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Behind the Wall

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
von

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Der Moment und die Stille

Kapitel 11 Der Moment und die Stille
 

„...und ich werde dafür sorgen, dass euer falsches Spiel endlich endet." Plötzlich spüre ich Detektiv Moores Hand an meinem Arm und wie sich seine Finger in meinen stoffbedeckten Arm krallen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass er mir nah gekommen ist. Seine Stimme ist so ruhig, dass es mir Angst macht. Ich wende mich nicht zu ihm um. Auch nicht als er den Griff löst. Nur das leise, raschelende Geräusch seines Trenchcoats sagt mir, dass er sich von mir wegbewegt. Ich blicke in mein verschwommenes Spiegelbild, welches sich in dem schmalen Fenster der Tür abbildet. Eine unbestimmbare Fratze, die sich langsam entzerrt. Das Bild von Richards Vater erscheint. Seine kühlen, klaren Augen, die mit einem Mal matt und leer schienen. Unbewusst schließe ich die Lider, doch das verstärkt nur das Bild in meinem Kopf. Seine toten, stumpfen Augen haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Ich drehe den Schlüssel im Schloss, öffne die Tür und verschwinde in den Treppenflur. Dort bleibe ich stehen, höre wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt und spüre sofort die Tränen, die warm und feucht über meine Wangen rinnen. Still und brennend. Ich wusste, dass es uns früher oder spät einholen wird, aber trotzdem trifft es mich mit der vollen Wucht.
 

Haltsuchend fasse ich nach einem der Briefkästen und doch zwingt mich der Schwindel auf die Knie. Meine Hand rutscht über das kalte Metall und ich ziehe sie in den Schoss. Für einen Moment habe ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, obwohl mein Brustkorb im Takt meines rasenden Herzens Luft hinein pumpt. Die Bilder dieses gewissen Abends prasseln auf mich ein und die Erinnerung ist so klar als wäre es erst gestern geschehen.

Die erregten Stimmen ertönen in meinem Kopf. Vor allem Richards und die seines Vaters. Drohungen fallen. Pure Wut erfüllte den Raum. Wir haben so hässliche Dinge zueinander gesagt. Er war außer sich. Beide waren es. Er war gegen mich. Schon immer. Das Geräusch des hinabfallenden Körpers folgt als nächstes. Das Brechen von Knochen. Ein erstickter Laut. Ein entsetztes Stöhnen und dann die alles verändernde Stille. Nur dieser eine Moment und allein das heftige Keuchen unseres Atems war zu hören. Mein Griff an Richards Arm war fest. Doch mein gesamter Körper zitterte.

Ich drücke mir beide Hände gegen die Brust, in der Annahmen des ich so mein heftige pulsierendes Herz beruhigen kann. Doch ich spüre nur, wie das Beben doppelt durch meinen Körper hallt. Ich richte mich nur schwerfällig auf, höre meine Knochen knacken und doch nehme ich es kaum wahr. Mein Blick wendet sich in den dunklen Flur. Nur schemenhaft erkenne ich die Stufen der Treppe. Das abgewetzte Holz. Den abgesplitterten Lack am unteren Treppenlauf, den ich jeden Morgen von neuem bemerke.

Moores Wort hallen durch meinem Kopf. Wieder und wieder und sie scheinen jedes Mal lauter zu werden, bis sie förmlich schreien. Ich quäle mich mit tauben Gliedern die Treppe hinauf und gehe im Flur meiner Wohnung erneut zu Boden. Meine Knie prallen hart auf dem Holzboden auf. Lass es nicht wahr sein. Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso kann er es nicht ruhen lassen? Es hat jemand für den Tod von Renard Paddock gebüßt und in gewisser Weise wir sühnen dafür noch immer.
 

Etliche verschwommene Minuten sitze ich am Boden, lehne mich gegen die geschlossene Wohnungstür und betrachte die groben Holzstrukturen meines Parkettbodens. In meinem Kopf wechseln sich Erinnerung mit grenzenloser Leere ab. Richards erinnerte Stimme jagt kleine Schauer durch meinen Leib. Ich sehne mich danach, sie wirklich zu hören. Heilende Worte zu gewispert zu bekommen, die sich wie Balsam über meine Wunden legen. Ich will den sanften Ausdruck sehen, den seine Augen bekommen, wenn er mich zu trösten begann. Die Zärtlichkeit. Die Liebe. Meine Sehnsucht ist ungestillt. Sie wird niemals vergehen. Unbewusst ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Noch ist das Display schwarz. Mein Gesicht spiegelt sich darin, doch ich nehme es nicht als mein eigenes wahr. Seit diesem einen Tag habe ich das öfter. Ich sehe in den Spiegel und erkenne mich selbst nicht. Und manchmal macht sich das Gefühl in mit breit, dass mein Leben einfach nicht fortgelaufen ist, sondern still steht. Als ich das Telefon anschalte, ist mein Spiegelbild verschwunden. Ich suche nach Ricks Nummer und für einen Augenblick ist das Verlangen in mir so überwältigend, dass mein Daumen den grünen Hörer bestätigt. Ich will doch nur seine Stimme hören. Ich will hören, dass weder ihm noch mir etwas passiert.

Das erste einsetzende Klingeln holt mich in die Realität zurück. Noch bevor Rick den Anruf annehmen kann, drücke ich auf Abbruch. Ich spüre, wie mein Herz stolpert, meckert und schreit. Die Schläge scheinen in dem stillen Raum widerzuhallen. Doch mein Verstand bestätigt mir, dass es die richtige Entscheidung ist Ich starre auf das Plastikgerät in meinen Händen. Mit einem Mal ist es Tonnen schwer. Ich lasse es zu Boden fallen, sehe, wie es zwischen zwei Streben des Parketts zum Liegen kommt. Jetzt, wo ich weiß, dass Moore vor meiner Tür steht, muss ich stark bleiben. Ich darf ihm keine Gelegenheit bieten und mich oder Rick in Gefahr bringen. Ich atme tief durch und richte mich endlich auf.
 

Als ich ins Wohnzimmer komme, beginnt mein Festnetztelefon zu klingeln. Das Geräusch jagt mir einen derartigen Schrecken ein, dass ich für einen Moment erstarre. Meine Gedanken beginnen zu rasen. Was, wenn... Nein! Nicht schon wieder!

Ich atme tief durch und bevor ich den Hörer abnehme, sehe ich auf das Display. Es zeigt den Namen meines Bruders und erleichtert betätige ich den Anruf.

„Hey,...", begrüße ich Ewan und ich setze mich zur Beruhigung auf die Couch.

„Gut. Ich wundere mich schon die ganze Zeit, warum du nicht rangehst. Alles okay?" Diesmal ist der Vorwurf in seiner Stimme nur ein Hauch. Echte Sorge. Ich fahre mir ermattet durch die Haare.

„Entschuldige, ich bin gerade erst rein. Auf Arbeit ist viel zu tun. Ich habe einen firmenfremden Techniker da und muss mich etwas nach ihm richten", gebe ich erklärend von mir und habe damit nicht einmal gelogen. Trotzdem frage ich mich, warum Ewan so anders klingt als sonst.

„Alles okay bei euch?", hake ich nach. Ich höre es am anderen Ende des Hörers ein Rascheln und wie sich eine Tür schließt.

„Ja... ja, eigentlich schon... Sora ist schwanger. Es ist nicht wirklich geplant", redet er los. Erfreut klingt er nicht. Ich verstehe nicht, warum. Lira ist nun schon sieben Jahre alt und für ein Geschwisterchen wird es höchste Zeit. Anderseits ist Ewans berufliche Situation im Moment schwierig. Die Firma, für die er arbeitet, hat im letzten Jahr vermehrt Verluste gemacht. Ich habe nicht genau verstanden, worum es geht. Ewan ist Bauingenieur und jongliert mit Zahlen und Dingen, von denen ich wegen meiner nur einfachen Ausbildung meilenweit entfernt bin. Trotzdem sind Kinder immer ein Geschenk.

Ich denke an die Bilder der jungen Frau und dem kleinen Mädchen auf ihrem Arm. Mein Blick fällt automatisch auf den Esstisch, auf dem sie einem weißen, einfachen Umschlag liegen.

„Also, keine Glückwünsche?", frage ich seltsam tonlos und wende meinen Blick wieder von dem fixierten Punkt ab.

„Ja, doch. Sora freut sich sehr, aber ich brauche noch ein bisschen um es zu verdauen... Sag ihr bitte nicht, dass ich es dir schon erzählt habe. Sie lyncht mich." Ewan wirkt wirklich überwältigt. Nur leider nicht im positiven Sinne. Ich frage mich, wie er darauf kommt, dass ich es ihr versehentlich erzählen könnte. Ich antworte nicht auf die Phrase und bleibe still, sodass sich mein Bruder genötigt fühlt, weiter zu reden.

„Lira haben wir es auch noch nicht erzählt, damit sie nicht damit hausieren geht und jedem von ihrem neuen Geschwisterchen erzählt." Ein schweres Seufzen perlt von seinen Lippen und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie meine Nichte mit Spangen geschmückten Haare lachend durch die Gegend hüpft und rumgrölt. Ebenso sehe ich, wie Ewans großer, kräftiger Körper bebt und wie er sich seine hellbraunen Haare zurückstreicht. Wir sehen uns nicht sehr ähnlich und ich kann mich nicht daran erinnern jemals ein richtiges Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Sein Blick ist stets ernst. Vielleicht auch nur, wenn er mich ansieht. Ganz anderes ist es bei Rick. Ein herzhaftes Lachen ist das Erste, woran ich mich bei ihm ersinne. Es war hell und klar. Es steckte so voller Heiterkeit, dass es mich umnebelte, wie feiner Sprühregen voller Sonnenschein. Ich weiß, dass ich schon damals dachte, dass ich noch nie so ein glückliches Gesicht gesehen habe, wie seins. Er beobachtete ein Pärchen auf dem See, dass Ruderboot fuhr. Ein paar wilde, kreisende Drehungen mit den Paddeln. Gezeter. Streit. Richard hielt sich vor Lachen den Bauch. Doch als sie auch noch umkippten, fiel auch er zu Boden und lachte eine gefühlte Ewigkeit herzhaft. Ich sah nicht, wie das Pärchen im See landet, denn ich beobachtete ihn. Das Eis in meiner Hand begann längst zu schmelzen und klebrige Flüssigkeit lief meinen Arm hinab. Eine Biene setzte sich auf meine Hand und vor Schreck ließ ich das Eis fallen. Sie stach mich. Doch nicht der Schmerz ist mir in Erinnerung geblieben, sondern die warmen Hände von Richard, die meinen Arm umfassten und kühles Wasser darüber kippten. Sofort plapperte er los, erklärte er mir, dass man bei Bienen nicht schlagen oder hektisch reagieren darf. Das würde sie wütend machen. Sie hätte ja nur Angst vor uns. Ich war acht Jahre alt. Richard neun. Auf seinen Knien waren grüne Flecken und auch sein Gesicht war dreckig. Er kaufte mir ein neues Eis. Es schmeckte nach Zitrone und Glück.
 

Ein Haufen Erinnerungen, die in meinem Kopf nah und präsent sind. Im Grunde gibt es seit dem Zeitpunkt meines Gefängnisaufenthalts eine Erinnerungslücke in mir. Eine Pause und nach meiner Entlassung setzen sich die Geschehnisse erst fort. Vielleicht bin ich deshalb so sehr von Richard abhängig. Sein Leben ging weiter. Meins blieb stehen.

„Eleen?" Erst Ewans fragende Stimme holt mich zurück aus meinen Gedanken. Mein Herz brennt sehnsüchtig nach den Momenten, in denen ich Richard noch an meiner Seite hatte. Nur für mich. Nur wir zwei. Ich brauche nur ihn. Niemand anderen.

„Ja, entschuldige."

„Bei dir wirklich alles in Ordnung?", hakt er nun nach. Das Misstrauen in seiner Stimme ist deutlich herauszuhören. Ich denke darüber nach ihm von Detektiv Moore zu erzählen. Doch ich will keine schlafenden Hunde wecken. Dennoch kommt mir Moores Frage nach meiner Mutter in den Sinn. Warum kontaktierte sie ihn? Ob Ewan davon weiß? Ich war der Überzeugung gewesen, dass sie sich damit abgefunden hat in mir einen missratenen Sohn zu sehen. Denn die Distanz zwischen uns war nach meiner Entlassung noch größer geworden.

„Wie geht es Mama?", frage ich unbewusst laut und erschrecke kurz selbst. Auch Ewan bleibt für einen Augenblick still. Ich frage sonst nie, denn ich möchte das schlechte Gefühl vermeiden, welches sich malmend und quetschend über meine Knochen arbeitet, wenn er mir erklärt, wie schlimm es um sie steht und dass ich daran meinen Beitrag habe. Sie leidet. Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie enttäuscht und das von Geburt an. Nach meiner Entlassung habe ich versucht mit ihr zu reden, doch sie hat jede meiner Erklärungen abgeschmettert.

„Sie erholt sich.", antwortet er und ich erinnere mich daran, dass er mir beim vorletzten Telefonat erklärt hat, dass sie kränklich ist. „Okay, Eleen, was ist los? Hast du noch mal mit deinem Bewährungshelfer gesprochen?" Ewan riecht den Braten, wie ein Spürhund. Er sollte sich mit Detektiv Moore zusammen tun. Ich verkneife mir ein fahriges Seufzen, was möglicherweise zu viel verraten würde.

„Nein, er hat sich nicht noch einmal gemeldet."

„Hm. Gibt es Ärger auf Arbeit?"

„Nur das Übliche. Scherereien und Diskussionen unter Kollegen. Ich bin immer noch der Neue." Von den weniger harmlosen Problemen mit Steven erzähle ich ihm nichts.

„Richard?" Diese einfache Frage überrumpelt mich, obwohl ich sie erwartet habe.

„Nein." Ein wenig zu schnell. Mein Herz beginnt zu flattern. Ewan schweigt. Ich weiß nicht, ob er etwas ahnt, aber er fragt auch nicht weiter. Bevor er doch noch etwas erwidern kann, setze ich nach. „Entschuldige, aber ich bin hungrig und müde. Bei mir ist alles in Ordnung. Ich habe einfach viel zu tun."

„Okay. Ich wollte auch nur hören, wie es dir geht. Dann hab einen schönen Feierabend", sagt er ungewöhnlich ruhig.

„Ewan?" Ich hole mir seine Aufmerksamkeit noch einmal zurück.

„Ja?"

„Ich freue mich für euch!", ergänze ich und lege auf. Kinder sind ein Segen. Sora und Ewan sind gute Eltern und ich bin mir sicher, dass sie das mit der finanziellen Situation meistern werden. Ich stelle das Telefon auf die Station zurück und gehe zum Esstisch. Der Briefumschlag. Nur mit den Fingerspitzen streiche ich über das weiße, raue Papier. Nur ein kurze Berührung und ich zucke unwillkürlich zusammen. Erst ziehe ich meine Hand weg, doch dann greife ich richtig danach. Ich nehme das Bild mit der junge Frau heraus, betrachte das schmale, feingliedrige Gesicht. Ihre langen, blonden Haare bilden am unteren Ende kleine Wellen. Mehr ist nicht zu erkennen. Ich nehme das andere Bild zur Hand und lasse es sinken als sich eine Schwere in meiner Brust ausbreitet. Die Adresse muss ich mir nicht ansehen. Ich kann sie bereits auswendig. In mir beginnt es zu kribbeln. Eine Mischung aus Neugier, Angst und Wut.
 

Im Schlafzimmer streife ich mir die Klamotten vom Leib. Ich lasse mich einen Moment aufs Bett nieder und streiche mit den Fingern ein paar der Falten der Decke davon. Meine Bewegungen sind unruhig und fahrig. Dennoch beruhigt es mich. Ich lasse mich ins Kissen zurückfallen und schließe die Augen, als ich beginne den Geruch einzusaugen. Vielleicht ist es Einbildung, doch in meinem Kopf ist es eindeutig der Geruch von Richards, der an meiner Bettwäsche haftet. Ich genieße das feine Kribbeln, welches sich durch meinen Körper arbeitet als die Erinnerungen vom Wochenende einsetzen. Ricks sanfte Berührungen. Seine heilenden Worte. Das vertraute Gefühl seinen Körper neben mir zu spüren, ist für einen Moment wieder vollkommen präsent. Ich nehme noch einen letzten tiefen Zug und richte mich wieder auf. Mit einer bequemen Stoffhose und einem Longshirt bekleidet, gehe ich zum Badezimmer. Vor der Kommode im Flur halte ich innen als ich ein ungewöhnliches Licht bemerke. Die Signalleuchte an meinem Handy blinkt. Ich starre auf das Gerät am Boden und unbewusst bücke ich mich danach, hebe es auf. Es fühlt sich wieder genauso leicht an, wie sonst.

Das Display zeigt mir zwei Anrufe in Abwesenheit. Ich habe nicht bemerkt, dass es geklingelt hat. Ich öffne die Liste und sehe eine mir unbekannte Handynummer. Die anderer ist von Richard. Ich schlucke schwer. Er hat mich zurückgerufen. Wieder bildet sich diese enorme Sehnsucht in mir seine Stimme zu hören und seinen Rat zu suchen. Nein. Ich darf ihn nicht weiter mit hineinziehen. Es ist weder für ihn, noch für mich gut.

Ich denke wieder an Detektiv Moore. Er beobachtet mich und vielleicht verfolgt er auch Richard. Vielleicht sind diese Anrufe von ihm. Doch das kann ich mir nicht vorstellen. Moore direkter Typ, wie er heute eindrucksvoll bewiesen hat. Doch von wem sind diese seltsamen Anrufe dann? Steven, vielleicht. Allerdings hatte er einen Grund auf Arbeit nach mir zu fragen, doch wäre er dem Pförtner unbekannt gewesen.

Solche viele Fragen auf die ich einfach keine Antwort weiß. Es zermürbt mich. Es konnte Moore gewesen sein, doch ich erinnere mich daran, dass es ein junger Mann gewesen sein soll. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu klingeln. Ich schrecke zusammen und sehe Richards Namen auf dem Display. Ich schließe meine Augen und gehe nicht ran. Als der Anruf endet, schalte ich das Telefon aus.
 

Die gesamte Nacht hindurch kann nicht wirklich schlafen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Doch es sind nicht nur der Gedanken an die verfahrene Situation, die mich wach halten, sondern auch die vergrabenen Erinnerung, die durch Detektiv Moore geweckt wurden.

Der regungslose Leib von Richards Vater am unteren Ende der Treppe. Ein Bein war verdreht und die langsam größer werdende Blutlache an seinem Kopf bereitete sich über den hellen Fliesenboden aus. In seinem teuren Anzug erschien die Szenerie noch unrealistischer. Die massive Gestalt des Mannes wirkte klein und zerbrechlich. Ich erinnere mich gut an die großen, groben Hände, die meine Handgelenke umfassten und an den warmen Atem, der mir entgegen schlug als er mich anbrüllt. Der schmerzende Druck als er mich gegen die Wand drückte. Seine Worte, die sich wie scharfe Messerklingen in meinen Körper bohrten. Tiefe Wunden schnitten. Ich würde Richard nie wiedersehen, sagte er. Ich würde ihm nie wieder zu nahe kommen. Seine Drohungen waren niemals leer. Sie waren definitiv und ich bekam Angst. Noch jetzt greifen die Worte und tauchen in mein Inneres ein. Sie zerren Furcht hervor und treiben Ängste an die Oberfläche, die ich längst überwunden und vergessen wähnte.

Ich spüre die Tränen, die auch jetzt meine Wangen benetzen. Wieso kann das Ganze nicht endlich ein Ende haben? Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen. Glücklich sein. Jeden Abend mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen und die Wärme dieses einen geliebten Menschen neben mir spüren. Ich setze mich ermattet auf und fahre mit beiden Händen über das Gesicht, streiche mir die Haare zurück. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will, dass es aufhört. Die ersten Nächte im Gefängnis hatte ich ähnliche Gedanken.
 

Irgendwann stehe ich auf, hocke mich vor das Bett und hole erneut die Kiste mit den Bildern hervor. Doch das, was ich suche, liegt noch tiefer unter dem Bett. Meine Finger tasten über staubigen Boden, über glatte Holzdielen und dann über einen rauen Einband. Ich ziehe das Buch hervor, setze mich nieder, lehne mich gegen das Bett und lasse meine Hand über den zerfledderten Bucheinschlag wandern. Hunderte Rissen, Kerben und Knicke. Sie ziehen sich über die Illustration des Covers. Die abgebildeten Gesichter sind kaum noch zu erkennen. Sie sind auch nicht wichtig. Einige Buchstaben des Titels fehlen. Ich brauche sie nicht. Es ist das einzige Buch, was ich besitze. Jules Vernes 'Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde'. Das erste Mal habe ich es mit Richard zusammen gelesen. Wir waren damals zwölf Jahre alt. Rick war so verdammt lesefaul aber er sollte das Buch über die Ferien analysieren. Ständig hatte er neue Ausreden und Ausflüchte. Und immer wenn ich damit anfing, begann er mich erneut mit seinem einnehmenden Charme abzulenken. Ein Abendteuer hier, etwas zu entdecken da. Eine Woche vor dem Ende der Sommerferien zwang ich ihn dazu. Wir lasen es gemeinsam. Abwechselnd. Mal leise. Mal laut. Wir brauchten drei Nächte. Das machten wir dann jedes Jahr aufs Neue. Rick hat eine wunderbare Lesestimme. Voll und angenehm. Ich könnte ihm ewig zu hören. Ich habe damals gern gelesen und auch viel, aber seit ich aus dem Gefängnis gekommen bin, habe ich kein Buch mehr angefasst. Sobald ich eines in meinen Händen halte, verbinde ich vermehrt die Einsamkeit und das Gefühl des Gefangenseins damit. Auch jetzt. So viele einsame Stunden in der Zelle. Ich erinnere mich gut an den Geruch des alten Papiers. Teilweise durchsetzt von Schimmel roch es muffig und war durchzogen mit einem Hauch von Tabak. Ich bin der Überzeugung, dass sich daran auch allerhand Drogen befunden haben müssen und ein sonderbares Lächeln schleicht sich auf meinen Lippen.

Noch ein weiteres Mal wandern meine Finger über die zerrissene Illustration und dann schlage ich es auf. Ich führe das Buch an meine Nase heran, schnuppere und schließe meine Augen. Die Erinnerungen berieseln mich und wiegen mich zärtlich. Ich kenne noch immer jedes Wort. Wir haben es so oft zusammen gelesen. Dennoch fange ich von vorn an.

Gegen fünf Uhr am Morgen stehe ich auf. Gut geschlafen habe ich nicht. Selbst nachdem ich einige Kapitel des Buches gelesen habe und die wohligen Erinnerungen ein ruhigen Nebel erzeugten, der sich in meinem Kopf ausbreitete. Bevor ich das Haus verlasse, blicke ich auf die andere Straßenseite. Kein verdächtiges Auto. Kein Moore. Vielleicht ist heute ein guter Tag.
 

Ich fahre etwas früher als gewöhnt zur Arbeit, genieße die Stille, die in den gesamten Räumen herrscht und verspüre ich das Bedürfnis heute jedem aus dem Weg zu gehen. Ich schaffe es, denn wenn ich will, kann ich zum Geist werden. Eine Fähigkeit aus meiner Kindheit. Den Tag verbringe ich mit Kontrollgängen und am frühen Nachmittag fahre ich zu dem anderen Objekt. Auch dort wandere ich die stillen Räume ab. Nur Staub und muffige Luft. Alles sieht gut aus. Mein Handy bleibt still. Obwohl ich müde und ausgelaugt bin, bleibe ich in einem der leeren Räume stehen. Die Vorstellung in meine Wohnung zu fahren, lähmt mich.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Chiba-
2018-06-06T08:30:37+00:00 06.06.2018 10:30
Okay...ich korrigiere mich... XD
Richards Vater hat die beiden eines Tages in flagranti erwischt und ist auf Eleen losgegangen. Ein Handgemenge, Richard ging dazwischen und sein Vater ist dabei die Treppe heruntergestürzt. Klarer Unfall...kein Mord.


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