Angst
Das Klirren der Klingen holte Oscar aus ihrer Gedankenwelt. Unvermittelt schärften sich ihre Sinne, als sie das schneidende Geräusch, das durch die Luft glitt, wahrnahm. Erschrocken musste sie zusehen, wie ihr Degen durch die Luft flog und außerhalb ihrer Reichweite zum Liegen kam.
Ihr Herz schlug mit einem Mal so heftig gegen ihre Brust, wie sie es noch nie erlebt hatte. Normalerweise war sie doch die Ruhe selbst und durch Niemanden und Nichts aus der Fassung zu bringen und schon gar nicht im Kampf – doch nun das! Entwaffnet und vollkommen erstarrt stand sie da, unfähig die Situation zu begreifen und sich aus ihrem Schock zu lösen. Sie spürte wie sich augenblicklich ihre Kehle zuschnürte und sie nach Luft rang. Ihr Atem ging schnell und unkontrolliert. Plötzlich merkte sie, wie ihr – ohne Vorwarnung - der Boden unter den Füßen entrissen wurde und sie den Halt verlor. Wortlos sank sie auf ihre Knie und vergrub fassungslos ihr Gesicht in den Händen. So etwas war ihr noch nie passiert. Oscar merkte, wie ihr der Zorn über das eigene Versagen die Röte ins Gesicht schießen ließ. Mit tränenerstickten Augen und gesenktem Blick schlug sie immer wieder mit der Faust auf den Boden. Dadurch bemerkte sie nicht, wie sich ihr Gegner auf sie zubewegte und plötzlich bedrohlich über ihr zum Stehen kam. Als Oscar die Gegenwart ihres Gegenübers spürte, breitete sich ganz unvermittelt eine unsagbar einnehmende Angst in ihr aus. Selten hatte Oscar in ihrem bisherigen Leben Angst gehabt, verlief doch bislang alles so, wie sie es wollte. Sie kontrollierte alles! Doch nun? Konnte sie es sich leisten die Kontrolle zu verlieren, Angst zu haben oder gar Angst zu zeigen? War ihre Angst nicht als Schwäche zu werten? Verbissen kaute sie auf ihrer Lippe herum und dachte darüber nach wie sie dieses unbestimmte Gefühl der Angst unterdrücken konnte. Ihr Körper begann unvermittelt zu zittern. Noch immer stand sie vollkommen neben sich.
Die Stimme ihres Gegenübers schnitt durch die aufgekommene Stille und holte sie aus ihrer Gedankenwelt. „Oscar“, sie vernahm eine warme Stimme. Unvermittelt sah sie auf und blickte direkt in die sanften Augen ihres Gegenübers. Dieser streckte ihr auch sogleich seine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Doch sie ergriff sie nicht, viel zu stolz war sie und stand Sekunden später von selbst wieder auf den Beinen. „Was war los, Oscar?“ André sah sie mit fragendem Blick an. „Du warst ja so in Gedanken vertieft, dass du dich von mir entwaffnen ließt. Das ist dir ja noch nie passiert!“ schmunzelnd stupste André sie leicht in die Seite. „Du warst in Gedanken wohl bei einem jungen Mann, was? Was könnte eine Frau denn sonst so aus dem Gleichgewicht bringen?!“ gluckste er vergnügt und sah Oscar mit einem warmen Lächeln an. Doch Oscar konnte nicht in seine freudige Stimmung einsteigen. Wütend funkelte sie ihn an, holte ihren Degen und ging wortlos und schnaubend an ihm vorüber. Sie ließ ihn einfach stehen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Vollkommen überrascht stand André da und sah Oscar nach, wie sie wutentbrannt ins Haus stürmte. Das hatte er bei Weitem nicht erwartet. Ihr Verhalten verwirrte ihn. Zögernd machte auch André sich auf den Weg zurück ins Anwesen.
Als André die Küche betrat, hörte er noch wie Oscars Tür knallend zufiel bevor sich eine wütende Sophie auf ihn stürzte. In einer endlosen Schimpftirade entlud sich ihr ganzes Unverständnis. Aber auch André verstand nicht. Dennoch hob er beschwichtigend seine Arme, doch diese vermochten ihm kaum Schutz gegen den Wortschwall zu bieten, der von einer erbosten Sophie auf ihn hereinstürzte. Seufzend ließ er es über sich ergehen, da er ohnehin keinen Ausweg sah dem Redeschwall zu entgehen. Nach einigen Minuten schien Sophie sich zu beruhigen. Offensichtlich hatte sie vergessen worüber sie mit ihrem Enkel so schimpfte. André versuchte es herauszufinden: „Was ist denn los?“, er sah sie fragend an. „Das fragst du noch?“ wetterte sie. „Du bist doch derjenige der Schuld daran hat, dass sich Lady Oscar am helllichten Tag in ihr Gemach zurückzieht und sich für das gemeinsame Abendmahl entschuldigen lässt!“ André fiel aus allen Wolken. „Ich hab doch gar nichts gemacht Großmutter. Wir haben nur gefochten und plötzlich benahm sie sich ganz seltsam! Weißt du nicht was sie hat?“ Sophie rückte ihre Brille zurecht. Prüfend sah sie ihren Enkel an. Unbewusst nickte sie wissend, entschloss sich aber ihre Gedanken bei sich zu behalten und schob ihren Enkel aus der Küche hinaus.
Oscars aufgestaute Wut entlud sich an der schweren Tür zu ihrem Salon. Unruhig lief sie in ihrem Gemach auf und ab. Ihr Degen durchschnitt mehrfach geräuschvoll die Luft. Vollkommen außer Atem ließ sich Oscar auf ihr Bett fallen. Oscars Brustkorn hob und senkte sich schwer unter ihrem hektischen Atem. Sie sah an sich hinunter und unvermittelt sammelten sich wieder Tränen in ihren Augen. Überwältigt von ihrer aufkommenden Schwäche schlug sie mit den Fäusten in die Laken. Erneut war sie ihrem Zorn erlegen. Sie fixierte die prachtvoll verzierte Decke und schaffte es zum Glück bald wieder zur Ruhe zu kommen und ihren Atem wieder zu kontrollieren. Besänftigt stellte sie fest, dass sie es zumindest geschafft hatte, dass sich keine Träne aus ihren Augen gelöst hatte. Seufzend verschränkte Oscar die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Noch einmal verlor sie sich an diesem Tag in ihren Gedanken. Sie hatte noch nie beim Fechten gegen André verloren. Sie hatte ohnehin noch nie in irgendetwas gegen ihn verloren. Sie war ihm stets überlegen in allem – bis zum heutigen Tage. Erneut breitete sich eine ungeahnte Angst in Oscar aus. Musste sie sich eingestehen dass er nun stärker war als sie? Oder war sie doch eher schwächer geworden? Bildete sie sich diese Schwäche vielleicht nur ein? Hatte sie vielleicht nur verloren, weil sie in Gedanken war, so wie André es vermutete?
Recht mit seiner Vermutung hatte er auf jeden Fall gehabt, denn dieser Gedanke lastete seit den Morgenstunden sorgenschwer auf ihren Schultern. Etwas was sie vollkommen aus der Fassung gebracht hatte war geschehen: Sie wachte an diesem Morgen auf und alles war voller Blut! Sie wusste nicht wo es herkam und konnte sich auch an keine Verletzung erinnern. Eine unsagbare Panik breitete sich in ihr aus, als sie feststellte, dass das Blut ohne erkennbare Verletzung floss und ohne dass sie Einfluss darauf hatte. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben keine Kontrolle! Völlig aufgelöst stand sie da, in ihrem Gemach und wusste nicht was sie tun sollte. Dann kam auch noch Sophie herein. Diese verstand sofort und umarmte sie gleich! Dann meinte sie freudig, dass Oscar nun zu einer echten Frau geworden sei und sich ja nun auch so benehmen könne.
Sorgenschwer öffnete Oscar die Augen und seufzte. Zum Glück hatte ihr Sophie alles erklärt. Sie war nun eine Frau. Eine FRAU! Verächtlich fing sie an zu lachen und sah an sich hinunter. Oscar streifte über ihre Brust. Ihr Körper veränderte sich schon seit einer geraumen Zeit. Schleichend und zunächst unbemerkt. Bereits vor einigen Monaten begann Oscar sich die sich entwickelnden Brüste mit straffen Bandagen abzubinden um zu verhindern, dass jemand sie als Frau wahrnahm. Um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass sie eine Frau war, wurde sie doch streng als Junge erzogen. Sie war nun vierzehn Jahre alt und hatte beim königlichen Garderegiment ihr Kommando begonnen. Alles lief doch so gut. Mit André hatte sie einen treuen Weggefährten, den sie sehr schätze und dem sie sich brüderlich verbunden fühlte. Sie erlebten viele gemeinsame Abendteuer, stets war er an ihrer Seite, stets sammelten sie dieselben Erfahrungen und entwickelten sich gemeinsam. Auch als sie beim Garderegiment ihren Dienst antrat blieb er an ihrer Seite. Und nun DAS. Eine FRAU?! Sollte sich nun alles ändern? Und dann noch diese Angst!
Wütend schüttelte Oscar ihren Kopf und schlug erneut mit der Faust in die Laken. Zornig entfloh ihr ein überreizter Schrei. Warum musste sich alles so entwickeln? Warum mussten ihre Brüste wachsen und warum musste eine Blutung sie daran erinnern, dass sie nun eine Frau war? Würde sie das schwach machen? Ohne Zweifel. Der heutige Tag hatte es ja schon offenbart. Offensichtlich fing sie an schwach zu werden wie eine Frau. Würde diese Tatsache ihre Freiheiten einschränken? Warum musste sie nur als Frau geboren sein? Sie grübelte zu viel. Sie konnte mit ihren Gefühlen nicht umgehen, sie übermannten sie. Wütend stand sie auf und nahm ihren Degen. Männer hatten es so viel leichter! Aber sie würde sich niemals unterkriegen lassen! Niemals mehr würde sie Angst haben, wie vorhin beim Fechten! Sie würde nie mehr Schwäche zeigen! Sie würde niemals schwach wie eine Frau werden. Sie würde konsequent ein Mann sein! Noch während sie erneut die scharfe Klinge durch die Luft schneiden ließ, hörte sie ein Klopfen und Andrés Stimme, die um Einlass bat.
Oscar bat ihn zu sich. Er brachte ihr das Abendmahl auf ihr Zimmer. „Großmutter schickt mich dir das Essen zu bringen, guten Appetit Oscar.“ André stellte das Tablett ab und machte sich auf den Rückweg. „Warte, leiste mir ein wenig Gesellschaft“ bat Oscar und zeigte auf den Sessel neben sich. Schweigend und gedankenversunken nahm Oscar das Mahl zu sich. Plötzlich bemerkte sie Andrés Blicke auf sich ruhen. Sofort begann sie sich unwohl zu fühlen. Und da war wieder diese Angst. Eindringlich starrte sie zurück. Ihr fiel zum ersten Mal auf, dass er sie so ansah. Irgendwas an seinem Blick ließ ihr eine Gänsehaut über den Rücken fahren. Mit einem Mal erschrak Oscar. Ob er es merkte? Sah er es ihr an, dass sie nun eine Frau war? Beschämt senkte sie ihren Blick und errötete. Oscar lenkte den Blick auf ihr Glas das sie in Ihrer Hand kreisen lies und sah den Wogen des Weins zu. Sie sah nicht mehr auf, viel zu unangenehm war ihr Andrés Blick. Sie verlor sich wieder in ihren Gedanken. Plötzlich durchschnitt Andrés Stimme ihre Gedanken: „Oscar ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst heute so still und zerstreut und hängst dauernd deinen Gedanken nach, so kenne ich dich gar nicht. Du bist so verändert!“ Oscar entglitten ihre Gesichtszüge. Völlig erstaunt starrte sie ihn an. Erschrocken fuhr sie hoch. Hatte er sie durchschaut? „Was genau meinst du?“ prüfend sah sie ihn an. Sie versuchte zu ergründen, was er meinte. „Ich weiß nicht, du wirkst einfach so anders heute.“ Erleichtert ließ sich Oscar wieder in den Sessel fallen. Offensichtlich wusste er noch nichts. In diesem Moment wurde Oscar klar, dass sie von nun an härter daran arbeiten musste als Mann aufzutreten. Als Kind war das kein Problem, da machten ihr die körperlichen Besonderheiten einer Frau noch keinen Strich durch die Rechnung. Von nun an musste sie eben mehr aufpassen und sich konsequenter als Mann geben und alle weiblichen Gefühle verdrängen. Der Entschluss war gefasst, nun musste sie ihn nur noch umsetzen. Abrupt schwang sich Oscar aus dem Sessel. „Los, komm mit in den Hof. Ich will eine Revanche. Du hattest recht, ich war vorhin in Gedanken, noch einmal wirst du mich nicht besiegen!“ Mit einem entschlossenen Grinsen sah sie zu ihm herüber und stürmte auch schon aus dem Zimmer. Verdutzt sah André ihr nach. Kopfschüttelnd erhob er sich und seufzte. Im Hof musterte er sie gespannt. Offensichtlich hatte sie wieder zu sich gefunden. Vor ihm stand die alte, willensstarke und sich selbst bewusste Oscar die er so gut kannte!