Einschneidende Ereignisse
Sie war nervös. Ihre Hände schwitzen, als sie sich gegen die kühle Wand lehnte und wartete, dass er aus der großen Glastür kommen würde.
Mimi hatte mit seiner Sekretärin telefoniert, weil er am Wochenende an einer Konferenz teilgenommen hatte. Von ihr wusste sie, dass ihr Vater um 16 Uhr Feierabend machte, deswegen hatte sie sich beeilt, um ihn abzupassen.
Sie wollte mit ihm reden. Fragen, was er sich dabei dachte, einfach das gemeinsame Konto zu sperren und ihre Mutter und sie im Regen stehen zu lassen. Dachte er überhaupt noch nach? Wusste er, was er ihnen damit antat?
Er konnte sich doch denken, dass sie ohne seine finanzielle Hilfe aufgeschmissen waren.
In ihr brodelte es. Sie stand kurz vor der Explosion und hoffte wirklich, dass ihr Vater eine gute Erklärung parat hatte.
Mimi hatte sie Arme vor der Brust verschränkt und blickte anstrengt zur Glastür, während sie ihren Gedanken freien Lauf ließ.
Sie überlegte fieberhaft, was sie ihrem Vater alles sagen wollte. Er hatte sie so verletzt, sich nicht mehr bei ihr gemeldet, obwohl es ihr eigentlich recht war. Sie wollte ihn noch nicht mal jetzt wiedersehen, aber sie hatte keine andere Wahl. Irgendwie musste sie ihrer Mutter doch helfen, sie unterstützten, damit sie nicht untergingen.
Mimi hatte sich natürlich auch gefragt, warum sie nicht einfach ihre Großeltern um Hilfe bat. Doch ihre Mutter schämte sich zu sehr, hatte Angst vor der Reaktion. Aber hauptsächlich wollte sie einfach den Schein wahren.
Sie wollte nicht als Versagerin dastehen, die keinen Job bekam, weil sie zu alt und unerfahren war. Vielleicht hatte sie auch immer noch die Hoffnung, dass ihr Vater und sie es nochmal hinbekommen würden.
Mimi fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und benetzte sie mit Feuchtigkeit. Sie stellte fest, dass in ihrem Leben zurzeit so einiges schief lief.
Auch die Sache mit Sora beschäftigte sie. Mimi spürte, dass sie sie sehr verletzt und einen großen Keil zwischen sie getrieben hatte. Dabei hatte sie einfach nur die Wahrheit gesagt.
Etwas, was Sora nicht hören wollte.
Gut, sie hätte ihre Worte gewählter ausdrücken können, aber merkte sie nicht, dass sie im Treibsand steckte? Zwei Menschen gleichzeitig zu lieben, war doch nur eine Ausrede, sich nicht entscheiden zu müssen. Sie hatte Angst vor den Konsequenzen, mehr nicht. Einen der beiden würde sie mit Sicherheit verlieren und Mimi wusste, wie wichtig ihr die Freundschaft zu Tai und Matt war.
Es wäre wohl am einfachsten gewesen, sich von beiden fernzuhalten, doch die Hormone zeigten meist andere Wege auf und benebelten das Herz.
Mimi lockerte ihre Haltung, schüttelte ihre Beine aus und fuhr sich durch die langen braunen Haare.
Es hatte sich alles verändert. Selbst die Gefühle für Tai, die ihr keine Schmetterlinge mehr bereiteten.
Wenn sie ihn sah und notgedrungen mit ihm sprechen musste, spürte sie eine Enge in ihrer Brustgegend, so als drücke jemand ihr Herz mit der Hand zusammen.
Sie hatte das Bedürfnis zu Weinen, oder am liebsten wild um sich zu schlagen. Es war ein Schmerz, den sie schlecht beschreiben konnte, aber dennoch allgegenwärtig war.
Voller Trauer und Wut, ein wenig so wie bei ihrem Vater, nur das die Wut deutlich überwog.
Sie wollte sich am liebsten ihr Herz herausreißen und am nächsten spitzen Zaun aufspießen. Er hatte sie verletzt, ohne es richtig bemerkt zu haben.
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Vom langen Warten waren ihre Beine mittlerweile eingeschlafen. Sie fragte sich wirklich wie lange es noch dauerte, so langsam verging ihr wirklich die Lust.
Sie starrte zur Tür und bemerkte, dass sie ersten Leute hinausstürmten.
Mimi ging ein paar Schritte auf sie zu und suchte nach dem bekannten Gesicht ihres Vaters, entdeckte ihn jedoch nicht.
Sie blieb an der Tür stehen und wartete. Ihre Beine fingen leicht an zu zittern, genauso wie ihre Hände, die sie ineinander krampfte. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Augenbrauen leicht zusammengekniffen.
Nervös wippte sie hin und her, bis ein Dreiergespann den langen Flur entlang lief. In der Mitte, ihr Vater, der sich angeregt mit einer Kollegin zu unterhalten schien.
Er sah kurz auf und sein Blick versteinerte sich. Mimi schluckte all ihre Zweifel hinunter und versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen, als ihr Vater sich von seinen Kollegen verabschiedete und überrascht auf die Tür zusteuerte.
„Mimi? Was machst du denn hier?“
Er schielte über seine Brille und ging ein Stückchen weiter, sodass sie nicht mehr direkt an der Tür standen.
„Ich will mit dir reden“, eröffnete sie ihm ernst, nahm ihre Tasche von den Schultern und kramte darin nach etwas.
Ihr Vater begutachtete die ganze Situation schweigsam. Sein leichtes Lächeln, das seine Lippen zierte, verblasste, als Mimi einen Kontoauszug hervorholte und darauf hindeutete, dass er ihr Konto gesperrt hatte.
„Erklärst du mir das bitte mal? Wie kannst du sowas machen?“, fragte sie aufgebracht und hielt ihm das Stückchen Papier vorwurfsvoll unter die Nase.
Er nahm es in die Hand und runzelte die Stirn. „Hat dich deine Mutter etwa geschickt?“
Mimi schüttelte den Kopf. „Nein, sie weiß gar nicht, dass ich hier bin“, räumte sie ein.
„Und was willst du jetzt von mir hören?“, erwiderte er verständnislos und drückte ihr den Kontoauszug wieder in die Hand. „Deine Mutter war nicht bereit auf meine Kompromisse einzugehen und ich habe auch Rechte.“
„Wovon sprichst du überhaupt? Und außerdem warst du doch derjenige, der Mist gebaut hat.“
„Mimi, das ist schon Jahre her und hat mir absolut nichts bedeutet. Ihr seid meine Familie“, sagte er nachdrücklich und berührte sie an ihrer Schulter.
Doch Mimi war seine Nähe nicht Geheuer und riss sich ruppig aus seinem Griff. „Aber wenn du uns wirklich liebst, warum machst du denn sowas? Willst du, dass wir auf der Straße landen?“
Ihre Stimme überschlug sich fast vor Zorn. Sie spürte, dass ihr ganz heiß wurde. Ihre Augen brannten und Tränen stiegen auf.
„Und du kannst nicht so tun, als wäre nichts passiert. Noriko ist deine Tochter und sie hätte dich gebraucht!“
„Mimi, du verstehst sowas noch nicht! Ich habe mir das Ganze auch anders vorgestellt. Ich dachte, deine Mutter beruhigt sich wieder, aber sie hat mir ausdrücklich gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen darf und sowas geht nicht“, erklärte er ihr aufgebracht. Die Zornesader auf seiner Stirn kam zum Vorschein und Mimi wusste, dass er so richtig sauer war.
„Verboten? Ich wollte dich nicht sehen!“, rechtfertigte sie sich und einige Tränen lösten sich. Sie brannten ihre Wangen hinunter und tropften lautlos zu Boden. „Ich habe eine Schwester, von der ich sicherlich nie etwas erfahren hätte, wenn es nach dir geht.“
„Mimi, bist du etwa nur hier, um mir Vorwürfe zu machen?“
„Nein…ich“
Sie zögerte ein wenig und überlegte kurz, was sie sagen sollte.
„Dann sag‘ mir gefälligst, was du willst!“
„Du kannst uns das Geld nicht streichen! Wir sind darauf angewiesen!“, platzte aus ihr hervor, obwohl sie eigentlich etwas anderes sagen wollte.
„Also bist du nur hier, um Geld einzufordern?“, fragte er und klang enttäuscht.
Nein. Eigentlich wollte sie ihm die Meinung geigen. Ihm sagen, wie sie sich fühlte. Dass, er sie zu tiefst verletzt hatte.
„Wir brauchen es, sonst landen wir auf der Straße. Wenigstens solange bis Mama einen Job gefunden hat.“
Ihre Stimme war brüchig, ihre Augen gläsern. Sie konnte den Gesichtsausdruck ihres Vaters nicht entziffern. Er spiegelte so viel wieder, aber nicht genug, um sagen zu können, was er fühlte.
Er rückte sich die Brille zurecht und wandte den Kopf zur Seite.
„Gut, wenn das so ist, werde ich dafür sorgen, dass es wieder freigeschaltet wird“, antwortete er monoton. Danach ging er an Mimi vorbei und würdigte sie keines Blickes.
Er blieb kurz stehen und räusperte sich. „Ich werde demnächst in eine kleine Wohnung umziehen, daher überlegt euch, was ihr mit dem Haus macht. Ewig werde ich es nicht mitfinanzieren können.“
Danach ging er schnurstracks zu seinem Auto, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben.
Mimi kniff die Augen zusammen, während unzählige Tränen über ihr Gesicht quollen.
Sie wollte doch gar nicht sein dummes Geld. Sie wollte ihre Familie zurück, doch jetzt erst merkte sie, wie weit sie von diesem Traum entfernt war.
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Sie puderte sich das Gesicht und betrachtete dabei ihr Spiegelbild. Mit zarten Bewegungen fuhr sie ihre Gesichtskonturen nach, legte den Pinsel beiseite und drehte ihre vorderen Haarsträhnen um ihren Finger, damit sie besser fielen. Sie hatte sich einen hohen Zopf gemacht und sah ein wenig so aus, wie ihr 10-Jähriges Selbst, nur das sie geschminkt und ihre Figur weiblicher geworden war.
„Du siehst wirklich hübsch aus“, sagte Noriko und trat hinter sie. Sie legte ihre Hände auf ihre Schultern und drückte sich etwas an sie heran.
„Ich freue mich ja so auf heute Abend“, sagte sie strahlend und stellte sich neben sie. „Endlich lernst du mal Etsuko kennen. Diesmal ist sie auch wirklich da, versprochen!“
Mimi lächelte nur verhalten und legte etwas Rouge auf.
Wieder war sie das Wochenende bei ihr, um ein wenig Normalität in ihr Leben zu bringen.
Sie wollten mit den Jungs tanzen gehen und diesmal sollte auch Norikos Freundin Etsuko anwesend sein. Mimi kannte sie bisher nur aus Erzählungen. Als sie sie das letzte Mal treffen sollte, war sie nicht da. Alles was sie wusste, war das auch sie einmal Krebs hatte und Noriko dadurch kennenlernte.
„Ist alles okay bei dir?“, fragte Noriko nachdenklich und musterte sie besorgt.
Mimi ließ den Pinsel sinken und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Bisher hatte sie noch niemanden von der Begegnung mit ihrem Vater erzählt. Selbst ihrer Mutter nicht, die sich schon gewundert hatte, warum ihr Konto wieder freigeschaltet wurde.
Die Bank hatte ihr erzählt, dass es sich um ein Versehen handelte und sie hatte es ohne Umschweife geglaubt. Oder wenigstens akzeptiert. Wahrscheinlich hatte sie nur keine Lust sich mit ihrem Vater auseinander zusetzen.
Doch vor Noriko fiel es ihr so schwer, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie sich noch nicht so lange kannten, spürte sie, dass sie etwas verband.
Sie hatte die Gabe in ihr Innerstes zu sehen und wusste demnach genau, wie sie sich fühlte.
„Ich hatte vor ein paar Tagen mit unserem Vater geredet“, brachte sie schwerfällig über die Lippen.
Noriko blickte sie überrascht an. „Wirklich? Was hat er gesagt?“
„Er hatte unser Konto gesperrt und ich hatte ihn darum gebeten, es rückgängig zu machen.“
„Was? Warum erzählst du mir sowas nicht?“, fragte sie empört und legte ihren Lipgloss, den sie auftragen wollte, beiseite.
Mimi atmete hektisch ein. „Ich konnte es nicht. Meine Mutter war voll fertig, weil sie keinen Job findet und er hat das Konto auch nur vorrübergehend wieder aktiviert.“
„Aber er muss euch doch Unterhalt zahlen!“, warf Noriko entgeistert ein.
„Ja schon, aber er ist nicht dazu verpflichtet das Haus weiter zu finanzieren. Er wohnt ja nicht mal mehr da“, untermalte Mimi verzweifelt und stützte sich auf Norikos Schminktisch ab. „Es läuft alles aus dem Ruder. Irgendwann landen wir sicher auf der Straße.“
„So ein Quatsch“, widersprach sie und legte den Arm um ihre Schulter. Eigentlich hatte Mimi erwartet wieder weinen zu müssen, aber die Tränen blieben aus. Vielleicht hatte sie sich leergeweint und musste warten, bis ihre Tränenreserven wieder gefüllt wurden.
„Es wird sich schon eine Lösung finden. Ich kann mal Etsu fragen, ob ihr Vater noch jemanden sucht.“
Mimi schaute in ihr hoffnungsvolles Gesicht, konnte sich aber nicht vorstellen, dass ihre Mutter bereit war in einer Bar zu arbeiten.
Und das Haus würden sie so oder so, auf Dauer gesehen verlieren. Als Barfrau, oder wie immer man es auch nennen sollte, verdiente man sicher kein Vermögen.
Das wusste selbst Mimi. Doch dieser Abend sollte sich nicht um ihre Probleme drehen. Sie wollte Spaß haben und den anderen nicht die Stimmung ruinieren.
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Im Club angekommen hatten sie sich alle an die Bar verzogen. Yasuo war diesmal auch dabei und plapperte ohne Punkt und Komma, was Mimi irgendwie erheiterte.
Er war ein lustiger wissbegieriger Junge, der gerne alles und jeden filmte. Nur mit Müde und Not konnte Masaru ihn dazu überreden seine heißgeliebte Kamera zu Hause zu lassen, jedenfalls hatte er das erzählt.
Nach und nach trennten sich ihre Wege jedoch kurz. Noriko suchte nach Etsuko, während Masaru mal wieder in den Massen verschwand.
Mimi blieb mit Chiaki und Yasuo alleine zurück. Aus Masaru wurde sie einfach nicht schlau. Heute wirkte er wieder äußerst distanziert, fast schon ein wenig geistesabwesend.
„Stimmt was nicht?“, erklang die Stimme von Yasuo.
Mimi hatte Masaru die ganze Zeit nachgeblickt und noch nicht einmal gemerkt, dass sie von den beiden merkwürdig gemustert wurde.
„Ehm, ich hab‘ mich nur gefragt, wo Masaru immer hingeht“, erklärte sie auf und deutete in die Richtung, in die er verschwunden war.
Chiaki lächelte wissend und hatte die Ellenbogen auf der Theke abgelegt. „Naja, immer wenn wir unterwegs sind, kann er sich mal so richtig ausleben, weißt du?“
„Ausleben?“, wiederholte sie und erinnerte sich daran, dass Noriko etwas Ähnliches erwähnt hatte. Aber Masaru, ein Aufreißer? Das passte nicht zusammen. Sie hatte mittlerweile von ihm einen ganz anderen Eindruck.
Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben, besonders nachdem Chiakis Grinsen immer breiter wurde. Er starrte an ihr vorbei, huschte mit den Augen von A nach B.
Yasuo trank an seiner Cola und schien ohne seine Kamera das Interesse am alltäglichen Leben verloren zu haben.
Mimi runzelte die Stirn und kniff angestrengt die Augen zusammen, bevor sie sich herumdrehte.
„Wo zum Teufel starrst du denn hin?“, fragte sie und blickte sich um.
Sie merkte noch wie sich Chiaki näher zu ihr rüber lehnte. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut und könnte schwören, das Grinsen aus seiner Stimme herauszuhören, auch wenn das unmöglich war.
„Guck mal genauer hin. Dann erkennst du es schon“, lachte er und deutete mit der Spitze seines Kinns in eine bestimmte Richtung.
Sie folgte dem Wink und automatisch klappte ihr der Mund leicht auf. Sie blickte schnurstracks zu Chiaki, der wirklich wie ein Honigkuchenpferd grinste.
„Aber…was?“
Chiaki klopfte ihr leicht auf die Schulter. „Tja was soll man da schon sagen. Er steht eben ganz schön aufs Blasen, allerdings meine ich damit in keine Trompete.“ Er lachte über seinen dämlichen Witz und wandte sich wieder Yasuo zu, der all dem keine Beachtung zu schenken schien.
Mimi war immer noch geschockt, blickte mit geweiteten Augen zu Masaru, der gerade einem Typ, die Zunge in den Hals steckte.
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Sie hatte sich an einen der Tische gestellt und versuchte das eben Gesehene zu verarbeiten. Noriko war immer noch nicht da, während Chiaki mit Yasuo kurz auf die Toilette verschwand. Beide hatten eindeutig zu viel Cola und Bier getrunken, die auf ihre Blase drückten. Mimi hielt ihnen einen Platz frei, den sie vor kurzem erspäht hatte.
Vollkommen in ihre Gedanken versunken, merkte sie gar nicht, dass sich jemand ihr nährte.
„Ist dir nicht langweilig? Mich würde es voll nerven, die ganze Zeit alleine hier rum zu stehen“, ertönte die tiefe Stimme von Masaru.
Mimi schreckte zusammen und merkte, dass er plötzlich neben ihr stand und auf sie herab sah.
„Also, so langweilig ist es gar nicht. Man erfährt zwischenzeitlich interessante Wendungen“, erwiderte sie skeptisch blickend. Sie fragte sich, ob er den Wink verstand.
Er lächelte nur. In seiner Hand hielt er ein volle Flasche Bier.
„Ach, du hast es also mitbekommen.“
„Mehr oder weniger“, sagte sie und presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie jetzt nur sagen? Bisher war sie mit solchen „Problematiken“ noch nicht konfrontiert geworden.
Vielleicht sollte sie ihn einfach darauf ansprechen. Den direkten Weg gehen.
Was sollte schon groß passieren? Mehr als nichts sagen, konnte er wirklich nicht.
„Du stehst also auf Kerle?“, fragte sie unsicher und war fast schon ein wenig überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er sah eher aus, wie der typische Womanizer.
Er lächelte nur und drehte das Bier in seiner Hand. Er zog an der Seite des Etiketts, sodass es sich langsam löste.
„Wie bist du denn darauf gekommen? War es meine feminine Aura oder die Tatsache, dass ich vor kurzem noch die Zunge von dem Kerl dahinten im Hals stecken hatte?“
Die Ironie war kaum aus seiner Stimmer herauszuhören.
Feminine Aura? Er wollte sie wohl verarschen. Bei ihm hatte sie wirklich am aller wenigstens damit gerechnet.
„Tja, ich glaube die Zunge war doch ganz schön eindeutig“, antwortete sie sarkastisch und musterte ihn auffällig.
Seine Wangen waren etwas gerötet und ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen.
„Hättest du damit gerechnet?“
„Nein, so gar nicht“, erwiderte sie gelassen. Gedankenverloren spielte sie an dem Strohhalm ihres Getränkes, hatte allerdings ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet.
Er wirkte auf einmal so locker und unbefangen, so als würden zwei verschiedene Menschen in ihm schlummern.
Er hatte nichts mehr zu ihr gesagt, sondern starrte sie einfach nur an.
Seine grünen Augen trafen ihre. Blicke wurden untereinander ausgetauscht, doch keiner verlor nur ein einziges Wort.
Die Situation war seltsam, dennoch war Schweigen sicherlich nicht die richtige Option. Mimi war gerade im Begriff etwas zu sagen, als die Stimme von Noriko ertönte.
Mimi schwang herum und sah ihre Schwester auf sie zukommen. Sie war nicht allein.
Sie zog ein Mädchen mit pinken Haaren hinter sich her. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit halben Armen.
Aufgeregt blieb Noriko vor den beiden stehen. „So, da bin ich wieder und ich habe sogar Etsu gefunden“, verkündete sie stolz.
Etsuko lächelte und schloss Mimi sofort in die Arme. Etwas überrascht, ließ sie die Umarmung über sich ergehen. Ihre Haare kitzelten ihr leicht in der Nase und dufteten nach Rauch und ein wenig nach Erdbeere.
„Es ist so toll dich endlich mal kennen zu lernen“, säuselte sie und drückte Mimi noch fester an sich, sodass sie schon Angst bekam zu ersticken. „Noriko hat mir schon so viel von dir erzählt. Nur Gutes natürlich“, meinte sie herzlich und ließ sie bei dieser Gelegenheit los.
„Nett dich kennen zu lernen“, erwiderte Mimi verunsichert. Mit so viel Herzlichkeit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie schaute sich Etsuko von oben bis unten an. Ihre pinken Haare erinnerten sie an ihre erste Zeit in Amerika. Mit 13 kam sie auf die Idee sich den ganzen Kopf pink zu färben. Ihre Mutter hatte sie noch gewarnt, doch sie wollte nicht hören. Im Nachhinein bereute sie ihre Haarexperimente zu tiefst, besonders weil ihre Haare darunter sehr gelitten hatten. Mimi war froh, dass sie sie überhaupt nochmal so lang bekommen hatte.
„Ich habe leider nicht so viel Zeit“, räumte Etsuko ein und holte ein Gerät hervor, das aussah wie ein elektronischer Terminkalender. „Die Band hat für heute abgesagt und jetzt muss ich kurzer Hand umdisponieren.“
„Welche Band hattet ihr denn gebucht?“, fragte Noriko neugierig und schielte kurz zu Mimi, die ihren Blick verwirrt auffing.
Etsuko blickte sie kurz an, hämmerte jedoch gleichzeitig auf das Ding ein. „Die aus eurer Schule. Dieser Arsch von Hideaki hat einfach vor ‘ner Stunde abgesagt! Der sollte seine Band besser umbenennen. Ich hätte sogar schon einen Vorschlag für ihn“, grummelte sie und ihre Augen blitzten gefährlich.
„Auf den kann man sich sowieso nicht verlassen“, pflichtete Masaru bei. „Er hat uns beim Orchester auch schon voll oft hängen gelassen. Er hält sich eben für was Besseres, weil sein Vater Musikproduzent ist“.
„Wie heißt seine Band denn?“, wollte Mimi wissen.
„Rhythm full of Shit“, platzte Etsuko hervor.
Masaru schüttelte nur den Kopf und flüsterte ihr den richtigen Namen zu.
„Sense of Rhythm?“, brüllte Mimi und hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund. Jeder kannte diese Band, seitdem sie letztes Jahr einen Preis für die besten Newcomer gewonnen hatten. Mimi hatte sogar einige Lieder von ihnen und war eigentlich hellauf begeistert gewesen. Ihr gefielen die Lieder sogar manchmal besser, als die von den Teenage Wolves.
Sie hätte nicht gedacht, dass der Frontmann auf Norikos Schule ging.
„Und was willst du jetzt machen? Ne neue Band ordern?“
Etsuko schüttelte den Kopf und packte das Gerät beiseite.
„Dafür ist es zu spät“, meinte sie an Noriko gewandt. „Ich werde einfach eine Playlist zusammenstellen und sie abspielen. Papa wollte Shuu überreden heute doch aufzulegen, deswegen soll ich mich um den Rest kümmern.“ Sie verdrehte die Augen, lächelte aber zuversichtlich.
„Ich mache mich dann mal an die Arbeit. Wir sehen uns sicher nochmal“, verabschiedete sie sich herzlich, ging schnurstracks zur Bar und verschwand durch eine Seitentür.
Noriko grinste und drehte sich wieder zu Mimi und Masaru.
„So, und was wollen wir jetzt machen?“
„Ich wäre für tanzen“, schlug Mimi vor und sah, dass Chiaki und Yasuo sich bereits zu ihnen durchschlängelten.
Sie sah kurz zu Masaru, der nur beiläufig mit den Schultern zuckte. Noriko hingegen schien von ihrer Idee begeistert zu sein. Kaum waren Chiaki und Yasuo wieder bei ihnen, steuerten sie auf die Tanzfläche zu. Der Abend war noch jung und es wurde Zeit, die Musik für sich sprechen zu lassen.
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Der Raum war stickig und erste Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihr war heiß, aber dennoch konnte sie nicht aufhören.
Rhythmisch bewegte sie sich zum Beat und ließ sich treiben, wollte der Realität für einen kurzen Moment entfliehen.
Sie tanzte mit Masaru, der sie einmal um die eigene Achse drehte. Sie kicherte, auch wenn es ihr leicht schwindelig wurde. Ihr Hals brauchte dringend eine Erfrischung.
Lachend lehnte sie sich gegen Masaru, stellte sich auf die Zehenspitzen und rief ihm zu, dass sie sich etwas zu trinken holen wollte.
Er nickte nur und ließ sie ziehen. Mimi tapste zur Theke und bestellte sich ein Wasser. Dankend nahm sie es wenige Minuten später entgegen und leerte es innerhalb weniger Sekunden.
Das kühle Nass tat ihr Kehle unheimlich gut, sodass sie sich wieder richtig belebt fühlte und am liebsten gleich weitertanzen wollte.
Sie steuerte zu Masaru und Yasuo, der eher herumhampelte statt tanzte. Doch plötzlich wurde sie aufgehalten. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und wirbelte herum.
Fragend blickte sie in das Gesicht von Chiaki, dessen besorgter Blick sofort herausstach.
„Hast du Noriko gesehen? Ich suche sie schon seit ‘ner halben Stunde!“
Mimi kratzte sich am Hinterkopf und dachte nach. Vor fünfundvierzig Minuten wollte sie zur Toilette gehen, aber so lang konnte doch wohl keine Schlange sein?!
„Wo hast du denn gesucht?“, schrie sie förmlich, um gegen die Lautstärke anzukommen.
„Ich war an der Bar, auf der Tanzfläche und sogar hinten am Sitzbereich“, zählte er hilflos auf. „Ich konnte sie nirgends finden.“
Komisch, vielleicht befand sie sich doch noch auf der Toilette. Mimi beugte sich näher zu ihm hin und sagte ihm, dass er weiterhin die Augen offen halten sollte und sie auf dem Damenklo nachsehen würde. Daher quetschte sie sich durch die Massen durch und merkte relativ schnell, dass sich vor dem Toilettenbereich eine lange Schlange gebildet hatte.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie an ein Mädchen gewandt, dass wütend mit dem Fuß aufstampfte.
„Was hier los ist? Die eine Toilette ist vollgekotzt, ‘ne andere verstopft und eine wird blockiert“, nörgelte sie und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Es kann doch nicht sein, dass nur eine scheiß Toilette funktionstüchtig ist.“
„Eine ist blockiert?“, wiederholte sie interessiert. Das Mädchen nickte nur.
Mimi rief ihr ein knappes „Danke“ entgegen und quetschte sich weiter durch. Von vielen hörte sie wüste Beschimpfungen, dass sie sich hinten anstellen sollte, doch das war ihr egal. Sie war sich sicher, dass Noriko die Toilette besetzte.
Vielleicht hatte sie zu tief ins Glas geschaut und übergab sich da drinnen. Mimi konnte deswegen ganz sicher keine Rücksicht auf die wütende Menge hinter sich nehmen.
Selbstsicher stolzierte sie zu der versperrten Kabine und klopfte energisch dagegen.
„Noriko, bist du da drinnen?“
Keine Antwort.
Mimi klopfte wieder. „Ich bin’s Mimi. Mach‘ bitte auf!“
Doch nichts geschah. Misstrauisch musterte sie die Tür und überlegte kurz, ob sich vielleicht jemand anders dahinter verbarg.
Sie bückte sich leicht, wollte sich aber nicht auf den Boden knien, da er leicht unter ihren Schuhen klebte. Relativ schnell erkannte sie jedoch ihre Schuhe und war sich sicher, dass es nur Noriko sein konnte.
Wieder schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür. „Noriko, ich weiß, dass du es bist! Ich habe deine Schuhe erkannt!“
Sie presste ihr Ohr gegen die Tür, als sie auf einmal ein leises Wimmern vernahm.
„Mach einfach die Tür auf“, sagte sie sanft, in der Hoffnung von ihr eine Rückmeldung zu erhalten.
Doch nichts dergleichen geschah.
„Boah, ich muss wirklich mal auf’s Klo! Sag‘ deiner Freundin das sie rauskommen soll!“, forderte sie jemand von hinten auf.
Mimi drehte sich zu ihr und zuckte nur mit den Achseln. Noriko konnte sicher nicht aufstehen, oder übergab sich noch. Plötzlich kam ihr die Idee Etsuko nach dem Schlüssel zu fragen und drückte sich durch.
„Hey wo willst du hin?“, blaffte ihr eine der Frauen nach.
„Ich bin gleich wieder da“, versicherte Mimi der Menge und machte sich auf die Suche nach Etsuko.
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„Und sie hat sich in einer Toilette barrikadiert?“, fragte sie abermals und hielt die Schlüssel in ihrer Hand, die leise vor sich her klimperten.
„Ja und sie reagiert nicht. Ich glaube, sie übergibt sich da drin“, schlussfolgerte Mimi und drückte sich an den Massen vorbei.
Die Schlange schien nicht weniger zu werden. Vor ihnen standen wütende junge Frauen, die sich mehr als nur einmal über die Klosituation aufregten.
„Wie die Hyänen“, kommentierte Etsuko augenverrollend und stand im Sanitärbereich. „Aus dem Weg, ich brauche Platz.“
Sie ging zielstrebig zu der versperrten Toilettenkabine, dicht gefolgt von Mimi, auf deren Stirn sich eine Sorgenfalte gebildet hatte.
„Nori, hier ist Etsuko! Geht´s dir gut?“
Wieder keine Reaktion.
Mimi stand mit verschränkten Armen neben ihr. „Sie gibt schon wieder keine Antwort! Los schließ auf!“
„Ja, Moment“, grummelte sie und entriegelte die Tür. Sie sah kurz zu Mimi, als sie in die Kabine eintrat und den Zugang versperrte.
Sie blieb starr stehen, Mimi stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte etwas zu erkennen.
Vergeblich. Weder Etsukos Gesicht, noch Noriko konnte sie erblicken.
„Oh mein Gott“, hörte sie Etsuko sagen und wirkte sofort alarmiert.
„Was ist denn passiert?“, wollte Mimi wissen und drückte sich näher an sie heran.
Etsuko schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und ließ die Schlüssel fallen.
„RUFT SOFORT EINEN KRANKENWAGEN!“, rief sie aufgebracht in die Masse und stürmte in die Kabine.
Mimis Augen weiteten sich und auch sie folgte ihr daraufhin hinein. Doch die Kabine war zu eng, sodass sie an der Tür stehen blieb und das Szenario aus der Ferne beobachtete.
Sie wollte eigentlich weiter gehen, doch ihre Füße waren wie festgewachsen. Ungläubig blickte sie zu Noriko, die sich tatsächlich in der Kabine befunden hatte.
Sie saß neben dem Klo, wirkte auf sie kaum ansprechbar und hatte auf den Boden gekotzt. Auch auf ihrem Shirt waren Spuren des Erbrochenen zu finden und Mimi hielt sich augenblicklich die Hand vor den Mund. Angewidert drehte sie ihnen den Rücken zu und erkannte die entsetzten Blicke der anderen.
„Ich habe eine Krankenwagen gerufen“, rief eine der Frauen hysterisch und hatte noch das Handy am Ohr. „Sie sagen, dass sie in zehn Minuten da sein werden!“
Mimi nickte nur beiläufig und fühlte sich selbst fast wie ohnmächtig. Sie drehte sich wieder zu Etsuko, die verzweifelt versuchte Noriko bei Bewusstsein zu halten.