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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Es ist Obon, das Fest der Toten, und auch wenn Minoru keine Absichten hegt, die Ruhe seiner Vorfahren zu stören, bekommt er unerwarteten Besuch. Komplett anzeigen

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dass die Finsternis

Ganz gleich, wie schnell er durch die Gassen eilte, der weiße Hund war ihm stets ein Stück voraus; bog um die nächste Hausecke, als Minoru die Straße betrat und verschwand mitten auf einer Kreuzung, nur um Sekunden später am Ende der Straße zu erscheinen und ihn aus großen, gelben Augen anzustarren.

Im Stadtpark, wenige Blocks entfernt, holte er ihn schließlich ein. Die Gestalt des Hundes ruhte vor dem Stamm eines mächtigen Kampferbaumes und wartete auf seine Ankunft.

„Weshalb seid Ihr hier?“

Der Hund ließ ihn nicht aus den Augen, rührte sich nicht. „Du hast mich gerufen.

Die Stimme war körperlos und schwang ohne jede Richtung durch die Luft, als ließe sie von den Winden tragen. Kein Yōki, keine Witterung. Es war die eine Sache einem erfahrenen Krieger gegenüberzustehen, aber noch eine ganz andere, ihn nicht lokalisieren zu können, während er nach Belieben auftauchen und verschwinden konnte. Diese Hilflosigkeit bereitete Minoru mehr Sorge, als die Tatsache, dass dieser Hund der Geist eines längst verstorbenen Verwandten sein musste. Eines Verwandten, der es offensichtlich darauf angelegt hatte, ihn zu treffen. Denn wer die Berührung einer Laterne als Einladung auffasste, musste wohl auf eine gewartet haben. Anders war jedenfalls nicht zu erklären, warum jemand auch nur einen Finger für ihn krumm machte, ohne dass er zuvor bettelnd im Staub herumgekrochen war. „Nicht wirklich.“

Weshalb wünschst du in deine Epoche zurückzukehren?

Argwöhnisch erwiderte Minoru den forschenden Blick und versuchte die Intention zu ergründen. Was für eine Art Frage sollte das denn nun sein? Ein Angebot? Eine Falle etwa? Oder doch nur banale Willensbestätigung? Die Notwendigkeit einer Begründung wäre ihm niemals in den Sinn gekommen und doch wartete der Hund regungslos auf seine Antwort.

„Ihr fragt gerade nicht wirklich, warum ich hier nicht bleiben will.“

Du hast mich richtig verstanden. Dein Leben verspricht Sicherheit, Überfluss. Der Weg zurück ist bar dieser Vorzüge. Offene Schlachten, Leid, Chaos. Ihn zu wagen, deinem Vater zu folgen, wird dich an die Front führen.

„Ihm nicht zu folgen hat mich hierher geführt. Sicherheit und Überfluss, während meine Familie einen Krieg ausfechtet, in dem der Gegner nicht sterben kann.“

Den du zu entscheiden gedenkst.

Einen Moment lang zog Minoru die Luft tiefer in seine Lungen, atmete kontrolliert aus und nahm sich zurück. Das Gespräch war zu offen, die Provokationen zu rasch ineinander gesponnen. Wenn er sich nicht vorsah, würde man ihm bald jedes Wort im Munde herumdrehen. Bedenklich dünnes Eis in Anbetracht dessen, was hier vor ihm stand.

„Ich bin weder blutrünstig noch vermessen. Ich werde keinen Gegner schlagen, der meinem Vater Sorge zu bereiten vermag. Wenn nun aber jedermann seine Untätigkeit darin begründen würde – wer würde dann noch zur Waffe greifen?“

Zurückzukehren, um dein Leben in einer heroischen Minute vor den Feind zu werfen wird niemanden nützen. Es liegt kein Ruhm darin, den eigenen Stolz höher zu tragen als das Leben und Schlachten zu schlagen, die man nicht gewinnen kann. Niemand verschwendet Hochachtung an den gefallenen Narren.

„Verwechselt meine Jugend nicht mit Torheit. Unkenntnis der eigenen Grenzen führt dazu, dass Jugend und Hochmut eng beieinander marschieren. Wäre ich mir der meinen jedoch nicht bewusst, hätte ich schon lange Jahre zuvor meinen Kopf eingebüßt.“

Das hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, die eigenen Fähigkeiten zu ergründen und zu bemessen, welche Gegner er vielleicht tatsächlich hätte schlagen können, aber dafür hatte er diese Zeit seines Lebens einigermaßen unbeschadet überstanden – wenn man davon absah, dass er bei seinem Ausflug gen Norden um Takerus Willen mehrfach hätte sterben können.

„Ich teile Eure Auffassung“, versicherte er. „Doch die Situation ist eine andere. Es geht nicht um den Stolz des Einzelnen, um Ländereien oder eine kleine Fehde. Mein Großvater hat stets nur Krieg entfacht, wo Untätigkeit größere Übel hervorgebracht hätte und selbst er hat die Drachen bis zu seinem Tod erbarmungslos verfolgt. Dabei waren sie damals noch sterblich und ihre Kriege auf Yōkai beschränkt. Mittlerweile verbrennen sie alles Leben auf ihrem Weg als Zündfeuer für ihr widernatürliches Dasein. Wer nicht kämpft, wird dennoch sterben, sobald die Reihen der Krieger ausgedünnt sind. Narr und kurzsichtig ist, wer glaubt, der Kelch gehe ausgerechnet an ihm vorüber. Nein, dieser Krieg betrifft jeden einzelnen und jeder einzelne hat das Recht, sich diesem Schicksal zu erwehren.“

Natürlich wäre er in dieser Zeit sicher. Hier gab es keine Drachen – nicht einmal Kappa. Hier gab es nur Menschen und von ihnen geduldete Tiere. Wenn das hier die Zukunft seiner Epoche sein sollte, so würden sie versagen. Dann wäre der Weg zurück sein sicherer Tod. Ein Tod jedoch, der ihn nicht in selbstsüchtiger Tatenlosigkeit, während einer Entführung oder als Marionette seiner Mutter ereilen würde.

„Ich mag nicht am westlichen Hof aufgezogen worden sein, aber einen Funken Ehrgefühl besitze ich noch.“

Das habe ich nie angezweifelt“, erwiderte die Stimme versöhnlich, während der Hund sich auf die Hinterbeine niederließ. „Ein wenig impulsiv vielleicht, stur, unerfahren, übermäßig idealistisch und blockiert. Aber aufrichtig.

Minoru gab sich Mühe, nicht allzu verdutzt zu blinzeln. Er hatte mit vielem gerechnet, jedoch nicht damit, dass die eigentliche Kontroverse binnen eines Atemzuges in Vergessenheit geriet und einer Bewertung seiner Person Platz einräumte.

Dieses Urteil klang in einem freundlichen Tonfall noch vernichtender als Myōgas hysterische Anfälle es je vermocht hätten – da half auch der Befund seiner Aufrichtigkeit wenig. Auch Idioten waren aufrichtig, bevor man ihnen den Kopf abriss.

Resigniert betrachtete Minoru den Dämon und schob die Hände in seine Jackentaschen.

„Ist es wirklich so abwegig, dass ich zurück will?“

Er wüsste sicher besseres mit sich anzufangen als vier Jahre in der menschendichtesten Stadt der Welt einen Brunnen anzustarren, wenn dieser Brunnen nicht seinen einzigen Rückweg dargestellt hätte. Sollte dieser Dämon nur gekommen sein, um ihm seine Heimkehr auszureden, verschwendete er seinen Atem.

Aber nein. Wer bist du hier schon? Ein Inu unter Menschen, die den Dämon nicht sehen. Ein Mensch von Millionen. In dieser Zeit bist du bedeutungslos.

Die Art und Weise wie sein Gegenüber durch die Abgründe seiner Motive sprang, ging Minoru gegen den Strich. Es war mehr als der bittere Beigeschmack einer forcierten Unterhaltung. Viel zu deutlich war die Absicht, seine Haltung auf Herz und Nieren zu prüfen. Er hatte sich in dieser Hinsicht mehr Offenheit von seinem Vater gewünscht – nicht jedoch von einem Fremden.

„Bedeutung und Einfluss meiner Person sind nicht von Ort oder Zeit abhängig“, widersprach er schließlich unverbindlich. „Der Unterschied liegt allein in der Erwartungshaltung derer, die meinen Vater und den Westen fürchten oder respektieren. Dieser Kontext gibt mir scheinbare Bedeutung. Nicht ich selbst.“

Das sagte ich.

„Dann irrt Ihr, was meine Intention anbelangt. An meiner Person ändert weder Bedeutungslosigkeit noch Herkunft etwas. Ich bleibt Ich, ungeachtet der Rahmenbedingungen. Meine Heimkehr zielt nicht auf eine Verbesserung meiner Stellung ab. Es geht nicht um Macht, Einfluss oder kriechende Bedienstete. Ich fühle mich meiner Familie verpflichtet. Und wenn wir schon dabei sind, dass Ihr ergründen wollt, worin die Wahrheit liegt: Ich will nach Hause – ganz banal und egoistisch. Alles was damit zusammenhängt, sind Konsequenzen, derer ich mir durchaus bewusst bin.“

Macht ist demnach eine Konsequenz.

Beinahe vermochte Minoru, dem dünnen Sommereis unter ihm beim Knacken zuzuhören. Sein Vater hatte seinen Mangel an Ambitionen und Autoritätswillen bislang toleriert. Sicher in der Hoffnung, dass einen fernen Tages noch der Verstand Einzug hielt oder sein Charakter auf den Sohn abfärbe. Außer dem Fürsten selbst hatte jedoch niemand einen Grund, nachsichtig oder geduldig mit seiner Haltung zu verfahren. Er hatte sich zu weit vorgewagt, doch welcher Weg blieb ihm nun?

Die Feststellung glaubhaft zu verneinen wagte Minoru nicht – dann wäre es auch mit der eben noch erwähnten Aufrichtigkeit nicht weit her gewesen. Zumal dieser Hund vermutlich schon ausreichend Lügen gehört haben mochte, um sie meilenweit gegen den Wind zu wittern.

Schließlich stieß er die angehaltene Luft aus und verschränkte die Arme: „Das ist sie.“

Für deine Position eine äußerst bizarre Einstellung.

„Macht und Einfluss sind beide dann erstrebenswert, wenn sie einem Zweck dienen. Um sie lediglich zu besitzen, wie verstaubte Pokale, sind sie zu gefährlich. Dann will einem jeder halbgare Dämon ans Leder ohne dass man irgendeinen Nutzen daraus zieht.“

Der Hund legte interessiert den Kopf schief: „Welcher Nutzen schwebt dir vor?

Allmählich wunderte es Minoru, dass sein Gegenüber angesichts dieser Aussagen nicht die Zähne fletschte, ja, nicht einmal im Mindesten schockiert wirkte. So als sei es ein einfaches Gedankenspiel und nicht etwa die Zukunft seines Hauses, die da gerade den Bach hinunter ging. Beinahe mochte er resigniert seufzen, doch er besann sich eines Besseren und zuckte kaum merklich mit den Schultern: „Wüsste ich das, wären sie ja erstrebenswert.“

Ein Lachen erfüllte die Nachtluft wie Sommerhitze, ließ jedoch das Blut des Jungen in den Adern erstarren. Was – machte er sich tatsächlich über ihn lustig? Unfassbar! Das war blanker Wahnsinn!

Das amüsierte Grollen ebbte nur allmählich wieder ab und machte einer erheiterten Stimme Platz, die mit einem Mal nicht mehr so weit entfernt klang wie noch Sekunden zuvor: „Was sagt dein Vater dazu?

Nun, lachen würde er mit Sicherheit nicht...

Minoru ließ die Frage unangetastet und spannte aufmerksam die Muskeln an, als sich der Hund erhob.

Ich werde dir helfen.

Verdutzt starrte er in die gelben Augen des vermeintlichen Tieres: „Trotzdem -?“

'Trotzdem'?“ Es lag eine Endgültigkeit hinter der Frage, die keine Widerrede duldete und Minoru umgehend jeden zweifelnden Einwand herunterschlucken ließ. Der Hund erwiderte seinen Blick eine Spur zu lang, ganz als habe er ihm die Antwort längst vor die Füße geworfen. Dann wandte er sich ab und inspizierte den Boden entlang des Kampferstammes, ehe er sich erneut auf die Hinterläufe sinken ließ und ihn auffordernd ansah. „Versuch hier zu graben.

Regungslos betrachtete Minoru den Grasfleck, als behalte dieser alle Weisheit ein, die es bedurfte, um zu begreifen, was gerade geschehen war.
 

Graben. Erst erheiterten ihn Ansichten, die jeder andere als Schwäche gedeutet hätte und nun verlangte dieser Hundegeist, dass er in der Erde grub wie ein Tier? Fast war Minoru versucht zu glauben, er wolle sich lediglich einen amüsanten Abend außerhalb des Totenreiches machen, doch das war eine äußert menschliche Annahme, die dem schwarzen Humor eines Fuchses sehr nahe kam. Inu waren da pragmatischer in der Erniedrigung des anderen und würden nicht so viel Zeit auf einen einzelnen Witz verschwenden.

Nun gut. Wenn sein Urahn ihm zu graben gebot, sollte das ihn am allerwenigsten abschrecken.

Minoru zog den Reißverschluss auf und ließ die Jacke zu Boden gleiten. Moderne Materialien waren nach wenigen Gestaltwandlungen nicht zu mehr zu gebrauchen und sein Budget gab dieses Jahr keine neue mehr her.

Er hielt einen Moment inne, lauschte. Der milde Wind strich durch die schwer mit Blättern beladenen Zweige des Kampferbaumes und bis auf ein Eichhörnchen, das eilends an einer Kastanie empor huschte, war niemand in der Nähe.

Mit der Leichtigkeit einer Handbewegung gab er die menschliche Gestalt auf. Ein kurzes Schütteln, dann lief er zum Fuße des Baumes und stieß die Pfoten in den Grund.

Der sommerliche Boden war ein widerspenstiges Gebilde aus trockener Erde, Sand und Steinen – alles unter der Hitze zu einer unzertrennbar harten Masse verklumpt. Allein die Grasnarbe herunter zu reißen verstaubte ihm Nase und Augen und färbte seine Vorderläufe mausgrau.

Erst in der Tiefe von mehr als eineinhalb Metern stieß er auf Knochen. Eine mächtige Wurzel hatte sich über die Gebeine eines menschlichen Körpers geschoben wie in einer Umarmung; so innig, dass die Rippenknochen teilweise mit dem Holz verwachsen waren.

Er wollte gerade die Zähne in den Knochen schlagen, um sie zur Seite zu zerren, als ein geräuschvolles Räuspern ihn innehalten ließ. Seine Kiefer schnappten leer aufeinander.

Von Erde beinahe gänzlich schwarz hob er den Blick zum Rande des Loches empor und betrachtete den Geist über ihm. „Jemand den Ihr kanntet?“, erkundigte er sich matt.

„Braucht es das, um dir einen respektvollen Umgang mit den Toten angedeihen zu lassen?“

„Es wäre hilfreich.“ Ebenso wie es hilfreich gewesen wäre, zu wissen, was er eigentlich suchen sollte.

„Sie war – nun, sie war die Mutter meines Sohnes.“

„Eure Geliebte“, nahm Minoru ihm das Wort ab, das er zunächst zu vermeiden gesucht hatte.

„So ist es.“

Einen Moment betrachtete Minoru ihn nachdenklich, stolperte sein Verstand den Fakten hinterher, die eine menschliche Leiche und einen Inuyōkai zu verknüpfen suchten. Dann spürte er, wie ihm die Kälte schlagartig durch die Pfoten fuhr. Hastig zog er sich aus dem Loch zurück und schüttelte die Erde nachdrücklich von seinem Pelz herunter.

Die gelben Augen seines Gegenübers weiteten sich überrascht, scheinheilig: „Stimmt etwas nicht?“

„Ob etwas nicht stimmt?“, sein Nackenfell strebte gen Himmel wie ein widerborstiger Igel. „Ihr seid – wenn er erfährt, dass ich auf den Rippen seiner Großmutter herumbeißen wollte, dass ich sie ausgegraben habe –!“

Sein Großvater warf einen kritischen Blick in das Loch hinab. „Ausgegraben würde ich das nun nicht unbedingt nennen.“

„Wie könnt Ihr darüber scherzen?“

„Ich bin tot, Junge. Das erübrigt allerlei Konsequenzen, ist aber auf lange Sicht auch schrecklich eintönig. Wenn du dann fortfahren würdest?“

Zweifelnd betrachtete Minoru den einen Ahnen, über den er bereits ausreichend in Kenntnis gesetzt worden war – nur um festzustellen, dass alles Hörensagen ihn nicht auf die Wahrheit hätte vorbereiten können.

Es war ihm stets unbegreiflich gewesen, wie Myōga gelegentlich über die Unbelehrbarkeit seines Meisters klagen konnte, während er im Bezug auf dessen Sohn nicht einmal einen kritischen Gedanken zu spinnen wagte, ohne darüber gleich in kalten Angstschweiß auszubrechen. Ein Mann, zu dem der Fürst aufsah, hatte in Minorus Augen eine noch unnahbarere, abgebrühtere Version seines Vaters sein müssen. Hart und über jeden Makel erhaben. Eher wie die Fürstinmutter.

Stattdessen saß da ein über Grenzen hinweg gefürchteter Feldherr in Gestalt eines einfachen Hundes am Grab seiner menschlichen Geliebten und scherzte mit seinem dreckverschmierten Enkel wie Waschweiber an einem milden Sommermorgen.

„Ich soll Eure Geliebte ausgraben“, wiederholte er so trocken wie der Staub zwischen seinen Zähnen, der ihn zumindest daran erinnerte, dass das hier real war und keinem abstrusen Hirngespinst entsprang.

Die erhoffte Korrektur dieser Feststellung blieb aus. „Lediglich etwas, das mit ihr begraben liegt: Eine Perle.“

„Eine Perle“, monotonte Minoru dumpf. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Diskrepanz von Erwartungen und Realität in Einklang zu bringen – ein Zustand, den sein Großvater lediglich schürte, als er sich erhob und federnden Schrittes das Loch umrundete, um sich non-chalant an seine Seite zu stellen und mit ihm in das Grab zu sehen, wie andere Leute auf ein besonders hübsches Blumenbeet.

„Meine Ruhestätte befindet sich in dieser Perle“, bemerkte er mit fester Stimme, die Minoru zurück auf den Boden der Tatsachen holte. „Inuyasha hat sie im Grab seiner Mutter beigesetzt. Er wird jedoch vermieden haben, auf ihre Gebeine zu stoßen.“

Minoru begriff, worauf er hinaus wollte, und ließ sich grummelnd zurück in die Kuhle gleiten. Wenn nicht gerade die Witterung dafür gesorgt hatte, dass etwas Kleines wie eine Perle beliebig weit in die Erde absackte, hatte er bereits zu tief gegraben oder aber – er betrachtete die Wurzel, dick wie der Arm eines Onis und schwarz wie die Nacht. Es brauchte einige Minuten, bis er sie ausreichend freigelegt hatte, doch dann wurde er fündig: Ebenso fest wie mit den sterblichen Überresten Izayois war die Wurzel des Kampferbaumes auch mit einem Glasgefäß verwachsen, von dem lediglich ein Bruchteil frei lag.

Minoru betrachtete das Gebilde aus verschiedenen Winkeln. Die Splitter, die er sich in das Zahnfleisch treiben würde, waren ein denkbar geringer Preis für die Hoffnung, dass diese Unternehmung ihm der Heimat ein Stück näher brächte. Nur wie er an diesem armdicken Ungetüm ansetzen sollte, war ihm noch nicht recht klar. Testend schob er seine Zähne über die Wurzel und trieb sie tiefer hinein. Sobald das Holz unter seinem Biss faserte, spürte er gerade noch, wie fremdartiges Yōki daraus emporzüngelte, ehe es ihm einen Schlag versetzte, der ihn mit Wucht fortschleuderte.

Eine Bahn dünnen Staubes wirbelte auf, wo sein Körper den Rasen streifte, ehe er sich um die eigene Achse warf und wieder auf die Pfoten kam – gerade rechtzeitig, um dem Schlag eines Astes auszuweichen, der auf ihn niederfuhr. Das Geäst riss die Grasnarbe entzwei und verteilte Erde wie Regen in der Luft, der hart auf Minoru niederprasselte.

Außer Reichweite des wogenden Baumes stellte er wütend das Nackenfell ab und zwang seine Lungen zu atmen. Versuchte, die krampfenden Gliedmaßen zu entspannen und den flatternden Herzrhythmus zu beruhigen.

Unwissend, worum es sich handelte, hatte er vor Jahren an einen Elektrozaun gegriffen, der einen Bullen zurückhalten sollte, und es sofort bereut – nun fühlte er sich, als habe er dieses Mal an einem geknabbert. Seine Knochen sangen wie von Millionen Ameisen beseelt und die Kopfschmerzen beeinträchtigten Sicht und Gehör, sodass er die hochgewachsene Gestalt des Inus zunächst nur verschwommen sah, während sie neben ihm Form annahm. Dass sein Großvater die Notwendigkeit sah, das Erscheinungsbild eines Hundes aufzugeben und mit dezent schwelender Aura an seiner Seite zu stehen, bereitete Minoru auf diversen Ebenen Sorge.

Zum einen bedeutete dies, dass sich die Situation grundlegend anders entwickelte, als er es geplant hatte und zum anderen machte ihn ein humanoides Auftreten auf einschüchternde Weise realer.

Im Regelfall hielt Minoru nicht viel davon das Maß an Respekt und Vorsicht von Äußerlichkeiten abhängig zu machen. Dennoch nahmen Haltung und Rüstung jedwedes Gefühl von Vertraulichkeit, die der weiße Hund zuvor noch wohlwollend vermittelt hatte und das Yōki tat ein Übriges: Ruhig durch die Gräser zu seinen Füßen streichend, war es kaum mehr als eine leise Mahnung an all jene Narren, die vergessen mochten, was hinter dem Schein lauerte – doch es kam Kaitos Aura in einer Art und Weise gleich, die Minoru ein Schaudern über den Rücken jagte.

Rasch ließ auch Minoru von der Gestalt des Hundes ab und zwang sich auf die Beine, ehe er in Verlegenheit kam, seinen Großvater ungebührlich lange angesehen zu haben. Murrend rieb er sich Erde aus Augen und Gesicht und verwünschte seinen Kiefer, der unter der Berührung von Neuem zu kribbeln begann

Sie standen gut zwanzig Meter vom Grab entfernt auf freier Fläche. Wo er eben noch gegraben hatte, regte sich das Erdreich und mitten in der gepflegten Rasenfläche des Parks klaffte eine dunkle Wunde. Die ehemalige Grasbedeckung baumelte in mehreren Metern Höhe in der Baumkrone des nun bei Windstille rege raschelnden Kampferbaumes.

„Wirklich? Ein Baumgeist? Warum ist der mir noch nie aufgefallen?“, schnaubend zog Minoru einen kleinen Ast aus seinem Haar und schnippte ihn davon. Dieses Gemüse hatte ihn allen Ernstes angegriffen!

„Weil er es so wollte. Die dämonischen Energien ruhen schwer wahrnehmbar am Kernholz. Ein Wesen, das unmöglich vor seinen Feinden davonlaufen und sich ihrer Angriffe nur begrenzt erwehren kann, muss sich anders behelfen.“ Tōga trat an seine Seite und fegte mit dem Handrücken ein wenig Dreck von der Schulter seines Enkels, der unter der Berührung gefror.

Ein bedrohliches Rauschen fuhr durch die Krones des Kampfers bis in jedes Blatt hinein und schüttelte alles alte Geäst ab, das nicht mehr aus voller Kraft am Stamme hielt. Die Erde zu seinen Wurzeln zitterte, während die Rinde allmählich ein schartiges Gesicht formte.

Ein bedrohliches, knarzendes Brummen wogte über den Rasen und schob eine aufsässig prickelnde Aura vor sich her. Die Hand seines Großvaters legte sich erneut auf Minorus Schulter und wurde zusehends schwerer, jederzeit bereit, ihn mit einer einzigen Bewegung in den sicheren Schatten des Daiyōkais zu werfen.

Dann bewegte sich die Rinde und dunkle Blicken fielen aus schwarzen Astlöchern zu ihnen hinüber: „Wie könnt ihr es wagen? Meinen Schlaf derart hinterhältig zu stören! Mein Holz anfressen wie nur Ungeziefer es tut! Habt ihr keine Manieren? Die Ruhe der Toten zu meinen Wurzeln zu stören! Mir meine Schätze entreißen zu wollen! Welch ein Betragen!“

„Aufschneider“, Minoru bleckte die Zähne. Wie kopflos! Ein derart theatralisches Schauspiel aufzufahren, hätte der Kampfer im Angesicht von Menschen kaum gewagt. Doch bevor Minoru ihn auf diese Kleinigkeit hinweisen konnte, rumorte es erneut im Boden. Wurzeln schossen aus dem Erdreich hervor auf sie zu – und ein silbriger Schatten an ihnen vorüber.

Noch ehe sein Großvater ihn hatte zurückreißen können, war Minoru Ichirou nachgehechtet und hatte den Hund zu Boden geworfen. Mit Mühe brachte er das schwere Tier unter sich, bevor die Wurzeln auf sie niederfuhren. Neben ihnen wurde die Grasnarbe zerrissen, Erde regnete auf sie herab und Steine flogen durch die Luft. Ein Knall, dann peitschte das Gehölz über Minorus Rücken, zerfetzte den billigen Stoff und fraß sich in sein Fleisch. Der gellende Aufschrei riss eine Welle von Yōki mit sich, die sämtliches Grün versengend über den Rasen fegte und heiß am Stamm des Baumes emporschlug. Verwünschungen gingen in Fluchen über, während der Kampfer hastig seine niederen Äste schüttelte, um die Funken abzuwerfen, die seinem Blattwerk nach dem Leben trachteten.

Während der Schmerz einem Feuer gleich durch seinen Körper tobte, hievte Minoru sich knurrend auf die Knie und bemerkte aus den Augenwinkeln die ausgestreckte Hand, die er dankbar annahm.

Tōga zog ihn am Unterarm zurück auf die Beine und betrachtete Ichirou ausdruckslos. Der drückte sich schuldbewusst winselnd am Boden herum, leckte seine Nase und deutete probeweise ein Schwanzwedeln an, das Minoru mit einem einzigen Blick zum Erliegen brachte.

Dann wandte dieser sich zu dem Baum um, der soeben den letzten Glutherd gelöscht hatte, und bleckte die Zähne. „Du wirst dieses lächerliche Gehabe auf der Stelle unterlassen und herausgeben, was dir ohnehin nie gehört hat!“

„Sonst was?“

„'Sonst was'?“ Ein gefährlicher Rotschimmer legte sich über Minorus Augen. „Willst du mich daran hindern, es mir zu holen, Baum?“

Im Geäst raschelte es unbehaglich, während die Rinde die Lippen schmälerte: „Ich meinte natürlich: Was gibst du mir dafür?“

„Was ich dir dafür... - was ich dir dafür gebe?!?“

Diese Dreistigkeit! Niemals hatte ihn jemand dazu veranlasst, eines dieser unsäglichen Handelsabkommen einzugehen, und nun, da sein weltlicher Besitz dem der meisten Obdachlosen entsprach, war das erst recht aberwitzig. Er würde diesem Gewächs jede Wurzel einzeln in die glimmenden Astlöcher seiner Augen stecken!

Doch es war Tōga, der Minoru eine Hand auf die Schulter legte und die Situation beruhigte, bevor der ohnehin in Mitleidenschaft gezogene Park gänzlich der Verwüstung anheimfiel: „Zeig' Nachsicht. Du willst die Aufmerksamkeit nicht und die Auseinandersetzung ist es auch nicht wert. Er hat sich sicher auch nur erschrocken.“

„Sie“, zischte es spitz aus der Borke.

Sie ist den Umgang mit anderen Yōkai sicherlich nicht gewohnt“, der Daiyōkai hob den Blick mahnend in Richtung des Kampfers. „Und weiß daher sicherlich nicht, wann es besser ist, den Mund zu halten.“

Minoru sog scharf die Luft ein, knirschte mit den Zähnen und besann sich dann eines besseren als der Aufforderung seines Großvaters zu widerstreben. „Was ich dir also gebe, fragst du? Was denkst du, was ich habe?“

Der Baum ließ sich jedoch nicht beirren und machte keinen Hehl daraus, dass sie sehr wohl wusste, wen sie vor sich hatte: „Was gibst du mir, wenn ich den Enkel des großen Daiyōkais des Westens zurück an seinen Wirkungsort bringe?“

„Ich habe keinen Besitz, den ich dir überlassen kann.“ Vielleicht waren Bäume so schwerfällig wie sie groß waren? „Was kann ein Wesen wie du von meiner Person schon wünschen?“

„Nur eines: Wenn ich dir helfe, wirst du das hier ändern. Das alles.“ Die Äste der Baumkrone reckten sich, als wolle sie einen größeren Bereich des Parks umspannen.

„Den Park.“ Minoru zog eine Braue empor. „Was gefällt dir an dem Park nicht?“

„Nicht der Park!“, fauchte sie. „Alles. Die Stadt. Die Menschen. Jemand wie du hat die Macht dazu.“

„Jemand wie ich diskutiert gerade mit einem Baum.“

„Du bist durch die dichten Wälder vergangener Zeiten gestreift, durch Täler, so menschenleer wie das tiefe Erdreich. Glaubst du, dieser Ort hier sei sicher? Das haben auch andere geglaubt. Andere, die für Wege weichen mussten, für hohe Steingebäude und Wohnungen – und an mir werden nicht fröhlich ihre Kinder schaukeln, so viel kann ich dir verraten. Noch vor einigen Jahren habe ich andere wie mich gehört. Ihre Wurzeln reichten tief in die Erde hinein. Sie waren alt. Viel älter als ich es je werde. Aber sie sind verstummt. Ich bin allein hier, Inu, ganz allein... .“

„Ich kann dein Leid zum Teil nachempfinden. Fünfhundert Jahre sind für keinen von uns eine lange Zeit – und dennoch haben sie alles verändert. Du erwartest, dass ich zurückkehre und die Zukunft neu schreibe. Dass ich die Zivilisation der Menschen in ihren Grundfesten niederreiße.“ Er spürte den Blick seines Großvaters im Nacken, seine Präsenz, die sich wie ein Schatten über ihn schob. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich begreife die Gesetze der Zeit nur dürftig und wollte nie wissen, was die Zukunft bringt, aber gemäß dem Fall, dass ich zurückkehren kann und diesen Umsturz versuche, ist unser Gespräch dann nicht schon der Beweis meines Scheiterns?“

Der Baum blieb lange still, wiegte sanft hin und her als verspüre sie als einzige einen nächtlichen Wind, den sonst niemand wahrnahm. „Nun... ich weiß es nicht. Du kannst es dennoch versuchen.“

Die Kälte in seinem Nacken wurde stechend: „Minoru.“

Er sah über die Schulter zu Tōga, der ihm einen mahnenden Blick zuwarf, als fürchte er die Antwort, die er auf das Bitten dieses Baumgeistes äußern könne.

„Ich verspreche nicht, was ich nicht beeinflussen kann“, erwiderte der schließlich an den Kampfer gewandt. „Weder dass es übermorgen regnen wird, noch dass ich im Falle meiner Rückkehr die Zeit verändern werde. Sei aber versichert, dass ich alles notwendige tue, um das Leben der meinen zu schützen. Vielleicht trage ich genau dadurch zu diesem Dilemma bei, vielleicht auch nicht. In meinem Verständnis von Kontinuität muss jedes Handeln unweigerlich auf dasselbe Ergebnis hinführen – selbst wenn man versucht, genau das zu vermeiden. Oder ich irre mich und Schicksal ist veränderbar.“ Er rieb sich erneut mit Nachdruck die Schläfen. „Ich weiß, warum ich mir darüber nie den Kopf zerbrechen wollte. Das ist alles fürchterlich verschachtelt und scheiße.“

„Zählst du mich dann zu den deinen?“

Huh? Wie war das? Er sollte seine Gunst an einen Baum binden, der auf fremden Besitz hockte wie der Drache auf dem Gold und dessen Schatz er sich auch mit einer einfachen Axt selbst hätte holen können? In Anbetracht dieser mageren Verhandlungsposition, die sie letztlich nur beziehen konnte, weil Tōga ihn zur Nachsicht anhielt, ein sehr anmaßender Gedanke. Und warum zum Donnerwetter wurde die Borke bei dem Gedanken gerade roter als sie sein sollte?

„Du merkst schon, dass deine Verhandlungsposition recht dürftig ist, oder?“

Die sanfte Röte wich umgehend: „Du bist kaltherzig.“

„Ich bin nutzenorientiert und binde mein Wort nicht, wo ich nicht muss. Ich würde dich allerdings nicht gänzlich vergessen“, räumte er schließlich ein, so albern ihm der Gedanke auch vorkam, jemand könne auf seine Gunst bauen – zukünftiger Taishō hin oder her, das hier war einfach lachhaft und er musste zugeben, dass er weder verstand, was der Baumgeist sich von ihm erhoffte noch wie sie an eine so hochgegriffene Thematik gelangt waren. Sicher war jedoch, dass er keine zukunftsweisenden Unternehmungen plante, weil eine Pflanze ihn darum anhielt.

„Mehr kann ich wohl nicht erwarten“, lenkte diese ein und schleuderte das Glas mit einem Wurzelschlag aus der gegrabenen Kuhle hervor.

Minoru fing es beiläufig und ließ die Klauen über die dünne Erdschicht kratzen, die das Glas bedeckte, ehe er die Perle im Innern von einer Seite zur anderen rollen ließ; kaum größer als eine Erbse. Sie war pechschwarz und spiegelte den Lichteinfall ebenso wenig wie eine sadoanische Obsidianklinge. „Euer Grab.“

„In gewisser Weise. Sie war einst ein Tor zur Zwischenwelt, in welcher mein Körper ruht. Doch diese Perlen öffnen ihren Weg nicht beliebig oft. Dieser Pfad hier ist versiegt, die Perle jedoch längst nicht machtlos.“

Der Baum macht gar nichts mehr.

Minoru sah zu Ichirou herab und folgte seinem Blick hinüber zu dem Baum, der sämtliche Wurzeln in der schützenden Erde verborgen hatte und stumm und regungslos auf der verwüsteten Wiese stand.

„Ist sie tot?“

„Nein. Bewusstlos im wahrsten Sinne des Begriffes. Ein solcher Dämon kann in jedem Baum erwachen, der tausend Jahreswechsel überdauert hat. Dieser Kampfer ist jedoch bedeutend jünger. Die Perle hat ihr eine Existenz jenseits ihrer eigenen Möglichkeiten gewährt. Sie wird wieder erwachen, wenn ihre Zeit gekommen ist.“

„Wenn sie dann noch steht.“

„Das vorausgesetzt.“ Tōga trat an seine Seite und schloss seine Hand über dem Glasgefäß. „Das Holz eines Baumgeistes besitzt Macht. Meine Schwertscheiden waren daraus gefertigt und auch dein Brunnen, der dir so viel Kummer bereitet, wurde aus dem Holz eines alten Baumes errichtet. Es ist anzunehmen, dass die Perle auch ihm neues Leben einzuhauchen vermag. Das ist nur eine Vermutung – aber es ist alles, was ich für dich tun kann.“

Minoru verneigte sich tief, auch wenn die aufgerissene Haut an seinem Rücken schmerzhaft protestierte und erneut Blut heiß an seiner Seite herunterrann. „Ihr seid zu gütig. Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll.“

„Bleib standhaft“, erwiderte Tōga und Minoru erstarrte, als sein Gegenüber ihm vertraulich eine Hand ins Haar legte und seine Strähnen mit messerscharfen Klauen durchfuhr. „Das genügt mir. Und hab' Nachsicht mit deinem Vater. Er wird sie brauchen."



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