und man hat mir leider keine genaue Ankunftszeit durchgegeben. Morgen gern.", erwidere ich.

„Okay, das macht ja nichts..." Sie zögert. Mit ihren Finger streicht sie über die Längsseite ihres wolligen Rockes und ihr linker Arm greift dann nach dem Ellenbogen des anderen.

„Eleen, sag, hattest du ein schönes Wochenende?" In ihrer Stimme schwimmt Neugier und Kindlichkeit. Ich sehe sie verwundert an.

„Ja, warum?" Ich verstehe nicht, weshalb sie mich danach fragt. Doch der Gedanke an mein Wochenende mit Richard erfüllt meinen Körper in erster Linie mit purem Glück. Kaley zuckt mit ihren schmalen Schultern. Im kühlen Licht des Flurs erkenne ich deutlich, wie sich auf ihrem Hals eine feine Gänsehaut bildet. Ihr Blick geht verlegen zur Seite. Ihre Finger gleiten ebenso nervös über den rauen Stoff ihrer Kleidung. Auch das Lächeln auf ihren Lippen ist für mich nicht definierbar.

„Ich wollte nur fragen. Irgendwas an dir ist anders. Aber schön." Ihr Lächeln wird liebevoll. Erschrocken wandert meine Hand kurz an meinen Mund. Ich spüre die Kälte meiner Finger an meinen Lippen und an der Wange. Diese Reaktion scheint sie nur noch mehr zu bestätigen und ich höre ein leises Kichern, welches über ihre vollen Lippen perlt. Ihre Augen kneifen sich zusammen und zum ersten Mal erkenne ich feine Lachfalten in ihren Augenwinkeln.

Sie greift meine Hände und lächelt wissend. Ihre Haut ist warm und weich, dennoch ist das Gefühl im Vergleich mit den Berührungen von Richard ein vollkommen anderes.

„Schön, schön. Ich hoffe, dass du nicht zu lange auf den Monteur warten musst. Wir sehen uns morgen." Damit lässt sie meine Hand los und verschwindet elegant den Flur entlang. Ich blicke Kaley nach und lächele. Allerdings eindeutig verwirrt.
 

Ich hocke mich wieder hin und spüre dann plötzlich, wie sich jemand auf meinen Rücken lehnt. Durch den Druck euch ich erschrocken auf. Ein starkes, unangenehmes Parfum weht mir entgegen, das ich eindeutig Steven zu ordnen kann.

„Unfassbar, wie kann es sein, dass dich dieses scharfe Gerät anmacht?" Seine Stimme ist nur ein böses Flüstern dicht an meinem Ohr.

„Neidisch, weil sie dich keines Blickes würdigt?", entgegne ich platt und ärgere mich sofort darüber, dass ich überhaupt reagiere. Ich will ihn weder provozieren, noch will ich seinen Hirngespinsten beipflichten. In mir herrscht die Überzeugung, dass Kaley nichts anderes von mir will als Freundschaft. Ich werde ihr jedenfalls nichts anderes bieten können.

Ich spüre die Wärme seines Atems, der über meine Haut und durch meine Haare streicht. Ein unangenehmes Schaudern. Sein Gewicht in meinem Kreuz belastet mich sehr. Ich muss mich mit den Händen an der Wand abstützen um nicht nach vorn zu kippen.

„Du riechst nach Sex." Ich höre, wie er dreist an mir schnuppert. „Fickst du sie?", fragt er weiter und bei dem Wort zucke ich unbewusst zusammen. Er beginnt bösartig zu kichern.

„Geh von mir runter, Steven", gebe ich mahnend von mir.

„Sonst passiert was?" Wieder dieser arrogante Ton in seiner Stimme. Allein das widert mich an. Ich presse mich hoch und das mit so viel Schwung, dass er nach hinten stürzt und auf dem Boden landet. Ich bin kräftiger als ich aussehe. Ein schmerzhafter Laut, aber ich drehe mich nicht um, sondern hocke mich nur wieder hin um das Diagnosegerät zu Hand zu nehmen. Ich höre, wie er sich aufrappelt. Doch bevor er irgendwas tun kann, treten zwei der Immobilienmakler in den Flur. Steven steht direkt hinter mir. Ich spüre, wie sich sein wütender Blick in meinen Nacken bohrt. Ich neige meinen Kopf und spähe zur Seite. Unsere Blicke treffen sich. Er ist sauer. Trotzdem verschwindet er.
 

Der Monteur lässt mich lange warten. Erst am späten Nachmittag meldete er sich über das Telefon, dass er im Foyer auf mich wartet. Ich hätte in einer halben Stunde Feierabend gehabt. Wir schaffen nur Kleinigkeiten und er garantiert mir morgen früher dazu sein. Ich habe nicht damit gerechnet ihn auch morgen noch an der Backe zu haben. Erschöpft und mit knurrenden Magen stehe ich vor meinen Spint. Ich nehme den letzten Schluck aus meiner Wasserflasche, öffne den Schrank und erstarre.

An einer Schnur gebunden und mit einer Büroklammer befestigt, hängt ein Blatt aus meiner Personalakte. Mein Puls beschleunigt sich und unwillkürlich sehe ich mich in den stillen Umkleideräumen um. Über mein Abbild wurden mit schwarzem Stift senkrechte Striche gemalt. Mein Gesicht hinter Gittern. Ich schlucke schwer und in mir bildet sich ein Gefühlsgemisch aus Wut, Ärger und gnadenloser Enttäuschung. Warum hat es nicht einmal gut laufen können? Mir ist bewusst, dass in meiner Personalakte vermerkt sein muss, dass ich ein Straftäter bin, aber dennoch überrascht mich das Ganze. Ich reiße die Kopie ab und zerknülle sie. Ich halte innen und glätte das Papier wieder, um die Beweise ordnungsgemäß zu zerreißen. Ich weiß nicht, wer alles davon weiß, aber da nur Steven ein Interesse da ran hat, mich zu demütigen, müssen es nicht auch noch andere durch Zufall mitbekommen. Ich zerteile das Blatt in winzige Stücke, so dass nichts mehr lesbar ist und stecke es in meine Hosentasche um es draußen wegwerfen zu können.

Ob Steven es rum erzählen wird? Er wird versuche mich damit zu erpressen, dessen bin ich mir augenblicklich sicher. Doch was hat er davon? Will er mich wirklich nur fertigmachen oder steckt mehr dahinter? Ich glaube eher nicht, dass ich in sein Beuteschema passe, obwohl seine Erregung beim letzten Mal etwas anderes erzählte. Warum denken immer alle, dass ich ein leichtes Opfer bin? Ich schlage mit der flachen Hand gegen die Wand, weil mir augenblicklich durch den Kopf geht, dass er es sicher Kaley erzählt. Zu meiner Wut mischt sich Traurigkeit. Sie wird mich nicht mehr nach einem gemeinsamen Mittagessen fragen. Mein Herz wird schwer. Ich sollte mich lieber von ihr fernhalten, bevor es eskaliert.

Die Unordnung in meinen Spint fällt mir erst jetzt richtig auf. Alles ist umgeworfen und teilweise ausgekippt. Meine Kleidung liegt am Boden. Gerade als ich danach greifen möchte, halte ich wieder innen. An einigen Stellen sehe ich weiße Flecken, die teilweise noch feucht wirken. Ich weiche zurück. Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken, was das sein könnte.

„Ääh, perverses Schwein", knurre ich angeekelt in die Stille des Raumes hinein. Unfassbar. Ich lehne mich an den gegenüberliegenden Schrank und seufze leicht. Ich sollte es dem Vorarbeiter melden, doch ich bezweifle, dass es etwas bringen wird. Ein alberner Scherz unter Kollegen. Steven würde es abstreiten. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, es ihm irgendwie heimzuzahlen. Ein Blick in seine Personalakte wird mir sicher ein paar Abmahnungen oder sogar eine ebenso auffällige Verurteilung preisgeben. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kribbeln. Wenn Steven glaubt, ich kann mich nicht wehren, dann irrt er. Doch im Grunde will ich mich einfach nicht auf sein Niveau niederlassen. Nein, es bringt mir nichts. Ich schlucke es runter und hoffe, dass Steven irgendwann aufgibt.

Ich besorge mir Reinigungsmittel aus der Personaltoilette und ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass ich mich wundere, dass er mir nicht auch noch in den Schrank uriniert hat. Unfassbar. Irgendwie schaffe ich es die Klamotten in einen Beutel zu bekommen, ohne mich einzusauen. Ekelschauer durchfahren mich und langsam kommen die wirklich schlechten Erinnerungen an meine Gefängniszeit zurück. Viele der bösen Klischees, die über das Gefängnisleben existieren sind wahr. Vor allem, wenn frustrierte Junge aufeinander treffen. Späße und heftige Neckereien, wie es die Wärter ausdrückten, endeten in gewalttätige Auseinandersetzungen. Ein paar Mal war ich in solche verwickelt, aber ich kam halbwegs komplett und ohne schwerwiegende Traumata davon. Ich hätte auch nicht noch mehr gebrauchen können.
 

In der U-Bahn schlafe ich fast ein. Ich brauche noch Lebensmittel und obwohl ich den halben Tag nichts gegessen habe, ist mir der Appetit gehörig vergangen. Im Laden besorge ich mir, neben den klassischen Grundnahrungsmitteln, ein halbwegs vernünftiges Vorhängeschloss und seufze schwermütig.

Ich ziehe mir die schmutzige Arbeitshose von den Beinen und stecke sie samt der restlichen beschmutzten Sachen in die Waschmaschine. Die Wahrscheinlichkeit, alles wirklich sauber zu bekommen, ist gering. Die Öl- und Schmutzflecken sind hartnäckig und der Gedanke an die anderen Flecken verursacht mir tatsächlich eine gehörige Übelkeit.

Steven ist genauso hartnäckig und nervig, wie die Ölflecke und genauso widerlich. Ich schalte die Maschine ein und überlege sofort unter die Dusche zugehen, da aber die Waschmaschine eine unausgewogenen Temperaturstabilität verursacht, entscheide ich mich dagegen und wasche mir 5 Minuten lang die Hände.

In dem Moment, in dem ich ins Wohnzimmer trete, beginnt das Telefon zu Klingeln. Ich gehe ran in der Annahme, dass es Ewan ist.

„Hallo,..." Am anderen Ende Stille. „Hallo?", frage ich erneut. Noch immer nichts.

„Ist da jemand?" Plötzlich höre ich ein Atemgeräusch. Es ist definitiv jemand am anderen Ende.

„Was wollen sie?" Nachdem ich das gefragt habe, wird aufgelegt. Ich höre das durchdringende Piepen in der Leitung und starre auf die nun Standardanzeige meines digitalen Telefons. Ich habe nicht darauf geachtet, ob eine Nummer angezeigt wurde. Beim letzten Mal war es nur eine unbekannte Nummer gewesen. Meine Hände werden kalt.

Steven. Wenn er Zugang zu meiner Personalakte hat, dann kannte er auch diese Nummer. Er erlaubt sich weitere Späße mit mir. Wer sonst sollte es sein? Ich blicke noch einmal auf das Telefon in meiner Hand und stelle es verunsichert zur Seite. Vielleicht sollte ich Rick davon erzählen? Nein, besser nicht. Ich denke darüber nach, es Ewan zu erzählen, aber ich kann mir genau vorstellen, was er sagt. Er würde mich fragen, wen ich verärgert habe. Ob ich jemanden von meiner Vergangenheit erzählt habe. Im Grundtenor wurde er mir die Schuld dafür geben und mir keine Hilfe sein. Keine Option. Ich seufze leicht und lasse mich auf die Couch nieder.

Ich kann es meinem Bewährungshelfer melden? Wenn es Steven war würde er mir sicher helfen können, aber wenn es doch etwas mit Richard zu tun hat, würde er...Ich führe den Gedanken nicht zu Ende und verwerfe sofort jeglichen, weitere Möglichkeit, die in diese Richtung geht. Ich kippe auf der Couch zur Seite und bleibe mit dem Kopf auf die Lehne gestützt liegen. Warum passiert das alles auf einmal? Warum darf ich Richard nicht einfach wieder an meiner Seite haben? Warum kann mein Leben nicht ohne große Dramen fortlaufen? Einfach so. Ohne Schuld. Ohne Ängste. Ich will endlich meine Ruhe.

Ermattet und frustriert schlafe ich ein und erwache erst am nächsten Morgen.
 

Ich stelle fest, dass ich vergessen habe die Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen. Die Aufstriche- und schnitte sind in halbwegs genießbarer Zimmertemperatur, aber dafür ist die Butter absolut streichzart. Ich genehmige mir ein Brot mehr und mache mich auf den Weg zur Arbeit.

Gerade als ich das Vorhängeschloss an meinem Schrank befestige, bemerke ich Kai, der wieder am Ende der Schrankreihe steht und mich mit hochrotem Gesicht anblickt.

„Guten Morgen", begrüße ich ihn gewohnt freundlich und in keiner Weise verdächtigend. Sein Blick sagt mir, dass er etwas von der gestrigen Geschichte mit meinem Schrank mitbekommen hat oder sogar daran beteiligt gewesen sein muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es aus freien Stücken getan hat. Kai antwortet mir nicht, sondern zieht scheinbar mit jeder vergehenden Sekunde seine Schultern höher. Er sieht dabei zu, wie ich die Tür schließe und höre, wie das Schloss gegen das kalte Metall schlägt. Das Geräusch ist im gesamten Umkleideraum zu hören und lässt die angespannte Kaiblase platzen.

„Eleen, es tut mir Leid. Ich habe ihn nicht davon abhalten können. Er hat gesagt, du hast ihn gedemütigt und dafür musst du bestraft werden." Während er das beichtet, kommt er auf mich zu. Er ist total durch den Wind.

„Ich sollte zu gucken", gesteht er dann und sieht beschämt zur Seite. Das grenzt an sexuelle Nötigung. Ich bereue augenblicklich, dass ich nicht sofort zum Vorarbeiter gegangen bin. Wenn ich das getan hätte, dann hätte sich auch Kai endlich wehren können. Nun wird uns niemand mehr glauben. Mir ist gestern nicht der Gedanke daran gekommen, dass der arme Azubi daran beteiligt gewesen ist. Still gehe ich auf ihn zu, fasse ihm vorsichtig an die Schulter und versuche ihn zu beruhigen.

„Ich weiß, dass du nichts dagegen machen konntest, aber ich mache gerade denselben Fehler, weil ich es mir gefallen lasse. Halte dich von Steven fern, so gut du kannst, okay?"

„Wie soll das gehen?", fragt er leise.

„Ich rede mit dem Chef und du bleibst wenigstens heute bei mir. Ich habe zwar den Monteur der Heizungsfirma da, aber es ist sicher auch für dich mal ganz interessant. Du kannst uns sicher helfen." Für mich klingt es nach einer guten Idee. Kai wäre von Steven weg, wenigstens heute und ich habe einen plausiblen Grund Kaley wegen dem Mittagessen abzusagen. Die Erleichterung, die ich für einen Moment in mir spüre, verursacht mir Bauchschmerzen und weicht augenblicklich Bedauern und Ärger. Für Kaley ist es besser. Sie muss nicht die Schmach über sich ergehen lassen, mit einem Straftäter zu verkehren und sie würde auch aus Stevens Fokus heraus gezogen. Nicht, dass er auch noch ihr das Leben schwer macht. Das wäre zu viel für mich.

Ich sehe, wie Kai zögerlich, aber glücklich nickt und bespreche danach alles mit dem Vorarbeiter. Er ist einverstanden und so verbringe ich den gesamten Tag mit dem Monteur und dem Azubi. Wir brauchen ewig bis wir das Problem endlich finden. In einer der elektrischen Sicherungen hat sich durch Kriechwege ein Kurzschluss ergeben, verursacht durch Kondenswasser. Er steckt in einem winzigen Teil in Mitten des Hauptkomplexes. Zudem sehe ich, dass es auch noch falsch verkabelt ist. Der Monteur wird von Stunde zu Stunde schweigsamer. Das ist kein gutes Zeichen. Irgendwann beginnt er zu bemerken, dass nicht er die Heizung installiert hat, sondern ein anderer Monteur. Natürlich. Ich kann es nicht nachprüfen. Es ist mir auch egal, so lange wir das Problem endlich lösen und die Herrschaften in der oberen Etage im folgenden Winter nicht erfrieren.

Den ganzen Tag keine Spur von Steven. Dabei bin ich mir sicher, dass er sich meine Reaktion über die Sauerei nicht entgehen lassen wollte. Ich bin dennoch froh, ihn nicht anzutreffen.
 

In der Bahn auf dem Weg zur Wohnung schlafe ich schon wieder fast ein. Doch immer wieder blicke ich auf und suche unbewusst nach Richards Gesicht. Es wäre ein großer Zufall, aber mit jedem Tag, der vergeht, vermisse ich ihn mehr. Meine Hand gleitet zu der Kette und bleibt über dem Pullover liegen. Ich denke an die eingravierten Ziffern und seufze sehnsüchtig. Ich darf ihn jeder Zeit anrufen, das hat er gesagt. Ich traue mich nicht. Was, wenn die Bilder doch etwas mit Richard zu tun haben? Was, wenn die Frau auf den Bildern seine Frau ist? Richard hat bis auf den Ring, denn ich nun um meinen Hals trage keinen anderen Ring an seinen Fingern gehabt. An dem Tag unseres ersten Wiedersehens nicht und danach auch nicht. Der Gedanke beruhigt mich, dennoch denke ich unaufhörlich darüber nach, bis ich plötzlich vor meiner Haustür stehe. Ich suche nach meinem Schlüsseln und stehe einen Moment vor der Tür.

„Eleen..." Der Schlüssel in meiner Hand fängt an zu vibrieren. Ich kenne die Stimme. Ich weiß genau zu wem sie gehört und spüre, wie ein eiskalter Schauer durch meinen Körper fährt. Schmerzhaft. Beißend. Ich wage es nicht mich umzudrehen und hoffe, dass ich mich falsch erinnere.

„Eleen de Faro.", wiederholt er. Die Erwähnung meines vollständigen Namens gibt mir die letzte Bestätigung. Nur er rollt das 'R' in meinem Namen, sodass es mir im Gedächtnis geblieben ist. Meine Hand zittert derartig, dass ich nicht mehr in der Lage bin das Schloss zu treffen, welches ich strikt fokussiere. Es hat keinen Zweck. Ich greife den Schlüsselbund fester und drehe mich um.

Der Mann, der vor mir steht, ist älter geworden. Seine Augen liegen in tiefen Höhlen und wirken unglaublich müde. Ich erkenne graue Haare unter einer marineblauen Wollmütze. Er trägt einen beigen Trenchcoat. So wie man es aus Filmen kennt. Ein wahrhaftiges, wandelndes Klischee. Es fehlt nur eine Zigarette zwischen seinen trockenen Lippen.

„Detektiv Moore", sage ich leise. Ich erinnere mich gut an seine kalten Hände, die meine Handgelenke berührten als er mir die Handschellen anlegte. Sie waren kälter als das Metall. Deshalb sind sie mir derartig in Erinnerung geblieben. Sie stecken nun in den Taschen seiner Jacke. Ich sehe auf die Straße und sehe hinter ihm das schwarze Auto, welches beim letzten Mal davongefahren war. Er ist es, der mich beobachtet und er ist es, der Richard auf keinen Fall in meiner Nähe sehen darf.

„Moore reicht. Ich bin seit einem Jahr pensioniert.", erklärt er mir ruhig.

„Sollten Sie dann nicht irgendwo angeln oder campen? Ihre Memoiren schreiben?", frage ich das Klischee seines Äußeren und dem typischen Polizeiruhestandes aufgreifend. Ich kann mir schönere Freizeitbeschäftigungen vorstellen als Tage lang im Auto zu sitzen und Häuserwände anzustarren. Moore lacht. Er schüttelt seinen Kopf. Mir ist nicht nach Lachen zumute.

„Das werde ich noch, aber bis dahin, habe ich noch etwas zu erledigen. Etwas, was schon immer nicht gestimmt hat.", erwidert er kalt. Ich presse meine Hände zusammen und drücke mir den Schlüssel schmerzhaft ins Fleisch.

„Wie geht es dir, Eleen? Ich habe gehört, dass du eine gute Anstellung in einer Immobilienfirma hast. Wie geht es deiner Mutter?" Bei der Erwähnung meiner Mutter erstarre ich. Ich schlucke leicht und bin mir sicher, dass er besser weiß, wie es meiner Mutter geht als ich.

„Weißt du, Eleen, dass mich deine Mutter einmal im Jahr kontaktiert um zu fragen, ob ich etwas Neues herausgefunden habe?" Das wusste ich nicht. Ein weiteres Mal bohrt sich das kalte Metall des Schlüssels fest in meine Handfläche. So stark, dass ich merke, wie die scharfen Zähne meine Haut einreißen.

„Was wollen Sie hier, Moore?", frage ich und achte kleinlich genau darauf, nicht Detektiv zu sagen.

„Das weißt du ganz genau", sagt er eindringlich. Ein seltsames Grinsen formt sich auf seinen Lippen und gibt seinem Gesicht einen unbarmherzigen Ausdruck. In seinen Augen blitzt die Entschlossenheit. Ob er weiß, dass Richard auch in der Stadt lebt? Wahrscheinlich. Sicher will er testen, ob ich es auch weiß. Ich verziehe keine Miene und kommentiere es nicht. Moore ist der Einzige, der nie daran geglaubt hat, dass ich es gewesen bin. Er hat mich damals angesehen, er hat meine Tränen gesehen und es gewusst. Intuition? Jahre lange Erfahrung. Egal, was es war, es hat nichts geändert. Alle Beweise und auch meine Aussage sprachen vom Gegenteil. Er hat dagegen nichts tun können. Seine Unzufriedenheit und sein Unwillen darüber kamen schon während der Verhandlung zum Tragen.

Er protestierte und zum Schluss wurde ihm der Fall sogar entzogen. Es gab nichts daran zu rütteln. Alle Beweise deuteten auf mich.

Ich wende mich von dem älteren Mann ab und merke, dass das Zittern meiner Hände nicht weniger geworden ist.

„Wie geht es Richard?" Ein kalter Schauer arbeitet sich durch meinen Rücken als er die erwartete Frage wirklich formuliert. Ich schlucke unmerklich und drehe mich nicht zu ihm.

„Woher soll ich das wissen? Wir haben keinen Kontakt zueinander", pampe ich ihm entgegen.

„Ist das so?", hakt er nach und ich kann anhand seiner Äußerung nicht einschätzen, ob er weiß, dass wir uns gesehen haben oder nicht.

„Eleen, du bist derjenige, der die Konsequenzen eures unbedachten Handelns trägt. Überleg dir gut, was du tust." Ich sehe zu ihm. Sein Blick ist warnend, aber auch besorgt. Wie viel weiß er? Mir wird immer kälter und ich merke, wie langsam, aber sicher die Farbe aus meinem Gesicht weicht. Das ist nicht gut. Ich war noch nie ein guter Lügner. Ich verstehe nicht, warum er nicht einfach Ruhe geben kann. Ich blicke auf den Schlüssel in meiner Hand und dann auf die Glasscheibe der Tür. In dem unebenen Glas spiegelt sich mein Gesicht nur schemenhaft. Genauso, wie seins.

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Warum belästigen sie mich? Brauche sie im Alter den Nervenkitzel um sich lebendig zu fühlen?"

„Werd nicht frech!"

„Doch! Schauen Sie sich lieber ein paar Sehenswürdigkeiten der Stadt an, statt die geschlossene Tür meines Wohngebäudes." Ich schaue seitlich zu ihm und sehe, wie sich seine Lippen zu einem Grinsen verziehen. Er mustert mein Gesicht.

„Beim nächsten Mal nehme ich mir deinen Ratschlag zu Herzen." Er wendet sich ab und geht langsam zu seinem Auto zurück.

„Ich hoffe, es wird kein nächstes Mal geben", sage ich gerade heraus und versuche erneut den Schlüssel in das Schloss zu befördern. Die Schritte stoppen.

„Eleen, ... ich weiß, dass du Renard Paddock nicht getötet hast...."
 


 

Ps vom Autor: Ein ganz dickes, liebes Danke an meine tollen Reviewschreiber *__* Ihr seid wirklich toll und ich hoffe, dass es euch auch weiterhin gefallen wird. Vielen lieben Dank auch an meine Leser! ich freue mich über jeden Einzelnen von euch sehr!



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Chiba-
2018-06-06T08:07:56+00:00 06.06.2018 10:07
So, dieses Mal schreibe ich mal einen Kommi, bevor ich ganz mit der Story durch bin XD

Ich habe geahnt, dass Eleen wegen Mordes an Richards Vater im Knast saß. Und ich habe auch geahnt, dass Eleen den Mord nicht begangen hat, sondern Richard.
Aus Notwehr oder im Affekt weiß ich noch nicht so genau...aber ich nehme mal an, dass Richards Vater ihn entweder regelmäßig verprügelt oder missbraucht hat und Richard hat sich irgendwann gewehrt oder gerächt.
Vermutlich war es nicht einmal Mord, sondern Notwehr, aber in dem zarten Alter von 17 oder 18 Jahren weiß man so was nicht unbedingt.
Wenn Richard sich nur gewehrt hat und sein Vater deswegen gestorben ist und wenn die beiden von Anfang an ehrlich gewesen wären, dann hätte keiner von beiden im Gefängnis sitzen müssen >_<
Mal gespannt ob die Sache im Laufe der nächsten Kapitel schon aufgedeckt wird ^0^
Von:  Onlyknow3
2014-11-22T19:13:33+00:00 22.11.2014 20:13
Ach da liegt des Pudels kern vergraben. Bin gespannt was damals passiert ist, und wer wirklich der Mörder von diesem Renard ist. Weiter so, freue mich auf das was noch kommt.

LG
Onlyknow3
Von:  -Ray-
2014-11-16T18:18:07+00:00 16.11.2014 19:18
Okay...schön zu wissen um welches Verbrechen es sich in deiner Geschichte handelt und interessante Wendung. Ich bin gespannt wie sich die Story entwickeln wird. Im Moment klingt es mehr nach Krimi als nach Liebesgeschichte ;)
Mach weiter so! Lg Ray


Zurück