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Corvus et Vulpes

von

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Die unsichtbare Frau

„Habt ihr das gesehen?“

„Sieht so aus, als würde es richtig wehtun.“

„Ob das in China passiert ist?“

„Dabei sah sie echt hübsch aus.“

Ein Zischeln und Raunen ging durch Hogwarts; in den Gemeinschaftsräumen der vier Schulhäuser gab es neuen Gesprächsstoff, seit das Fach „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ nach beinahe einem Monat wieder von Jiang Li unterrichtet wurde. Blicke, die rasch von Neugier in Entsetzen umschlugen, trafen sie in jeder Unterrichtsstunde, und wenn sie sich dazu überwinden konnte, an den Mahlzeiten in der Großen Halle teilzunehmen, fühlte sie sich mit nahezu unerträglicher Deutlichkeit beobachtet.

 

Unmöglich, zu essen.

Unmöglich, zu schlafen.

 

Sie war in einem Krankenhaus in Xi’an aufgewacht. Ohne dass es der mitleidigen Blicke des Personals bedurft hätte, war ihr klar gewesen, dass sie verloren hatte und daher kein Recht mehr dazu besaß, sich in der Kampfschule aufzuhalten. Ihr Gesicht tat weh. Die rechte Hälfte lag im Dunkel.

„Was ist passiert?“

Einer der Pfleger war zu ihr getreten und hatte ihre Hand, die nach ihrem Auge tasten wollte, zurückgehalten.

„Bitte nicht. Es wird eine Zeit lang brauchen, bis die Wunde verheilt ist.“

„Was ist mit meinem Gesicht?“

„Sie müssen schlafen. Die Ärzte sprechen später mit Ihnen.“

Bevor Jiang Li die Kraft zu einem Protest aufzubringen vermocht hatte, war ihr ein bitterer Trank eingeflößt worden, durch den sie rasch in eine Schattenwelt abgedriftet war.

 

Yue You hatte die Klinge ihres Schwertes vergiftet und zusätzlich mit einem starken Zauberspruch belegt, der die Wundheilung erschwerte. Die Ärzte hatten Jiang Li nach Tagen erlaubt, aus dem Dämmerzustand aufzuwachen und ihr erklärt, dass ihr rechtes Auge nun zwar nicht mehr blind war, aber die Spuren des Kampfes noch lange zu sehen sein würden.

Sie hatte es kaum gewagt, in den Spiegel zu sehen und der Anblick hatte sie schwer verstört. Eine lange, breite und unangenehm weiß schimmernde Narbe zog sich von der Schläfe über beide Lidränder des rechten Auges bis zur Oberlippe. Die Iris des Auges schillerte in unangenehm grünlichen Tönen und sah wie etwas aus, das seit Wochen verfaulte; um die Pupille schloss sich ein weißer Ring. Das restliche Auge wies einen leichten Blauton auf.

 

Entstellt. Gezeichnet. Die Spuren ihrer Schande eingraviert, sodass alle sehen sollten, dass sie nichts als eine Versagerin, ein Schwächling, der den Mund zu voll genommen hatte, war.

 

„Wie lange bleibt es so?“

„Rechnen Sie mit mindestens ein bis zwei Jahren.“

 

Sobald es ihr möglich gewesen war, hatte sie das Krankenhaus verlassen und war unverzüglich nach Hogwarts gereist. Sie wollte nicht dorthin, doch es gab keinen Ort mehr, an den sie sonst gehen konnte. Ihre Habseligkeiten hatte jemand aus der Kampfschule in Xi’an abgegeben und sie ließ sie nach England schicken, ohne sich die Mühe zu machen, alles vorher durchzusehen. Es kümmerte sie nicht mehr, ob eines ihrer Kleider fehlte oder ein Schuh. Nichts hatte noch Sinn.

 

Snape hatte ihr wiederholt und im Tonfall wachsender Besorgnis geschrieben und nach ihrem Befinden sowie ihrer Rückkehr gefragt. Sie hatte jeden der Briefe erhalten, gelesen und zur Seite gelegt, ohne zu antworten. Was hätte sie ihm auch schreiben sollen?

 

Bei ihrer Ankunft in Hogwarts am späten Abend war ihr eine Nachricht von Dumbledore überreicht worden, in der er sie höflichst darum gebeten hatte, ihn unverzüglich aufzusuchen. Lustlos hatte sie der Aufforderung Folge geleistet und sich in sein Büro begeben. Das Gespräch war nur kurz gewesen und in Bezug auf den Orden hatte sich nichts Neues getan, jedenfalls nichts, das sie betroffen hätte. So jedenfalls stellte es Dumbledore dar, dem es mit bewundernswerter Höflichkeit gelang, die gesamte Zeit hindurch so zu tun, als würde er die entstellende Narbe nicht bemerken. Erst am Ende ihres Treffens erkundigte er sich nach Neuigkeiten aus ihrer Heimat und verzog keine Miene, als sie ihm mit knappen Worten schilderte, dass sie nunmehr kein Mitglied der Kampfschule Lian war. Er nickte nur kurz, sah ihr für einen langen Augenblick voll ins Gesicht und entließ sie dann. Jiang Li ging, ohne zu wissen, ob dies als gutes oder schlechtes Zeichen zu werten war. Vielleicht bedeutete es etwas, vielleicht war es auch einfach völlig gleichgültig. Sie war zu müde, um sich überhaupt den Kopf darüber zu zerbrechen.

 

Eine andere Sache war ... Snape.

 

„Jiang Li! Schön, dass du wieder da bist! Wie geht es dir?“, fragte Ceallach Earnan, während sie mit leicht gerunzelter Stirn noch einige Notizen vervollständigte und erst dann den Kopf hob. Sie erstarrte einige Atemzüge lang.

„Was zum …“

Jiang Li konnte sich nicht einmal zu einem gequälten Grinsen durchringen. Sie verzog keine Miene, sondern setzte sich zu der rothaarigen Frau an den Tisch. Ceallach setzte sich gerade hin, sah ihr forschend ins Gesicht und seufzte.

„Was ist mit deinem Auge?“

„Bin hingefallen“, antwortete Jiang Li und ließ ein kurzes, bitteres Lachen hören.

„Ah ja – verstehe“, sagte Ceallach. „Dann hat wohl wer unglücklicherweise das Küchenmesser am Boden liegen lassen?“

„Meine Kolleginnen aus der Kampfschule waren der Meinung, dass ich meinen Pflichten nicht nachkommen könnte, nachdem die Großmeisterin verstorben ist. Meine Rangnachfolgerin hat mich zum Zweikampf herausgefordert.“

„Und …“, versuchte es Ceallach vorsichtig.

Jiang Li schnaubte leicht und kniff die Augen zusammen.

„Ich habe verloren. Nicht der Rede wert. Es bedeutet mir nichts. Vergiss es einfach.“

„Okay.“

Die Lehrerin für Alte Runen seufzte wieder und sah sich im Lehrerzimmer um. Es war ruhig; außer ihnen war niemand im Raum, da sich die meisten noch in der Mittagspause befanden.

„Ich muss mit dir wegen etwas anderem sprechen“, sagte Jiang Li und fühlte, wie der Faden, an dem ihre Selbstbeherrschung hing, immer dünner wurde. Sie wusste nicht mehr weiter.

„Hättest du heute Abend Zeit? Ich habe jetzt die Gryffindors und muss mich noch vorbereiten, aber gegen sechs Uhr geht es.

„Natürlich“, erwiderte Ceallach. „Gerne. Es ist warm draußen. Willst du spazierengehen?“

„Ja. Treffen wir uns am See.“

„Gut.“

 

***

 

„Wir haben uns noch nicht getrennt.“

„Willst du dich denn von ihm trennen?“

„Ist doch nicht meine Entscheidung.“

„Ach nein?“

Ceallach sah sie von der Seite an. Jiang Li starrte dumpf vor sich hin und spürte kindischen Widerstand in sich aufsteigen.

„Nein?“

„Jiang Li“, sagte Ceallach und runzelte leicht die Stirn. „Es ist doch wohl deine Entscheidung genauso wie seine, wenn es noch nicht vorbei ist, du aber darüber nachdenkst, ob es vorbei sein sollte. Oder seh ich da was falsch?“

„Er hat sich doch schon entschieden. Ich bin ihm egal“, brummte Jiang Li lustlos und wischte sich mit dem kleinen Finger über die Wange.

„Ach so. Ihr seid also nur noch pro forma zusammen, willst du sagen? Zeigt er dir denn, dass du ihm nichts bedeutest? Spricht er nicht mehr mit dir?“

„Doch.“

„Was heißt das?“

„Wir haben Kontakt. Aber er ist so ... ach. Ich weiß nicht.“

Ceallach seufzte und blieb stehen. Sie musterte Jiang Li mit dem gleichen Blick, mit dem man ein kleines Kind ansehen würde. Oder einen bockigen Teenager.

„Komm. Genauer. Ich kann dir keinen Rat geben, wenn ich nichts weiß.“

„Schau mich doch an“, sagte Jiang Li widerwillig und fühlte einen Klumpen im Hals. „Schau mich an. Wie ich aussehe. Er ist höflich und sagt nichts. Aber ich sehe mich doch selbst.“

„Jiang Li, du hattest einen schweren Unfall. Wenn er das nicht versteht, ist er sowieso nichts wert. Wie kommst du denn darauf, dass es ihn stört? Hat er es dir gesagt? Meidet er dich?“

„Nein“, seufzte Jiang Li. „Er hat nichts gesagt. Er fasst mich auch immer noch an. Oder – er würde.“

„Er würde“, echote Ceallach und seufzte wieder, diesmal tiefer. „Komm, du bist doch sonst nicht so. Du willst nicht, dass er dich anfasst, stimmt das so?“

„Möglich.“

Die beiden wanderten langsam an der Uferböschung entlang. Es war immer noch angenehm hell und der Himmel wirkte luzide, wolkenlos, mit feinen Blautönen, die graduell in zartes Violett verwischten. Weit entfernt konnte man kleinere Schülergruppen erkennen, die es sich auf der Wiese gemütlich gemacht hatten; auf Jiang Li wirkten sie nicht fröhlich, sondern fremd und abweisend, wie Granitblöcke.

„Weißt du, ich will gar keine guten Ratschläge geben“, meinte Ceallach vorsichtig, „aber denkt du nicht, dass es eher an den Dingen liegt, die dir gerade eben zugestoßen sind, und weniger an seinem Verhalten?“

Als sie nach einer Weile noch immer keine Antwort erhalten hatte, seufzte sie tief und rieb sich die Stirn.

„Manchmal sind die anderen nur wie ein Spiegel für uns, weißt du?“

Jiang Li sah sie mit verkniffenem Mund von der Seite her an.

„Ach?“

„Na komm. In einen anderen kann doch keiner hineinsehen. Entweder änderst du deinen Zugang oder es bleibt so, wie es ist.“

Als Jiang Li die Arme bockig um ihren Körper schlang, stieß Ceallach ein noch tieferes Seufzen aus.

„Eigentlich bin ich ja die Falsche, Jiang Li – mit Männern kenne ich mich nicht aus. Gute Ratschläge geben kann ich, aber wenn es um mich selbst geht ... Hab’ sie nie verstanden.“ Sie lachte kurz und schüttelte die Haare nach hinten. „Glaubst du, dass er eine andere hat?“

„Weiß nicht. Ich habe Briefe gefunden. Von Narcissa Malfoy.“

„Was? Was stand drin?“

„Ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Aber …“

„Du machst dich verrückt, Jiang Li. Willst du denn unbedingt was finden?“

„Nein. Natürlich nicht. Aber ich will … sicher sein …“

„Es gibt keine Garantie“, sagte Ceallach abrupt und mit leichter Schärfe in der Stimme. Jiang Li sah sie an und bemerkte erstaunt, dass sich zwei scharfe Falten in ihren Mundwinkeln zeigten.

„Es gibt keine Garantie, niemals“, wiederholte die Lehrerin für Alte Runen lauter und fuhr sich durch das Haar. „Auch wenn man noch so verliebt ist.“ Sie sah Jiang Li nicht an. „Ich war selber in der Situation. Große Liebe. Die Einzige sogar, bis dato. Hat nie wieder so gefunkt wie damals. Und nie wieder so funktioniert. Es war perfekt – wir passten so gut zusammen, weißt du. In jeglicher Hinsicht. Visuell war er genau mein Typ und wir konnten über alles reden, hatten die gleichen Interessen.“ Sie lachte rau und warf Jiang Li einen raschen Blick zu. Ihre Augen waren leicht gerötet. „Du weißt schon, was jetzt kommt. Die traurige Beichte. Ich weiß gar nicht, warum ich das jetzt erzähle, es passt eigentlich gar nicht, aber egal. Er war natürlich in einer Beziehung – natürlich in einer schlechten. Ich wollte es glauben, als er mir erzählt hat, dass er sich schon in der Trennungsphase befand. Und ganz ehrlich, ich glaube auch, dass er sich trennen wollte – im Gedanken, in der Theorie, der Wille war irgendwo da und es war sicher auch keine Lüge, jedenfalls nicht, wenn er mit mir zusammen war … aber es war ein Traum, ein Hirngespinst. Wenn er bei mir war, dann malten wir uns vorsichtig eine Zukunft aus, ich war ja nicht dumm, ich vertraute nicht blind, aber ich habe gehofft … und war somit dumm“, Ceallach lächelte traurig, „und naiv, denn je länger es dauerte, umso stärker hoffte ich. Dabei hätte mir die Dauer der Affäre sagen müssen, dass er sich niemals trennen würde. Wenn es einer wirklich will, dann tut er es sofort und muss nicht Jahre warten. Naja, Jahre habe ich auch nicht gewartet, aber doch lange. Irgendwann wurde mir klar, dass es aussichtslos war, und als ich klare Verhältnisse wollte, war der Druck zu hoch und er hat den Schwanz eingezogen … er könne sie jetzt einfach nicht verlassen, blabla, aber natürlich war ich ja doch die Allerbeste, und wenn er nur frei wäre, dann … denn ich wäre ja die beste Partnerin, die man sich nur vorstellen könnte. Ich habe mich am selben Nachmittag getrennt.“

Ceallach seufzte wieder und rieb sich den Nacken, während sie in die Ferne sah. „Ich habe mal gehört, dass es die Hälfte der Zeit, die man zusammen war, braucht, um mit der Trennung klarzukommen. Bei mir war es die eineinhalbfache Zeitspanne und eine Qual … einfach nur schlimm“, sagte sie fest und ihre Augen waren nicht mehr rot, nur traurig, als sie Jiang Li ansah. „Ich habe gelitten, monatelang. Jeden Tag. Es war Sommer, aber ungelogen – und ich weiß, wie melodramatisch das klingt, aber hast du das schon einmal erlebt, man geht raus in die Sonne, aber alles ist dunkel? Also, man sieht natürlich, aber man hat so einen schwarzen Nebel im Kopf, der nicht verschwindet? Und in der Nacht kann man nicht schlafen, dafür versucht man, sich vorzustellen, wie man den anderen gehen lässt … damit man selber irgendwann wieder frei sein kann für das „Bessere“, das ja angeblich kommen soll …“ Sie sah Jiang Li wieder kurz in die Augen, senkte dann den Blick und lächelte, nicht bitter, aber trocken und desillusioniert. „Und der Nächste kommt, aber besser … besser sind sie alle nicht gewesen. Ich habe es ehrlich versucht, vermutlich zu sehr, denn ich wollte mich immer von der besten Seite zeigen, aber das hilft leider auch nicht immer. Es ist seltsam, nach dem letzten ernüchternden Erlebnis habe ich eingesehen, dass es bei ihm eben Liebe war, und davor war es keine, und nach ihm auch nicht. Ich will damit nicht sagen, dass es nicht irgendwann mal wieder Liebe sein kann, bei einem, aber bis dato ist es eben nicht der Fall gewesen. Und jetzt bin ich müde“, lächelte sie, diesmal offen mit leichter Traurigkeit. „Ich bin zu müde, um das Spiel mitzuspielen und ich weiß, man soll sich nicht verschließen, weil dann nie wieder etwas werden kann, aber ganz ehrlich, Jiang Li – in Hogwarts gibt es sowieso mal keinen und auch sonst … man lernt nur wenig gute Exemplare kennen, und das sage ich jetzt ganz platt und unreflektiert.“

„Ist gut“, meinte Jiang Li und schnaubte kurz und verständnisvoll. Für einen Moment tauchte sie aus ihrem dunklen Gedankenkerker auf und klopfte Ceallach mitfühlend auf die Schulter. „Es tut mir leid.“

„Gibt doch keinen Grund dazu“, antwortete Ceallach mit einem trockenen Lachen. „Jung und – ja, so jung war ich gar nicht, damals, aber er war wie ein Puzzleteil, weißt du. Als wäre ich ein einsames Puzzlestück unter der Schachtel gewesen, und mit ihm hätte ich mein passendes Gegenstück gefunden.“ Sie schwieg für einen Augenblick, dann kniff sie ein Auge zusammen und sah wieder über das Wasser. „Leider liegt es in der Natur von Puzzleteilen, über kurz oder lang wieder voneinander getrennt zu werden. Das hatte ich damals einfach nicht bedacht. Und irgendwie – und ich weiß, dass das jetzt wieder melodramatisch klingt und ich irgendwann darüber lachen werde – irgendwie denke ich, ich bin immer die unsichtbare Frau.“

Jiang Li sah sie an.

„Ich weiß, das klingt dumm, denn ich bin ja da. Aber manchmal habe ich den Eindruck, ich bin nur dann wirklich da, wenn es darum geht, dass ich etwas tun soll, dass ich arbeiten soll oder wenn jemand etwas braucht. Oder wenn jemand etwas falsch gemacht hat. Dann bin ich ganz wirklich und solide vorhanden. So ist es natürlich nicht immer, bei Freunden fühle ich mich nicht so. Aber wenn es um Beziehungen mit Männern geht, scheint es mir, als wäre ich nur eine leere Fläche und jeder projiziert das auf mich, was er sehen will. Und irgendwann sind sie enttäuscht und wütend auf mich, dabei haben sie mich gar nie wirklich gesehen. Beim Letzten, den ich kennengelernt habe, war es richtig schlimm. Zuerst war ich die Erfüllung eines Traumes – perfekt, eine, die man sofort mitnimmt und nie wieder gehen lässt, das waren seine Worte – und dann, als wir ein paar Tage in seinem Haus in Halifax zusammen waren, war die Begeisterung schnell vorüber. Ok, es gab erschwerte Bedingungen, seine Cousins leben mit ihm zusammen, was natürlich nicht gerade prickelnd war. Aber wie auch immer, ich kann mir noch so oft einreden, dass es nicht an mir liegt, wenn es dann doch immer und immer wieder in einer Enttäuschung endet. Das Problem ist, dass sich verletzte Seelen zwar anziehen, aber immer auf Armlänge entfernt halten – wodurch das Ganze von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.“

Jiang Li wusste nicht, was sie dazu sagen sollte; sie war verblüfft. Ceallach? Sie war eine derjenigen in Hogwarts, die ihrer Meinung nach am meisten in sich ruhten und mit dem Leben am besten zurechtkamen. Wenn sie da an andere dachte, wie Sybill Trewlany oder sich selbst … aber Ceallach?

Die beiden Frauen gingen für eine Weile stumm nebeneinander her, es war nicht notwendig, die Stille zu füllen. Als sie um einen hohen Felsen in der Uferböschung bogen, lief ihnen Dohosan Brant über den Weg. Er schien in Gedanken versunken zu sein und hob mit geistesabwesendem Blick den Kopf, dann erstarrte er sichtlich.

Ceallach grüßte ihn freundlich, während Jiang Li die Stirn runzelte. Erst, als sie realisierte, dass sie ihn seit Januar eigentlich gar nicht mehr gesehen hatte (oder zumindest nicht bemerkt; es war so viel seither geschehen und sie hatte an alles andere als ihn gedacht), wurde sie ärgerlich darüber, dass er ihr – völlig ohne Grund, soweit sie das beurteilen konnte – aus dem Weg gegangen war. Ceallachs Geschichte hatte sie aufgewühlt, weshalb Dohosan eine willkommene Abwechslung darstellte; außerdem bot er der Mischung aus Zorn und Schmerz, die in ihr brodelte, ein Ventil. Sie bildete sich ein, dass er über ihr entstelltes Gesicht höhnisch grinste, und kniff die Augen wütend zusammen. Es stand einem wie ihm nicht zu, sich über sie lustig zu machen. Während sie sich weiter in ihren Ärger hineinsteigerte, presste sie die Lippen zusammen, was ihrem Gesicht noch mehr die Anmutung der Fratze eines wütenden Kriegsgottes verlieh. Brant murmelte etwas Unverständliches, als er mit eingezogenem Kopf an ihnen vorbeihastete. Ceallach hob erstaunt die Augenbrauen.

„Verdammtes Pech“, knurrte Jiang Li und trat mit Wucht gegen einen Stein, der vor ihr am Weg lag. „Gerade diesem Idioten muss man begegnen!“

„Was ist denn?“, wollte Ceallach wissen. Jiang Li schnaubte, dann hob sie ergeben beide Arme und seufzte theatralisch. Es tat gut, etwas Dampf abzulassen, außerdem wollte sie Ceallach aufmuntern. Oder zumindest eine Geschichte erzählen, die sie von ihren düsteren Gedanken ablenkte. Sie mochte die rothaarige Frau.

„Also gut. Es ist mir zwar unangenehm, aber ich … es kann sein, dass ich ihn mal geküsst habe.“

„Ah ja?“

„Und es könnte sein, dass er sich danach wie ein dummer Junge verhalten hat.“

„Du meinst, er hat dich ignoriert?“

„So in der Art. Seit Januar hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, und ich habe die Vermutung, dass er einen Unsichtbarkeitszauber anwendet, wenn er mich aus der Ferne sieht. Ich bin ihm auf jeden Fall kaum noch begegnet, nicht mal beim Frühstück.“

Ceallach lachte amüsiert und schien ihre Schwermut abzuschütteln.

„Ernsthaft? Und ihr habt euch nur geküsst?“

„Nichts weiter“, schwor Jiang Li und musste nun selbst lächeln. „Ich meine, nachdem Severus und ich – also, danach hatte ich auch keine Gedanken …“

„Ich würde ihn ja nicht von der Bettkante stoßen, aber meine Ansprüche sind auch bescheiden“, meinte Ceallach und zwinkerte. „Ich habe aber den Verdacht, dass er eine Freundin hat. Aus einem Dorf in der Umgebung, oder sogar Edinburgh oder so. Habe ich gehört.“

„Tratsch? Erzähl’ mir mehr.“

„Na, so viel weiß ich nicht“, wehrte Ceallach ab, „aber ich glaube, irgendwer hat mal gesagt, dass er auffällig viel unterwegs ist am Wochenende. Der ist eigentlich ganz schüchtern, viel Fassade und nichts dahinter.“

„Blöder Affe“, grollte Jiang Li und verlor ihre gute Laune schlagartig. „Das musste heute ja auch noch sein – als hätte ich nicht genügend Sorgen mit Snape. Und dann sieht mich Herr Strahlemann auch noch, mit diesem Gesicht da – vermutlich läuft er jetzt herum und erzählt jedem, wie ekelhaft ich aussehe.“

„Unsinn“, meinte Ceallach und wurde ernst. „Erstens, er wird wohl andere Sorgen haben als dein Aussehen. Zweitens, so schlimm ist die Narbe nicht. Das spielt sich alles in deinem Kopf ab, wobei wir wieder bei Snape wären. Das meinte ich vorhin mit Spiegel – deine Gedanken sind nicht seine. Du solltest aufpassen, Jiang Li – du spinnst dich in ein dunkles Netz ein und malst dir eine Welt aus, in der jeder nur dein Feind ist. Das macht dich auf Dauer nicht nur einsam, sondern zerstört dich. Ob du mit ihm zusammenbleibst, ist eine Sache; wenn er dich respektlos behandelt, dann ist es das Beste, zu gehen, aber wenn du ihn benutzt, um dich schlecht fühlen zu können, dann ist das ein ganz anderes Problem. Mach dich nicht kaputt, Jiang Li. Du bist noch so jung. Und ich weiß, es sieht aussichtslos aus, nach der Misere mit der Kampfschule, aber es gibt so viel Zukunft und so viele Möglichkeiten – das war nur einer der Wege, die für dich offen stehen. Nur einer.“

Ceallach legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich, während Jiang Li den Kopf senkte und sich an sie lehnte.

„Wenn das alles mal vorbei ist, Ceallach – dann …“

„Wird schon werden“, lächelte die rothaarige Frau. „Ich stelle mir ja ganz gerne eine Strandbar unter Palmen vor. Wenn mir alles zu viel wird, ziehe ich meine Schuhe aus, werfe sie hinter mich und renne auf den Strand, während ich der Welt beide Mittelfinger zeige.“



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