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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah ...
An Obon, dem Fest der Toten, trifft Minoru auf Tōga und kommt in den Besitz der Schwarzen Perle, die dem Brunnen neues Leben einhauchen soll. Komplett anzeigen

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am Fuße des Leuchtturms

Kartoffeln, Rüben und Ingwer. Bitte sehr.“ Die junge Frau reichte eine Plastiktüte über den Tresen des Marktstandes und nahm das Geld entgegen. „Wo ist denn der niedliche Hund, den du sonst immer mitbringst?“

„Der hat Hausarrest.“

Das schmale Lächeln der Verkäuferin wurde breiter und sie hätte sichtbar gern die Unterhaltung weitergesponnen, hätte Minoru nicht das Wechselgeld vom Tresen gezogen und sich umgehend abgewandt.

Dafür hasste er die Markttage. Dieses belanglose Gerede und dämliche Gekicher der Meschenweiber machte ihn noch krank. Zumal ihm in dieser Hinsicht wirklich nicht der Sinn nach Heiterkeit stand: Als Ichirou sich so unbedarft in einen aussichtlosen Kampf geworfen hatte, war Minoru ein Herzschlag abhanden gekommen. Es hatte nicht viel gefehlt und die Wurzeln des Baumdämonen hätten den Hund zerfetzt. Weil er unbedacht und planlos gehandelt hatte. Selbstlos, sicher, aber Selbstlosigkeit war nicht das, was Minoru von ihm erwartete, geschweige denn sehen wollte. Der Hund war nicht sein Untergebener, demnach verlangte er keinen absoluten Gehorsam, aber er musste sich auf ihn verlassen können und forderte ein gewisses Grundvertrauen in seine Entscheidungen. Die Standpauke war dementsprechend ausgefallen und weder durfte Ichirou das Schreingelände verlassen, noch hatte er es gewagt, in den vergangenen Tagen das Wort an Minoru zu richten, der ihn wiederum wie Luft behandelte.

Minoru schloss zu Keiko auf und nahm ihr den schweren Einkaufskorb ab. Die alte Dame bedankte sich und tupfte zum wiederholten Mal mit einem Tuch den Schweiß von ihrer Stirn.

Es war noch nicht Mittag, aber die Sonne brütete bereits unerbittlich über der Stadt. Stählerne Autolawinen quälten sich durch die Straßen. Wer ohne Klimaanlage fuhr, hatte die Fenster heruntergelassen und hoffte vergeblich auf angenehmen Wind, doch die Luft stand ebenso still wie der Verkehr.

„Bist du nicht etwas streng?“ Sie hatte das Gespräch offensichtlich mitgehört.

Minoru biss die Zähne zusammen und vermied es, Keiko anzusehen, die ihm unweigerlich einen ihrer forschenden Blicke zuwarf. „Nein.“

„Was auch immer vorgefallen ist – und ich tue mal so, als ob ich nicht ahnen würde, dass ihr etwas mit diesem verwüsteten Park zu tun habt, der in den Nachrichten war – er hat es sicher nicht getan, um dich zu ärgern.“

„Das ist unerheblich. Es war dumm.“

„Er ist jung. Und ich weiß, du willst ihn lediglich vor Schlimmerem bewahren, aber er leidet, wenn du ihm weiterhin die kalte Schulter zeigst. Hast du noch nie etwas dummes getan, von dem du dachtest, dass es richtig sei?“

Minoru fielen da auf Anhieb so einige Sachen ein, die sich sicherlich nicht zu seinen glänzendsten Stunden zählen ließen. Einen reißenden Fluss aufgrund eines Versprechens zu durchschwimmen und dabei halb zu ersaufen etwa. Oder sich für zwei Fremde über direkte Befehle hinwegzusetzen und sich in einen Kampf mit zwei Mönchen verstricken zu lassen. Gedehnt atmete er aus und Keiko tat ihm den Gefallen, nicht noch den Finger in die Wunde zu legen.

„Sei nicht so hart zu ihm. Er braucht dich.“

Er gab ein Brummen von sich, das es ihm erlaubte, den Kampf als verloren einzuräumen ohne seine Würde dabei in Scherben zu hinterlassen.

Sie gingen zu Fuß zurück. Eine anstrengender Anstieg für die alte Frau, die mehrfach rasten musste, ehe sie den Schrein erreicht hatten. Ichirou lag ausgestreckt im Schatten der gewaltigen Eiche und verfolgte ihre Ankunft aus halb geschlossenen Augen. Minoru stellte den Korb auf der Türschwelle ab und wandte sich zu ihm: „Irgendetwas neues?“

Irritiert ob der unerwarteten Ansprache hob der Akita den Kopf und schüttelte ihn schließlich wortlos, wie er es bei den Menschen gesehen hatte.

„Zu dumm.“

Es tut mir leid, dass dein Brunnen die Murmel nicht will.

Seufzend ließ sich Minoru neben ihm an dem Stamm der alten Eiche herunterrutschen und winkelte ein Bein an. „Ist ja nichts neues, dass er nichts tut.“

Der Akita legte den Kopf zurück auf die Pfoten. „Es tut mir leid.

„Ich weiß“, murmelte Minoru, wissend, dass er dieses Mal nicht von dem Brunnen sprach.

Alle sind nett hier. Aber sie sind nicht du. Ich wollte nicht, dass sie dir etwas antun. Der Baum oder der Hund. Ich wollte nicht ohne dich hier bleiben.

Minoru schloss die Augen und zog die Luft tief in die Lungen, um das beklemmende Gefühl niederzukämpfen. „Chiro...“

Wenn du gehst, wenn dein Brunnen wieder funktioniert, dann lass mich nicht hier.

„Meine Zeit ist anders als diese. Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.“

Du hast genug erzählt.

„Es gibt keinen Tierarzt, der deine Wunden versorgen oder deine Krankheiten behandeln kann. Mit Pech schlafen wir ständig draußen in der Kälte und hungern. Ich weiß nicht einmal, was mich dort erwartet. Ob meine Familie lebt oder alles niedergebrannt worden ist und wir nur über Leichen wandern.“

Der Hund hatte sich erhoben. „Das ist mir egal.

„Das wäre es nicht, wenn du den Umfang begreifen könntest.“

Magst du mich nicht mehr wegen dieser Parksache? Ist es deshalb?

Minoru schnalzte mit der Zunge: „Dummerchen. Ich mache nur deshalb so einen Aufstand um deine Fehler, weil ich dich sicher wissen will. Den Atem würde ich mir sparen, wenn du mir gleichgültig wärst. Und hier wärst du sicherer. Auch ohne mich.“

Das Nackenfell des Hundes stellte sich augenblicklich auf: „Ich will aber nicht ohne dich! Warum sind Dämonen da nur genauso blind wie Menschen? Ich bin ein Hund, keine verdammte Katze, die dich für einen angnehmeren Dosenöffner verlässt. Wenn du mich nicht willst, hättest du damals einfach vorübergehen sollen statt mich mitzunehmen. Ich will sein, wo du bist – und wenn es das Ende der Welt ist und du seit Tagen nichts mehr zum Fressen hast, will und werde ich da sein. Also lass mich nicht zurück.

Er war bereits nach wenigen Monaten größer gewesen als Minorus animalisches Erscheinungsbild. Ichirou überragte ihn in jener Form seither um mehr als eine Handlänge und wirkte mit aufgestelltem Fell noch eindrucksvoller und, wenn er es darauf anlegte, wirklich gefährlich.

Minoru unterband sein Gebarden mit etwas, das ein Mensch mit einem knappen Lächeln verwechselt hätte. Der Hund zuckte beim Anblick seiner Zähne zurück und atmete durch, bis sich sein Fell ordnungsgemäß zurück an seinen Körper gelegt hatte.

„Gut“, entschied Minoru knapp und wischte nachlässig einen Käfer von seinem Oberarm.

Unsicher, ob das nun eine Anmerkung zu seinem Verhalten oder eine Zusage gewesen war, tappte Ichirou auf der Stelle und legte den Kopf schief.

Minoru sah ihn einen Moment still an, dann zuckte er mit den Achseln. „Wenn es das ist, was du willst, dann bleib bei mir.“

Ein Sturm grau-gestromten Fells war über ihm, ehe er die Hände zur Abwehr hätte heben können. Der Akita begrub ihn unter sich, stapfte mit den Pfoten auf seinen Rippen und dem ungeschützten Leib herum und zog eine nasse Zunge über sein Gesicht, wo immer er an die Haut heranreichte.

„Ichi- lass das! Runter!“

Der Hund gehorchte, ließ es sich jedoch nicht nehmen, übermütig um ihn herumzuspringen und ihn mit deutlichen Signalen zum Spielen aufzufordern.

Minoru lag ausgestreckt auf dem Rücken und strich Sabber und einige Haare aus dem Gesicht, während er das Treiben über seinem Kopf mit einem Seufzer bedachte. Was der Hof zu seinem Gebahren sagen würde, konnte er sich in diversen Farben ausmalen, aber es kümmerte ihn nicht. Die waren weit weg.

„Die vorderen Blumenbeete und das Gewächshaus. Danach können wir spielen.“
 

Als Minoru Tage später in den frühen Morgenstunden aus dem Tiefschlaf erwachte, war ihm nicht klar, was ihn geweckt hatte. Ichirou flezte ausgestreckt neben ihm und hatte den Kopf quer über seinen Hals gelegt. Das Gewicht des massigen Schädels drückte auf seinen Kehlkopf und hinterließ beim Schlucken eine ungewohnte Schwere, während das feine Fell bei jedem Atemzug des Hundes, an seiner Haut kitzelte.

Halb verschlafen legte Minoru eine Hand in den dichten Pelz und entlockte dem schlafenden Ungetüm ein zufriedenes Brummen. Er roch nach frischer Erde und Dahlien. Überreste ihrer nachmittäglichen Gartenarbeit, die Keiko mit Kuchen und Hundekeksen versüßt hatte. Gedankenversunken ließ Minoru seine Krallen durch das Fell wandern und blinzelte zur Decke. Einem Menschen hätte der Raum wohl stockfinster anmuten mögen, doch Minoru nahm die feinen Muster der Morgensonne wahr, die sich mühsam durch die Ritzen in der Holzfassade des Brunnenhauses zwängten. Der Berufsverkehr hatte bereits begonnen und überzog die Stadt mit mechanischen Geräuschen und beißenden Gerüchen. Abgase und Zigarettenqualm mischten sich mit Deodorant und Parfüm, vergärenden Müll und dem süßlichen Duft, der aus verschiedenen Gärten drang. Doch da war noch etwas anderes. Ein frischer Strom, so gradlinig, als hätte er ein Autofenster ein Stück heruntergelassen und die vorbeiströmende Luft eingezogen.

Ruckartig setzte er sich auf. Ichirou gab ein erschrockenes Jaulen von sich und rollte perplex auf die Seite, während Minoru mit einem Satz auf den Beinen war und in den Brunnen starrte. Gähnende Leere stieg aus der Finsternis empor, doch der Geruch war eindeutig der eines erwachenden Waldes. Prüfend fuhr er mit den Handflächen über da alte Holz und spürte dem verhaltenen Flackern dämonischer Energie nach, das den Balken belebte. Probeweise spannte er die Hände an und trieb die Krallen nur wenige Millimeter tief hinein, ehe das hervorschlagende Yōki ihn zurückzucken ließ. Seine bis zu den Ellen betäubt schwirrenden Nerven entlockten ihm ein ungewohnt breites Lächeln, das den Hund unwillkürlich zurückzucken ließ. „Mino...? Alles in Ordnung?

Beinahe war er versucht, all das für einen gut gesponnenen Traum zu halten, doch das Singen des fremden Yōkis war zu eindringlich, zu real. Endlich!

Besinnend stieß er sich vom Brunnenrand ab. Mit wenigen Handgriffen hatte er ein T-Shirt über den Kopf gestreift, seine Jogginghose gegen eine aus dunkelgrünem Stoff mit reichlich Taschen getauscht und seine Kunstlederjacke übergeworfen. Ichirou wich ihm weiträumig aus, als er auf einem Bein springen in die Chucks schlüpfte und notdürftig einen Knoten in die Schnürsenkel würgte.

Gehen wir?

Minoru kontrollierte die Reißverschlüsse an den Rucksäcken und schulterte den ersten, während er aus dem anderen einen Brief herausfischte, der gut sichtbar in einer Seitentasche steckte.

„Wenn der Brunnen uns beide durchlässt, dann gehen wir. Ja.“

Jetzt gleich?

„Sofort.“ Er schwang sich auf den Rand des Brunnens. Ichirou trat näher an ihn heran und schob die Schnauze auf seinen Oberschenkel. Ein leises Fiepen untermalte den herzzerreißenden Blick aus seinen dunklen Augen unnötig dramatisch.

Der Luftzug nahm zu. Er verschlang die Gerüche der Neuzeit in einem Wirbel früher Morgenluft, klarer Bäche, dichter Wälder. Die vollkommene Dunkelheit in gut drei Metern Tiefe war nun mit grauen, heller werdenden Schlieren durchsetzt. Minoru packte Ichirou im Nacken und zog ihn zu sich hinauf. Das Tier lag schwer und breit auf seinem Schoß, suchte mit den Beinen trampelnd nach etwas mehr Halt.

Minoru warf einen letzten Blick auf den Brief. Ein Brief, den er schon vor langer Zeit begonnen und immer wieder neu verfasst hatte. Für einen Moment wie diesen, an dem er sich unmöglich persönlich verabschieden würde. Ein Brief von Dank und guten Wünschen. Das Verschwinden der Rucksäcke hätte der Familie vermutlich Hinweis genug auf seinen Verbleib gegeben, doch er wollte sich absichern. Wollte dieses Mal nicht jene wortlos zurücklassen müssen, die ihm wichtig geworden waren. Sie würden es verstehen. Keiko insbesondere. Er warf das Schreiben hinter sich auf das dürftig gemachte Bett, dann schloss er die Arme enger um Ichirou und sprang.
 


 

Der Hochsommer und jener vor vier Jahren hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die erbarmungslose Hitze und Trockenheit war ausgeblieben, Gräser und Kräuter dunkelgrün vom Saft und das Laub so deckend, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte. In der Stille des Waldes wirkte der Ruf einer einzelnen Amsel anmaßend laut. Erschrocken über das plötzliches Erscheinen der beiden, flog der Vogel aus der Hecke auf und zerschlug mit seinen Flügeln knackend kleinere Äste.

Ichirou sah ihm misstrauisch nach, wandte sich jedoch schnell wieder ab. Aufgeregt sog er jeden neuen Geruch ein, schnupperte am Boden und streunte durch das morgennasse Gras, das ihm bis an den Rücken reichte. Als er jedoch die Nase rümpfte und einige Schritte zurück trat, ließ sich Minoru vom Brunnenrand gleiten und sammelte die Silberkette auf, die neben ihm im Gras gelandet war. Er hatte wohl daran getan, die Schwarze Perle in die Rundung des Halbmondes einsetzen zu lassen, den er zu Neujahr geschenkt bekommen hatte. Das kühle Gefühl, das die Perle auf seiner Haut hinterließ, beruhigte ihn weitaus mehr als der Gedanke, sie in irgendeiner Tasche verstaut zu haben. Während er den Schmuck wieder um seinen Hals legte, hielt er inne. Die Luft war klar, wie so häufig nach einer kühleren Nacht, doch etwas schwang schwerer in ihr mit und reizte die Sinne als atme man Essig in tiefen Zügen ein. Etwas, das er jenseits des Brunnens nicht wahrgenommen hatte.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Minoru setzte nach vorn, hob den verdutzten Akita hoch und verließ die Lichtung eilends in das dichtere Unterholz. Erst an einem tieferen Stück des Flusses, der auch das Dorf versorgte, hielt er an, ließ die Rucksäcke fallen und setzte Ichirou am Ufer ab.

„Was du gerochen hast, war Gift. Zumindest Reste davon. Wasch es ab.“ Er selbst stieg bereits in das Wasser und kniete nieder, sodass es ihm bis an die Brust reichte. Dann wusch er mit Nachdruck Gesicht und Arme ab, um das Make-Up zu entfernen, zog das Haarband aus dem Zopf und tauchte schließlich gänzlich unter, als Ichirou folgsam in den klaren Fluss wartete. Kühl fuhr die Strömung durch sein Haar, durchnässte den Stoff von Hose und T-Shirt und nahm hoffentlich einen Teil des Giftes mit. Zwar war der Geruch schal geworden, doch die Witterung von vier Jahren hatte nicht ausgereicht, um die Stoffe aus dem Boden zu waschen. In das unbehandelte Holz des Brunnens eingezogen und durch das Erdreich von den umstehenden Pflanzen aufgenommen, war es mit Sicherheit eine Henkersmahlzeit für jedes Tier, das sich auf diese Lichtung verirrte. Ein Toxin dieser Stärke herzustellen erforderte sicher einige Spitzfindigkeit, was, gemessen daran, wen sie damit hatten umbringen wollen, jedoch verschwendete Mühe gewesen war. Auch jetzt ängstigte es ihn wenig und der einzige Grund, warum er sich die Mühe machte, dieses Zeug abzuwaschen, war der Hund.

In dem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob sie sich der Gifttoleranz ihres Gegners tatsächlich nicht bewusst gewesen waren oder schlicht mit einer unsagbar hohen Toxizität versucht hatten, diese zu übergehen. Viel hilft viel. Beides ließ den ganzen Versuch stümperhaft wirken. Denn ganz gleich wie er die Situation betrachtete, war doch unbestreitbar, dass die Zwillinge von all den Dämonen, die in jener Nacht ihr Heimatdorf angegriffen hatten, ausgerechnet ihn hatten töten wollen. So viel zur menschlichen Irrationalität. Er hatte mit ihnen gestritten, ja, aber konnten weibliche Menschen derart nachtragend sein, dass sie deswegen die Verteidigung ihres Dorfes aufgaben? Die Reaktion schien selbst ihm zu hochgestochen und er war ein verdammter Rachedämon. Ein Gutes hatten die Giftrückstände jedoch: Ihre Existenz bedeutete, dass der Brunnen ihn tatsächlich in seine Epoche zurückgebracht hatte. Bei diesem launischen Ding war das wahrscheinlich nicht so selbstverständlich, wie er sich stets eingeredet hatte.

Bevor er aus dem Wasser stieg, half er Ichirou das Fell zu reinigen und wrang am Ufer schließlich Haare und Kleidung aus, ehe er die nasse Baumwolle wieder überstreifte und die hüftlangen Strähnen aus dem Kragen des Shirts zog. Der Akita schüttelte sich mehrmals kräftig und trottete dank dichter Unterwolle dennoch triefend neben ihm durch den Wald.

Das Dorf lag unterhalb der Anhöhe in der Morgensonne, die die Siedlung in ein goldgelbes Licht tauchte. Es hätte idyllisch anmuten können, wenn man von den offensichtlichen Veränderungen absah: Mehr als die Hälfte der Gebäude war an anderer Stelle von Grund auf neu errichtet worden. Neben denen, die man wieder in Stand gesetzt hatte, waren viele niedergerissen oder fielen allmählich in sich zusammen. Verbrannte Balken zerstörter Gebäude hatte man neben neuen Stämmen in den dichten Wall eingelassen, der die geschrumpfte Siedlung einem Ring gleich umfasste. Das verkohlte Holz stank so abstoßend, dass allein der Geruch sicher den ein oder anderen Yōkai von einem Angriff absehen ließ. Vor dem Wall waren angespitzte Pfähle in schiefen Winkeln in den Boden getrieben worden, an denen vereinzelt Köpfe von Dämonen in der Sonne vertrockneten. Nur zu gern hätte Minoru gewusst, wessen grandioser Einfall das nun wieder gewesen war. Was unter Menschen vielleicht eine mahnende Warnung an Banditen oder Gesetzlose darstellte, wurde von Dämonen nicht zu Unrecht als Beleidigung und Herausforderung aufgefasst. Eine solche Nachricht konnte sich nur erlauben, wer in der Lage war, dem Zorn dieser Provokation stand zu halten – und so sehr die Verteidigungsmaßnahmen an diesem Dorf auch vorangetrieben worden waren, würden sie einem Angriff nicht lange abwehren. Für den Moment gewährten sie den Bewohnern jedoch vermutlich ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, ließen sie tagsüber innerhalb des Ringes freier atmen und nachts ruhiger schlafen.

Außerhalb der hölzernen Barrikade regte sich nicht viel. Der Wald der Nordfront lag großflächig gerodet am Boden und alle hundert Meter ragten lange Pfähle aus dem hohen Gras, die einem Bogenschützen die Entfernung eines etwaigen Zieles anzeigten. Der Fluss war begradigt worden, um die großen Reisfelder zu versorgen, die zu dieser Jahreszeit trocken und voller reifer Ähren standen. Zum Teil waren sie schon geerntet; die abgeschnittenen Pflanzen in Bündeln über Holzgestelle gehangen, um die Ähren abzutrocknen. Die Gestelle waren über zwei Meter hoch und viele entlang des Feldes noch leer. Von Bauern bei der Arbeit jedoch keine Spur.

Minoru biss die Zähne zusammen und zog die Rucksäcke mehr auf die linke Schulter. Das versprach ein feindseliger Botengang zu werden. Hätte Keiko ihn nicht darum gebeten, die Sachen bei ihrer Tochter abzuliefern, hätte er diesen Abstecher gern vermieden. Menschen der Neuzeit mochten aus Gründen ihres Weltverständnisses annehmen, dass eine humanoide Erscheinung den Menschen mache, doch hier wusste man, was ein Dämon war und schien nun begriffen zu haben, wie es um die Nahrungskette stand. Zumal ein Teil der Bevölkerung ohnehin seinen Kopf auf einen der Spieße wünschte und nicht klar war, ob sein impulsiver Onkel sich aufgrund des Schicksals seines Sohnes nun zu dieser Gruppe zählte.

Ichirou dicht an seiner Seite näherte er sich dem Tor in einem möglichst großen Bogen und erstarrte, als ihn ein vertrauter Geruch umwehte. Er fuhr herum und erhaschte gerade noch einen Blick auf ein paar weißer Hundeohren, die sich ins hohe Gras duckten. Das Mädchen musste seine Aufmerksamkeit bemerkt haben, denn als er sich nicht von seiner Position abwandte, sprang es auf und hastete zwischen die Gestelle.

„Yayoi, warte!“

Minoru folgte ihr langsamen Schrittes, um sie nicht unnötig zu ängstigen, und bückte sich unter einem Gestell trocknender Pflanzen hindurch, nur um auf der anderen Seite einem Pfeil ins Auge zu Blicken, der wenige Zentimeter vor seinem Gesicht schwebte. Gut, zugegeben, die Neuzeit hatte ihn einiges gekostet. Vor allem Aufmerksamkeit, Wahrnehmungsvermögen und das vorausschauende Denken, dass hinter jedem Baum eine Gefahr wartete. Ein sicherer Schütze hätte ihn längst ins Jenseits befördert, doch so blieb der zittrige Pfeil nichts weiter als eine freundliche Erinnerung daran, dass derlei Leichtsinn im Mittelalter nichts verloren hatte.

Minoru hielt einen Moment inne, zählte missmutig bis drei, dann richtete er sich auf und sah mit erhobener Braue fragend auf Honoka herab, die mit jeden Zentimeter, den er sie überragte, blasser geworden war. „Einen herzlicheren Empfang hättest du dir nicht ausdenken können?“

„Minoru... .“ Endlich ließ sie die Waffe sinken, nur um ihm im nächsten Moment um den Hals zu fallen wie einem lang verschollenen Bruder. „Den Göttern sei Dank, du lebst...“

Sie gefror zur Salzsäule und ließ sich umgehend zurück auf die Füße fallen, als er entgegen aller Erwartungen eine einzelne Hand mit vorsichtigem Druck auf ihren Rücken legte. Sie stieß ihn von sich und sah mit einem Blick zu ihm auf, der unvermeidbar an ein wütendes Raubtier erinnert hätte, wenn sie nicht so puterrot angelaufen wäre. „Du lebst! Was hast du dir dabei gedacht einfach so jahrelang zu verschwinden?!“

Ichirou hatte die Zähne gebleckt, ließ sich aber abrupt ins Gras fallen, als Minoru es ihm mit einer knappen Handbewegung gebot. Abermals schubste Honoka ihn grob zurück und stach mit dem Zeigefinger unerbittlich auf seine Brust ein, bis er die trockenen Reisähren in seinem Nacken spürte. „Hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Was für ein Theater hier war, weil du nicht wieder aufgetaucht bist?!“

„Honoka.“

„Und dann stehst du hier, als wäre nie etwas gewesen! Umarmst einfach ein sittsames Mädchen-!“

„Honoka!“

„Was?!“

Er nickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, das sich fest an eines der Holzgestelle klammerte und mit angsterfüllten, bernsteinfarbenen Augen zu ihrer Schwester aufsah. Von seinen drei Kindern sah Yayoi Inuyasha mit Abstand am ähnlichsten. Honoka blieb die Wut im Halse stecken.

„Entschuldige, Yayoi...“, sie wandte sich von ihm ab und ging vor ihrer Schwester in die Hocke. „Das ist Minoru. Der Sohn von Onkel Sesshōmaru. Er ist ganz nett.“

„So?“

Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu und streckte eine Hand nach Yayoi aus. „Wir streiten gar nicht mehr, siehst du?“

Zögerlich griff die Kleine nach ihrer Hand, ließ Minoru jedoch nicht aus den Augen. Der warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu und stellte die Rucksäcke vor sich ab. Honoka richtete sich wieder auf und legte Yayoi eine Hand ins Haar. Die Kleine klammerte sich umgehend an das Bein ihrer großen Schwester und beäugte die Gepäckstücke sowie ihren Vetter misstrauisch. Auch Honoka blinzelte, als begreife sie nun erst, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte.

„Du warst auf der anderen Seite.“

„Eure Familie hat mich gebeten, euch das hier zu bringen“, erwiderte Minoru als erkläre dies alles.

„Unsere -“, ihr gerötetes Gesicht war sichtlich blasser geworden. „Du hast sie getroffen? Ihnen von uns erzählt?“

„Sie haben mir kaum eine andere Wahl gelassen, insbesondere eure Großmutter war da sehr beharrlich.“

„Geht es ihnen gut? Sind sie glücklich? Denken sie an Mama?“

Minoru gab ein belustiges Schnauben von sich. Sie war Keiko in dieser Hinsicht so ähnlich, dass es

fast an Lächerlichkeit grenzte. Etwas aufgewühlter vielleicht, fassungsloser, aber ebenso bewegt von der unbekannten Familie. Anders herum war das Honoka schon immer eigen gewesen. „Es geht ihnen gut. Aber du liest am besten in den Briefen, was sie euch zu sagen haben.“

„Briefe.“

„Briefe, Fotos.“ Er stieß einen der Rucksäcke mit dem Fuß an. „Sie denken an euch.“

„Du wirst nicht glauben, was mir das bedeutet“, hauchte sie tonlos.

„Glauben und Verstehen sind zweierlei. Aber wenn es dich glücklich macht, war es ihre Mühe wohl wert.“

„Tausend Mal. Tausend Mal glücklich.“ In ihren Augen schimmerten erste Tränen und sie musste sich sichtlich zusammenreißen, um ihn einigermaßen gefasst anzusehen. „Mama wird außer sich sein vor Freude, wenn du ihr das erzählst. Sie werden so erleichtert sein, dich zu sehen! Wir haben uns alle schon das schlimmste ausgemalt.“

„Dich wohlauf zu sehen, erhellt mir den Tag, aber ich bin nicht besonders erpicht darauf, in eure sonderbare Festung zu marschieren, um mich mit deinen Eltern zu unterhalten. Ich war zu lange von Zuhause weg und sollte schnellstmöglich zurück.“

Sie lächelte frech und löste Yayoi von ihrem Bein, um sie hochzuheben, dann wurde ihr Ausdruck ernst. „Wir werden dich nicht lange aufhalten und niemand wird dich angreifen. Dafür haben andere gesorgt. Unter anderem deshalb solltest du mit meinen Eltern reden.“

Minoru wurde ein wenig mulmig zumute. „Mein Vater hat nach mir gesucht.“

„Er, der Generalleutnant und seine halbe Armee“, sie klang, als seien die Erinnerungen daran nicht unbedingt die besten. „Dass die Zwillinge dich umbringen wollten, hat er nicht allzu gut aufgenommen. Dein Verschwinden noch viel weniger.“

Er wusste aus eigener Erfahrung, wie unheimlich der Fürst werden konnte, wenn er erst einmal wütend war – dabei hatte er ihn bislang immer nur mild verärgert und eine richtungsweisende Abmahnung bekommen. Er beneidete niemandem um die Erfahrung, den wirklichen Unmut dieses Daiyōkais auf sich gezogen zu haben und sehr wahrscheinlich gab es auch nicht viele, die davon berichten konnten. Umso verwunderlicher war, dass diese Siedlung überhaupt noch existierte. Wenn er von dem Angriff der Zwillinge erfahren hatte, war unwahrscheinlich, dass er mit deren Tod zufrieden gegeben hatte. Selbst wenn sein Nachwuchs ihm vollends egal gewesen wäre, hätte sein Stolz ihm geboten, die Anwohner als Dünger in den Boden einzuarbeiten. Hätte er es noch weiter getrieben, hätte er auch seinen Bruder für den Zwischenfall verantwortlich machen können – auch wenn das einen gewissen Interpretationsspielraum erfordert hätte. Warum also hatte er in diesem Fall davon abgesehen?

„Sie haben Kaito gefunden“, stellte Minoru schließlich fest. „Seinetwegen haben sie davon abgesehen, das Dorf zu zerstören.“

Honoka schluckte schwer und wich seinem Blick aus. Dann setzte sie Yayoi auf den Boden. „Lauf du doch schon mal vor und sag Mama, dass Minoru und ich gleich kommen, ja?“

Die Kleine trat etwas unentschlossen von einem Fuß auf den anderen und deutete schließlich auf Ichirou. „Darf ich das Hundchen mitnehmen?“

Der Akita sah zu Minoru auf und spitzte die Ohren „Darf ich?

„Begleite sie ins Dorf zu ihren Eltern. Aber seid vorsichtig.“

Sie verließen gemeinsam das Reisfeld, um Kind und Hund im Auge behalten zu können, während sie durch das hohe Gras vorausliefen.

„Also? Was wolltest du vor deiner Schwester nicht sagen?“

Honoka kaute auf ihrer Unterlippe herum und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie war ihrer Mutter in vielerlei Hinsicht ähnlicher geworden, seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten und auch ihr sonst etwas verträumt-übermütiges Auftreten war von einer neuen Ernsthaftigkeit durchsetzt – zumindest wenn sie nicht gerade von ihrer Familie hörte. „Wir glauben auch, dass wir wegen Kaito vor Schlimmerem verschont geblieben sind. Deinem Vater war es wichtiger, dich und die Zwillinge zu finden, also hat er das Urteil dem Generalleutnant überlassen und der ist gemäßigter. Er hat meinem Vater die Hand zertrümmert, aber nicht einmal die Bauern umgebracht, die sich ihm entgegengestellt haben.“

„Tatsächlich.“ Das klang in Anbetracht der Lage etwas sehr harmlos. „Wo ist der Haken?“

Sie seufzte. „Er hat die kleine Schwester der Zwillinge als Geisel genommen, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Deswegen werden auch ihre Eltern dich nicht anrühren, ganz gleich, was gewesen ist. Sie wollen ihre Tochter zurück. Hätte das Dorf den Zwillingen Unterschlupf gewährt, hätte er nachgeholt, wovon er abgesehen hat.“

„Du weißt schon, dass ihr verdammt gut weggekommen seid?“

„Pff, sei mal nicht so eingebildet. Sie war erst sechs und hatte damit absolut nichts zu tun!“

„Wäre sie dir tot lieber gewesen?“, fragte er trocken und blieb stehen, damit sie ihn ansah. „Für die Kleine ist es sicher unschön, von ihrer Familie getrennt zu sein, aber wenn sie sie als Austausch für mich handeln wollen – was, wenn wir mal ehrlich sind, verdammt lächerlich ist –, dann werden sie sie gut behandeln. Du hast bei ihm übernachtet. Kam er dir da etwa grausam vor? Er pokert zu euren Gunsten ziemlich hoch.“

Was wiederum bedeutete, dass der Fürst diesem Mann mehr vertraute, als Minoru für möglich gehalten hatte. Ihm sein Leben anzuvertrauen war das eine, aber so weit zu gehen, die öffentliche Wahrnehmung in einem so prekären Fall zu riskieren, eine ganz andere.

„Schon. Trotzdem tut es mir leid um sie. Es war unrecht.“

Als sie das Tor durchquerten, war der Geruch des verbrannten Holzes, das sie verbaut hatten, so beißend, dass Minoru das Gesicht verzog. Von Ichirou und Yayoi war mittlerweile nichts mehr zu sehen, dafür hefteten sich in Sekundenschnelle dutzende Augenpaare auf sie. Das geschäftige Treiben kam zeitweise zum Erliegen, während sie zunächst Minorus Kleidung und die Rucksäcke betrachteten als stamme er von einem anderen Stern, nur um zuletzt festzustellen, dass das Problem viel tiefer lag. Sie wichen vor ihm zurück wie sie es zuvor nicht getan hatten und tuschelten. Einige schickten ihre Kinder ins Haus, aber die große Panik blieb zum Glück aus. Auch die vereinzelten Schützen, die auf den Holzgerüsten an den Palisadenwänden saßen, unterbrachen ihr Frühstück nicht, ließen ihn jedoch auch nicht aus den Augen. Ohne Honoka wäre seine Ankunft sicher weniger friedfertig aufgenommen worden.

„Hat er die Zwillinge gefunden?“

„Nicht, dass ich wüsste. Sie sind genauso verschwunden wie du. Sind sie vielleicht mit dir durch den Brunnen?“

„Nein, das hätte ich bemerkt.“ Aber solange sie ihm nicht gleich über den Weg liefen, sollten sie ihm erst einmal egal sein. Es gab genug Personen, die es nach ihrem Hals verlangte und ob sie nun noch ein paar Monate oder Jahre frische Luft atmeten, tat der Sache keinen Abbruch. Sie würden für diese Nacht bezahlen. Für den Versuch ihn zu töten, die Jahre, die er verloren und das, was sie Kaito angetan hatten – wie auch immer es ausgegangen sein mochte. Noch hatte er Hoffnung, dass der Han'yō nur einige Meter entfernt war, aber die Tatsache, dass Ryouichi ein derartiges Maß an Gnade hatte walten lassen, hinterließ einen faden Beigeschmack. Nachsicht und Gnade war nichts, was diesen Kriegern leicht von der Hand ging. Der Ausgleich von Schuld hingegen war etwas anderes. Doch Beistand im Kampf allein hätte diese Reaktion nicht herbeiführen können. Dabei zu sterben allerdings...

Minoru nahm den Rucksack von seiner rechten Schulter und klemmte ihn unter den Arm. Auf Dauer zog das Gewicht den Riemen zu fest über die Narbe und das brennende Gefühl, das längst dort brodelte, ging ihm auf die Nerven.

„Sag nicht, deine Schulter macht dir immer noch Ärger.“

Er stockte und bemerkte mit Grauen, dass sie die betroffene Stelle betrachtete, als könne sie durch den Stoff sehen.

„Wie-“

„Ich stand in der Schützenreihe hinter ihnen, als sie den Pfeil aus dem Köcher gezogen haben. Er sah nicht auffällig aus, aber die Aura, die dieses Ding versprüht hat, war so widerwärtig, dass ich dachte, ich müsse mich gleich übergeben. Ich bin mit Taijiya-Waffen aufgewachsen, aber so etwas habe ich noch nie gesehen oder gespürt. Es war grauenhaft. Sie hat erst auf den Drachen gezielt und im letzten Moment auf dich umgeschwenkt. Ich wollte sie stoppen, aber ich fürchte, ich war zu langsam. Sie hat dich trotzdem getroffen.“

Minoru starrte sie an. „Wer?“

„Nun... Saki.“

Das durfte nicht wahr sein! Was zum Henker hatte er diesen Weibern bloß getan? Die gebrochenen Knochen waren anstandslos verheilt, so wie er es erwartet hatte, doch die Schusswunde war ein ganz anderes Problem. Haut und Muskel hatten sich nur unter Narbenbildung wieder zusammengezogen und ganz gleich wie lange er sich geschont hatte, die Narbe blieb berührungsempfindlich bis zu einem Punkt, an dem er schreien wollte, wenn ihn eines der Holzschwerter beim Training traf. Es hatte keinen Sinn ergeben. Er hatte schlimmere Verletzungen mit weniger Komplikationen davongetragen und sich stets gewundert, warum diese ihm so viel Kummer bereitete. Nun, zumindest wusste er jetzt, dass es sich nicht um einen Querschläger gehandelt hatte. Dieser Pfeil war für ihn bestimmt gewesen, ebenso wie die unsägliche Menge an Gift, mit dem sie ihre Umwelt verpestet hatten. Widerwärtiges, wertloses Jägerpack. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn sie ihn damit an anderer Stelle getroffen hätten.

„Danke.“

Honoka ließ endlich von seiner Schulter ab und lächelte. „Dafür musst du mir nicht danken. Es hat ja offenbar nicht viel genützt.“

„Es war ausreichend“, erwiderte er und ihr Lächeln wurde noch etwas breiter. Dann wandte sie sich um und setzte über eine halbhohe Steinmauer hinweg, die einen gepflegten Garten voller Kräuter einfasste. Minoru runzelte die Stirn. Ihr neues Haus war weiter von der Anhöhe entfernt als er erwartet hatte, aber anders herum hatten sie ja auch noch einige Jahrhunderte Zeit, ihren Wohnsitz zu verrücken. Ichirou kam hinter dem Haus hervor und begrüßte ihn schwanzwedelnd, als hätten sie sich seit Tagen nicht gesehen. Im Gegensatz dazu hatte Inuyasha eine Miene aufgesetzt, die darauf hindeutete, dass vier Jahre Abstand ihm nicht lange genug gewesen waren. Er lehnte mit der Schulter an der Fassade und verschränkte die Arme vor der Brust; in dem schmalen Gang zum Hinterhof so präsent, dass seine Jüngste sich nicht hervorzwängen konnte und dazu gezwungen war, an seinem Bein vorbeizulinsen. „Ich rate dir, dass du niemandem jenseits des Brunnens auch nur ein Haar gekrümmt hast. Sie sind-“

„Außerordentlich nette Menschen“, unterbrach Minoru ihn grob. „Ich weiß.“ Er ließ die Rucksäcke zu Boden gleiten. „Dieser ist für eure Kinder. Und der für Kagome und dich.“

Der Halbdämon betrachtete die Lasten nachdenklich und richtete sich dann doch auf. „Die sind von Kagomes Mutter?“

„Auch.“

Inuyasha warf Minoru einen misstrauischen Blick zu: „Warum solltest du den Botenjungen für Menschen spielen?“

„Papa!“

„Erwischt“, erwiderte Minoru trocken. „Ich hab' das alles selbst geschrieben und verpackt, damit nicht auffällt, dass ich alle gleich am ersten Tag gefressen habe.“

Honoka schlug ihm gegen den Oberarm: „Minoru! Hört auf. Alle beide.“

„Du klingst mit jedem Tag mehr nach deiner Mutter“, brummte Inuyasha leise und schob das Bein noch etwas weiter raus, als Yayoi versuchte, sich doch einen Weg zu bahnen. Als das Gewicht des Kindes von seinem Bein verschwand, wurde er jedoch sichtlich blasser.

Kagome hob die Kleine auf den Arm und sah mit einem vernichtenden Blick zu ihrem Ehemann empor: „Ach ja? Und wenn dem so wäre? Dann hättest du zwei wundervolle Frauen im Hause. Wolltest du das sagen?“

Inuyasha brummte irgendetwas Zustimmendes und gab den Durchgang für Kagome frei, als sie ihm mit einem Finger unter die Rippen stach. „Mach dich nicht so fett.“

Ihr Lächeln wurde breiter, als sie auf Minoru zuging. „Es ist so erleichternd, dich wohlauf zu sehen. Und dass es dir gut ergangen ist. Nachdem du verschwunden bist, hatten wir uns die grausigsten Dinge ausgemalt. Du bist wirklich durch den Brunnen gegangen... hast du... nun.. hast du meine Familie getroffen?“

„Habe ich und es geht ihnen gut. Aber das werden sie euch sicher ausführlich geschrieben haben. Ich kann mir vorstellen, dass du deswegen viele Fragen hast und ich will nicht unhöflich sein – aber ich sollte dringend zu meinem Vater. Ich war zu lange fort und ihr solltet das Mädchen zurückbekommen.“

Kagomes Miene verfinsterte sich schlagartig. „Davon weißt du schon, hm?“

„Honoka hat mich in das Gröbste eingeweiht. Es wäre für alle das Beste, wenn ich nicht noch mehr Zeit verliere.“

„Ganz deiner Meinung“, Inuyasha ragte hinter seiner Frau auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Pack uns etwas Proviant ein. Ich begleite ihn.“

„Du?“, sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihn verwundert an. „Bist du sicher, dass ihr euch nicht hinter der Dorfgrenze an die Kehle geht?“

„Wir werden uns schon einig“, der Han'yō biss die Zähne zusammen und sah zu Minoru. „Und ehe du aufmuckst: Das war kein Angebot. Ich bringe dich und fertig. Kein Wort, dass du nicht auf Hilfe angewiesen bist, bla bla. Ich riskiere nicht, dass dir auf dem Weg zu ihm noch jemand ein Bein abkaut.“

„Außerdem kannst du das Mädchen gleich mitnehmen“, lenkte Minoru ein. „Schon klar. Das erspart uns die aufwendige Eskorte.“

„Eben.“

Honoka schnaubte: „Ihr seid schräg. Sagt doch einfach - .“

„Honoka, Schatz, lass sie in dem Glauben“, ihre Mutter setzte Yayoi zu Ichirou auf den Boden und machte sich auf den Weg ins Haus. „Komm und hilf mir mit dem Essen. Inuyasha, gib Minoru doch etwas unauffälligeres zum Anziehen.“ Dann murmelte sie etwas von Lederjacken und dass man wohl froh sein könne, dass Schlaghosen noch nicht wieder „angesagt“ seien.

Mehr Fragen als dieser modische Einwand warf jedoch die Tatsache auf, dass in der von Kräuterduft geschwängerten Luft eindeutig ein Hauch von Fuchs mitschwang.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... nicht, dass ich persönlich was gegen Schlaghosen hätte... oder Katzen :p Komplett anzeigen

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