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Zwischen den Welten

Das Mary Sue-Projekt
von
Koautor:  Erenya

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ankündigung der Göttin:

»Liebe Shicchi, ich hoffe du hattest Spaß bei der Party, denn nun wird es ernst. Die Schonfrist ist rum, du hast alle wichtigen Charaktere dieser Geschichte kennengelernt und die Welt fängt an, ihre kalten Fingerchen nach dir auszustrecken~ (nicht dass Psycho-Ukyo das nicht auch schon getan hätte *hust*)«

Wuhu, jetzt geht's richtig los, Leute! Komplett anzeigen

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Spuk und Chaos

Es ist nach acht, als sich die Party langsam gen Ende neigt. Die Ersten von uns machen sich zum Aufbruch bereit und verabschieden sich von dem Rest. Das ist meine Chance, mich ihnen anzuschließen. Endlich. Seit meinem Absturz wünsche ich mir nichts sehnlicher als den Rückzug.

Mein Blick wandert hinüber zu Ukyo. Ich warte nur auf die passende Gelegenheit, um ihn über meinen Heimkehrwunsch zu unterrichten. Wenn möglich, ohne dass es jemand mitbekommt. Ukyo hat sich gewiss nicht grundlos so bemüht, unsere Beziehung vor den anderen geheimzuhalten.

„Hanna, kommst du nicht mit?“, richtet Toma seine Frage an sie. Ebenso wie Shin hat er sich die Jacke übergezogen, bereit, den Heimweg anzutreten. „Es ist schon spät. Shin und ich müssen morgen früh aus den Federn. Es wäre besser, wenn wir alle zusammen gehen, damit du ebenfalls ausreichend Schlaf bekommst.“

„Schon?“, entgegnet sie leise.

Toma ermuntert sie mit einem Lächeln. „Es war ein langer Tag. Auch wenn du wieder genesen bist, solltest du nicht gleich wieder bis an deine Grenzen gehen. Du willst doch nicht rückfällig werden?“

„Und wieder bemutterst du sie.“

„Na hör mal“, wendet sich Toma nach Shin um. Sofern ihn der Vorwurf getroffen hat, so lässt er sich zumindest nichts anmerken. „Soll ich sie etwa ganz allein hier zurücklassen? Wir haben denselben Weg und –“

„Spar’s dir.“ Shin zollt ihm keine weitere Beachtung, stattdessen geht er auf Hanna zu. Vor ihrem Platz bleibt er stehen und taxiert sie mit strengem Blick. „Hör zu, ich habe morgen Unterricht und kann’s mir nicht leisten, unausgeruht dort aufzuschlagen. Wenn du beschließt, länger hier abzuhängen, gehst du allein nach Hause. Ich mache keine Ausnahme für jemanden, der der Meinung ist, er kann sich diese Fahrlässigkeit mit seinem mittelmäßigen Notendurchschnitt leisten.“

„Shin!“, entrüstet sich Toma an Hannas Stelle. „Diese Haltung mag für dich gelten, aber schließ mich da nicht mit ein. Ich werde sie garantiert nicht um diese Uhrzeit allein durch die Straßen gehen lassen.“

Shin stößt ein Seufzen aus. „Toma, ich verstehe nicht, wieso du ihren Dickkopf immer wieder unterstützen musst. Denkst du, damit ist ihr geholfen?“

„Ich unterstütze es nicht, wenn sie sich willkürlich in Gefahr begibt. Aber ich maße mir auch nicht an, ihr Vorschriften zu machen. Schon gar nicht, wie du es zu tun pflegst, Shin.“

Ich bin geneigt, dazwischenzugehen. Einzig mein klarer Menschenverstand mahnt mich, es zu unterlassen. Als eine Außenstehende habe ich mich hier nicht einzumischen. Ich weiß das und es frustriert mich ungemein

„Wie auch immer, ich gehe jetzt jedenfalls. Was ihr macht, ist mir egal“, beendet Shin die Diskussion. Schon dreht er sich herum, um seine Worte in die Tat umzusetzen.

Hanna wirft einen unsicheren Blick in Ukyos Richtung. Ich beobachte den Austausch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Mir dämmert, woher ihr Zögern rührt.

„Du solltest wirklich gehen“, redet Ukyo sanft auf sie ein. Sein Lächeln wirkt wenig überzeugend auf mich. „Die beiden haben recht. Es ist zu gefährlich, zu dieser Stunde allein durch die dunklen Straßen zu gehen. Toma und Shin-kun würden gut auf dich aufpassen und sicher nach Hause bringen.“

„Aber … ich würde gern noch ein wenig länger reden“, erklärt sie leise. Ihre Augen sind voller Bedauern, als sie den Blick zu Boden senkt.

Ach, verflixt!

„Ich werde auch so langsam aufbrechen“, verkünde ich und erhebe mich von meinem Platz. So gut ich kann, lächle ich in die Runde. „Wartet ihr noch kurz? Ich hole nur eben meinen Mantel, danach würde ich mich gern noch von euch allen verabschieden.“

Ich streife Ukyos fragenden Blick. Ohne Weiteres wende ich mich ab und entferne mich in Richtung Personalbereich.

„Shizana?“ Es war abzusehen, dass Ukyo mir folgen würde. Sehr gut, genau darauf hatte ich gehofft. Wir sind allein im Pausenraum, abgeschieden und ungehört von den anderen. „Du möchtest nach Hause? Soll ich –“

„Jepp, ich werde nach Hause gehen“, falle ich ihm ins Wort. Ich schließe meinen Spind, meine Tasche in der Hand, und drehe mich zu ihm herum. „Das gilt für mich. Hanna scheint traurig zu sein, dass sie schon los muss. Vielleicht solltest du sie noch ein Stück begleiten.“

„Was? Aber …“

„Du bist mir nicht verpflichtet“, erkläre ich und lächle. „Ihr habt nicht oft die Gelegenheit für Gespräche, oder? Ich will euch da echt nicht im Wege stehen, und andere sollen es auch nicht.“

Ukyo schweigt. Den tiefsitzenden Falten auf seiner Stirn ist abzulesen, dass er mit Zweifeln ringt. Woher auch immer sie rühren mögen.

„Das ist keine gute Idee.“

„Wieso denn nicht?“, frage ich vorsichtig. Der bedrückte Unterton in seiner Stimme ist mir nicht entgangen. „Hast du nicht bemerkt, wie fröhlich sie war? Sie hatte Spaß, das hat man gesehen. Ihr habt beide so entspannt ausgesehen.“

„Ich sollte nicht mit ihr allein sein. Es ist zu gefährlich … Sie ist in meiner Nähe nicht sicher.“

Mein Rücken versteift sich. Ich weiß leider, was er meint. Seine Sorge ist vielleicht begründet, aber ich weigere mich, daran festzuhalten.

„Du weißt schon, wie du dich gerade darstellst? Wie ein Perverser, der im Dunkeln sofort über sie herfällt.“

„Nein, so etwas würde ich nie tun!“, fährt er auf. Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Schon im nächsten Moment schwankt seine Entschlossenheit aufs Neue, als könnte er sich irren.

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sage ich sanft. Mit zwei Schritten überwinde ich die Distanz zwischen uns, bis ich vor ihm stehe. Tröstend lege ich meine Hand an seinen Arm und lächle zu ihm hoch. „Toma ist doch noch bei euch. Ich bezweifle, dass er Hanna allein nach Hause gehen lässt.“

Sein Blick begegnet meinem flüchtig, bis er mir zur Seite ausweicht.

„Na, nun komm schon“, ermutige ich ihn weiter. „Ich an deiner Stelle würde diese Gelegenheit besser nicht verstreichen lassen. So selbstlos bin ich nicht alle Tage.“

Er stößt ein leises Seufzen aus. Gleichzeitig spüre ich, wie sich seine Haltung entspannt.

„Und du?“

Endlich, ein erstes Lächeln. Wenn auch zögerlich und unsicher, aber immerhin.

Ich ziehe meine Hand zurück. „Mach dir um mich keinen Kopf“, entgegne ich optimistisch. „Ich kenne die Strecke inzwischen, auch im Dunkeln. Mir ist bisher nie was passiert, das wird sich heute gewiss nicht ändern.“

„Bist du dir da sicher?“

„Klar! Ich kann dir ja ‘ne SMS schreiben, sobald ich zu Hause bin. Dann weißt du, dass alles okay ist.“

„Das würde mich sehr beruhigen.“

„Dann ist es abgemacht.“

Sein Lächeln wird sanfter. „Danke.“

„Nicht dafür.“

 

Hanna und Toma haben sich zum Aufbruch bereitgemacht, als ich ins Café zurückkehre. Shin ist dem Anschein nach gegangen. Zumindest entdecke ich ihn nirgends, was nur diesen Schluss zulässt.

Mine und Sawa sind schon vor einiger Zeit losgezogen. Sawas Eltern haben die beiden Mädchen abgeholt, das habe ich am Rande mitbekommen. Bleiben nur noch wir vier, Ikki und Kento. Was mit Waka ist, weiß ich nicht. Von ihm fehlt schon seit einiger Zeit jegliche Spur, was niemanden außer mir zu kümmern scheint. Wenn die anderen nicht in Sorge ausbrechen, so sage ich mir, brauche ich das wohl auch nicht. Hoffentlich liegt er bereits im Bett und ruht sich aus.

Wie unter uns abgemacht, bietet Ukyo Hanna und Toma seine Begleitung an. Ich gebe zu, nicht erwartet zu haben, wie unkompliziert sich das Ganze entwickelt. Im ersten Moment ist Toma zwar überrascht, aber er hinterfragt es nicht und zeigt sich locker. Für Hanna scheint die Überraschung geglückt zu sein. Ihr erfreutes Lächeln bestärkt mich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Allein dieser Anblick ist es mir wert, in meinem Beschluss mit dem Gefühl der Einsamkeit gerungen zu haben.

 „Also dann, kommt gut nach Hause.“

Draußen vor dem Meido steht unsere Gruppe versammelt. Mit Tomas Zeichen zum Aufbruch reichen sich die Jungs untereinander die Hand, schlagen ein oder verabschieden sich mit Worten. Man gratuliert sich gegenseitig zur guten Arbeit und wünscht einander einen sicheren Heimweg.

Ebenso hält es Hanna, als sie lächelnd an mich herantritt. Ich umarme sie vorsichtig zum Abschied, ihr und den Jungs alles Gute wünschend. Ukyo begegnet mir lächelnd, was es mir schwer macht, von einer Umarmung abzusehen. Ich vermisse ihn jetzt schon, so dämlich das auch ist. Fast bereue ich, ihn Hanna überlassen zu haben. Aber es war richtig. Es ist gut so. Gott, wie zwiegespalten kann man sein?

Unsere Gruppe teilt sich auf. Mein Weg liegt in der entgegengesetzten Richtung zu Hanna und den Jungs. Ich atme tief durch und seufze lang, wobei ich mich ermahne, nicht so verdammt niedergeschlagen zu sein.

„Was ist los? Du seufzt so schwer.“

Ich schrecke auf bei der Stimme, die mir viel zu nah ist. Ich habe nicht erwartet, noch einmal Gesellschaft zu bekommen. Geschweige denn, dass mir jemand gefolgt sein könnte.

„Gott, Ikki! Erschreck mich nicht so!“

„Oh, bitte entschuldige. Das lag nicht in meiner Absicht.“

„Schon gut.“

Fest presse ich mir die Hand an die Brust. Mein Herz hämmert wie wild. Ich kann das wilde Klopfen noch durch meinen Mantel spüren. Und ausnahmsweise liegt das nicht daran, wer hier gerade bei mir steht.

„Was machst du hier? Und … wo ist Kento?“ Ich hätte erwartet, dass Ikki in Begleitung seines besten Freundes ist. Doch ein prüfender Blick über meine Schulter zeigt, dass von dem hochgewachsenen Genie weit und breit jede Spur fehlt. „Seid ihr nicht immer zusammen? Habt ihr nicht denselben Heimweg?“

„Stört dich meine Gesellschaft?“

Ich bin verwirrt. Versucht er mir auszuweichen oder verfolgt er eigene Absichten?

„Nein, nicht direkt.“

„Das klingt nicht sehr überzeugt, hm?“, bemerkt er sanft.

Argh, dieses Lächeln! Und dann auch noch den Kopf schief legen. Ja nee, ist klar. Nicht fair!

Ich richte meinen Blick starr nach vorn. Mittlerweile ist es nicht mehr der Schrecken, warum es in meiner Brust so poltert. „Doch, es ist okay. Ich bin nur überrascht, das ist alles.“

„Hätte ich vorher gewusst, dass du heute ohne Geleitschutz bist, hätte ich mich dir früher angeboten.“

Mmh, mir »angeboten« … Nein, Shizana, aus! Verkneif’s dir!

„Es ist lange her, dass wir den Weg zusammen gelaufen sind.“

Huh?

Fragend sehe ich zu ihm auf. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich begleitet? Mist, hätte ich das nur eher gewusst! Habe ich mich jetzt verraten?

Ich richte meinen Blick nach vorn. In meinem Kopf gehe ich verschiedene Möglichkeiten durch, wie ich auf seine Bemerkung bestmöglich reagieren soll. Aber was mir auch einfällt, nichts davon erscheint mir unverfänglich genug.

„Bedauerst du es?“

Ikkis Frage erobert meine Aufmerksamkeit zurück. „Hm, was? Ach so. Ja, es ist schon ein wenig schade. Manchmal ist es schön, nach der Arbeit noch ein wenig reden zu können“, sage ich und hoffe, dass ich nicht zu weit danebengetroffen habe.

Meine Antwort lässt ihn lächeln. „Ja, das ist wahr. Sollen wir dann ein wenig reden? Was hast du Shin-kun denn Schönes geschenkt?“

 

Mit dem Verlauf unseres Gesprächs fällt es mir leichter, mich in Ikkis Gegenwart zu entspannen. Er gibt mir keine Gelegenheit, über irgendwelche unangenehmen Dinge nachzudenken. Es kommt vor, dass er mich zum Lachen bringt. Für diese Zeit, die wir unseren Weg gemeinsam fortsetzen, gibt es nichts, was mich bekümmert. Alles ist gut so, wie es ist.

An der letzten Straßenkreuzung meiner Strecke bleiben wir stehen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir einen so großen Teil des Weges gemeinsam haben. Von hier aus sind es keine zehn Minuten mehr bis zu meinem Apartment.

„Ich nehme an, du möchtest nicht, dass ich dich bis zu deinem Haus begleite?“, mutmaßt Ikki an mich gewandt. Ich bin nicht sicher, ob er mit dieser Frage auf eine Bestätigung oder Erlaubnis hinaus möchte.

 „Ich nehme an, die Antwort kennst du“, gebe ich spielend zurück.

Er entlässt darauf ein leises Seufzen. „Naja, ich hege noch immer die Hoffnung, dass sie sich eines Tages ändern wird.“

Wir sehen einander an. Die dunkle Sonnenbrille vor seinen Augen macht es mir möglich, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann, ohne den Blickkontakt fürchten zu müssen.

„Vielleicht“, sage ich leise. Ginge es nach mir, hätte ich nichts gegen sein Angebot einzuwenden. Allerdings wird es einen Grund gehabt haben, warum mein vorheriges Ich bisher abgelehnt hat. Es ist besser, nichts zu überstürzen, solange ich nicht ausreichend Informationen gesammen habe.

„Das Vielleicht einer Frau gehört zu den gefürchtetsten Feinden eines Mannes.“

Seine Worte lassen mich schmunzeln. „Ach ja? Und wieso?“

Er lächelt. „Weil es für ihn nie von Gewissheit ist, ob es am Ende Sieg oder Niederlage bedeutet.“

„Hm, das ist schlimm. Schon fies, oder?“

„Du solltest nach Hause gehen“, spricht er sanft. „Bevor ich auf die Idee komme, unsere Unterhaltung im Spiel fortzusetzen.“

Diese Aussage lässt mein Herz schneller schlagen. Keine Ahnung, was sie zu bedeuten hat. Aber in meinem Kopf schließen sich so viele Möglichkeiten, worauf das Ganze hinauslaufen könnte.

„Na schön. Dann danke ich dir für deine Begleitung und das nette Gespräch. Es tat gut, noch einmal den Kopf freizubekommen.“

„Keine Ursache, das gebe ich gern zurück. Du findest dich ab hier zurecht?“

„Klar. Ich weiß, wo ich bin und es ist auch nicht mehr weit.“

„In Ordnung. Dann komm sicher nach Hause. Gute Nacht.“

„Danke, du auch. Gute Nacht.“

Er hebt die Hand zum Abschied, bevor er sich abdreht und der Straße geradeaus folgt. Mein Weg führt mich weiter nach rechts. Noch zwei Straßen, dann habe ich es geschafft.

Während ich die letzte Strecke zurücklege, denke ich über mein Gespräch mit Ikki nach. Im Nachhinein frage ich mich, ob es möglich ist, dass er gerade mit mir geflirtet hat. Überhaupt fällt mir auf, dass es das zweite Mal heute war, dass er die Initiative ergriffen hat. Erst unsere Unterhaltung im Pausenraum, dann der Heimweg … Und was war das vor einigen Tagen mit diesem seltsamen Anruf? Hat das irgendetwas zu bedeuten? Besteht Grund, dass ich mir darüber ernsthafte Gedanken machen sollte?

Je mehr ich über diese Dinge nachdenke, desto mehr zieht es mich hin und her. Auf der einen Seite bin ich so freudig nervös, dass ich die ganze Zeit breit grinsen und laut quieken möchte. Auf der anderen Seite gibt es mir zu bedenken. So sehr, dass alles in mir auf Abwehrhaltung geht. Wenn das doch alles nur fiktiv wäre …

Ich bin froh, als ich das Haus endlich erreiche. Ich lasse all meine letzten Gedanken vor der Tür, als diese hinter mir ins Schloss zurückfällt.

Im Flur meines Apartments schalte ich das Licht ein. Ich entledige mich meines Mantels und der Schuhe, bevor ich das Wohnzimmer betrete. Nach wenigen Schritten bleibe ich stehen, um den Moment kurz auf mich wirken zu lassen.

Stille empfängt mich. Der helle Raum wirkt groß und leer. Hier ist so verdammt viel Platz. Viel zu viel für eine einzelne Person. Ich wünschte, Ukyo wäre jetzt hier.

Ich seufze und drehe mich der Küche zu. Eigentlich sollte ich es inzwischen gewohnt sein. Ich hegte den Glauben, ich sei es bereits. Wie ich feststelle, war das ein Trugschluss.

Mechanisch bereite ich alles für eine Tasse warmen Cappuccino vor. Das gleichmäßige Rauschen des Wasserkochers lädt meine Gedanken ein, sich ein wenig im Raum zu bewegen.

Wie lange ist es jetzt her? Sonntag, heute ist der sechste Tag. Nach morgen wird es eine Woche sein, die ich jetzt schon in dieser Welt bin. Und was habe ich seither erreicht? Was habe ich bis jetzt erfahren? – Nichts, was mir Aufschluss darüber geben könnte, wie ich wieder nach Hause komme. Oder warum ich hier bin, um den Anfang nicht zu überspringen.

Wie geht es ihnen wohl? All meinen Liebsten zu Hause, die mir am Herzen liegen. Geht es ihnen gut? Wurde mein Verschwinden inzwischen bemerkt? Werde ich vermisst? Hat schon jemand die Polizei verständigt? Werde ich meinen Job noch haben, wenn ich jemals nach Hause zurückgekehrt bin?

Die aufgehitzte Keramik wärmt meine kühlen Hände. Auf dem Weg in Wohnzimmermitte nähre ich von dem süßen Duft, der mir in die Nase steigt. So vertraut, fast tröstlich. Wenigstens ein bisschen.

Vorsichtig lasse ich mich auf das weiche Couchpolster sinken. Mit einer Hand angle ich nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Egal was, solange jemand der Stille den Kampf ansagt.

Neben mir lasse ich die Tasche sinken, die ich bis eben über der Schulter getragen habe. Ich hole mein Handy heraus und wähle mich in die SMS-Option. Keine neuen Nachrichten. Na, soll mir recht sein. Vielleicht hat es Mister oder Misses Wonder endlich aufgegeben, den Mysteriösen zu spielen.

Ich verfasse eine kurze Nachricht an Ukyo: »Bin heil zu Hause angekommen. Falls wir uns nicht mehr sehen, wünsche ich dir eine gute Nacht.« Den letzten Part lösche ich anschließend, ehe ich die SMS versende. Vielleicht ist er noch bei Hanna. Nicht auszudenken, was wäre, wenn sie einen solchen Satz zu sehen bekäme. Sicher ist sicher.

Im Fernsehen läuft ein Adventure-Film, den ich ohne jegliches Interesse verfolge. Abwesend nippe ich an dem süßen Warmgetränk, nicht fähig, mit meinen Gedanken im Raum zu bleiben.

Oh, was gäbe ich jetzt für ein warmes, weiches Bündel auf meinem Schoß. Für das sanfte Vibrieren unter meiner Hand. Dem leisen Schnurren in meinen Ohren. – Ich vermisse sie, meine Katze. Mein Baby. Ich vermisse sie so sehr.

Ein schweres Gefühl breitet sich in mir aus. Schleicht meine Kehle hinauf und hinterlässt dort einen dicken, anschwellenden Knoten. Meine Augen fühlen sich heiß an. Mein unklarer Blick verschwimmt.

Was mache ich hier nur? Das ist doch alles nicht real. Hier ist nicht der Ort, wo ich hingehöre. Ich will nach Hause. Aber wie? Ich will einfach nur nach Hause …

 

Ich bewege mich durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Wenige Menschen sind hier unterwegs, wie immer. Jedes Geschäft, jedes Schaufenster ist mir vertraut. Der Marktplatz ist leer, der Springbrunnen zu dieser Jahreszeit nicht im Betrieb. Ich ziehe an allem vorbei, desinteressiert und in meiner Musik versunken.

Mitten auf dem Rathausplatz bleibe ich stehen. Mit einer Hand krame ich in meiner Manteltasche, um den MP3-Player auszuschalten. Da spüre ich, wie mir jemand von hinten gegen die Schulter tippt.

„Entschuldigen Sie?“, höre ich die mir unbekannte Frau sagen, gerade als ich die Stöpsel aus meinen Ohren löse. „Sagen Sie, ist das Ihre Katze?“

Ich folge ihrem Fingerzeig. Hinter mir erkenne ich das zierliche Tier, das auf tapsigen Pfoten und mit freudig aufgestelltem Schweif auf mich zueilt.

„Mausi, was machst du denn hier?“

Ich drehe mich herum und gehe in die Hocke. Wie immer begrüßen wir uns, indem sie auf die Hinterbeine geht und ihren Kopf gegen meine Handfläche stößt. Mit ihrem hohen Maunzen entlockt sie mir ein Lächeln, wie jedes Mal.

„Du bist mir ‘ne irre Katze, weißt du das? Bist du mir von zu Hause bis hierher gefolgt?“ Ich hatte das immer befürchtet, doch zum Glück war es nie passiert. Bis jetzt. „Oh Mann, Kira, ich fass‘ es nicht. Du bist wirklich mehr Hund als Katze, hm? Was mache ich denn jetzt mit dir?“

Ich richte mich zurück in eine aufrechthalte Haltung. Kira streift um mein Bein herum, ihr Schnurren laut verkündend. Unschlüssig sehe ich die Einkaufsstraße hinunter, dann wieder nach vorn. So kann ich nicht ins Einkaufcenter gehen. Aber gehe ich mit Kira nach Hause, habe ich keine Lust, im Anschluss wieder herzukommen.

Irgendwo hinter mir höre ich Kinderlachen. Irgendwelche Kids rennen an mir vorbei und veranstalten dabei solchen Lärm, dass Kira die Flucht ergreift.

„Passt doch auf!“, rufe ich den Rotzlöffeln nach. Müssen die auch ausgerechnet jetzt am Taubenjagen ihren Spaß finden? Na, herzlichen Dank auch. Jetzt habe ich Kira ganz aus den Augen verloren.

Von irgendwoher höre ich einen hohen Aufschrei. Dann das schwerfällige Bremsen eines Busses. Sofort trifft mich die eisige Vorahnung, bevor ich irgendetwas realisiere.

„NEIN!!“ Ich stürze zur Unfallstelle. Bis auf die andere Seite der grauen Steinpflasterstraße ist ihre kleine Gestalt geschleudert worden. Ich falle auf die Knie, strecke meine Hände nach dem zierlichen Körper aus. Behutsam hebe ich ihn auf meinen Schoß. Nichts regt sich.

„Nein … Nein, nein, nein! Kira!!“ Mir strömen die Tränen über die Wangen. Meine Finger liegen in dem weichen, schwarzen Fell. Darunter tut sich nichts. Keine Vibration, kein Zusammenziehen, keine Bewegung. Kein Miauen, dabei müsste sie unsagbare Schmerzen haben.

Ich erhasche einen Blick auf den weißen Bus. Im langsamen Tempo fährt er an mir vorbei. Dieses verfluchte Monsterteil! Dieser dämliche Fahrer! … Kento?

„Kira! Kira! Verdammt, wieso hilft mir denn keiner?!“

Ich schreie in die Menge. Wütend, verzweifelt. Mein Körper bebt. Meine Augen sind chancenlos gegen die Fluten. „Verdammt …!“ Ich kann nichts tun, als diesen schmächtigen Körper an mich zu drücken. Der metallische Geruch sticht mir unangenehm in die Nase, trotzdem vergrabe ich mein Gesicht tief in dem weichen Fell.

Ich zücke mein Handy. Hilfe, ich brauche Hilfe! Sofort!

„Hey Kleines, was gibt’s?“

„An… Kira!“, schluchze ich meinem besten Freund ins Telefon. „Kira … sie wurde überfahren. Gerade eben, vor meinen Augen. Bitte, hilf mir!“

„Was zum …? Bleib wo du bist, ja? Ich komme zu dir, so schnell ich kann!“

Ich nicke und lege auf. Die Tränen wollen nicht versiegen.

Wieso? Wieso ist das passiert? Wieso bist du nicht zu Hause geblieben, du dumme Nuss?!

Mit aller Kraft rapple ich mich auf die Beine, in meinen Armen der leblose Körper meines Mädchens. Ich kann nicht warten, sie braucht sofort Hilfe! Ich durchsuche die Gegend, bis mir ein blonder Haarschopf in die Sicht gerät. Dieser prollige Mantel, diese Statur dazu … Ich habe keinen Zweifel.

„Luka!“ Stolpernd eile ich zu ihm hinüber. „Luka, bitte …! Ich brauche Hilfe! Meine Katze, sie ist …!“

Zu meinem Glück bleibt er stehen. Wie in Zeitlupe dreht er sich zu mir herum und ich blicke in ein Paar stechendgrüne Augen. Eiskalt und zurückweisend. Wieso?

„Luka, bitte …“, flehe ich ihn an. Wortlos dreht er sich ab und verschwindet unter den Passanten.

Von irgendwo dringt ein weiterer Aufschrei. Dann noch einer, und noch einer. Es wird plötzlich hektisch um mich herum. Menschen rennen in Panik an mir vorbei. Verunsichert sehe ich in alle Richtungen auf der Suche nach der Ursache.

Es läuft mir frostig den Rücken hinunter, als ich das brummende Geräusch einer Kettensäge vernehme. Erst entfernt, dann schnell näher kommend. Ich höre das kichernde Lachen von Ukyos anderem Ich, so nah, und doch nicht zu sehen.

„Komm mit!“ Jemand greift brutal nach meinem Handgelenk und zieht mich mit sich. Ich erkenne versetzt, dass es Toma ist, der gehetzt zu mir zurücksieht. „Nun komm schon! Weg hier!“

Ich folge ihm wie in Trance. Die Straße entlang, um eine Ecke, bis wir glockenläutend durch eine Tür treten. Mich empfängt der Duft frisch gebackener Brötchen und aufgebrühten Kaffees.

„Ich hätte gern zwei Abendbrötchen, ein Mohnbrötchen und zwei Stück Altdeutschen Kirschkuchen.“

Ein Mann um die Enddreißiger äußert seine Wünsche, kaum dass ich hinter dem Verkaufstresen zum Stehen gekommen bin. Hektisch sehe ich mich um, prüfe die Brötchenkörbe hinter und die Kuchenplatten vor mir. Gewohnt mache ich mich an die Arbeit, das Gewünschte zusammenzupacken.

„Kann ich auch mit PayPal zahlen?“

Ich blinzle ihm irritiert entgegen, als ich die Ware auf die Überreiche lege. „Wir nehmen nur Barzahlung“, erkläre ich.

„Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen?! Beim letzten Mal sagten Sie mir noch, dass ich wieder mit PayPal zahlen kann, wenn ich mein Konto einmal aufgeladen habe!“

„Ähm, ja … Aber das allein reicht nicht. Sie müssen auch Einkäufe aus dem Guthaben heraus tätigen.“

„Was ist denn das für ein Saftladen?! Wo steht das in Ihren AGBs? Ich will sofort Ihren Vorgesetzten sprechen!“

„Wozu wollen Sie denn jetzt meinen Vorgesetzten sprechen?“

„Ihr arbeitet doch mit meinem Geld!“

Ich seufze entnervt. Das schon wieder … „Nein, wir sind keine Bank.“

„Das wird mir jetzt echt zu bunt. Sie hören von meinem Rechtsanwalt!“ Er reißt die Tüte von der Ablage, schon stürzt er aus dem Laden.

Kaum ist er weg, klingelt neben mir das Telefon. Mit einem weiteren Seufzen hebe ich das Headset vom Tresen und setze es mir auf den Kopf. Ich entspanne meine Schultern, bevor ich die Stummschaltung am Telefon deaktiviere. „Herzlich willkommen bei Ihrem –“

„Mitsu-ke-ta~¹“, surrt es düster-verheißungsvoll durch die Kopfhörer. Ich schaudere. Wie hat er mich so schnell gefunden?

Panisch lege ich auf und reiße mir das Headset vom Kopf. Ein Blick zum Fenster lässt mich gefrieren. Dort steht er, Ukyo. Das Handy an seinem Ohr, ein finsteres Grinsen auf seinem Gesicht, mich fest im Visier.

Ohne weiter nachzudenken flüchte ich in den hinteren Vorbereitungsraum. Wie erwartet finde ich dort eine Hintertür, durch welche ich nach draußen auf die Straße breche. Flüchtig sehe ich mich um, bis ich eine Person entdecke, die einige Meter weiter gegen die Wand lehnt. Sein Gesicht wird von dem Schirm eines schwarzen Cappys verdeckt, dessen Aufdruck einen großen, gelben Stern zeigt. Ich erkenne den Mann. Es ist der Fremde, der einst mit Ukyo im Café aufgetaucht ist. Er sieht direkt in meine Richtung.

„Hey!“, rufe ich und eile in seine Richtung. In dem Moment stützt er sich von der Wand ab und entfernt sich. „Hey, warte!“, rufe ich erneut und folge ihm. Mit der nächsten Ecke, um die ich biege, habe ich ihn aus dem Blick verloren. Dafür entdecke ich weiter vorne eine Gestalt, die mir äußerst vertraut ist. Ich habe das Gefühl, endlich gerettet zu sein.

„Force!²“, rufe ich so laut ich kann. Ich quetsche mich durch die Menschenmenge, bis ich seine Lederjacke zu fassen bekomme. „Force, warte!“

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“

Fragend sehe ich zu ihm auf. Sehe in das schmale Gesicht, die braunen Augen, die mir so vertraut sind. „Was?“

Er antwortet nicht, schiebt nur meine Hand von seinem Arm. Dann dreht er sich um und geht, ohne ein weiteres Wort. „Nein, warte!“

Jemand rempelt mich an und ich stolpere rücklings gegen eine Wand. Ehe ich mich versehe, liegen zwei Arme neben meinem Gesicht und kesseln mich ein. Die Person vor mir ist so nah, dass ich nicht zu atmen wage.

„Glaubst du mir nicht?“, wispert seine Stimme samten. Seine blauen Augen halten meinen Blick gefangen. Sie sind so schön, wie sie von den silbernen Haarsträhnen umrahmt werden. Sein warmer Atem trifft auf meine Lippen wie ein federleichter Kuss. „Ich liebe dich. Das ist mein Ernst.“

Ikki, was …?

Er nähert sich meinem Gesicht langsam. Mit jedem Zentimeter versinke ich tiefer und tiefer in ihm. Die Angst vorm Fall wird größer. Ich kneife die Augen zusammen.

„Ich habe dir doch gesagt, halte dich von ihm fern.“ – Mine!

Augenblicklich reiße ich die Augen auf. Nichts hat sich verändert. Ikki steht weiterhin vor mir, sein Gesicht so nah vor meinem. Ich kann ihm nicht ausweichen, doch obwohl ich in seine Augen sehe, spielen sich in meinem Kopf ganz andere Bilder ab.

Ich sehe mich selbst, vor mir Mine. Ihr Gesicht ist gesenkt, in ihrer Hand erkenne ich ein großes Küchenmesser. Ich weiche zwei Schritte zurück, sie folgt direkt. Die Panik schnürt mir die Kehle zu, macht meine Knie weich. Ich suche nach einem Ausweg, da beginnt sie zu kichern.  Sie hebt die Hand, liftet das Kinn. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Gesicht zu einem irren Grinsen verzerrt.

„Mine, nicht …“, flüstere ich brüchig.

Sie lacht. Ihr Arm holt weit nach oben aus, während sie auf mich zukommt.

Ich will es nicht sehen. Ich will es nicht hören. Nicht ihr Lachen, nicht mein Schreien.

So fest ich kann, presse ich die Hände auf meine Ohren. Schließe die Augen.

„Sag, kannst du dich erinnern?“

Schwärze, nichts als Schwärze. Orions Stimme, wo kommt sie her?

„Kannst du es nicht? Hast du Angst, dich zu erinnern? … Oder willst du es nicht?“

Er meint nicht mich. Hanna, ich bin nicht wie sie. Ich kann mich erinnern. Oder kann ich es nicht?

„Hey, gib nicht auf!“ Aus Orions aufbauenden Worten klingt ein ermutigendes Lächeln. „Zusammen schaffen wir das. Ein Rocket gibt niemals auf, da yo!“

Ah, richtig … Ein Rocket …

Tränen steigen in mir hoch. „Hört auf …“ Meine Stimme ein leises Wimmern.

„Zu schade …“ Schon wieder. Ukyos Stimme, zugleich nicht seine. „Wirklich traurig, aber du wirst sterben.“

„Hört auf …“

Sein Lachen wird lauter in meinem Kopf. Höhnend mischt sich Mine dazu. Zu viel, ich ertrage das nicht länger!

„Hört auf …“

„Shizana.“ – Ikkis Stimme, sein bannender Blick.

„Toma!“ – Shins Rufen, panisch und entsetzt.

Ich ertrage das nicht länger. „HÖRT AUF!“

In all der Dunkelheit tut sich ein gleißendes Licht auf. So hell, dass es schmerzt.

„Es tut mir leid“, höre ich eine Mädchenstimme in meinem Kopf. So jung und hilflos, gleichzeitig so hell und zart, dass ich Trost in ihr verspüre.

Vorsichtig öffne ich die Augen. Ich blinzle gegen die Helligkeit an. Inmitten des Lichts erkenne ich eine Silhouette. Ein kleines Mädchen. Es kommt mir bekannt vor mit dem weißen Haar in den zwei Seitenzöpfen. Diese klaren, eisblauen Augen. Wo ist sie dieses Mal nur wieder hergekommen?

„Es tut mir wirklich leid. Ich habe ihren Wunsch schon wieder falsch verstanden … Aber ich bringe das in Ordnung.“

Ich finde keine Worte. Das Licht wird greller, die Silhouette schwächer. Bald ist sie ganz verschwunden. Ich versinke im Weiß …

 

Ich schrecke aus meinem Schlaf hoch. Das Erste, was ich bemerke, ist die Stille in meinem Zimmer. Dann, dass ich weine. Ich taste mein Kopfkissen ab und stelle fest, dass es an einer Stelle feucht ist. Kein Wunder.

Ich ziehe im Sitzen die Beine an, umschlinge meine Knie und vergrabe das Gesicht darauf. Es will einfach nicht aufhören. Ich schluchze und schaffe es nicht, Herr über meine Tränen zu werden.

Es dauert einige Zeit, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. Wieder und wieder sage ich mir, dass es nur ein Traum war. Es ist nichts passiert. Kira geht es gut, es besteht kein Grund zur Trauer. … Ich wünschte, ich könnte mich davon überzeugen. Wäre sie doch nur hier.

Je ruhiger ich werde, umso mehr Erinnerungen gewinne ich von diesem seltsamen Traum. Was hat er nur zu bedeuten? Meine Realität und das Amnesia-Universum, sie waren eins. Untrennbar vermischt zu einem wüsten Horrorsalat, der mir nicht bekommen will. So schlimm war es bisher nie gewesen.

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Mine, im Traum hat sie versucht mich umzubringen. Vielleicht ist es ihr sogar gelungen, ich weiß es nicht. Und Ukyo … wieso hat er mich gejagt? Ich fühle mich schlecht, so von ihm geträumt zu haben. Gut, ich gebe ja zu, dass ich Angst vor seiner anderen Seite habe. Trotzdem fühlt es an wie Verrat. So etwas träumt man doch nicht von einem Freund?

Und dann war da dieses Mädchen. Jetzt, da ich langsam zu Sinnen komme, fällt mir auf, dass etwas an diesem Teil des Traumes anders war. Während die Horrorbilder allmählich zu verblassen beginnen, trifft das auf sie nicht zu. Ich sehe ihre kleine Gestalt noch immer vor mir. Ihre Worte hallen in meinem Gedächtnis wider, ihre Stimme so klar und deutlich, als hätte sie vor mir gestanden. Es fühlt sich beinah greifbar an. Aber was könnte sie damit gemeint haben, als sie sagte, sie hätte ihren Wunsch falsch verstanden? Wer ist »sie«? Und von welchem Wunsch hat sie gesprochen?

„Ich brauch‘ ‘ne Dusche“, spreche ich leise zu mir selbst. Ganz langsam schäle ich mich aus der Decke und richte mich vorsichtig aus dem Bett auf. Draußen wird es erst hell, wie ich bemerke, als ich die Rollläden am Fenster hochziehe. Eine kühle Windbrise trifft meine feuchten Wangen, als ich das Fenster aufklappe. Typisch Winter, wieso kann es nicht schon Frühling sein?

Ich wische mir kurz Augen und Gesicht trocken, ehe ich mein Zimmer verlasse. Eine Dusche sollte ich mir wirklich gönnen. Ich fühle mich verschwitzt, die Haare kleben mir an Hals und Nacken. Meine Frisur dürfte ein einziges Chaos sein, was mir ein Griff in die langen Zotteln bestätigt. Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Erst einmal brauche ich einen Cappuccino, und dann schön eines nach dem anderen.

Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Der Ton ist sehr leise eingestellt, sodass ich nichts verstehe. Seltsam. Ich bin mir sicher, dass ich gestern vorm Schlafengehen alles ausgeschaltet habe.

„Ukyo?“, frage ich in den Raum hinein. Er ist nirgends sehen.

Etwas verzögert höre ich ein leises „Nng“. Ich vermute es von der Couch, aber es kann unmöglich von meinem Mitbewohner stammen. Dafür klingt die Stimme viel zu jung.

Zögerlich gehe ich weiter. Etwas regt sich auf dem hellen Polster. Ich will nicht wahrhaben, als ich in dem dämmrigen Licht tatsächlich die Gestalt eines kleinen Jungen erkenne, die sich soeben aufrichtet.

„Oh, du bist wach?“

„Orion?“ Aber wie …?

„Ah, du kannst mich hören!“, ruft er erfreut. „Kannst du mich auch sehen?“

„… Sofern du keine Erscheinung bist?“

„Haha, nein. Ich bin kein Spukgespenst oder so.“

Nein, das vielleicht nicht. Aber das macht es kaum besser.

„Ah, so ein Glück. Das macht alles sehr viel einfacher.“

Ich beobachte, wie Orion sich von dem Polster schwingt. Erst jetzt fällt mir auf, dass er nicht in seiner üblichen Gestalt ist. Die Hörner fehlen und die Kleidung ist die eines gewöhnlichen Jungen: modern und alltäglich. Ist das nicht die Gestalt, die er in Laters angenommen hat, nachdem er und Niel ihre Bestrafung erhalten haben? Aber ich dachte, das hier sei nicht das Laters-Universum? Was hat das zu bedeuten?

„Sag mal“, setze ich an. Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf. Ich wäge die dringlichsten ab, ehe ich fortsetze: „Wie kommst du eigentlich hierher?“

„Ähm, also“, gerät er ins Stammeln. „Das … ist ein wenig schwer zu erklären.“

Ja, das glaube ich ihm.

Ich lasse meinen Blick durch den Raum gehen. Die Fenster sind geschlossen, für die Wohnung hätte er einen Schlüssel gebraucht. Es gibt ja Gerüchte, dass Geister fliegen und durch Wände gehen können. Aber trifft das auch auf solche in Menschengestalt zu? Trifft die Bezeichnung »Geist« überhaupt auf ihn zu?

„Du bist aber schon der, für den ich dich halte?“

Er senkt den Kopf. „Es tut mir leid“, sagt er nach einer Pause, „aber ich kann dir deine Fragen im Moment nicht beantworten. Noch nicht.“

Ach, das ist ja ganz große Klasse.

„Okay, ich halte fest: Du bist hier in meiner Wohnung, aber sagst mir nicht, wie du hier reingekommen bist? Oder warum du hier bist?“

„Ich weiß, das ist alles nicht so leicht zu verstehen … und kommt für dich sehr plötzlich. Aber ich muss dich bitten, Vertrauen zu haben. Wenigstens fürs Erste. Ich verspreche dir, dass sich alles aufklären wird.“

„Ach, und wann?“

Ich bemerke selbst, wie meine Stimme einen schnippischen Ton angenommen hat. Eigentlich möchte ich ihm gar keine Vorwürfe machen. Ich glaube nicht, dass er etwas für die Umstände kann. Aber kann man mir vorwerfen, verärgert zu sein?

„Ich brauche einen Cappuccino …“ Ich wende mich ab und steuere auf die Küche zu. Bevor wir hier weitermachen, muss ich einen klaren Kopf kriegen. Und mit den Nerven runterkommen. Ich habe das Gefühl, wiederholt in Tränen auszubrechen, wenn ich nichts unternehme.

„Hör mal, es tut mir leid.“

„Schon gut“, antworte ich ruhig. Orion ist mir in die Küche gefolgt, doch ich sehe ihn nicht an. „Gib mir einfach einen Moment. Das ist grad alles ein wenig zu viel.“

Wir schweigen beide, während ich das Wasser aufsetze. Mir fällt auf, dass mir das Cappuccinopulver ausgeht. Auch Ukyos Kaffee könnte eine Auffüllung vertragen. In den Schränken finde ich keine Reserven. Vielleicht sollte ich nachher einmal beim Konsum vorbeischauen.

„Ich gebe eben duschen“, verkünde ich an Orion adressiert. Ich bin noch nicht bereit, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, weswegen ich an ihm vorbeigehe. „Sorry, wenn ich unhöflich bin, aber ich hatte eine beschissene Nacht. Ich hoffe, dass du gleich noch da bist, wenn ich zurückkomme. Wenn nicht, werde ich richtig böse auf dich sein.“

 

Etwa zwanzig Minuten später habe ich meine Hygiene beendet. Das Haareföhnen dauert mir zu lange, weswegen ich es sein lasse. Orion ist mir schon zweimal durch die Lappen gegangen, das will ich nicht erneut riskieren.

Zu meiner Erleichterung finde ich den Jungen in der Küche. Er hat sich auf die Theke gehievt und sitzt dort, als habe er auf meine Rückkehr gewartet. Fast könnte man meinen, er sei ein ganz gewöhnlicher Junge. Die Art, wie er mit den Beinen baumelt und dabei gedankenverloren zu Boden sieht, lässt mich einen Moment schmunzeln.

„‘tschuldige fürs Warten“, kündige ich mich an, bevor ich mich zu ihm an die Küchenzeile geselle.

„Schon gut. Ich weiß, wie du dich fühlst.“

„Ach ja?“

„Naja … nicht wirklich“, gesteht er leise. „Aber ich kann es mir vorstellen, denke ich.“

Ich schmunzle über seine ehrlichen Worte.

„Magst du auch etwas trinken?“

„Nein. Danke, aber ich habe keinen Durst.“

„Ist in Ordnung.“

Nachdem ich meinen Cappuccino aufgebrüht habe, gehe ich mit der Tasse hinüber zu dem kleinen Esstisch. Ich nehme einen kurzen Schluck, ehe ich die Tasse auf der Platte abstelle.

„Magst du dich setzen? Ich muss nur kurz etwas holen und dann würde ich einen Moment auf dem Balkon verschwinden.“

Er nickt zur Antwort und lässt sich von der Theke gleiten. Obwohl es etwas Beklemmendes hat, lächle ich, als er meiner Bitte wirklich nachkommt. Ich beeile mich, ihn nicht zu lange warten zu lassen.

 

Nach der Dusche und einer Zigarette an der frischen Morgenluft fühle ich mich einigermaßen klarer. Meine Gedanken sind geordnet und meine Nerven entspannt. Es ist nach wie vor eine seltsame Situation, plötzlich Orion gegenüberzusitzen. Auf der anderen Seite, was ist schon normal mit mir in dieser Welt?

„Tut mir leid wegen vorhin.“

„Mhm, mir auch.“

„Ich nehme an, du wirst mir keine meiner Fragen beantworten?“

Er schweigt und mustert das Blumengesteck.

Ich seufze leise. „Kannst du sie nicht beantworten oder darfst du es nicht?“

„Ich darf es nicht“, antwortet er zögerlich. „Deswegen bin ich nicht hergeschickt worden.“

Hergeschickt? Von wem? Etwa von Niel? Ich weiß nicht, ob es klug wäre, ihn das zu fragen.

„Und weswegen dann?“, frage ich stattdessen.

„Na, um dich –“

Ich warte, dass er seinen Satz beendet. Vergebens. Ich erhasche lediglich einen kurzen Blick von ihm, bevor er wieder zur Seite wegsieht.

„Okay, ich merke schon“, seufze ich abermals. „Es ist dir unangenehm, wenn ich dir diese Fragen stelle. Oder zumindest bringt es dich in Komplikationen. Ich höre auf damit, in Ordnung?“

„Ich würde ja gern …“

„Ich weiß. Ist schon okay.“

Hach, immer diese Lügen. Nichts ist okay, gar nichts. Ich habe Fragen, so unglaublich viele, und kann sie nicht stellen. Das ist so unglaublich frustrierend! Dabei fühle ich mich den Antworten mit Orion so nah.

Ich blinzle zu ihm herüber. Es steht außer Frage, dass es einen Grund haben muss, warum er hier ist. Orion würde nicht grundlos in meiner Wohnung auftauchen. Das Wieso beschäftigt mich. Noch mehr als das frage ich mich jedoch, wie es kommt, dass ich ihn sehen kann? Und wieso hat er diese Gestalt?

„Darf ich dir noch eine Frage stellen?“, spreche ich zögerlich.

Abwartend sieht er zu mir auf. „Ja, klar. … Auch wenn ich dir vermutlich nicht darauf antworten kann.“

Ich wäge gut ab, ehe ich meine Frage formuliere. „Ich bin dir schon einmal begegnet, richtig?“

Sein Nicken ist vorsichtig. „Mh. Ich schätze, das kann man so sagen.“

„Wieso bist du vor mir weggelaufen?“

Wieder schweigt er und weicht mir zur Seite aus. „Es war mir verboten, mit dir in Kontakt zu treten. Es hätte so eigentlich nicht passieren dürfen.“

„Was meinst du damit?“

„Du hättest mich nicht sehen dürfen.“

Mit dürfen meint er »dürfen« oder »können«? Ich werde nicht schlau aus seinen Antworten.

„Aber du mich schon?“, will ich wissen.

Weiteres Schweigen. Orion lässt die Schultern nach vorn fallen, was ihn noch kleiner auf seinem Stuhl erscheinen lässt.

„Was ist mit Hanna?“

„Hanna?“ Jetzt ist er es, dessen Augen mit Fragen erfüllt sind. „Wie kommst du jetzt auf Hanna? Was hat sie damit zu tun?“

Ich weiche ihm aus. Ja, wie komme ich eigentlich darauf? Hanna hat mit dieser ganzen Sache nichts zu tun. Ich dachte nur, da Orion normalerweise an ihrer Seite ist … Ach, egal. Es hat ja doch keinen Zweck.

„Darf ich dich vielleicht auch etwas fragen?“

Offen sehe ich ihn an. „Klar, nur zu.“

„Wie geht es dir?“

Ich blinzle fragend.

„Ich stelle mir das schlimm vor“, setzt er leise fort. Er wirkt bekümmert, warum auch immer. „Du hast es bestimmt schwer gehabt. Für sie war es damals auch nicht leicht gewesen, als das passiert ist. Du musst ganz verwirrt sein.“

„Also im Augenblick machst du es nicht gerade besser“, merke ich an. „Erst recht, wenn ich dir keine Fragen stellen darf.“

„Tut mir leid“, flüstert er, dann wird er still. „Aber geht es dir gut? Dir ist doch nichts passiert, oder?“

„Mh, nicht direkt.“ Ich denke kurz über das bisher Erlebte nach. „Es ist vielleicht nicht alles toll, aber sonst … Sieht man von den Albträumen ab, die ich habe, geht’s eigentlich.“

„Was ist mit deinem Hals passiert?!“

Orions aufgeregte Stimme lässt mich in meinen Gedanken auffahren. „Meinem Hals?“ Ich taste danach.

Oh, ja, richtig. Das muss er meinen. Er muss darauf aufmerksam geworden sein, als ich mir gedankenverloren über den Nacken gestrichen habe. Mist, ich hätte besser aufpassen müssen.

„Ach, das …“ Ich bemühe mich um ein zwangloses Lächeln, während ich die Blessuren mit meiner Hand zu verdecken versuche. „Das ist ein wenig schwer zu erklären. Aber mir ist nichts passiert, alles in Ordnung.“

„Hat dir das jemand angetan?“, drängt er mit weiteren Fragen. „Das warst du nicht selber, oder? Jemand hat versucht dir wehzutun!“

„Nein, so ist das nicht.“

„War es Ukyo? Oder ein Fremder? Wenn es jemand auf dich abgesehen hat –“

„Orion“, bremse ich ihn in seiner Aufregung. „Es ist alles in Ordnung. Okay? Keine weiteren Fragen bitte dazu.“

„Aber …“

„Und kein Wort darüber zu irgendjemanden, ja?“

Ich lese aus seinem Gesicht, dass ihm ein Beilegen dieses Themas widerstrebt. Vermutlich setzt meine Bitte dem Ganzen den Hut auf.

„Okay.“

„Danke.“

Ich lächle, obgleich ich bedauere, ihn zurückgewiesen zu haben. Orion sorgt sich um mich, das ist mir bewusst. Ich weiß das zu schätzen. Doch so leid es mir tut, ich kann und werde Ukyo nicht verraten.

 

Später habe ich mir eine Einkaufliste zusammengestellt. Es ist nicht viel, das geholt werden muss. Zum Glück haben Ukyo und ich das Wichtigste schon eingekauft, als wir für das Meido-Event die Kuchen beschafft haben. Aber auf Kaffee und Cappuccino ist nicht zu verzichten. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft kommt mir zudem gerade recht.

„Kommst du etwa mit?“, frage ich an Orion gewandt, der hinter mir im Flur steht.

„Ich soll auf dich aufpassen“, entgegnet er entschieden. Ich beobachte ihn, wie er sich die Kapuze seines grau-schwarzen Pullovers auf den Kopf zieht. Niedlich, die schwarzen Zipfel sehen aus wie die Hörner, die er normalerweise hat. Man kann sie aber auch für lange Tierohren halten, wenn man die grauen Kreuzknöpfe als Augen interpretieren mag.

„Kannst du mich denn im Zweifelsfall beschützen?“, frage ich mit einem Schmunzeln und lasse es mir nicht nehmen, ihm die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen.

Ich ernte ein „Hey!“ und protestierendes Zappeln. Ah, so niedlich!

„Ich werde es zumindest versuchen.“

„Haha, sehr tröstlich.“ Widerwillig lasse ich von ihm ab, nicht ohne ihm noch einmal über den Kopf zu strubbeln. „Na dann mal los, mein Held.“

Ich schnappe mir den Schlüssel vom Haken und somit brechen wir auf.

Auf dem Weg zum Geschäft sind unsere Gespräche zwangloser. Ich erzähle Orion, dass ich eigentlich aus Deutschland komme, zu Hause zwei Katzen habe und zuletzt in der Kundenbetreuung tätig war. Er stellt mir viele Fragen zu meinem ursprünglichen Leben und zu den Unterschieden, die zu Japan bestehen. Viel kann ich ihm dazu nicht berichten, erkläre ihm aber, dass sich die Lebensweisen mehr im Detail unterscheiden. Wir reden über das Wetter und hoffen am Ende beide, dass wir dieses Jahr noch Schnee zu Gesicht bekommen werden.

Irgendwann klingelt mein Handy, dass ich eine neue Nachricht empfangen habe. Ich hole es hervor, um der Sache nachzugehen.

„Hat dir jemand geschrieben?“

„Mh, Luka“, antworte ich geistesabwesend, wobei ich das Telefon bediene.

„Luka?“

„Mein Freund.“ Es kommt mir wie selbstverständlich über die Lippen. Schon seltsam, dabei fühlt es sich falsch an, es so zu benennen.

Orion sagt nichts. Derweil nutze ich die Stille, um Lukas Nachricht zu lesen.

„Triffst du dich mit ihm?“

„Hm? Natürlich. Gehört das nicht zu einer Beziehung dazu?“

„Aber ist das denn richtig?“

Ich löse meinen Blick vom Display und sehe zu Orion hinunter. „Wie meinst du das?“

„Na ich meine, liebst du ihn denn?“

Seine Frage haut mich fast aus den Socken. Und das von einem kleinen Jungen?

„Verstehst du es denn, wenn ich es dir erklären würde?“

„Ich weiß nicht“, sagt er leise. Sein anschließendes Schweigen macht mich skeptisch.

„Wieso fragst du es dann?“

Ich erhalte im ersten Moment keine Antwort. „Vielleicht, weil es sich nicht richtig anfühlt.“

„Kennst du ihn denn?“

„Nicht direkt.“

„Wie kannst du dann so etwas sagen?“, will ich wissen. „Wie kann es sich für dich nicht richtig anfühlen, wenn du weder die Person noch die Umstände kennst?“

„Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen.“

Na wunderbar. Weiß er es nicht oder kann er es mir nicht sagen?

„Dann frag so etwas nicht.“

„Aber fühlt es sich denn für dich richtig an?“

Ich stoße ein Seufzen aus. „Ich denke nicht, dass ich mit dir über so etwas reden kann.“

„Ich will dir doch nur helfen.“

„Und inwiefern soll mir das helfen?“

Erneut Schweigen. Wie es aussieht, habe ich den Kleinen damit ins Schachmatt gesetzt.

„Ich verstehe … Du kannst dich an den Vorfall nicht mehr erinnern.“

Ich bleibe stehen und sehe ihn verdutzt an. „Welchen Vorfall? Wovon sprichst du?“

Orion tut es mir gleich und stoppt neben mir. Ich lese tiefe Sorge und Betroffenheit, als er zu mir hochsieht. „Hast du es wirklich vergessen?“

Ich fühle mich wie in einem schlechten Film. Ich habe doch keine Amnesie oder so. Er muss von meinem anderen Ich sprechen, das vor mir in dieser Welt gewesen ist. Das, das alle hier kennen. Und von dem ich nicht weiß, wie viel es mit mir gemein hat und was davon es bereits preisgegeben hat.

„Vergiss es“, weiche ich aus und setze unseren Weg fort. Das wird mir zu bunt. Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Allmählich bin ich es leid, dass mir von allen Seiten Bröckchen zugeworfen werden, die unmöglich zu verdauen sind. Wie wäre es ausnahmsweise, wenn ich einmal am Zug bin?

Wir nähern uns der nächsten kleinen Straße des Wohnviertels. Auf der gegenüberliegenden Seite erkenne ich unweit eine Baustelle. Sperrschilder weisen darauf hin, dass Gefahr auf herabstürzende Gegenstände besteht. Das Gerüst an der Hauswand führt bis zum Dach hinauf. Vermutlich wird dort irgendetwas geflickt oder abgebaut, das kann ich von hier nicht erkennen.

„Lass uns auf die andere Seite gehen“, schlage ich vor und drehe mich ab, um die Straße neben uns nach vorbeifahrenden Autos abzuprüfen.

„Dahin? Ich halte das für keine gute Idee.“

„Wieso nicht? Siehst du die Schilder da vorne nicht?“

„Doch, schon …“

„Also ich möchte dort nicht langgehen“, entgegne ich und schaudere bei dem bloßen Gedanken. Von einem harten oder spitzen Gegenstand erschlagen zu werden, erscheint mir nicht sehr prickelnd. Ich habe die Nacht schon genug vom Tod erlebt. Auf ein weiteres Horrorszenario kann ich gut verzichten.

„Warte, das ist nicht richtig!“, ruft mir Orion nach. Zu spät. Ich bin längst dabei, die Straße zu überqueren. „Komm bitte zurück, ich habe ein schlechtes Gefühl dabei!“

„Und ich habe ein schlechtes Gefühl –“ Weiter komme ich nicht. Das Nächste geschieht so rasend schnell, dass ich es kaum mitbekomme.

Ich höre ein Auto schnell näherkommen. Etwas packt mich gewaltsam am Arm und zieht mich zurück. Der Ruck bringt mich ins Stolpern. Direkt vor mir knallt es, gerade als ich zu Fall gehe. Im ersten Moment kapiere ich nicht, was hier soeben passiert ist.

„Wa…?“ Ich bekomme kein Wort heraus.

Fassungslos nehme ich das Bild in mir auf. Ein weißer PKW ist vor mir in die Mauer gefahren. Genau dort hätte ich jetzt wohl gestanden. Hätte mich nicht jemand im richtigen Moment zurückgehalten, wäre ich Teil eines tragischen Unfalls geworden.

Ich könnte jetzt tot sein. Oder zumindest schwer verletzt.

Diese Erkenntnis lässt mich schwindeln. Mir wird auf einmal so übel, dass ich glaube, mich übergeben zu müssen. Jeder Muskel in meinem Körper fühlt sich weich an. Ich bin wie gelähmt.

„Hey, alles in Ordnung?“

Ich nehme die Stimme kaum wahr. Erst als Orion an meine Seite eilt und hektisch auf mich einredet, komme ich allmählich zu Sinnen.

Ich finde auf seine vielen Fragen keine Antwort. Ich weiß nicht, ob mit mir alles okay ist. Ich weiß nicht, ob ich verletzt bin. Spielt das denn überhaupt eine Rolle? Kümmert sich denn niemand um den Fahrer?

Mein Fokus ist noch nicht gänzlich zu mir zurückgekehrt. Ich erkenne, dass jemand an mir vorbei in Richtung Wagen eilt. Ein junger Mann, vermutlich. Recht hochgewachsen und schlank. Er trägt ein schwarzes Cappy auf dem Kopf, seine übrige Kleidung ist schlicht.

Ich beobachte ihn, wie er die Fahrertür öffnet. Der Logik nach wird er wohl irgendetwas zu dem Fahrer sagen, sich vielleicht nach seinem Zustand erkundigen. Er zieht sich kurz darauf zurück und betätigt ein Handy, das in seiner Hand liegt. Erst als er zu mir herübersieht, dämmert mir, dass mir der Mann bekannt vorkommt.

Das Basecap ziert ein großes, gelbes Sternsymbol. Ich habe es schon einmal gesehen. Damals, im Meido … Ukyos Freund, oder nicht?

 

 

¹ = jp. "gefunden"; ausnahmsweise Japanisch, da es exakt so geträumt wird

² = Alias, da mein Freund eine Namensnennung ablehnt


Nachwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben:

1. Die Party ist noch ruhig ausgeklungen. Ukyo hat dich NICHT nach Hause begleitet, sondern seinen Geleitschutz Hanna angeboten. Dafür lernst du an diesem Abend, dass du und Ikki im Ansatz denselben Heimweg habt, wobei ihr euch vor Ankunft bei deiner Wohnung trennt.
2. Du hast einen Traum. Einen schlimmen Traum. In ihm vermischen sich Erinnerungen aus der dir vertrauten realen Welt mit den Erlebnissen der neuen. Du siehst u.a. Mine, die dich versucht abzustechen; deinen Freund, der sich von dir zu entfernen scheint; den Fremden von Ukyo; hörst Orions Stimme, die mit Hanna redet; siehst Ikki, der dir ein Liebesgeständnis macht; hörst die Kettensäge von Psycho-Ukyo; siehst Luka, der dich eiskalt ansieht; hörst Telefone von deiner Arbeit schrillen und deine Stimme die Begrüßung deiner Firma sagen. Schließlich, als dich das ganze Chaos zu erdrücken scheint, leuchtet ein Licht auf und das seltsame Mädchen von damals taucht auf und entschuldigt sich bei dir. (Genauer Wortlaut: "Es tut mir wirklich leid. Ich habe ihren Wunsch schon wieder falsch verstanden. Aber ich bringe das in Ordnung.")
3. Nach dem Aufwachen fühlst du dich malträtiert. Der Traum geht dir nicht aus dem Kopf, besonders an die Worte des Mädchens erinnerst du dich und du fragst dich, was es bedeutet, denn ihre Worte wirkten so real als wäre sie das einzige gewesen, das kein Teil des Traumes war. Du freust dich auf eine schöne Tasse Cappucino und gehst ins Wohnzimmer, wo du IHN siehst. Orion. Wie er in Laters als normaler Junge auftritt. Allerdings ist von Ukyo keinerlei Spur zu sehen. Die Frage ist also, was will er bei dir? (Das wird er dir natürlich nicht verraten.)
4. Akzeptiere, dass Orion warum auch immer bei euch in der Wohnung ist. Erinnere dich an dein Versprechen an Luka. Orion wird dich mit Fragen löchern alla ob du glaubst, dass es richtig sei sich mit Luka zu treffen, ob du ihn liebst, ob du das wirklich willst und ob du nicht mehr weißt, was zwischen dir und Luka damals vorgefallen ist. Ignoriere Orion vorerst und bemerke, dass eingekauft werden muss.
5. Geh einkaufen. Auf dem Weg musst du an einer neuen Baustelle vorbei, die scheinbar über Nacht hochgewachsen ist. Hab ein mulmiges Gefühl dank des Traumes und wechsle die Straßenseite. Ignoriere dabei Orion, der dir empfiehlt nicht die Seite zu wechseln. Drüben, gerade als du weitergehen willst, spürst du einen Ruck und wirst zurückgezogen. Ein Auto kracht in die Wand an der Stelle, wo du beinahe noch gestanden hättest. Erkenne Ukyos seltsamen Freund aus dem Café, der dich gerettet hat.

Uah, das war ein wirklich chaotisches Kapitel. Ich musste so viel bei meiner Göttin nachfragen, da ich viele Dinge für die Dialoge mit Ikki und Orion nicht wusste. Nichts davon stammt also von mir, sondern sind externe Vorgaben, die ich lediglich umgesetzt habe. Den Traum durfte ich wüst gestalten, was ich getan habe auf eine Art, wie ich tatsächlich träume. Mein armes Baby …
Der Anfang war mies. Ich durfte mir etwas einfallen lassen, wie ich Ukyo auf Hanna abwälze. Und dem Part mit Ikki bin ich ebenfalls im Detail ausgewichen. Gott, wieso stecken da immer so fiese Logikaufgaben zwischen den Zeilen, die mich mehr um den Verstand bringen als die eigentlichen Aufgaben?!
Ab jetzt wird es jedenfalls hektisch und sehr aufwühlend. Wenn ich mir die Aufgaben für das nächste Kapitel betrachte, bin ich jetzt schon vollkommen am Ende … Naja, auf in die Schlacht! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Erenya
2015-10-25T19:47:29+00:00 25.10.2015 20:47
hehehe. Nach 15 Kapiteln wurde es doch auch Zeit das wir richtig Amnesia werden, oder?
Aber du hast dieses Kapitel so toll umgesetzt, das schaffst du beim nächsten auch. Da bin ich mir sicher. ^^
Antwort von:  Shizana
25.10.2015 21:34
Aye. Jetzt haben wir noch 35 Kapitel Zeit, mich um mein Leben ringen zu lassen. x')


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