Blitzschläge und vergossener Tee (J)
Gut, zugegeben; mit meinem Satz hatte ich ihn wirklich direkt in sein Herz - das sich gerade zum ersten Mal zeigte - getroffen. Kaiba schluchzte, und machte mein T-Shirt völlig nass. Die Tatsache, dass ich ihn im Arm hielt, ließ mein Herz wie verrückt gegen meine Brust pochen.
Dann wurde es still. Kaiba ließ aber nicht von mir ab, er schmiegte sich etwas an mich und umschlang mich mit seinen Armen. Vorsichtig legte ich meine Hand auf seinen Kopf, streichelte behutsam drüber. "Es tut mir Leid", wiederholte ich und hoffte, dass der Braunhaarige antworten würde. So dermaßen emotional demoliert hatte ich ihn noch nie gesehen. Es war wie ein Schock für mich. Diese Seite von Kaiba hätte man für einen Mythos halten können. Etwas umstrittenes, sogar etwas unmögliches. Und nun ist er in meinen Armen, und schnauft noch.
Unerwartet stieß er sich gleich danach weg und wollte so tun, als wäre das nie vorgefallen. Man hörte ihn aber noch laut atmen. Kaiba setzte sich auf seinen Bürosessel, welchen er bis zur Grenze nach hinten lehnte und schon fast lag. "Und du willst jetzt einfach so einschlafen, ohne danke zu sagen, dass ich dich gehalten habe?", fragte ich total verständnislos. Meine Frage schien von der Luft weggetragen worden zu sein. "Hallo?!", meine Stimme wurde lauter und ich war kurz davor, den Geduldsfaden zu verlieren.
"Vergiss es einfach", sagte er fast befehlend und versuchte anscheinend, zu schlafen. Ich schluckte. Wie könnte ich so etwas vergessen. Das geht in die Geschichte ein. Seto Kaiba weint... "Dafür, dass ich das allen erzählen könnte, bist du nicht sehr nett zu mir", sagte ich brummend, worauf Kaiba innerlich zusammen zuckte. Man merkte es nicht, vor Allem nicht im Dunkeln, aber wir alle kannten den Firmenleiter. Außen zeigt er Nichts, aber innerlich ist jedes einzelne Gefühl sehr wohl vorhanden. Aber diese Nacht hat er etwas gezeigt: Trauer. Trauer, die er seit Jahren in sich hinein frisst und unterdrückt.
Ich näherte mich ihm und flüsterte ihm ins Ohr; "Wenn ich bis morgen nicht weg von hier bin, dann..." - ich brach den Satz ab. Auf eine Weise gab es mir kleine, pulsierende Adrenalinschübe. Das war es doch, was du wolltest, Joey: Kaiba nahe sein. In seine Augen sehen. Seinen Atem an deinem Hals spüren...
"Halt die Klappe, Wheeler", fauchte er und wollte sich beim Einschlafen nicht stören lassen. Sein gleichmäßiges Atmen beruhigte mich, war wie ein sanfter Rythmus, der verzauberte. Reuelos nahm ich die Tasse, die mit Tee gefüllt war, und schüttete sie über seine Haare. "Hast du gerade...", brachte er stammelnd heraus. Man brauchte kein Licht, um zu wissen, dass er gerade weit aufgerissene Augen und einen unglaubwürdigen Blick hatte.
Er stand ruckartig auf und fuhr sich durch die Haare, um sicher zu gehen, dass das gerade wirklich passiert ist. Der wütende Geschäftsmann packte mich am Kragen und zog mich unvorstellbar nahe an sich. Gerade wollte er etwas sagen, etwas schreien, mich beschimpfen. Doch er tat es aus irgendeinem Grund nicht und verhielt sich gegenüber mir schon wieder so seltsam. Seinen Atem ließ er stoßweise aus und ließ ihn mich spüren. Das, wonach ich mich gesehnt hatte: Deinen Atem an meiner Haut.
"Wenn du mich anschreien willst, hast du jetzt Möglichkeit dazu", erinnerte ich ihn. Er schien meinen Atem ebenfalls an seinen Lippen gespürt zu haben, er zuckte kurz zurück. Seine Finger zitterten, schienen auf einmal so zerbrechlich. Dann durchfuhr es mich wie ein Blitzschlag und ich keuchte erschrocken auf. "Kaiba", sprach ich und man hörte den Schock in meiner Stimme. Er lauschte. Sein Zittern ließ jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
"Du hast diesen Schlüssel absichtlich verloren, oder?", wurde mir klar und wir beide sahen uns direkt in die Augen. "So ein Blödsinn", hauchte er und das Zittern wurde stärker. Es wandelte sich gar in ein Vibrieren um. Noch immer hielt er an meinem Shirt fest und ich bekam nur schwer Luft.
Schon fast keuchte ich. Doch dieser Moment... war perfekt. Dieser Moment war perfekt.
Unsere Lippen berührten sich beinahe, als wir ein Klopfen an der Tür wahrnahmen. "Seto! Seto, was ist los? Du sicherst nie die Türe zu deinem Büro!" - Mokuba. Augenblicklich zog Kaiba seine Hand zurück und ich fiel zu Boden. "Ich habe mich versehentlich eingesperrt, Mokuba", gab der Braunhaarige ohne Emotionen zu. "Soll ich Roland holen?", kam es verzweifelt vom kleinen Kaibabruder.
Es war still. Kaiba zögerte. Er wollte Roland nicht die Türe öffnen lassen. Er wollte das hier weiter machen. Er hatte den Schlüssel absichtlich fallen lassen.