Zum Inhalt der Seite

Zwischen den Welten

Das Mary Sue-Projekt
von
Koautor:  Erenya

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ankündigung der Göttin :
»Liebe Shicchi, du bist heute Morgen wirklich sehr mit dem Schrecken davon gekommen. Gratuliere. Das schreit nach einem doppelten Cappuccino, oder einigen Antworten.«

Antworten, ach ja? Das werden wir noch sehen.
Warnung: Depressives Kapitel mit viel emotionalem Auf und Ab. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Enttarnung

Wie es scheint, hat mein mysteriöser Retter die Polizei verständigt. Nach nur zehn Minuten treffen ein Streifen- und ein Rettungswagen am Unfallort ein. Während sich die Ärzte um den Fahrer des PKW bemühen, tritt einer der Polizisten an mich heran und befragt mich zum Geschehen. Viel kann ich ihm nicht sagen. Wahrheitsgemäß schildere ich, dass ich das meiste gar nicht mitbekommen habe. Der Wagen kam von hinten angerauscht und ist vor mir in die Mauer geprallt. Der Polizist murmelt daraufhin etwas von Fahrlässigkeit und erhöhter Geschwindigkeit. Nachdem ich ihm auch meine Personaldaten gegeben und einer weiteren Zeugenaussage im Verlauf der Woche zugesagt habe, entlässt er mich.

Einer der Ärzte untersucht mich auf äußerliche Verletzungen. Nachdem er seine Arbeit getan hat, rät er mir an, vorsichtshalber ein Krankenhaus aufzusuchen. Es könnte sein, dass ich unter Schock stehe und daher nicht voll zurechnungsfähig sei. Er empfiehlt mir, den restlichen Tag ruhig zu gestalten und von unnötigen Anstrengungen abzusehen. Falls notwendig, solle ich mir den restlichen Tag von der Arbeit freinehmen, um kein Risiko einzugehen.

Mein Retter erklärt sich vor den Helfern bereit, mich nach Hause zu begleiten. Er gibt vor, ein guter Bekannter von mir zu sein, weswegen er die volle Verantwortung für mich übernimmt. Keine Ahnung, warum er zu dieser Behauptung greift. Es ist eine offensichtliche Lüge. Ich kenne diesen Typen nicht. Der einzige Grund, warum ich nichts sage, ist Orions ruhige Haltung zu der ganzen Sache. Er ist die ganze Zeit an meiner Seite, redet beruhigend auf mich ein und verspricht, dass alles in Ordnung ist. Ich vertraue ihm. Es ist das Einzige, was ich im Moment tun kann.

Der Horror dauert eine ganze halbe Stunde, bis wir gehen dürfen. Ich stehe noch immer neben mir, versichere jedoch, dass es mir gut geht. Physisch stimmt das immerhin, psychisch hingegen ist es so eine Sache. Mir will nicht in den Kopf, dass ich soeben knapp dem Tod entgangen bin. Zum zweiten Mal binnen weniger einer Woche. Ich brauche keinen weiteren Beweis, dass dies hier kein bittersüßer Traum ist. Es ist die knallharte Realität.

„Was machen wir jetzt?“, höre ich Orion neben mir fragen. Es ist sicher nicht an mich gerichtet, sondern an den Unbekannten, der an meiner anderen Seite geht.

„Sie hat gesagt, sie sei okay, nicht?“

„Aber der Arzt hat gesagt, dass sie in ein Krankenhaus soll.“

„Möchtest du da hingehen?“

Ich schüttle müde den Kopf.

„Dann gehen wir da auch nicht hin.“

„Aber …!“

„Was machen Menschen für gewöhnlich in so einer Situation?“ Mein Retter übergeht Orions Protest, ohne jegliches Zögern. „Hm … Richtig! Sie setzen sich in ein Geschäft und trinken etwas.“

„Du meinst, ein Café?“

„Ja, genau. So etwas.“

„Sollten wir nicht lieber –“

Ich spüre einen Druck um mein Handgelenk. Nicht sehr fest, aber es genügt, dass ich stehenbleibe und meinen Blick zu dem oder der Unbekannten hebe.

„Möchtest du etwas trinken? Ich finde, wir sollten reden“, fragt er mich sanft und lächelt einladend.

Eigentlich möchte ich gerade nur nach Hause. Mir steht nicht der Sinn nach Zivilisation und Aktivität. Aber letztendlich ist es mir egal. Ob ich nun mit einem femininen Ex-Stalker, der sein Gesicht selbst jetzt noch vor mir verbirgt, friedlich bei Kaffee und Kuchen sitze oder allein auf der Notstation. Solange Orion bei mir ist und mir ein geringfügiges Gefühl von Sicherheit vermittelt, ist mir selbst das egal.

 

Nach kurzer Strecke erreichen wir ein Lokal. Es ist das Erstbeste, das uns auf unserem Weg begegnet. Mir ist nicht ganz klar, ob es tatsächlich ein Café oder vielmehr ein Bistro ist. Ich bin hier nie zuvor gewesen, bis vor wenigen Minuten wusste ich nicht einmal von seiner Existenz. Die Räumlichkeit ist eher klein, um die fünf oder sechs Tische dürften hier auf zwei Seiten verteilt stehen. Um die Gestaltung steht es schlicht. Nichts erregt wirklich meine Aufmerksamkeit. Ihre Einfachheit lädt zum Verschnaufen ein, was ausreichend ist, denn ich plane keinen langen Aufenthalt.

Kaum dass wir Platz gefunden haben, tritt die einzige Bedienung an uns heran. Keiner von uns studiert zuvor die Karte, um seinen Wunsch zu äußern. Sowohl mein Retter als auch Orion lassen sich Schwarzen Tee kommen. Ich begnüge mich mit Kaffee und erbitte Milch dazu. Das dürfte sein Nötiges tun, um mich in die Spur zurückzuholen. Hoffe ich.

„Geht es dir besser?“, höre ich Orion besorgt fragen. „Du siehst noch blass aus.“

„Gib ihr Zeit“, spricht der Unbekannte ruhig auf ihn ein. Derweil werden uns die warmen Getränke serviert. „Es kam unerwartet. Sie muss es erst verarbeiten.“

Der Duft von frischem Kaffee steigt mir in die Nase und weckt einige Lebensgeister in mir. Noch etwas träge gebe ich Milch hinzu, bis die Schwärze einem hellen Braunton weicht. Anschließend reiche ich das Kännchen an Orion weiter.

Aufmerksam beobachte ich, wie er es mir gleichtut. Dann folgt Zucker in den aufgehellten Schwarztee. Viel Zucker. Der Fremde hält es ebenso.

Ganz vorsichtig nehme ich einen ersten Schluck von meinem Kaffee. Sein herbes Aroma ist durch die Milch weich abgemildert. Er wärmt mich von innen, was ausgesprochen gut tut.

Während ich den stillen Moment genieße, lasse ich mir die Worte des Fremden erneut durch den Kopf gehen. Es stimmt schon, so ganz verstehe ich noch nicht, was passiert ist. Aber eines wird mir allmählich klar: Ich bin offenbar die Einzige, die es nicht hat kommen sehen. Nicht im Ansatz.

„Woher wusstet ihr das?“, frage ich freiheraus. Meine Hände klammern an der Tasse, deren aufgewärmte Keramik mir Halt verschafft. „Das war kein Zufall, richtig? Ihr wusstet, dass es passieren würde.“

Die beiden tauschen einen Blick untereinander aus.

„Wir wussten es nicht.“

„Orion hat mich gewarnt, nicht auf die andere Straßenseite zu gehen“, widerspreche ich dem Unbekannten. „Und du warst zur rechten Zeit am rechten Ort, um mich zu retten. Ganz zufällig. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass das nur ein Zufall war.“

„Wir hatten eine Ahnung, aber wir wussten nicht, wann und wo es passieren würde.“

„Aber ihr wusstet, dass etwas passieren würde.“ Ich beobachte meinen mysteriösen Retter aufmerksam. Mich stört, dass ich ihm nicht ins Gesicht sehen kann. Ist er überhaupt männlich? Sein Äußeres lässt es vermuten, aber die Stimme klingt mir deutlich zu weiblich. „Wer bist du überhaupt? Und wieso hast du dich als einen Bekannten von mir ausgegeben? Ich kenne dich überhaupt nicht.“

„Shizana, das ist doch nicht wichtig. Er –“

„Doch, ist es“, falle ich Orion ins Wort. „Du hast mich damals im Café die ganze Zeit angesehen. Warum? Und was hast du mit Ukyo über mich gesprochen?“

„Er will dir wirklich nichts Böses. Er –“

„Ist schon gut, Orion.“ Die Ruhe des Unbekannten ist unverändert. Meine steigende Aufregung scheint ihn nicht zu bekümmern. „Ich weiß, du hast Fragen und das ist berechtigt. Aber ich habe auch Fragen an dich.“

Ich richte mich auf meinen Stuhl gerade und straffe die Schultern. „Ach ja?“

„Ich weiß, du vertraust mir nicht. Aber beantworte mir bitte trotzdem meine Fragen.“

Ich atme lang durch die Nase durch. Alles in mir widerstrebt, dieser Bitte nachzukommen. Aber ich will abwarten, worum es überhaupt geht.

„Bist du Mari schon begegnet?“

„Mari?“, wiederhole ich langsam. „Der Name sagt mir nichts. Wer soll das sein?“

„Dann hat sie dir vielleicht nicht gesagt, wer sie ist?“

Ich überlege einen Moment. „Mir ist den einen Tag ein kleines Mädchen begegnet. Draußen, vorm »Meido no Hitsuji«. Sie hat irgendwelches wirres Zeug vor sich hin geredet … Könntest du sie meinen?“

„Was hat sie zu dir gesagt?“

„Es war wirklich sehr wirr. Vermutlich hat sie mich verwechselt.“

„Bitte“, wirkt Orion auf mich ein. Sein Flehen ist von einer Dringlichkeit begleitet. „Sag uns, was sie zu dir gesagt hat.“

„Naja“, beginne ich unsicher. „Irgendetwas, dass es ihre Schuld war. Und sie hat sich sehr oft entschuldigt. Sie hatte wohl Streit mit ihrem Bruder oder so, glaube ich.“ Kurz überlege ich, was mir noch zu dieser seltsamen Begegnung in Erinnerung geblieben ist. „Und dass ich warten soll. Das ist eigentlich alles.“

„Also hat sie dich gefunden.“

Ich blinzle zu dem Unbekannten. Möchte er mir weismachen, dass es keine Verwechslung war? Dass dieses wirre Mädchen auf der Suche nach mir war, und zwar gezielt?

„Scheint so …“

„Ist dir in der letzten Zeit irgendetwas Seltsames passiert? Von dem Vorfall vorhin abgesehen“, möchte er weiter von mir wissen.

„Also eigentlich war in letzter Zeit alles seltsam.“ Ich sage es nur leise. Er möchte bestimmt eine ernsthafte Antwort von mir, also überlege ich. „Wenn man es allgemein betrachtet, wohl eher nicht. Nein, eigentlich ist nichts Außergewöhnliches passiert.“

„Bist du dir sicher?“

„Mir sind zumindest keine Steine auf den Kopf gefallen und ein Alien ist mir auch nicht begegnet.“ Dafür jedoch ein Geisterjunge, wie ich mir stillschweigend ergänze.

„Also nichts Außergewöhnliches.“

„Nein.“

„Wie fühlst du dich? Fühlt sich dein Körper irgendwie seltsam an?“

„Inwiefern seltsam?“, möchte ich wissen. Ich weiß nicht, was er meint. „Eigentlich fühlt sich alles normal an, wenn ich nicht gerade unter Schock stehe.“

„Woran kannst du dich erinnern?“

„Ähm …“ Ich ziehe anzweifelnd die Augenbrauen nach oben. „Das ist eine ziemlich allgemeine Frage.“

„Was ist deine erste Erinnerung, die du von dieser Welt hast?“

Seine Wortwahl alarmiert mich. „Okay, was wird das hier?“, frage ich scharf zurück. „Ihr fragt mich hier die ganze Zeit aus, und ich selbst erhalte keine Antworten?“

„Bitte, du musst uns vertrauen“, redet Orion auf mich ein. Doch ich bin taub für seine zügelnden Worte.

„Wie könnte ich?“ Meine Stimme wird lauter, hektischer. „Wie soll ich euch vertrauen? Könntet ihr es denn umgekehrt? Er da sagt mir ja nicht mal, wer er ist und verbirgt die ganze Zeit sein Gesicht vor mir!“ Anklagend nicke ich zu dem Fremden hinüber.

„Und du?“, klingt seine Stimme sanft und beruhigend. Diese Gegenüberstellung schürt meine Erregung umso mehr. „Wer bist du?“

„Ich denke nicht, dass ich dir eine Rechenschaft schuldig bin.“

„Dein Name ist Shizana. Richtig?“

Ich ziehe die Luft ein und halte sie an. Einen Moment zögere ich, bevor ich antworte: „Ja, richtig. Und?“

„Hm.“

Ich frage mich, was es da zu »hm«en gibt.

„Das ist nicht richtig.“

„Was soll daran denn bitte nicht richtig sein?“, bausche ich auf. So langsam reicht es mir mit diesem Kerl.

„Du bist es nicht.“ Eine Pause folgt. „Du bist Shizana, und gleichzeitig bist du es nicht. Du bist anders.“

Jetzt reicht’s!

Abrupt stehe ich auf. Mir ist egal, dass der Stuhl dabei unschön über den Parkettboden schrammt. Ohne Vorwarnung beuge ich mich vor und reiße dem Unbekannten das Basecap vom Kopf. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich kurzerhand gefrieren.

Grauviolettes Haar löst sich unter der Verdeckung heraus. Strähnen bis zum Kinn, die nach hinten kürzer werden, fallen in eine gescheitelte Frisur. Blaue Augen blicken mir aus einem weichgemeißelten Männergesicht entgegen. Er gleicht Orion wie ein Abbild. Nur älter. Erwachsener, und ausgesprochen attraktiv.

Seine Züge sind entspannt. Ich erkenne keine Regung auf seinem Gesicht. Keinen Vorwurf, keine Irritation. Nur Neugierde, wie er mir mit wachem Blick begegnet.

„Niel …?“ Mein Kopf ist leergefegt. Tausend Dinge stürzen auf mich ein, gleichzeitig kriege ich nichts davon zu fassen. „Wieso …?“

„Ups.“ Seine Mundwinkel ziehen sich zu einem vorsichtigen Lächeln. „Schätze, ich habe nicht richtig aufgepasst.“

Es klatscht einmal laut in meinen Ohren. Bevor ich es richtig realisiere, habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Meine rechte Handfläche schmerzt. Es zwiebelt unangenehm. Erst da begreife ich, was ich soeben getan habe.

‚Ich hasse dich!‘

Postwendend drehe ich mich um und verlasse das Lokal. In meinem Hals klebt ein dicker Kloß. Ihm ist es zu verdanken, dass ich meine Gefühle nicht laut in Worte gefasst habe. Doch es schmerzt. Ich spüre bereits, wie mir die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Ich will sie nicht zeigen. Er hat kein Recht, an meinen Gefühlen Anteil zu nehmen.

 

Irgendwo sitze ich in einer kleinen Gasse zwischen zwei Gebäuden und lasse meiner Verzweiflung freien Lauf. Ich bin nicht weit weggelaufen, nur einige Häuser weiter, um etwas Abstand zu gewinnen. Normalerweise bin ich nicht der typische Bodenhocker, doch im Moment ist es mir egal. Ich will allein sein. Ich will mich schrecklich fühlen. Erbärmlich, weil ich soeben alles falsch gemacht habe. Ich will mich selbst bemitleiden und mir all die Vorwürfe machen, die ich sonst von niemandem hören will.

Niel … Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es die ganze Zeit über wissen müssen. Seit dem Moment, als ich Orion gesehen habe. Seit Ukyo mit seinem ominösen Freund im Café aufgetaucht ist. Seit ich verstanden habe, dass das Unmögliche passiert ist. Die ganze Zeit, die ganze Zeit …

Und nun habe ich alles verbockt. Ich habe den Geisterkönig geschlagen. Den Einzigen, der vermutlich alle Antworten kennt. Den Einzigen, der mir vermutlich helfen kann. Aber das kann ich mir jetzt abschminken. Wie kann ich ihn jetzt noch um Hilfe bitten, nachdem ich so undankbar zu ihm war? Immerhin hat er mir das Leben gerettet. Ich bin so eine dämliche Kuh!

Die Wut ist noch nicht in mir verraucht. Ich verstehe nicht, wie er mir all diese unwichtigen Fragen stellen kann. Gibt es denn nichts Dringlicheres zu klären? Weiß er denn nicht, was hier eigentlich los ist? Ist es ihm egal? Ist ihm das Schicksal eines einzelnen Menschen gleichgültig, nur weil er nicht Teil dieser Welt ist?

Ich werde keine Antworten bekommen. Niemand ist wirklich bereit, mir zu helfen. Aber ohne die Hilfe von irgendjemandem komme ich nicht weiter. Ich werde nie aus diesem Schlamassel herauskommen. Ich werde nie erfahren, was hier eigentlich los ist. Und ich werde niemals nach Hause zurückkehren. Eher sterbe ich in dieser Welt. Ungekannt und als irgendjemand, der nie eine wichtige Rolle zu besetzen hatte. Was passiert mit einer Figur, die für ein Skript nie vorgesehen war, wenn sie stirbt?

Die vielen Gedanken und Fragen erdrücken mich. Ich will nicht mehr. Ich will nur noch nach Hause. Ich will nach Hause und meine geliebte Katze in die Arme schließen. Ich will meinen Freund anrufen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Ich will meiner Mutter gegenübertreten und ihr sagen, dass ich froh bin, sie zu haben. Ich will zur Arbeit gehen und mich an den alltäglichen Sorgen aufziehen. Ich will einfach nur glücklich sein, ein normales Leben zu führen. Ein normales Leben, das gar nicht so schlecht war. Selbst wenn nicht immer alles nach Plan verlaufen ist.

„Hier bist du!“

Ich höre Orions Stimme, doch ich sehe nicht auf. Ich kann es nicht. Wie könnte ich ihm jetzt auch offen unter die Augen treten?

„Zum Glück. Ich hatte schon Angst, ich finde dich gar nicht mehr wieder.“

Vielleicht wäre das besser gewesen. Vielleicht wäre es besser, würde ich einfach aus diesem Traum erwachen. Dann hätte das alles ein Ende.

„Bist du okay?“

Ob ich okay bin? Wen juckt das schon?

„Niel-sama hat sich Sorgen um dich gemacht. Ich soll dir ausrichten, dass es ihm leid tut.“

„… Orion?“

„Hm?“ Ich spüre, wie er sich an meine Seite hockt. „Ja? Was ist denn?“

„… Ich bin so eine dämliche Kuh.“

„Nein, das bist du nicht.“

„Ich habe Niel geschlagen.“

„Ja, er war ganz überrascht.“ Da liegt kein Vorwurf in seiner Stimme. Nur Offenheit, als plauderten wir über das Wetter. „Du hast ihn echt erwischt. Für Niel-sama war es das erste Mal, dass er Schmerzen verspürt hat. Das ist ihm noch nie zuvor passiert.“

„Du meinst, weil er normalerweise nicht geschlagen werden kann?“

„Es ist normalerweise generell unmöglich, dass man uns verletzten kann. Oder dass wir uns verletzen können. Das ist vollkommen neu für uns.“

Das macht es irgendwie nur umso schlimmer.

„… Orion, es tut mir leid.“

„Schon gut.“ Etwas streift an meinem Arm. Orion hat vermutlich die Position verändert. „Ich denke, er wird es dir verzeihen.“

„Glaubst du das wirklich?“

„Klar! Niel-sama ist nicht nachtragend. Er versteht vielleicht nicht alles, gerade was menschliche Gefühle betrifft, aber er versucht es. Ich glaube, er hat dir schon verziehen.“

„Ich fühle mich nur schrecklich, wenn dem so ist.“

„Warum? Du kannst doch nichts dafür. Es ist einfach … passiert.“

„Aber das hätte es nicht dürfen.“

Orion erwidert nichts. Stille kehrt zwischen uns ein.

„Wie geht es denn nun weiter?“, frage ich leise. Ich habe Angst vor der Antwort.

„Niel-sama wird weitersuchen“, antwortet er ruhig. „Und solange bleibe ich bei dir und passe auf dich auf. Vorerst.“

Vorsichtig hebe ich den Kopf. Das Tageslicht ist mir unangenehm. Meine Augen brennen von den vielen Tränen, die ich vergossen habe. Trotzdem bemühe ich mich, Orion anzusehen und ihn wahrzunehmen. „Wirst du? Und für wie lange?“

„Das weiß ich noch nicht … Solange, bis Niel-sama mich wieder zu sich ruft, nehme ich an.“

„Wo wird er sein?“

„Irgendwo, das weiß ich nicht.“

„Ist er noch da?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein. Er ist vorhin gegangen, kurz nachdem du weggelaufen bist.“

Niedergeschlagenheit überkommt mich. Ich wende den Blick ab. „Das heißt, ich kann mich nicht mehr bei ihm entschuldigen. Ich habe es so richtig verbockt.“

„Nein, so etwas darfst du nicht denken.“

„Denkst du, dass ich ihn wiedersehen werde?“, frage ich nach kurzem Zögern.

„Bestimmt“, verspricht mir Orions fröhliche Stimme. „Und dann kannst du dich auch bei ihm entschuldigen. Er wird dir bestimmt nicht böse sein.“

Ich spüre, wie sich ein zaghaftes Lächeln auf meine Lippen zaubert. „Danke.“

„Wollen wir gehen?“

Orion erhebt sich und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Niedlich ist das schon. Ich wage zu bezweifeln, dass er in der Lage wäre, mich zu sich hinaufzuziehen.

Mein Lächeln wird sicherer, als ich dennoch seine Hand ergreife. Sie wirkt so klein und zierlich, wie sie meine umschließt. Aber sie ist warm, ganz angenehm warm. Sie gibt mir durch ihren Halt das Gefühl, dass ich weitermachen kann. Dass ich jetzt aufstehen und weitergehen kann, ohne befürchten zu müssen, mit dem ersten Schritt erneut zu fallen.

„Danke, Orion.“ Ich lasse seine Hand nicht los. Mit der anderen klopfe ich mir kurz den Dreck von der Kleidung, bevor ich mit Orion aus den Schatten der Häuser hinaustrete.

„Geht es dir jetzt besser?“

„Mh.“ Ich nicke zur Antwort. „Sehr viel besser. Dank dir.“

„Das freut mich.“ Sein breites Lächeln erhellt sein ganzes Gesicht. Es ist unweigerlich ansteckend. „Wenn es dir in Zukunft schlecht geht, komm ruhig immer zu mir. Ich werde immer da sein und dich trösten.“

„Kannst du dieses Versprechen denn auch halten?“, frage ich im Scherz.

Sein Lächeln wandelt sich in Unbeholfenheit. „Uhm … ich werde es zumindest versuchen.“

Ich kann nicht anders, als es mit einem Lachen zu quittieren. „Na schön, das soll mir fürs Erste genug sein. Also, versprichst du mir, dass du fortan immer für mich da sein und mich trösten wirst, wenn es mir schlecht geht?“ Ich halte ihm meinen kleinen Finger hin.

Eifrig nickt er und hakt seinen kleinen Finger in meinen. „Ja, das verspreche ich!“

„Okay. Und ich verspreche dir im Gegenzug, dass ich dir nicht mehr so viel Kummer bereiten werde. Ich werde es zumindest versuchen.“

Wir schütteln einmal die Hände, ehe wir unsere Finger lösen. Damit ist unser Schwur besiegelt und wir schenken uns ein gegenseitiges Lächeln.

 

Wir haben uns schließlich doch noch entschieden, unseren ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen. Um einen weiteren Vorfall zu vermeiden, haben wir einen Umweg eingeschlagen, über den wir zur Kaufhalle gelangen.

Auf dem Weg dorthin unterhalten Orion und ich uns ungezwungen. Ich habe ihm gestattet, mir weitere Fragen zu meiner Person zu stellen, solange ich ihm nichts zu meiner Situation erklären muss. Da weiterhin das Verbot gilt, ihn mit gleichsamen Fragen zu löchern, zeigt er sich einverstanden. Es ist nicht immer leicht, die Grenze zu wahren, aber wir bemühen uns, so gut es geht.

Das Einkaufen selbst geht schnell. Meine Liste umfasst gerade fünf Dinge, die ich beschaffen muss. Nach nicht einmal zehn Minuten befinden wir uns bereits wieder auf dem Heimweg.

„Du magst Cappuccino wirklich gern, was?“ Die ganze Zeit schon ist Orion bester Stimmung. Vielleicht liegt das an dem Puffreis, den ich ihm mitgenommen habe. Er wollte ihn unbedingt probieren, als er ihn im Süßwarenregal gesehen hat. „Und immer dieselbe Sorte. Ukyo mag ja lieber Kaffee. Und Hanna wiederum mag gern Schwarzen Tee. Es gibt so viel Auswahl, was man mögen kann.“

„Ich trinke auch Kaffee oder Tee, so ist es nicht“, erkläre ich lächelnd. „Aber privat mag ich Karamellcappuccino noch am liebsten, das ist richtig. Wenn du magst, kannst du ihn nachher gern probieren. Er schmeckt angenehm süß. Du magst doch süße Dinge, nicht, Orion?“

„Oh, darf ich?“ Seine Augen leuchten vor Begeisterung. „Das wäre toll! Ich wollte ihn schon immer mal probieren!“

„Ach ja?“

Er nickt eifrig. „Du hast mir immer erzählt, wie süß er schmeckt. Besonders, wenn er noch warm ist. Ich wollte immer wissen, wie das ist, aber als Geist geht das ja nicht.“

„Hm … Du, sag mal, Orion?“ Ich warte, bis er mich ansieht, ehe ich fortfahre. „Ich frage mich das eigentlich schon den ganzen Tag. Wie kommt es, dass du und Niel …“

Ich beende die Frage nicht, doch Orion versteht. Er muss wissen, dass seine wahre Natur kein Geheimnis für mich ist. Dessen kann ich mir gewiss sein, seit er offen bekannt hat, in Wahrheit ein spirituelles Wesen zu sein. Zudem erschien mir Niel in unserem Gespräch wenig bemüht, die Unterschiede zwischen uns zu vertuschen. Das wurde mir klar, als ich an seine Wortwahl zurückdachte, welche er gebraucht hat.

Die einzige Antwort, die ich erhalte, ist Orions betroffener Blick. Sonst nichts. Natürlich nicht. Was habe ich auch anderes erwartet?

„Schon gut, du brauchst es nicht zu sagen.“ Ich bin enttäuscht, bemühe mich aber, es mir nicht anhören zu lassen. „Es ist okay. Ich nehm’s erst mal so hin, ja?“

„Es tut mir leid“, spricht er leise. Wir schweigen beide, bis er das Wort erneut ergreift. „Aber weißt du, eigentlich finde ich das gar nicht so schlimm. Dadurch kann ich Dinge tun, wie dich zu berühren. Oder deinen Cappuccino zu probieren.“

Ich erwidere sein Lächeln. Verdeutlichend strecke ich die Hand nach ihm aus, worauf er sie ergreift. Ich umfasse sie mit sanftem Druck.

Ja, es stimmt. Es tut gut, ihn zu spüren. Allein seine Hand halten zu können, spendet mir Trost. Was immer dafür verantwortlich ist, ich ahne, dass es nichts Gutes ist. Vielleicht ist es eine Art Strafe, das weiß ich nicht. Aber solange Orion es positiv sieht, werde ich es ebenfalls versuchen.

„Vielleicht sollten wir irgendwann Hanna besuchen“, schlage ich vor. „Meinst du nicht, dass es sie freuen würde, dich wiederzusehen?“

Orions Griff um meine Hand wird fester. „Nein“, spricht er leise. In seiner Stimme wiegt so viel Traurigkeit. „Ich denke, ich sollte sie nicht wiedersehen. Was, wenn sie sich plötzlich an mich erinnert? Niel-sama sagt, das könnte verheerend sein. Ich möchte sie nicht in Gefahr bringen.“

Mein Herz zieht sich zusammen. So sehr es mich trifft, aber er hat recht. Ich weiß zu gut, was in diesem Fall passieren würde. Die Folgen dazu kann ich mir grob ausmalen.

In Laters hat es tatsächlich eine Route gegeben, in der das passiert ist. Einige Monate nach den Ereignissen mit Ukyo traf die Heroine auf Orion in Jungengestalt. Nach etwas Anlauf erinnerte sie sich schließlich an ihn, und mit ihm an alles Vorgefallene. Für das Spiel war es natürlich etwas Gutes. Ob das für außerhalb gilt, wage ich zu bezweifeln. Das hier ist immerhin das Spadeverse. Hannas Realität in dieser Welt ist eine gänzlich andere. Ein Erinnern an nie geschehene Ereignisse hätte Chaos zur Folge. Es würde zu viel an der Welt und ihrer Ordnung verändern. Davon ist auszugehen.

„Mhm, du hast recht“, sage ich leise und drücke seine Hand fester. „Es ist zwar traurig, aber machen wir besser keine Dummheiten.“

„Weißt du, es ist manchmal ein bisschen einsam, seit sie nicht mehr bei mir ist“, beginnt er zu erzählen. „Als ich noch bei ihr war, haben wir so viel gesprochen. Wir haben so viel erlebt und ich habe sehr viel gelernt. Aber seit wir getrennt sind … Es gab keinen, mit dem ich reden konnte. Keiner konnte mich hören und keiner konnte mich sehen. Auch Hanna nicht. Und dann … habe ich dich getroffen.“

Ich höre ihm zu. Es erleichtert mich, als ich ein Lächeln auf seinem Gesicht erkenne.

„Keine Ahnung, wieso, aber du konntest mich sehen. Wir haben sehr oft gesprochen, weißt du? Sie hat mich oft getröstet, wenn ich traurig war. Und sie hat mir viel von eurer Welt erklärt, genau wie du. Wir haben uns oft getroffen, manchmal habe ich sie nur beobachtet und …“

Orion hört mitten in seiner Erzählung auf. Vielleicht hat er bemerkt, dass ich ruhiger geworden bin. Dass mein Griff um seine Hand lockerer geworden ist. Mir selbst werden diese Dinge erst bewusst, als die Stille zu mir durchdringt.

„Ah, tut mir leid! Du weißt vermutlich gar nicht, wovon ich hier rede. Ah, jetzt habe ich es wieder schlimmer gemacht …“

„Orion …“ Mein Blick ruht aufmerksam auf ihm. Mir drängt sich eine Frage auf, aber ich weiß nicht, ob ich sie ihm wirklich stellen will. „»Sie«, das ist …?“

„Nicht.“ Bevor ich dagegensteuern kann, entzieht er mir seine Hand. Ich habe das unweigerliche Gefühl, dass er meinem Blick ausweicht. „Bitte, wir … Können wir bitte so tun, als hätte ich nichts gesagt?“

So stellt er sich das vor? Ich soll es ignorieren? Mir einbilden, ich hätte nichts gehört?

„In Ordnung. Vergessen wir das einfach.“

Vielleicht ist es wirklich das Beste. Es ist so am einfachsten.

„Sag Niel-sama bitte nichts …“

„In Ordnung.“ Wozu auch?

„Ach, da fällt mir ein!“ Keine Ahnung, woher Orion so schnell die gute Laune auftreiben kann. Meine Stimmung ist gedrückt, ich kann mich ihr nicht annehmen. „Du hast noch Kuchen zu Hause, richtig? Ist das der von Nikolaus?“

„Ja?“ Fragend wende ich mich nach ihm um.

„Herzlichen Glückwunsch! Ist es nicht toll, dass du bei eurem Wettbewerb gewonnen hast? Darf ich den auch probieren? Niel-sama hat gesagt, dass er lecker ist. Er hat ihn aber nicht selbst gegessen.“

„Es ist ein vorgefertigter Erdbeerkuchen. Ich wollte ihn eigentlich zusammen mit Ukyo essen“, antworte ich geistesabwesend. Seine Aussage irritiert mich. „Wie meinst du das, Niel hat ihn nicht selbst gegessen? Woher will er dann wissen, wie er schmeckt?“

„Na, er … Hm, ich weiß es wirklich nicht.“

Wie gern hätte ich mir jetzt die Hand gegen den Kopf geschlagen. Glücklicherweise halte ich die Einkaufstüte, was mich daran hindert.

„Also echt …“ Das ist so unlogisch, dass ich lachen muss. „Weißt du, vielleicht hätte er nicht so schnell wieder aufbrechen sollen. Ich glaube, er hätte ein richtiges Stück nötig, um sich ein wahres Urteil bilden zu können.“

Dahin ist jeglicher Trübsinn. Ich gebe zu, dass es ein wildes Auf und Ab an Emotionen ist. Und es ist anstrengend, wirklich anstrengend. Aber ich nehme es gern in Kauf, solange es mich daran erinnert, dass auch ein finster begonnener Tag in hellem Sonnenschein münden kann.

 

Zuhause verstauen Orion und ich die Einkäufe. Direkt im Anschluss brühe ich uns einen Cappuccino auf, wie ich es versprochen habe. Während das Wasser kocht, höre ich den Benachrichtigungston meines Handys. Ich gehe zu meiner Tasche hinüber, um die Nachricht zu lesen.

„Hat dir jemand geschrieben?“

„Mhm. Irgendein Spinner, der zu viel Langeweile schiebt.“

»Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg beim Nikolaus-Event. Entschuldige, dass ich dir bisher nicht persönlich gratuliert habe. Hattest du Spaß auf der Party?«

Ich schnaube genervt. Dieser Typ hat Nerven erneut zu schreiben, ohne meine Frage zu beantworten. Noch eine Chance bekommt er oder sie nicht. Die Nachricht wird kurzerhand gelöscht.

„Ist auch egal. Hast du Hunger? Ich könnte uns ein paar Brote machen.“

„Mh. Soll ich dir dabei helfen?“

„Nein, das brauchst du nicht“, lächle ich. „Du kannst dich schon mal setzen. Es dauert nicht lang, versprochen.“

„Okay.“ Er begibt sich hinüber zum Esstisch, wo er denselben Platz von heute Morgen einnimmt. Derweil durchforste ich den Kühlschrank nach Dingen, womit ich die Brote belegen will. „Du weißt nicht, wer dir schreibt?“

„Hm? Nein. Zumindest nicht bei dieser einen Person. Das geht schon eine ganze Weile so.“

„Was schreibt derjenige denn?“

„Nur belangloses Zeug, wenn du mich fragst. Meist erkundigt er sich oder schreibt von Dingen, die nur ein enger Kreis wissen kann.“

„Das ist ja unheimlich.“

„Ja, ich weiß.“

„Und antwortest du?“

„Nur einmal bisher. Aber das hätte ich mir auch sparen können.“

„Hm. Und du hast keinen Verdacht, wer es sein könnte?“

„Nicht wirklich.“ Wiederholt gehe ich die Möglichkeiten in meinem Kopf durch. „Es kommen an sich nur wenige Personen infrage. Aber von denen kann es eigentlich keiner sein. Bei keinem würde es wirklich Sinn machen.“

„Hast du schon jemanden gefragt?“

„Nur einen bisher. Aber ich glaube, selbst wenn ich die richtige Person darauf ansprechen würde, würde sie nicht zugeben, dass sie es war. Anderenfalls wäre es witzlos, mir mit unterdrückter Nummer zu schreiben, meinst du nicht?“

„Hm.“

„So, fertig.“ Geübt schneide ich die Brote und verteile die halbierten Scheiben auf zwei Teller. Noch zwei Servietten dazu, schon balanciere ich sie zum Tisch. „Ich wusste nicht, was dir schmecken könnte, deswegen habe ich verschiedene Dinge ausgesucht. Probier ruhig, wovon du magst.“

„Danke.“

In einem zweiten Gang hole ich unsere beiden Tassen, die ich zuvor aufgieße. Anschließend setze ich mich auf meinen üblichen Platz. Meine erste Wahl fällt auf eine Scheibe mit Nougatcreme. Orion tut es mir gleich und greift zu der anderen Hälfte. Ich warte gespannt, wie er reagiert.

Wie nicht anders zu erwarten, weiten sich seine Augen, nachdem er den ersten Bissen probiert hat. „Das schmeckt lecker!“

„Das ist Nougatcreme“, erkläre ich mit einem Schmunzeln. „Ich habe mir gedacht, dass Süßes eher etwas für dich ist. Du kannst die anderen Scheiben ruhig haben.“

„Wirklich?“

„Sonst würde ich’s nicht sagen.“

Schon niedlich. Ich gebe zu, irgendwie hat das was. Es ist noch ungewohnt, Orion hier zu haben, aber seine Anwesenheit gibt mir schon jetzt ein Gefühl von Entspannung.

 „Das sind sehr schöne Fotos“, bemerkt Orion während des Essens. „Sind die von Ukyo?“

„Mhm.“ Kurz nicke ich, bevor ich seinem Blick zu der hellen Wand folge. „Ja, allesamt. Sie sind wirklich schön, nicht?“

„Ja. So sieht also die Arbeit eines echten Fotografen aus.“

„Hast du die Bilder etwa noch nie gesehen?“

„Nicht so richtig.“

Besser, ich hinterfrage es nicht weiter. Stattdessen sehe ich zurück auf die Fotos und lasse meine Gedanken still schweifen.

„Weiß Ukyo eigentlich davon?“, schleicht es mir über die Lippen. Diese Frage drängt sich mir unwillkürlich auf. „Das von mir?“

Ich erhalte im ersten Moment keine Antwort. „Ist dir das wichtig?“

„Ja, eigentlich schon.“

„Wieso fragst du ihn dann nicht selbst?“

Ich seufze schwer.

Witzig. Wie stellt sich Orion das vor? Ich kann doch nicht einfach hingehen und etwas in den Raum stellen, wovon ich selbst keine Ahnung habe. Habe ich Amnesie? Gibt es mich zweimal? Bevor das nicht geklärt ist, brauche ich nicht weiterzumachen. Es ist zu früh, um andere mit meinen voreiligen Schlüssen zu konfrontieren. Das würde nur Chaos stiften. Mehr davon brauche ich wirklich nicht.

In dem Moment klingelt mein Handy. Zum Glück. Die Störung kommt mir sehr gelegen.

„Entschuldige mich kurz.“ Ich erhebe mich von meinem Platz, um das Handy zu holen. Nachdem ich die Bildschirmsperre aufgehoben habe, erkenne ich, dass es eine Nachricht von Luka ist.

»Es steht fest. Triff mich 18 Uhr am üblichen Ort. Ich freue mich, dich zu sehen.«

Einen Moment überlege ich, bevor ich meine Antwort verfasse. Ich will sichergehen, ob der Nikuni-Stadtbrunnen gemeint ist.

Ich prüfe die Handyuhr. Aktuell haben wir es kurz vor zwei. Das letzte Mal habe ich keine Stunde von hier nach Nikuni gebraucht. Es reicht also, wenn ich die U-Bahn gegen viertel sechs nehme. Vor um fünf brauche ich nicht loszugehen. Das bedeutet, ich habe noch etwa zwei Stunden, bis ich mich fertigmachen muss. Luka hat meine Bitte berücksichtigt.

Kurz darauf erhalte ich eine Antwort. In dieser bestätigt er mir den Ort unseres Treffens. Sehr gut, damit kann ich etwas anfangen.

„Ich werde heute Abend weg sein“, sage ich an Orion gewandt. Derweil ändere ich den Eintrag in meinem Telefonbuch und mache aus »Picas« einen »Luka«. „Was wirst du in der Zeit machen?“

„Du gehst noch weg?“

„Mh. Ich treffe mich mit Luka.“

„Was?“, ruft er überrascht aus. „Du triffst dich mit ihm? Heute noch?“

Ich verstehe seine Aufregung nicht. „Ja. Ich sagte doch, dass er mein Freund ist. Was ist daran so besonders?“

„Aber …“ Orions Stimme wird leise. „Das ist nicht gut. Wieso ausgerechnet heute?“

„Das steht schon seit gestern fest. Nur die Zeit wussten wir noch nicht“, erkläre ich. Mit wenigen Schritten kehre ich an den Tisch zurück und greife nach meiner Tasse.

„Ich finde, du solltest nicht hingehen“, spricht Orion gedämpft. „Es ist viel zu gefährlich. Es wäre besser, wenn du zu Hause bleibst und auf Ukyo wartest.“

Wie lange soll das sein? Bei Ukyo weiß man nie, wann er auftaucht und wieder verschwindet. So viel habe ich in der Zwischenzeit gelernt, zu meinem Bedauern.

„Keiner weiß, ob er heute überhaupt nach Hause kommt. Und wieso soll ich hier alleine herumsitzen und auf eine bessere Fügung warten?“ In einem Ansatz leere ich den Rest meines Cappuccinos. Direkt im Anschluss gehe ich in die Küche, um die leere Tasse in die Spüle zu stellen. „Ich werde hingehen. Ich erreiche nichts, wenn ich nur zu Hause sitze.“

„Aber wenn dir etwas passiert? Wir haben uns etwas versprochen, erinnerst du dich?“

Ich seufze schwer. „Ja, ich weiß. Aber ich habe Luka auch etwas versprochen. Und er war leider vor dir da.“

Ich ernte Sekunden des Schweigens. „Kannst du dir nicht eine Ausrede einfallen lassen?“

Eine Schachtel Zigaretten liegt auf der Theke neben dem Wasserkocher. Ich nehme sie samt beiliegendem Feuerzeug und bewege mich in Richtung Balkon. „Sorry, Orion, aber ich möchte hingehen“, erkläre ich langsam. „Ich brauche Ablenkung und muss ein wenig raus. Außerdem möchte ich Luka ein wenig besser kennenlernen. Und … es gibt so vieles, was ich herausfinden muss. Wie sollte ich das, wenn ich mich nur zu Hause verstecke? Ich kann nicht ewig davonlaufen.“

Damit habe ich den Nagel gesetzt. Orion widerspricht nicht und ich sehe keinen Bedarf für weitere Worte. Nach einem kurzen Bescheid verschwinde ich auf den Balkon, um meine Nerven zu versorgen.

 

Die nächsten Stunden vergehen ruhig. Orion hat sich für einen kleinen Spaziergang abgemeldet und ich mich vor den Laptop gesetzt. Versucht lese ich über die Zeilen, doch es mangelt mir an Konzentration. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Es ist zu viel passiert und die Fragen werden nicht weniger. Was wird mich bei meinem Treffen mit Luka erwarten? War der Unfall nur ein dummer Zufall? Werde ich Niel wiedersehen und Antworten von ihm bekommen? Wie soll ich Ukyo nur wieder unter die Augen treten?

Ergeben schließe ich das Dokument. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich mit »Rain Beat« zu befassen. Ich erinnere mich an Kentos E-Mail. Bestimmt wartet er auf meine Antwort. Zu gern würde ich sie ihm geben, doch im Moment gibt es wichtigere Dinge zu tun. Ich werde ihn wohl ein wenig länger vertrösten müssen. Nur wie ich das begründen will, ist mir im Moment noch schleierhaft.

Bald ist es um vier. Orion ist noch immer nicht von seinem Ausgang zurück. Allmählich befallen mich Zweifel, ob er überhaupt zurückkommen wird. Es wäre bedauerlich, wenn nicht. Verübeln könnte ich es ihm allerdings nicht.

In meinem Zimmer durchwühle ich den Kleiderschrank nach angemessener Kleidung. Ich entdecke einen schwarzen Rollkragenpullover, der mir angezogen bis über den Hintern reicht. Er ist sehr bequem, weswegen er zu meiner ersten Wahl wird. Eine schwarz-weiß geringelte Leggins erregt meine Aufmerksamkeit. Diese Art von Mode fällt normalerweise nicht in mein Jagdgebiet. Trotzdem besitze ich sie. Ich zögere einen Moment, bis ich mich entschließe, es zu versuchen. Das hier ist ein anderes Leben. Wieso nicht etwas Neues wagen?

In einem Kästchen finde ich eine kleine Auswahl an Schmuck. Kurz frage ich mich, woher ich ihn habe. Ich liebe Schmuck, ich kam zu Hause nur selten dazu, welchen zu tragen. Von meinen beiden Leder- und der einen Silberkette mit violettem Steinanhänger einmal abgesehen. Doch hier besitze ich einige silberne Armkettchen, verschiedene Armreifen und zwei Paar Ohrringe, die mir nicht vertraut sind. Habe ich sie gekauft? Sie treffen auf jeden Fall meinen Geschmack.

Ich entscheide mich zu zwei Armreifen, eines weiß und eines schwarz. Beide sitzen locker um mein Handgelenk und klimpern leise, wenn ich es bewege. Unschlüssig mustere ich die beiden Ohrringe. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für die silbernen und lege sie an. Sie bestehen aus je zwei schlichten Kettensträngen, eine länger und die andere um ein Viertel kürzer. Mir gefällt, wie leicht sie mit jeder Kopfbewegung schwingen. Sie tragen zudem kaum Gewicht, was sehr angenehm ist.

Im Badezimmer wird die Brille durch Kontaktlinsen ersetzt. Ich beschließe, die Haare offen zu lassen und lediglich aufzupeppen. Mit Föhn, Rundbürste und Tapierkamm geht es an die Arbeit. Bevor ich zum Haarspray greife, kümmere ich mich um mein Gesicht. Mit ein bisschen Farbe und Betonung der Augen sehe ich gleich sehr viel frischer aus. Dass ich wenige Stunden zuvor dem Tod knapp von der Schippe gesprungen bin, lässt sich nicht länger vermuten. Ich bin zufrieden und beende mein Selbstwerk, indem ich das Badezimmer einmal ordentlich verneble.

Wenig später stehe ich fertig im Wohnzimmer. Das Outfit passt, die Frisur sitzt und ich dufte gut. Meine Tasche ist gepackt, Schuhe trage ich bereits. Zu gern hätte ich jene getragen, die ich mit Luka bei unserem letzten Treffen erworben habe. Leider passt Weiß nicht zum Rest meiner Farbwahl. So ist es bei meinen üblichen schwarzen Absatzstiefeln geblieben. Luka wird damit leben müssen.

 Es ist zehn vor fünf. So langsam kann ich mich auf den Weg machen. Orion ist noch immer nicht da, was mich bekümmert. Leider werde ich nicht länger auf ihn warten können.

Im Flur hapere ich, welchen Mantel ich anziehen soll. Der Neue, den Luka für mich gekauft hat, ist wirklich sehr schön. Er würde auch gut zum Outfit passen. Aber will ich so auffällig durch die Stadt gehen? … Naja, es ist immerhin Japan. Viele Leute laufen hier mutig herum. Und neben Luka, wie sehr kann ich da schon auffallen?

Ich schiebe allen Unmut beiseite und hebe ihn vom Haken. Noch schnell ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann fasse ich mir ein Herz. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Sorgfältig verschließe ich die Wohnung. Anschließend folge ich der Treppe nach unten, hinaus in eine neue Schlacht um das Ungewisse.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben:

1. Lass dich von dem Freund Ukyos zusammen mit Orion in ein Café bringen. Dort befragt dich nun der Fremde. Er wird dich fragen, ob du Mari schon getroffen hast, ob irgendetwas seltsames abgesehen von dem Beinahe Tod passiert ist, woran du dich erinnern kannst, ob dein Körper sich seltsam anfühlt und wer du bist. Er wird dir an den Kopf werfen, dass du nicht du bist. Du hast die Ehre ihm zornig das Cappy vom Kopf zu reißen und ihn als Niel zu enttarnen. Außerdem wird Niel dich für deinen Kuchen loben, auch wenn er eingesteht, dass er ihn nicht gegessen hat.
2. Gehe doch noch einkaufen. Kaffee und Cappuccino sind wichtig. Du wirst zweiteres die nächsten Tage dringend brauchen. Orion weicht dir dabei nicht von der Seite und stellt dir weitere Fragen zu deiner Person.
3. Während eures Gespräches verplappert sich Orion ein wenig und merkt an, dass er die Shicchi vor dir auch schon kannte, beobachtet hat und hin und wieder traf. Um abzulenken macht er dir ein Kompliment zu deinem leckeren Kuchen von Nikolaus.
4. Dein Stalker meldet sich wieder. Er entschuldigt sich dafür, dass er dir nicht persönlich zu deinem Sieg beim Backen gratulieren konnte. Außerdem fragt er dich, ob du Spaß auf Shins Geburtstagsparty hattest.
5. Luka schreibt eine SMS. Er meldet den Platz eures Treffens mit den Worten "18 Uhr, am üblichen Treffpunkt" (dieser ist der Treffpunkt von eurem ersten Date bei dem du geistig anwesend warst XD)
6. Orion ist nicht begeistert über das Treffen und versucht es dir auszureden. Mach dich zuhause dennoch fertig und geh hin.

Als ich die Aufgaben sah, bin ich förmlich an die Decke gegangen. Natürlich wusste ich schon vorher, dass der Fremde Niel ist, aber Autorenwissen ist kein Insertwissen. Naja, trotzdem war ich wütend. Ich habe mit einem mentalen Absturz gerechnet, den mein SI auch hatte, aber sonst war es lustigerweise sehr entspannt. Der Großteil des Kapitels ging mir sehr leicht von der Hand. Ärgerlich war nur der spätere Orion-Part, weil ich selbst auf die einfachsten Fragen keine Antwort erhalten durfte. Ja, das hat meine Göttin so vorgeschrieben. Ist das nicht gemein? ;__;
Sonst gibt's eigentlich nicht viel dazu zu sagen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Erenya
2015-10-30T12:23:24+00:00 30.10.2015 13:23
Oi oi... Keine Offensive gegen die Göttin die dir einen Gutaussehenden Lebensretter nach dem anderen zur Seite stellt und dich dann noch mit Orion stärkt. *schmoll*
Ich will es mal so sagen... alles braucht seine Zeit. Wir wissen beide, dass es nicht richtig wäre, wenn dir jemand alle Antworten auf dem Silbertablett serviert. Das würde dich nicht glücklich machen.
Antwort von:  Shizana
30.10.2015 21:58
Naw, Erüü~ Du kennst meine Meinung dazu. ;)
Was heißt hier "einen nach den anderen"? Mir wurde erst einmal das Leben gerettet! Und einmal hat mich ein hübscher, wenn auch leicht-psychopathischen Mitbewohner fast das Licht ausgeknipst … Dir ist klar, das macht zwei Mordversuche an mir. Ich habe einen bei dir gut. oO

(Und bitte nicht wieder hier auf meine Antwort antworten. U know, das zählt als Kommentar, obwohl es keiner ist. >_<')
Von:  PenguinGirl
2015-10-30T11:58:11+00:00 30.10.2015 12:58
Wuhu neues Kapi~x3 (Tut mir leid das ich erst jetzt ein Kommentar verfasse, und das sogar obwohl ich diese FF sogar auf Fanfiktion.de verfolge... omo)
Ich bin ein großer Fan von deinem Geschreibsel geworden und ich finde deine Handlungen und Gedanken auch wirklich nachvollziehbar:D

Antwort von:  PenguinGirl
30.10.2015 13:01
Verdammt zu früh auf "posten" gekomme... >_>
Auf alle Fälle: Ich freue mich immer wahnsinnig wenn ich sehe das du ein weiteres Kapitel hochgeladen hast und der (Alp-)Traum war gruselig... der aus dem letzten Kapi... mir sind richtig die Tränen gekommen als du das mit deiner Katze geschrieben hast... .-. Habe zwar keine Katze aber einen Hund(welche bereits 9 ist) und früher ist uns ein ater zugelaufen der überfahren worden ist... daher konnte ich mich gut in deine Lage(auch wenn es ein Traum war)hineinversetzten ^^
Freue mich auf jeden Fal schon auf das nächste Kapi:D(und ja du hast recht, Erenya ist gemein das du noch nicht mal auf einfache Fragen Antworten bekommen darfst... omo)
Antwort von:  Shizana
30.10.2015 21:53
Oh, OH! Ein Leser? Ich habe einen Leser! Sei willkommen, sei willkommen. >///<
Du verfolgst ZdW schon die ganze Zeit? Wei, jetzt ist mir das irgendwie peinlich … Aber ich freue mich, dass du Spaß an dem Projekt hast. Ich hoffe, wir können dir auch weiterhin eine schöne Zeit bereiten. ♥

Alles Liebe
Shizana


Zurück