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Corvus et Vulpes

von

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Ankunft in Hogwarts

Galatyn war so beleidigt, dass er nicht einmal mehr schrie oder tobte. Still und leise hockte er da in seinem Käfig und streckte ihr demonstrativ das Hinterteil entgegen. Selbst als ihm Jiang Li reuig einen übriggebliebenen Scone vor den Schnabel hielt, reagierte er mit keinem Mucks, sondern zog stattdessen den Kopf noch etwas tiefer ein.

Glücklicherweise hatte sich allgemeine Aufbruchstimmung breitgemacht und keiner achtete mehr groß auf die junge Lehrerin, die sich mit ihrem widerspenstigen Vogel abmühte. Schließlich wurde es ihr zu bunt und sie packte den Käfig entschlossen.

„Selber schuld, wenn du so stur sein willst. Wart’s nur ab, in Hogwarts werden dir die anderen Vögel schon Manieren beibringen.“

Die schweren Koffer ließ sie im Hogwarts-Express zurück; sie wurden separat in die Schule gebracht. Die neugierigen Blicke, die ihr ebenso wie leises Tuscheln auf ihrem ganzen Weg aus dem Zug folgten, ignorierte sie so gut es ging. Wie ein Laubfeuer schien sich die Nachricht, dass sich im Hogwarts-Express eine neue Lehrerin befand, verbreitet zu haben. Vereinzelt wurde sogar verstohlen mit dem Finger auf sie gezeigt oder jemand stellte sich im Gedränge auf die Zehenspitzen und versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen.

 

Endlich blieben sie stehen und der gewaltige Schülerstrom ergoss sich durch die engen Türen nach draußen. Mitten im ärgsten Gewühl drehte sich Jiang Li suchend im Kreis, in der Hoffnung, die Hauselfen noch einmal zu sehen, doch sie schienen wie vom Erdboden verschluckt.

Schade, dachte sie enttäuscht. Die kleinen Wesen waren ihr in den letzten paar Stunden ziemlich ans Herz gewachsen. Es war kaum zu glauben, welche Geschichten Hauselfen über ihre tägliche Arbeit so erzählen konnten.

 

Die Fahrt zum Schloss kostete sie im Vergleich zum Hogwarts-Express weniger Nerven. Lediglich drei Viert- oder Fünftklässer setzten sich zu ihr, die allerdings die gesamte Fahrt über nicht mehr als einen schüchternen Gruß über die Lippen brachten. Die übrige Zeit starrten sie schweigend aus den Fenstern.

Jiang Li konnte es nur recht sein. Sie wollte in aller Ruhe dieses Gefühl genießen, wieder in einer der alten Kutschen zu sitzen, die Thestrals zu beobachten und sich an vergangene Schuljahre zu erinnern.

Es war schon dunkel geworden und ein leichter Wind zog auf; offensichtlich schlug das Wetter um. Hatte noch der Morgen Sonnenschein und Wärme versprochen, so erinnerte der Abend bereits an die Kälte kommender Herbstnächte. In Jiang Li kroch eine angenehme Trübsinnigkeit empor und sie kuschelte sich noch tiefer in ihren Sitz. Plötzlich war sie so müde, dass sie am liebsten die Augen geschlossen hätte und auf der Stelle eingeschlafen wäre. Heute Abend stand ihr ja noch das große Eröffnungsbankett bevor und sie hatte so gar keine Lust darauf.

 

„Wir sind da! Alles aussteigen!“ tönte es unerwartet von draußen herein und die Kutschen stoppten ab. Sie schrak auf und hob den Kopf, für einige Sekunden musste sie tatsächlich eingenickt sein.

Müde quälte sie sich aus dem Wagen und redete ihrem Raben gut zu, der immer noch beleidigte Leberwurst spielte. Wenigstens streckte er ihr jetzt sein Hinterteil nicht mehr ganz so impertinent entgegen.

„Miss Lian!“ Der altbekannte Tonfall fuhr ihr durch Mark und Bein, beinahe wäre sie über die steinerne Eingangstreppe gestolpert.

Die Professoren Flitwick und McGonagall blickten ihr von oben entgegen; der winzige Lehrer für Zauberkunst grinste über das ganze Gesicht und winkte frenetisch, während Professor McGonagall fürs Erste ihre strenge Miene bewahrte.

„Schön, Sie wieder hier zu haben!“ quiekte Professor Flitwick und schüttelte ihr mit begeistert glänzenden Augen die Hand. „Ich bin mir sicher, dass Sie Ihr Bestes geben werden, nicht wahr, Miss Lian?“ Als er noch mehr sagen wollte, schnitt ihm Professor McGonagall sanft das Wort ab und schob ihn leicht beiseite. „Wir haben doch das ganze Bankett über Zeit, über die Arbeit zu reden, nicht wahr, Filius? Und Miss Lian, Sie werden doch gewiss bereits in Erwägung gezogen haben, Ihre Kleidung noch einmal zu überprüfen, oder täusche ich mich da etwa …?“ Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und musterte Jiang Li eingehend, der die Röte ins Gesicht schoss. Erst jetzt wurde ihr peinlich bewusst, dass ihr kleines Abenteuer im Güterwaggon nicht ganz so spurlos vorübergegangen war, wie sie zuerst angenommen hatte. Verlegen rubbelte sie an einem staubigen Fleck an ihrem Oberarm herum, bis sich Professor McGonagall erbarmte und ein seltenes Lächeln sehen ließ.

„Willkommen in Hogwarts, Miss Lian – oder besser gesagt, Professor Lian.“ Sie zwinkerte ihr kurz und trocken zu, wandte den Kopf und winkte jemandem zu, der sich außerhalb des Blickfeldes befand. „Dobby wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen, in etwa einer Viertelstunde sollten Sie wieder da sein. Üblicherweise wird dazu der Kamin in der Kammer direkt hinter dem Lehrertisch benutzt.“

 

Jiang Li öffnete den Mund, um ihr zu danken oder sonst etwas zu antworten, doch die Frau hatte sich bereits umgedreht und entfernte sich rasch mit steifen Schritten, vermutlich um die Erstklässler in Empfang zu nehmen, die jeden Moment über den See kommen mussten. Wenn sie selbst daran dachte, wie aufregend es damals gewesen war, in dem kleinen Boot zu sitzen und das Schloss zu beobachten, wie es immer näher und näher kam … viel Zeit, Erinnerungen nachzuhängen, blieb allerdings nicht. Eine quäkende Stimme riss sie aus den Gedanken und der Anblick, der sich ihr bot, als sie aufsah, verdrängte alles andere auf einen Schlag.

„Bei Merlin …“ Da stand ein Hauself, aber einen wie den hatte Jiang Li ihr Lebtag noch nicht gesehen. Er trug sechs oder sieben seltsame bunte Gebilde auf dem Kopf, die man nur mit sehr viel gutem Willen als Hüte auslegen konnte, eine kurze Kinderfußballhose sowie eine Krawatte in psychedelischen Farben, bei deren Anblick sich einem die Augäpfel ständig nach innen drehen wollten. Durch die Hutgebilde wirkte er um einen halben oder dreiviertel Meter größer; noch dazu steckten beide Füße in einer Unmenge von grellbunten Socken und Tüchern in allen Längen und Farben, wodurch sie riesige und für einen Elfenkörper gewiss nicht unbedingt passende Ausmaße annahmen.

Jiang Li starrte ihn mit offenem Mund an und brachte es im ersten Moment nicht fertig, auf seinen freundlichen Gruß zu antworten. Erst als er sich vor ihr verbeugte und zum zweiten Mal nach ihrem Befinden fragte, riss sie sich kräftig zusammen und stammelte irgendeine dämliche Antwort.

„Dobby hat sich bereits um Ihr Gepäck gekümmert, Miss“, quakte der seltsame Elf und nahm ihr mit Leichtigkeit den Käfig mit Galatyn aus der Hand. Während er mit trippelnden Schritten vor ihr her hopste, wies er immer wieder auffordernd mit dem Kopf den Gang entlang. „Wenn Miss Dobby folgen wollen, dann führt er sie sofort in ihr Zimmer, immer hier entlang, bitte.“

 

Über eine Unmenge von Treppenfluchten und Gängen gelangten sie schließlich in den Turm, in dem sich auch die Schlafzimmer der Ravenclaw-Schüler befanden. Jiang Li drehte erwartungsvoll den Kopf hin und her, als sie die vertrauten Stufen empor schritt. Wie genau sie sich noch an den gewohnten Schulweg erinnern konnte. Hier standen ein paar Rüstungen – nein, die gleichen waren es nicht mehr, sie mussten wohl gewandert sein … noch zwei Stöcke, und sie würden in den Gemeinschaftsraum gelangen …

Doch der Hauself stoppte einen Stock darunter und stellte mit einer erneuten Verneigung den Käfig ab.

„Hier ist die Wohnung, Miss, da wären wir.“ Er strahlte sie mit seinen tennisballgroßen Augen an und lächelte fröhlich, während er die Tür aufschloss. „Gefällt es Miss?“

Im ersten Moment war sie fast sprachlos vor Erstaunen. Vor ihr tat sich ein gemütliches kleines Wohnzimmer auf, prasselndes Kaminfeuer und kuschelige Sofagruppe inklusive der beiden schweren Schrankkoffer davor. Sie sah sich um und bemerkte auf dem kleinen Beistelltischchen eine bauchige Terrakottavase, in der ein großer Strauß aus Astern und Dahlien stand.

„Wunderschön“, hauchte sie selig und warf in einem Anfall von plötzlicher Begeisterung beide Arme um den erschrocken aufquietschenden Dobby.

„Mmmh … Miss sollte sich lieber umziehen, das Bankett beginnt bald“, quakte der Hauself verlegen und schrumpfte sichtlich zusammen.

Jiang Li lachte spitzbübisch und knuffte ihn kurz in die Seite. „Natürlich. Vielen lieben Dank!“

Dobby verabschiedete sich hastig und verschwand aus der Tür, während sie sich ihrem Gepäck widmete und den Raben aus dem Käfig ließ. Viel Zeit zum Auspacken blieb ohnehin nicht, das musste sie wohl auf später verschieben; ein angemessenes Outfit brauchte sie trotzdem, schon alleine wegen McGonagall.

Schließlich entschied sie sich für ein dunkelrotes Qípáo mit langen Ärmeln und Pfingstrosenstickerei. Das würde ihr allerdings zwangsläufig den Status einer Exotin verleihen, doch heute Abend wollte sie ein vertrautes Kleid tragen. Mit einem tiefen Seufzer kramte Jiang Li noch nach der Haarspange in Schmetterlingsform, die mit tiefroten Granaten besetzt war, und legte sie sich ebenfalls zurecht. Die aufsteigende Nervosität versuchte sie so gut wie möglich zu verdrängen.

Nach einer hastigen Dusche schlüpfte sie eilig in das Seidenkleid und schlang die Haare im Nacken zu einem sorgfältigen Knoten. Wenigstens das Badezimmer gefiel ihr gut. Es war zwar klein, besaß aber eine klauenfüßige Badewanne und war in sehr warmen Gelbtönen gehalten. Mit dieser Wohnung würde es sich schon länger aushalten lassen, in diesem Punkt war sie sich jedenfalls sicher.

Ihre Hände zitterten und sie musste die Haarnadel beiseitelegen. Ihr Magen rebellierte so heftig, dass es sich anfühlte, als würde er sich um die eigene Achse drehen.

Jiang Li keuchte und schloss für einen Moment die Augen. Ganz ruhig bleiben, redete sie sich gut zu und zwang sich dazu, wieder den Kopf zu heben und die Spange ordnungsgemäß zu befestigen. Dann kramte sie nach einer Zigarette und schnippte kurz mit Daumen und Ringfinger. Sofort fing das Ende Feuer.

Als sie den Kopf in den Nacken legte und den Rauch nach draußen blies, beruhigte sich ihr Herzschlag allmählich. Bei Merlin, der heutige Abend würde auch nicht viel anders sein als die unzähligen Festmahle, zu denen sie im Badehaus hatte erscheinen müssen. Großmeisterin Zhen Juan empfing schließlich immer wieder wichtige Gäste, mit denen man sich unterhalten musste. Ihre ehemaligen Lehrer würden sie schon nicht fressen.

Am Kaminsims fand Jiang Li eine kleine Dose, die bis zum Rand mit glitzerndem Pulver gefüllt war. Aus Erfahrung wusste sie bereits, dass es sich dabei um eine spezielle Sorte Floo-Pulver handelte, mit dem man innerhalb von Gebäuden reiste. Mit den Fingerspitzen nahm sie sich eine kleine Prise und warf sie ins Feuer. Als die Flammen grün aufloderten, trat sie rasch in den Kamin.

 

„Na sieh einer an! Selbst Miss Lian hat also ihren Weg zu uns gefunden!“

Jiang Li bemühte sich, halbwegs elegant aus dem Rauchfang zu hüpfen und sah sich verwundert um.

Die meisten Lehrer mussten bereits in der Großen Halle sein, denn in der kleinen Kammer befanden sich nur ein Zentaur, der höflich lächelte, und Madam Hooch, von der die Bemerkung gekommen war.

Jiang Li seufzte innerlich und straffte die Schultern. Mit Madam Hooch war sie noch nie gut ausgekommen, vor allem, weil sie weder Quidditch noch Fliegen besonders interessiert hatten. Bevor sie etwas erwiderte, schnippte sie rasch mit den Fingern und sah zu, wie sich eine große Aschenwolke von ihrem Kleid löste und wieder in Richtung Kamin schwebte. Erst dann wandte sie sich an die grauhaarige Lehrerin mit den falkenartigen Augen.

„Madam H-“ begann sie, doch sofort wurde ihr das Wort abgeschnitten.

„Bei Merlin, nicht so förmlich!“ rief Hooch aus und reckte ihr forsch die Hand entgegen. „Ab heute sind wir Kollegen! Rolanda!“

Verwirrt griff Jiang Li nach der dargebotenen Hand und bereute es sofort, denn Rolanda Hooch schüttelte sie so kräftig, dass es sich anfühlte, als würde sie aus dem Gelenk geschleudert. Mit einem leisen Aufjaulen befreite sie sich und umklammerte ihre Schulter. Madam Hooch lachte rau und klopfte ihr hart auf den Rücken. „Na, so zimperlich? Ich dachte, du wärst so eine Art Kämpfer in China, oder habe ich da was Falsches gehört?“

Der Zentaur hatte ein Einsehen und kam Jiang Li zu Hilfe, indem er langsam herantrabte und sich geschmeidig ins Gespräch mischte. „Ich bin Firenze“, meinte er mit sanfter, melancholischer Stimme und schüttelte vorsichtig ihre lädierte Hand.

„Jiang Li“ lächelte sie höflich und war froh, der resoluten Madam Hooch entkommen zu sein. Firenze war hell gescheckt und blickte sie aus einem Paar erstaunlich blauer Augen an.

„Saturn hat großen Einfluss auf Sie“, meinte er zuvorkommend, noch ehe sie den Mund öffnen konnte. „Achten Sie gut auf sich.“

Mit diesen abschließenden Worten drehte er sich bedächtig um, lächelte sie noch einmal freundlich an und trabte langsam davon. Jiang Li war so perplex, dass sie ihm lediglich wortlos nachstarrte und sich widerstandslos von Madam Hooch aus der Kammer bugsieren ließ.

 

Die Große Halle war überwältigend dekoriert. Schon so lange hatte sie Hogwarts nicht mehr gesehen, dass die Aussicht vom Lehrertisch aus schier überwältigend schien. Hinter jedem der vier Haustische hingen riesige Banner mit den Wappen Ravenclaws, Hufflepuffs, Gryffindors und Slytherins; eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn die Große Halle war jedes Jahr so herausgeputzt, doch auf Jiang Li wirkte es, als würde sie es wieder zum ersten Mal sehen.

Viel Zeit zum Staunen blieb ihr allerdings nicht. Schon versammelten sich die Erstklässler, um vom Sprechenden Hut ihren Häusern zugeteilt zu werden, und McGonagall trug den zerschlissenen Hut herbei. Jiang Li machte, dass sie in Bewegung kam, und suchte sich rasch einen Platz an der Tafel, natürlich ausgerechnet neben Snape, wie sie leider zu spät bemerkte. Doch noch einmal aufstehen wollte sie auch nicht mehr, schon gar nicht, nachdem der Hut zu singen begonnen hatte.

Es war ein seltsames Lied; der alte Hut plädierte für Zusammenhalt, Kameradschaft und Stärke gegen den gemeinsamen Feind. Nie zuvor hatte ihn Jiang Li so singen gehört, doch für die übrigen Lehrer am Tisch schien der Inhalt des Liedes nicht mehr ganz neu zu sein. Der junge Mann, der zu ihrer Linken saß, neigte sich leicht zu ihr und lächelte dünn. „Der Sprechende Hut ersucht wieder einmal um unsere Eintracht.“

Sie wusste nicht, worum es ging, und zuckte daher nur unbestimmt mit den Schultern. „Es ist doch nichts Schlechtes dabei, den inneren Streitigkeiten der Häuser Einhalt gebieten zu wollen. Funktionieren wird es zwar wahrscheinlich ohnehin nicht, aber ein netter Gedanke für den Schulanfang, oder etwa nicht?“

Der junge Mann lachte und warf sein langes Haar, das er in einem lässigen Zopf trug, über die Schulter nach hinten. „Ach je, ich vergaß ja, Sie sind die Neue hier. Ich bin übrigens Brant, Dohosan Brant“, mit einem leicht abfälligen Lächeln reichte er ihr die Hand und zog amüsiert die Augenbrauen hoch. Jiang Li fühlte, wie Ärger ihre Eingeweide emporkroch, und musste sich heftig zusammenreißen; trotzdem schaffte sie es irgendwie, halbwegs höflich zu bleiben und sich ebenfalls vorzustellen. Diesen Lehrer hatte sie zu ihrer Schulzeit nicht gehabt, da war sie sich sicher. So was Arrogantes wäre ihr ganz bestimmt im Gedächtnis geblieben.

Ein längeres Gespräch mit diesem Brant blieb ihr allerdings erspart, denn nun erhob sich Dumbledore und bat um Ruhe.

Wie er es schon zu ihrer Schulzeit getan hatte, begrüßte er zuerst alle Anwesenden herzlich und wies dann leicht auf Jiang Li, die sich zögernd erhob.

„Ich möchte Ihnen allen die neue Lehrkraft für das Fach „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ vorstellen“, seine strahlend blauen Augen blickten bedachtsam auf die aufmerksam lauschenden Schüler, „Professor Lian hat sich extra aus China hierher bemüht, um Ihnen im kommenden Jahr solides Wissen zu vermitteln. Sie werden es auch bitter nötig haben, nach allem, was in den letzten Monaten geschehen ist. Ja, Sie haben richtig geraten, ich spiele hiermit auf das Erscheinen Voldemorts an …“

Weiter kam er vorerst gar nicht mehr, denn sowohl Schüler als auch einige der Lehrer hatten begonnen, aufgebracht miteinander zu tuscheln. Ein ängstliches Raunen huschte durch den Saal; immer noch, oder besser gesagt, wieder hatte der Name des dunklen Hexenmeisters die Kraft, die Gemüter von Grund auf zu verstören und in Angst und Schrecken zu versetzen.

Jiang Li setzte sich langsam wieder hin und wagte einen kleinen Blick zur Seite. Snape hatte sein Gesicht in beiden Händen vergraben und starrte regungslos vor sich hin, während Brant mit leicht gerunzelten Brauen in Dumbledores Richtung schaute und missbilligend den Kopf schüttelte.

„Tut mir wirklich leid, aber Ihr Empfang ist wohl gründlich in die Hosen gegangen“, flüsterte er mit einer Spur Häme und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Jiang Li musterte ihn finster und beschloss, den eingebildeten Schnösel einfach zu ignorieren. So ein Idiot. Zum Glück hatte Dumbledore in der Zwischenzeit für Ruhe gesorgt und erklärte den aufgewühlten Kindern noch die letzten Formalitäten, wie beispielsweise das absolute Verbot eines Aufenthalts im Verbotenen Wald und die Einwände des Hausmeisters gegen Zaubereien in den Gängen.

 

Dann kam zum Glück auch schon das Essen und die Gemüter beruhigten sich langsam wieder. Jiang Li betrachtete die reich gefüllten Platten und fühlte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Die Hauselfen hatten sich wieder einmal selbst übertroffen. Auf unzähligen Tellern türmten sich Köstlichkeiten wie Roastbeef, Schweine- und Lammkoteletts, alle Arten von Würsten, Schinken, Steaks, Brat- und Pellkartoffeln, Yorkshire-Pudding, Fleischpasteten und Gemüse, appetitlich angerichtet und mit einem Duft, der alte Erinnerungen wachrief. Sie musste sich am Riemen reißen, um nicht sofort gierig nach allem Erreichbaren zu greifen.

Natürlich hatte Brant ihre begehrlichen Blicke bemerkt und grinste dreist.

„Da muss man ja richtig Angst haben, nicht satt zu werden, nicht wahr?“ Er griff nach einer Platte mit Pastete und lud sich den Teller voll.

Jiang Li zuckte lediglich verächtlich mit der Schulter und holte sich ein saftiges Stück Roastbeef. Seit sie wieder in Europa lebte, schien sich ihr Appetit schier verdoppelt zu haben. Allerdings lag dies, das wusste sie bereits aus Erfahrung, schlicht und einfach an der Tatsache, dass sie nun um ein Vielfaches mehr zauberte als in China, und Magie nun einmal sehr viel Kraft erforderte.

Als sie sich gerade eine gefüllte Gabel in den Mund schob, drangen leise undeutliche Stimmen an ihr Ohr.

… ja, die Neue. Wie findest du sie denn? … Extra aus China, hat Dumbledore gesagt, hast du nicht zugehört, du Schlafmütze?

Leises Lachen folgte und Jiang Li spitzte gegen ihren Willen die Ohren. Eigentlich sollte ihr Schülergetratsche wirklich egal sein, aber trotzdem …

Was die wohl für Geheimnisse hat? … Okay, rechnen wir mal zusammen. Einer ist durchgedreht, oder? … Ja, das wirst du doch wohl mitgekriegt haben. Bei Merlin, heute bist du aber wirklich nicht gerade der Hellste … Der Nächste war ’ne hohle Birne, der dritte ein Werwolf, der vierte war gar kein Lehrer, und letztes Jahr – na, Dankeschön. Naja, da können wir ja gespannt sein, oder?

Der Rest des Gesprächs ging im allgemeinen Gemurmel unter, das sich in der Halle ausgebreitet hatte.

 

Erst jetzt bemerkte Jiang Li, dass sich die Graue Dame, Hausgeist der Ravenclaws, neben ihr befand und das wohl schon seit einer ganzen Weile, denn ihre Stimme klang ein klein wenig gereizt.

„Verzeihung, meine Liebe, ich habe Sie wohl in Ihren Gedanken gestört …“

„Oh, nein, entschuldigen Sie bitte.“ Etwas verlegen drehte sich Jiang Li zu ihr hin und lächelte nervös. Die Graue Dame war ein hochgewachsener, ausgesprochen eleganter und strenger Geist, den man besser nicht verärgerte. Sie konnte sehr scharfzüngig werden, wenn man sich in ihren Augen schlecht benahm, und darauf legte Jiang Li momentan wirklich nicht den geringsten Wert. Das mitgelauschte Gespräch hatte sie schon unruhig genug werden lassen; eine Bloßstellung vor der gesamten Lehrerschaft konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Die Graue Dame lächelte versöhnlich und nickte kurz mit dem Kopf. „Es freut mich sehr, Sie hier zu sehen, Miss Lian. Sie waren eine ganz passable Schülerin, soweit ich mich erinnere, jedenfalls keine ausgesprochene Schande für unser Haus … Für die Zukunft jedenfalls alles Gute.“ Wieder nickte sie leicht und entfernte sich langsam, ohne eine Antwort abzuwarten.

 

Jiang Li ließ Messer und Gabel sinken und unterdrückte nur mit Mühe ein leises Seufzen. Mit einem Mal war ihr der ganze Appetit vergangen und eigentlich wollte sie nur noch aufstehen, sich verabschieden und unter die weiche Bettdecke kriechen. An den morgigen Tag wollte sie gar nicht denken, sonst nahm sie gar noch Reißaus.

„Keinen Hunger mehr?“ Snape schaute sie schräg von unten her an und warf einen kurzen Blick auf ihren halb gefüllten Teller. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Wie ein dummes Schulmädchen kam sie sich jetzt schon wieder vor, dabei hatte Snape gar nicht einmal so bissig geklungen.

„Ich – ich denke, es wäre das Beste – glauben Sie denn, es macht etwas aus, wenn ich mich jetzt schon verabschiede? Mir ist nicht so gut“, meinte sie leise und musterte ihn scheu aus den Augenwinkeln. Zu ihrer Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht ein beinahe wehmütiges Grinsen aus.

„Ich kann Ihre Bitte ja verstehen, aber“, er wies mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung der anderen Lehrer, die inzwischen schon ziemlich weinselig wirkten, „Wissen Sie, es gibt hier so etwas wie eine fixe Tradition innerhalb des Lehrkörpers …“

Ein lauter Ausruf unterbrach ihn abrupt und lenkte die gesamte Aufmerksamkeit am Lehrertisch in ihre Richtung.

„Bei Merlin, Severus, dieses Jahr können Sie sich nicht mehr drücken! Irma und Sybill haben sich schon dazu bereit erklärt, diesmal hier zu bleiben, was bedeutet …“ Madam Hooch lachte lauthals und wies mit ihrem Weinglas auf ihn, „Dass Sie, lieber Severus, diesmal nicht in Ihrem Kerker verschwinden, sondern mit uns kommen!“ Der Rest ging in schallendem Gelächter unter, während Snape immer verkniffener dreinschaute und eine abwehrende Haltung einnahm. Als Jiang Li allerdings einen Blick in die heitere Runde warf, wurde ihr klar, dass ihm das auch nicht viel helfen würde.

 

Bald darauf hob Dumbledore die Tafel auf und die Vertrauensschüler kümmerten sich darum, dass die Erstklässler ihre Schlafsäle und Gemeinschaftsräume fanden. Langsam leerte sich die Große Halle und Jiang Li, die sich eigentlich still und leise davonmachen wollte, fühlte sich plötzlich von hinten eisenhart am Arm gepackt.

„Da, ich hab’ sie, sie wollte sich gerade davonstehlen!“ verkündete Professor Sprout fröhlich und hielt sie weiter fest im Griff. Jiang Li wand sich wie eine Schlange und wollte gerade eine lange entschuldigende Erklärung vom Stapel lassen, als ihr McGonagall mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort abschnitt.

„Nein, nein, das ist so Tradition unter den Lehrern. Sie kommen selbstverständlich mit!“

 

Wie Snape sah Jiang Li schnell ein, wie sinnlos jegliche Bemühung, sich herauszureden, in diesem Fall war und ließ sich daher von Professor Sprout mitziehen. Anscheinend ging es schnurstracks nach Hogsmeade in das Drei Besen, wo Madam Rosmerta ein Extrastübchen für sie hergerichtet hatte.



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