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Corvus et Vulpes

von

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Erkenntnisse und Einsichten

Eine leichte Sommerbrise war aufgekommen, wehte sanft um Hogwarts, umschmeichelte die knorrigen Bäume rings um den See und raschelte, als sie ihren Weg durch ein geöffnetes Fenster in den Ravenclaw-Turm fand, durch die Blätter eines Tagespropheten, der vergessen in einer Ecke des Ganges lag. Die Schüler der unteren Klassen hatten ihre Jahresabschlussprüfungen gerade eben hinter sich gebracht und konnten sich dem warmen Wetter hingeben, statt zaghaft und gequält durch die Gänge zu schleichen oder mit rauchenden Köpfen in der Bibliothek zu sitzen. Für die Älteren unter ihnen sah es dagegen weniger angenehm aus, denn die O.W.L.s und N.E.W.T.s standen in dieser und der kommenden Woche an. Obwohl es noch früh am Morgen war, lernten nicht wenige von ihnen bereits mit eiserner Verbissenheit, um auf den letzten Drücker doch noch etwas mehr Wissen in die Köpfe zu pressen.

Auch Snape war wach.

Er stand im Gang des sechsten Stockwerks und beobachtete, wie zarte Farben langsam das schläfrige Grau der Berge, Wiesen und Felder verdrängten. Jiang Li schlief noch; sie hatten die letzten Nächte in ihrer Wohnung verbracht und sich erstaunlicherweise nicht gestritten. In den vergangenen zwei Wochen war sie zugänglicher geworden und hatte ihm auch ein wenig über ihren fatalen Kampf am Taiyi-Teich erzählt und etwas mehr darüber, wie sehr sie ihr Aussehen belastete. Snape konnte ihren Kummer diesbezüglich zwar intellektuell verstehen, aber nicht nachvollziehen. Für ihn hatte sich an ihrer Schönheit nichts verändert.

Er schob die rechte Hand unter seinen Umhang und zog ein kleines, viereckiges Päckchen aus einer der Innentaschen. Mrs Flume hatte nicht einmal mit der Augenbraue gezuckt, als er schroff erklärt hatte, dass es sich dabei um ein Geschenk handle; sie hatte sogar erstaunlichen Geschmack bewiesen und ein zartblaues Einwickelpapier mit einem monochromen Muster gewählt, auf dem sich winzige Einhörner, Greife und Mantikore in einem dichten Wald voll knorriger Bäume tummelten. Während Snape auf das Päckchen starrte, jagte ein Mantikor gerade mit großen Sprüngen hinter einem Greifen her und machte Anstalten, ihn mit seinem Skorpionschwanz zu erstechen. Snape seufzte tief und sah wieder durch das Fenster, während er das Päckchen in der Hand behielt.

Jiang Li hatte Geburtstag und es war ihm sogar gelungen, ein Geschenk zu besorgen – eigentlich sollte er stolz auf sich sein. Oder zumindest erleichtert, dass er daran gedachte hatte und sie nicht enttäuscht sein würde.

Er war weder stolz noch erleichtert. Um die Wahrheit zu sagen, erwog er in diesem Moment ernsthaft, das kleine Paket ganz einfach den Turm hinunter zu werfen und zu gehen; zurück in seine Wohnung oder gleich in sein Büro tief unten in den Kerkern, in dem es dunkel war und tröstlich. Es gab mehr als tausend Dinge zu tun und nicht nur Dumbledore, sondern auch Narcissa Malfoy saßen ihm im Nacken … von den Todesessern und Voldemort erst gar nicht zu reden. Das unablässige Tarnen und Täuschen zehrte mehr an seinen Kräften, als er es sich selbst eingestehen wollte und selbst die Möglichkeit, seine schlechte Laune an den Schülern auszulassen – vor allem an Harry Potter, der seinem Vater immer ähnlicher zu werden schien –, vermochte seine Melancholie nicht zu dämpfen. Er hatte im Grunde keine Zeit für Jiang Li, ihre Launen und Ansprüche; er hatte Wichtigeres zu tun. Diese ganze Beziehung war nichts weiter als eine Vergeudung an Energie, Verschwendung von Lebenszeit …

Ein Windstoß brachte die leicht geöffneten Fensterflügel in Bewegung und Snape trat einen Schritt zurück. Ein dicker, kleiner Käfer segelte dicht an seiner Nase vorbei und zog eine elegante Schleife, bevor er sich auf dem Fensterbrett niederließ und langsam an der Kante entlangkrabbelte. Snape betrachtete ihn mit unbewegter Miene, das Päckchen noch immer in der rechten Hand.

Rotes Haar wehte an ihm vorbei und grüne Augen funkelten, mit einem leisen, ironischen Lachen darin. Die Sonne wärmte und das Gras war noch voll Tauperlen … alles war möglich, seine Träume … seine Hoffnungen …

Und Snape wusste, dass er verflucht war und dass für ihn keine Zukunft mehr gab; dass er sich sein Leid selbst zuzuschreiben hatte und keinen anderen dafür verantwortlich machen konnte, egal, wie sehr er es versuchte und auch all die Jahre über versucht hatte. Uraltes Eis in seinem Inneren, scharfkantig und schmerzhaft, aber es kühlte auch, beruhigte, trieb ihn an und brachte ihn durch den Tag … gab ihm ein Ziel, einen Sinn.

Er senkte den Blick und verfolgte den Weg des Käfers für eine Weile. An Jiang Li war nichts falsch; sie war faszinierend in ihrer Facettenhaftigkeit, ihr Charakter bestand aus einer ungewöhnlichen Mischung aus Ruhe, Jähzorn, kindlicher Freude, Sinnlichkeit, kühler Vernunft und irrationaler Sorge, die ihn auf allen Ebenen forderte und er wusste, wenn es ein anderes Leben gewesen wäre, dann hätte er sie seine Schutzwälle niederreißen lassen und sich geöffnet, verletzlich gemacht und sie wirklich und ehrlich, tief im Inneren lieben können … Aber es war kein anderes Leben und das Rad drehte sich weiter, unaufhaltsam. Snape war ein nüchterner, illusionsloser Denker, auch wenn er manchmal für einen kurzen Augenblick glaubte, dem Gefängnis entfliehen und etwas verändern zu können, so wie damals im Oktober, bei der Halloweenfeier. Manchmal, wenn er sich die Zeit nahm, völlig ehrlich zu sich selbst zu sein, gestand er sich ein, dass es sich bei seiner Beziehungsunfähigkeit zu einem großen Teil um Bequemlichkeit handelte. Um etwas zu verändern, hätte er die Vergangenheit gehen und sich auf ein neues Leben einlassen müssen. Loslassen kostete Kraft und verlangte nach einer anderen Sicht auf seine eigene Person. Snape war sich nicht sicher, ob er es ertragen konnte, sich selbst als jemanden zu sehen, der glücklich sein konnte und loyal einer Person gegenüber, die lebte, atmete, sich veränderte. Es war leichter – trotz aller damit verbundenen Schmerzen – einem Monument zu dienen und Verlorenem nachzutrauern. Was Snape in seiner Arbeit verabscheute, lebte er im Privatleben aus – die Unfähigkeit, flexibel zu sein und alte Wege zu verlassen. Er kannte sein Schicksal; so schwarz und leidvoll es auch war, so klar und vorgezeichnet stand es da. Der Weg lag vor ihm, einsam, dunkel und einschätzbar. Er hatte nicht die Kraft, sich auf etwas Neues einzulassen, das sein Leben vielleicht umgekrempelt und alles, was ihn seit Jahren zu dem machte, was er war, für null und nichtig erklärt hätte.

Der dicke kleine Käfer hatte sich zu weit vorgewagt und war in Gefahr, die Balance zu verlieren; während er verzweifelt versuchte, sich mit seinen Beinen an der Kante des Fensterbretts festzuklammern, seufzte Snape erneut tief auf und schob das Päckchen zurück in die Innentasche.

 

***

 

Fuchsspuren in der kalten Asche. Jiang Li war aufgewacht und hatte sich alleine im Bett vorgefunden. Als sie sich aufgesetzt hatte, um nach Snape Ausschau zu halten, war ihr Blick zum Kamin gewandert und sie fühlte, wie sich Kälte in ihr ausbreitete. Kreuz und quer verliefen die Pfotenabdrücke, setzten sich auf dem Vorleger fort und zeichneten ein verschlungenes, irritierendes Bild. Sie stand auf und trat näher heran, in der vagen Hoffnung, dem wirren Muster eine Botschaft entnehmen zu können, aber es war sinnlos. Das Einzige, das sie immer stärker spürte, war eine wachsende Bedrohung. Irgendjemand – irgendetwas – kam immer näher, beobachtete sie, drang in ihren persönlichen Raum ein und ließ es sie auf geradezu zynische Art und Weise wissen.

Die Tür klappte und sie richtete sich langsam auf. Snape trat ein und blieb für einen Moment regungslos stehen, dann kam er auf sie zu und hob eine Augenbraue.

„Alles in Ordnung?“

„Klar“, gab sie leichthin zurück und drehte dem Kamin den Rücken zu. „Warst du draußen?“

„Nur im Gang, das Morgenlicht sehen“, antwortete er und gab ihr einen Kuss. „Alles Gute zum Geburtstag.“

Jiang Li nahm das blaue Päckchen überrascht entgegen, während sich ihre Wangen vor Freude und Aufregung leicht röteten.

„Ein Geschenk für mich!“

„Nur was Kleines“, wehrte er ab.

Sie betrachtete das Einwickelpapier für einen Moment und lachte, als ein Einhorn, auf dessen Rücken ein Greif saß, im vollen Galopp hinter einem Mantikor herjagte.

Leben. Jetzt. Frei sein. Sich freuen, nur für einen Augenblick.

Der Mantikor schlug eine komische Pirouette und sowohl das Einhorn als auch der Greif schienen vor Vergnügen schier zu platzen.

Sie lachte wieder, lauter, fühlte die Vorfreude sprudelnd in sich aufsteigen und riss das Papier mit einem ungestümen Ruck auf.

„Oh! Salzkaramell-Pixiu!“

Snape wollte etwas sagen, verzichtete aber, als er ihre strahlenden Augen sah. Verrückte Welt. Da freute sie sich über eine Schachtel Süßigkeiten, als ob er ihr den Schlüssel zur Weltherrschaft überreicht hätte. Er machte eine finstere Miene, weil er nicht wusste, wie er mit dem warmen Gefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete, umgehen sollte.

Jiang Li öffnete die Packung mit der schreienden Aufschrift Hello Pixiu! und wählte mit Bedacht ein besonders schönes Exemplar der kleinen geflügelten Löwen. Sie hatte diese spezielle Sorte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen und wunderte sich, dass Snape ausgerechnet auf Salzkaramell gekommen war.

„Da – für dich“, lächelte sie und schob ihm das Bonbon in den Mund. Er verzog das Gesicht noch mehr und machte eine abwehrende Bewegung.

„Ich weiß nicht – ich bin momentan nicht in Stimmung für Süßes.“

„Unsinn, für Pixiu ist man immer in Stimmung.“

Er biss ein kleines Stück ab und brummte missmutig vor sich hin. Das Salzkaramell kribbelte angenehm auf der Zunge, und als er schluckte, wirbelte ein Energiestoß durch seinen Körper. In der Ferne vermeinte er, einen Löwen brüllen zu hören.

„Ich liebe Pixiu, wie bist du bloß auf die Idee gekommen? Und wo hast du sie gekauft? Die gibt es hier doch nirgendwo!“, plauderte sie weiter und vermied es, zum Kamin hinzusehen.

„Geheimnis“, gab Snape zurück und dachte daran, wie gut es war, dass der Honigtopf sowohl über gute Beratung als auch ein unschlagbares Bestellservice verfügte. Ambrosius Flume hatte ganze Arbeit geleistet.

„Ich muss los. Die Examen fangen gleich an und McGonagall will mich noch sprechen.“

„Kein Problem. Ich amüsiere mich inzwischen mit den Pixiu, bin erst heute Nachmittag dran“, antwortete Jiang Li und lächelte wieder. Sie wunderte sich darüber, wie leicht es ihr gelang, die Fröhliche zu mimen. Tatsächlich war sie sogar ehrlich aufgekratzt, das Geschenk hatte sie in gute Laune versetzt. Für einen Moment fragte sie sich, ob sie diesmal wirklich den Verstand verlor. Sie fühlte etwas Bedrohliches immer näher kommen, es schnürte ihr die Brust ein, doch gleichzeitig war es ihr gleichgültig, als beträfe es gar nicht sie selbst. Snape ging ein paar Schritte in Richtung Tür und drehte sich zögerlich um. Er zog ein finsteres Gesicht und ging rasch wieder zu ihr zurück, um sie fest an sich zu drücken und ihr ein paar hastige, innige Küsse zu geben. Ohne etwas zu sagen, ließ er sie danach wieder los, durchquerte das Zimmer mit großen Schritten und warf die Tür heftig hinter sich ins Schloss.

Jiang Li sah ihm für einen Augenblick nach, positiv verwundert. Dann bewegte sich die Schachtel in ihren Händen leicht und sie schob alle Gedanken an Snape beiseite.

„Ganz ruhig, meine Lieben. Ihr kommt später dran“, erklärte sie den Pixiu laut und schloss den Deckel. Ihr Blick fiel auf den Kamin.

„Na, wo bist du?“, fragte sie die Spuren auf dem Kaminvorleger und ging langsam, wie eine Tänzerin auf Zehenspitzen, darauf zu. „Und wer bist du? Was willst du? Ich habe nichts von Wert, weder Reichtümer noch magische Gegenstände.“

Sie musste auf ein loses Brett getreten sein; plötzlich klirrte etwas leise auf dem Kaminsims. Das braun-schwarze Teeservice mit dem eleganten Drachenmotiv, das ihr die Großmeisterin an ihrem ersten Arbeitstag geschickt hatte, war gefährlich nahe an den Rand gerutscht und Jiang Li musste sich beeilen, um Kanne und Tassen rechtzeitig abzufangen und wieder nach hinten zu schieben.

Eigentlich wollte sie ins Badezimmer, sich anziehen und zurechtmachen. Der Tag war schön und warm, ein lauer Wind …

NEIN. Sie schnaubte und kniff die Augen zusammen. Verflixt noch mal, was sollte das? Sie sabotierte sich gerade selbst, es war genug. Sie wollte wissen, wo diese Spuren herkamen, die sie jetzt schon seit Monaten verfolgten und zu ausreichend Zwistigkeiten geführt hatten. Sie sah sich suchend um, schnippte in die Finger und fing ihren Zauberstab mit der rechten Hand auf.

„Detege!“

Die Aschespuren leuchteten mattrot auf, weiter geschah zunächst allerdings nichts. Jiang Li kniff die Augen zusammen, führte den Zauberstab dicht an die Pfotenabdrücke heran und knurrte leise.

„DETEGE!“

Das rote Glühen nahm an Intensität zu. Ein geisterhaftes Bild formte sich vor dem Kamin, zusammengesetzt aus wirbelnden Staub- und Aschepartikeln. Jiang Li konzentrierte sich noch stärker und tauchte die Spitze des Stabes direkt in einen der Abdrücke. Sie fühlte eine tiefe, machtvolle Vibration, die es schwer machte, den Arm gerade zu halten. Langsam gewann der Schemen sowohl an Deutlich- als auch Stofflichkeit. Ein Fuchs, gerade so, wie sie es vermutet hatte. Doch es war kein gewöhnliches Tier; abgesehen von seiner ungewöhnlich hellen, fast weißen Färbung saßen neun Schwänze an der Stelle, an der man sonst einen vorzufinden pflegte. Der Körper war zierlich und elegant, die Augen groß und unergründlich.

Eine Hú li jīng, eine Fuchsdämonin – das hatte gerade noch gefehlt. Selbst als Schatten war sie Furcht einflößend; sie hob ihren Kopf und grinste Jiang Li höhnisch an, während kalte Flammen um ihren geschmeidigen Körper zuckten. Ein glockenhelles Lachen ertönte im Raum, prallte von den Wänden ab und wirbelte wieder zur Dämonin zurück.

Jiang Li hob den Zauberstab aus der Asche und sah dabei zu, wie das Geisterbild wieder in seine Einzelteile zerfiel.

Plötzlich hätte sie gerne mit der Großmeisterin gesprochen, oder Soocangga. Oder ihren Eltern. Mit irgendwem, der wusste, was es hieß, wenn man es mit einer Fuchsdämonin zu tun hatte und auch ein probates Gegenmittel kannte. Jiang Li hatte sich bislang zwar mit vielen Zauberwesen auseinandergesetzt, aber eine Hú li jīng war noch nicht darunter gewesen. Weibliche Fuchsdämonen verfügten über ein sehr hohes Maß an magischer Kraft; je älter und weiser, umso gefährlicher waren sie im Regelfall. Sie konnten sich in jedes beliebige Lebewesen verwandeln, gerne aber erschienen sie als wunderschöne Frau, die Männer betörte und für ihre Zwecke einsetzte. Es kam allerdings auch gar nicht so selten vor, dass die Hú li jīng Besitz von einer Frau ergriff und in diesem geborgten Körper allerhand Unheil anrichtete. Hexen und Zauberer waren üblicherweise davor gefeit, von ihnen besessen zu werden, doch niemand konnte sie davon abhalten, Magiern erheblichen körperlichen oder geistigen Schaden zuzufügen. Jiang Li konnte sich zwar nicht daran erinnern, jemals einer Fuchsdämonin nahe gekommen zu sein, geschweige denn, sie bewusst beleidigt oder verletzt zu haben, doch offensichtlich war es einmal der Fall gewesen. Eine Verfolgung durch dieses Wesen erklärte die emotionale Achterbahn, auf der sich Jiang Li seit Längerem befand. Die nervöse Anspannung und die Angstzustände, unter denen sie in den letzten Monaten gelitten hatte, waren mit Sicherheit zu einem Teil auf diese Heimsuchung zurückzuführen, ebenso das immer wiederkehrende Gefühl, in einem Nussknacker zu stecken und nicht atmen zu können.

Hú li jīng. Irgendwo am Rande ihres Bewusstseins wartete eine Erinnerung still und bedächtig darauf, von ihr wiederentdeckt zu werden. Jiang Li rieb sich mit dem Handrücken über ihre Narbe und seufzte. Es war zwecklos; je stärker sie versuchte, sie aus der Dunkelheit zu zerren, umso beharrlicher verbarg sie sich, glatt und wendig wie ein Aal.

 

Als sie später Snape nach dem Mittagessen traf, überlegte sie für einen Augenblick, ihm von der Fuchsdämonin zu erzählen. Dann erinnerte sie sich an seine Reaktion, als sie ihm vor drei Monaten die Spuren in der Asche gezeigt hatte, und verwarf den Gedanken. Seit dem Neujahrsmorgen hatte sie mit ihm auch nicht mehr über ihre Theorie, die tellurischen Erdströme betreffend, gesprochen. Er war bemerkte allerdings gar nicht, dass sich ihre Stimmung seit dem Morgen verändert hatte; zu sehr war er in seine eigenen Sorgen verstrickt, von denen er ihr auch nichts berichtete.

„Dumbledore will dich nach dem Abendessen sehen“, murmelte er ihr ins Ohr und drückte sie kurz an sich.

„Geht’s um den Orden?“, gab sie zurück und er machte eine Kopfbewegung, die sowohl ein Ja als auch ein Nein bedeuten konnte. Dann war er auch schon wieder verschwunden.

Ob sie Dumbledore davon erzählen sollte? Jiang Li war unschlüssig. Er war einer der weisesten Menschen, die sie kannte, und konnte ihr vielleicht einen wertvollen Rat geben. Andererseits … aus irgendeinem Grund fühlte sie sich unwohl dabei. Er vertraute ihr doch ohnehin nicht, sie war nichts weiter als eine Spielfigur, die er über das Feld führte. Es war besser, die Sache selbst zu lösen und darüber zu schweigen.

Als sie sich umdrehte, um Snape nach draußen zu folgen, prallte sie an der Tür beinahe mit Harry Potter zusammen, in dessen Fahrwasser sich wie üblich Weasley und Hermione Granger befanden. Er zuckte zusammen und starrte sie mit großen Augen an; Jiang Li kam es so vor, als würde er sich innerlich über ihr entstelltes Gesicht lustig machen. Ihre Augen wurden schmal.

„Was ist, Potter, noch nie eine Narbe gesehen?“, blaffte sie ihn an und bemerkte, wie seine Hand unbewusst in Richtung Stirn zuckte. Hermione Granger trat einen Schritt vor, als wollte sie ihren Freund beschützen und öffnete den Mund. Bevor sie allerdings etwas sagen konnte, straffte sich der Junge und sah ihr geradewegs in die Augen.

„Entschuldigen Sie, ich war nur unaufmerksam. Es hat nichts mit Ihnen zu tun.“

Jiang Li presste kurz die Lippen zusammen, dann neigte sie den Kopf zur Seite und schämte sich für ihre überzogene Reaktion.

„Ist gut. Ich bin empfindlich in letzter Zeit.“

„Ich weiß, was Sie meinen“, gab Potter leise zurück und Jiang Li musste sich plötzlich mit aller Macht davon abhalten, ihm tröstend auf die Schulter zu klopfen.

 

„Zitronenbrausebonbon!“

Der Wasserspeier glitt zur Seite und Jiang Li trat auf die Wendeltreppe, die langsam nach oben rotierte. Dumbledore befand sich alleine in seinem Büro; Fawkes war offensichtlich ausgeflogen, die Stange war leer.

„Vielen Dank, dass Sie sich an Ihrem Geburtstag die Zeit dafür genommen haben, vorbeizukommen“, sagte er freundlich und lächelte sie an. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Vielen Dank – und, das ist doch selbstverständlich.“

Er überreichte ihr mit verschwörerischer Miene eine kleine graue Schachtel, die in eine große Schleife eingeschlagen war. Die Freude über ein weiteres Geschenk verdrängte für eine Sekunde das dumpfe Gefühl in ihrem Inneren und sie ließ ein dankbares Lächeln aufblitzen.

„Oh, wie schön – vielen Dank!“

„Nur eine Kleinigkeit. Nervennahrung sozusagen“, schmunzelte Dumbledore und wies einladen auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sie setzten sich und Jiang Li unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, das Päckchen zu schütteln.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Dumbledore und sah ihr direkt ins Gesicht, auf ihre Narbe.

„Zum Glück bin ich nicht aufgrund des Aussehens angestellt worden“, gab sie mit dem halbherzigen Versuch, ihre innere Anspannung zu lösen, zurück und er lachte leise.

„Selbst wenn, Sie müssten keine Gehaltsabzüge befürchten.“

Sie lächelte und senkte den Blick. Alter Schmeichler! Aber es funktionierte. Ihre Laune hob sich ein wenig.

„Jiang Li, es gibt schlechte Neuigkeiten. Voldemort gewinnt immer mehr an Einfluss, wie Sie sicherlich schon wissen. Ich habe Annahme dazu, dass er noch tiefer in die Gefilde der Schwarzen Magie eingedrungen ist, als ich zunächst angenommen hatte.“

Sie sah ihn aufmerksam an.

„Es ist möglich, dass es nicht ausreicht, nur seinen derzeitigen Körper zu vernichten“, sagte Dumbledore leise und mit einem deutlichen Zögern in der Stimme. „Ich muss Sie darum bitten, auch den Mitgliedern des Ordens gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Ich ersuche Sie auch darum, nicht mit Severus Snape darüber zu sprechen, zumindest nicht über Details. Es ist eine delikate Angelegenheit.“

„Ich verspreche es.“

„Die Mission, auf die ich Sie schicken möchte, gilt diesmal der Beschaffung eines magischen Gegenstandes. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen weitere Instruktionen geben, wenn ich seinen genauen Standort lokalisiert habe und mir darüber im Klaren bin, wen ich Ihnen zur Seite stelle. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass es sich dabei um eine gefährliche Aufgabe handelt – sie wird gefährlicher als der Einbruch bei den Safiyas.“

Jiang Li sah vor sich auf den Tisch und schauderte leicht. Sie hatte die Pein, die ihr der Cruciatus-Fluch zugefügt hatte, nicht vergessen, nur verdrängt; noch immer sah sie in ihren Albträumen das schöne, grausame Gesicht vor sich und hörte Bellatrix Lestrange lachen. Die Erinnerung an die Marter befand sich in einem Block aus blaugrünem Eis, knapp über ihrem Herzen. Sie rührte nicht gerne daran und war froh, dass seit ihrer Genesung über diesen Vorfall nicht mehr gesprochen wurde.

„Ich habe keine Angst“, sagte sie schließlich und blickte Dumbledore mit gefasstem Blick in die Augen. „Oder sagen wir es so: Ich habe Angst, aber ich bin bereit dazu, die Aufgabe zu übernehmen. Dafür bin ich hier. Der Orden kann auf mich zählen. Sie können auf mich zählen.“

„Ich danke Ihnen“, erwiderte Dumbledore ernst und lächelte dann leicht. „Sie haben sich bereits bewiesen und ich weiß, dass mein Vertrauen gerechtfertigt ist.“

Er schob seinen Stuhl zurück und signalisierte elegant, dass sich das Gespräch dem Ende zuneigte.

„Wie gesagt, Sie erhalten in den nächsten Tagen – es wird nicht lange dauern – genauere Informationen. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“

Sie sah ihn an und fühlte einen quälenden Kampf in sich toben. Sollte sie ihm von der Dämonin erzählen? Oder …

„Ich habe … ja, irgendwie habe ich eine Frage“, platzte sie unwillkürlich heraus und hätte sich die Worte gleich danach am liebsten wieder zurück in den Mund geschoben. Verdammt!

„Ja?“, fragte Dumbledore mit einem freundlichen Lächeln und machte eine aufmunternde Geste. „Nur heraus damit!“

„Ich … ich habe mich gefragt, was es … also, hm, was es mit den tellurischen Erdströmen auf sich hat. Also, was Voldemort will … wofür er sie einsetzen will“, murmelte sie lahm, während sie auf ihrer Unterlippe herumkaute.

Dumbledore hob die linke Augenbraue.

„Die tellurischen Erdströme? Wie kommen Sie darauf?“

„Habe etwas recherchiert“, quetschte sie undeutlich hervor.

„Dann wissen Sie ja über die Macht, die diesen Strömen innewohnt“, meinte er leichthin und setzte sich bequemer hin. „Was genau möchten Sie wissen?“

„Es scheint mir so, als würde Voldemort die Kontrolle über die Erdströme erlangen wollen. Mir ist nur nicht klar, weshalb – ich will wissen, worin sein Ziel besteht.“

Dumbledore antwortete nicht sofort, sondern rückte zuerst umständlich seine Brille zurecht.

„Voldemort hasst die Muggel – und die meisten der Zauberer. Eigentlich jeden“, meinte er schließlich mit einem sanften Lächeln und faltete die Hände auf dem Tisch.

„Ich weiß nicht – ist das wirklich alles?“, fragte Jiang Li zweifelnd.

„Manchmal ist die Erklärung so einfach“, sagte Dumbledore sanft und seufzte leise. Jiang Li runzelte die Stirn und wagte einen weiteren Vorstoß.

„Sie meinen, das alles – das Leid und die Mühe, die er auf sich nimmt, die ganzen Pläne – aus diesem Grund? Weil er die Muggel hasst? Was will er denn, die ganze Welt vernichten?“

„Das weiß wohl nur er allein“, meinte Dumbledore ruhig und bestimmt. „Sie dürfen nie vergessen, dass er zwar über Macht und Wissen verfügt, im Grunde seines Daseins jedoch immer ein kleines, verletztes, grausames Kind geblieben ist. Voldemort setzt auf Gewalt und wird von Prestige und Macht angezogen. Er wünscht sich, ein Teil des alten Zauberadels zu werden, obgleich ihm dieses Ziel für immer versperrt bleiben wird, selbst wenn er die Weltherrschaft an sich reißt. Auch wenn alle vor ihm niederknien, so wird er doch nur ein Emporkömmling bleiben. Und die Geschichte hat uns gelehrt, dass nichts so brüchig ist wie Weltreiche“, er schmunzelte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. „Ich bin allerdings nicht dazu bereit, zu warten, bis er so weit gekommen ist. Hogwarts und den Schülern gilt mein besonderer Schutz, und ich sehe mich im Dienste aller Menschen – gleichgültig, ob es sich dabei um Magier oder Muggel handelt.“

„Gesetzt dem Fall“, beharrte Jiang Li, „er würde einen Weg finden, um die Erdströme zu beherrschen. Was will er tun? Alle Muggel auf einen Schlag auslöschen?“

„Ich weiß es nicht“, gab Dumbledore müde zurück. „Alle zu töten wäre vielleicht zu langweilig für ihn. Er spielt gerne, quält gerne – und wenn es nur noch Tote gibt, so ist niemand mehr da, der ihn und seine Brillanz bewundert. Ich denke, dass wir diesen Faktor nicht unterschätzen dürfen. Voldemort braucht seine Zuschauerschaft, die ihn fürchtet und mit Ehrfurcht oder Schrecken über ihn spricht.“

Jiang Li nickte widerstrebend und seufzte leicht. Es machte Sinn, obwohl sie die Beweggründe nicht nachvollziehen konnte, nicht einmal in der Theorie. Aber vielleicht war es auch ganz gut so, dachte sie schließlich, wenn es ihr nicht gelang, die Gedankengänge und Triebe eines Tyrannen zu verstehen.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie, stand auf und verneigte sich leicht. „Ich erwarte Ihre Instruktionen. Sie werden von meiner Arbeit nicht enttäuscht sein.“

Dumbledore lächelte sie freundlich an und geleitete sie galant aus dem Zimmer. „Daran zweifle ich nicht. Und vergessen Sie nicht, ein bisschen zu feiern – wir alle brauchen helle Lichter der Freude in dieser dunklen Zeit.“



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