Zum Inhalt der Seite

Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah ...
Minoru ist in seine Epoche zurückgekehrt und reist mit Inuyasha gen Westen.
Kōhei kehrt mit Saburō an den südlichen Hof zurück, an dem gerade dessen Partnerin ermordet worden ist. Saburō gibt vor, wie befohlen Minorus Tante Masuko getötet zu haben und überreicht Fürst Hayato einen falschen Kopf als Beweis (s. Kapitel 47). Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

am dunkelsten klafft.

Es war schon vor Stunden Nacht geworden. Ein kräftiges Sommergewitter hatte sie am Abend bis auf die Knochen durchnässt und war mittlerweile fortgezogen. Die Feuchtigkeit war in die geliehene Kleidung gedrungen und erschwerte den dunkelblauen Stoff, der an den Schultern zu locker über Minorus schmalere Gestalt fiel. Weiter nordwestlich war der Himmel wolkenlos geblieben und wie in so vielen sternenklaren Nächten hatte sich die Tagestemperatur deutlich abgekühlt. Nebel säumte den Waldboden und stieg zwischen den Bäumen empor. Kaum mehr als hundert Meter Sicht. Ein Albtraum für jeden, der sich nur auf seine Augen verlassen konnte.

Er glich seine Geschwindigkeit an, als Inuyasha zwischen einigen Fichten langsamer wurde und ihn musterte: „Bislang keine Überraschungen. Willst du rasten?“

„Nicht nötig. Aber wir können eine Weile gehen.“ Minoru setzte den Akita auf dem Waldboden ab und reckte sich. Vierzig Kilo waren für einen Yōkai eine tragbare Last, doch Ichirou bewegte sich immer wieder unbehaglich und schnupperte herum, während sie liefen. Ihn eine Weile allein gehen zu lassen, erleichterte Gemüt und Blase des Hundes gleichermaßen. Bislang war es ruhig geblieben. Einige Male war die Luft von schwachem Yōki erfüllt gewesen, doch die Dämonen hatten sich zurückgezogen, sobald sie ihnen zu nahe gekommen waren. Das allein war jedoch kein Garant für eine sichere Reise. Sorgsam zog Minoru den Obi um das Katana nach, das Inuyasha ihm wortlos überlassen hatte. Eine einfache, scharfe Stahlklinge, die ihn von dem Vorwurf befreite, seinen Neffen unbewaffnet in die Nacht geschickt zu haben – oder einfach eine gut gemeinte Leihgabe darstellte.

Darüber hinaus trug er wenig bei sich. Die Neuzeit hatte er ablegt, Lederjacke und Stoffhose im Dorf zurückgelassen und lediglich einen Beutel mit Kleinigkeiten unter seinen Obi gesteckt, der unter anderem dem heiß gehassten Fuchskorallenarmband einen unschädlichen Lagerplatz bot.

„Wie weit noch etwa?“, fragte er schließlich.

Der Halbdämon sah dem Akita eine Weile nach, als könne er immer noch nicht fassen, dass der Sohn seines diabolischen Halbbruders ein Haustier mit sich herumschleppte, dann besann er sich: „Schwer zu sagen. Die Fronten bewegen sich in den letzten Monaten viel. Bis Sonnenaufgang eher nicht.“

Weniger als eine halbe Tagesreise entfernt. Die Drachen hatten sich also noch nicht bis in die Tiefen des Westens durchschlagen können. Das mochte wie ein gutes Zeichen klingen, war jedoch wertlos.

Es ging ihnen nicht um Landgewinn. Eroberungen und Festungen interessierten sie nicht. Es war ein Vernichtungskrieg – und der wurde geführt, wo auch immer der Gegner stand. Die Nachricht einer wandernden Front trug unter dem Aspekt einen äußerst bitteren Beigeschmack.

„Haben wir die Chance auf eine Patrouille deiner Leute zu treffen?“

Der Stoff lagt schwer auf seinen Schultern, als er mit den Achseln zuckte. Es war allerdings eine gute Frage. Natürlich wollten sie nicht auf dem Schlachtfeld zwischen Zähnen und Stahl aufkreuzen. Das war idiotisch. Ein Lager stellte ein aussichtsreiches Ziel dar, aber das zu finden würde sich schwierig gestalten. Niemand würde es offensichtlich aufschlagen lassen. Von einer Patrouille aufgegriffen zu werden, war ihre beste Chance – vorausgesetzt, sie war ihnen wohlgesonnen.

„Das weißt du nicht?“, fragte sein Onkel ungläubig. „Ob sie Wachen aufstellen oder Patrouillen aussenden? Ich dachte, euch Hunden würde so etwas in die Wiege gelegt.“

„In der Regel“, erwiderte Minoru tonlos, ehe er Ichirou mit einem Fingerschnippen wieder zu sich rief, als dieser hinter einem Busch hatte verschwinden wollen.

„Nur der zukünftige Leithund dieses Haufens nicht, eh? Ich hätte nicht gedacht, dass man bei Sesshōmaru aufwachsen kann und von derlei verschont bleibt. “

„Kann man wahrscheinlich auch nicht.“

Es war etwas, das sie offensichtlich gemeinsam hatten. Vom Moment ihrer Abreise an hatte Inuyasha stets gewusst, was er tat. Seine Schritte verursachten kaum einen Laut und jedes verdächtige Geräusch ließ seine Hundeohren einen Moment zucken, auch wenn er sich nicht unbedingt umwandte. So bewegte sich niemand, der sein Leben im Schutz eines Dorfes oder einer Gruppe verbracht hatte. Alte Gewohnheiten starben nicht – insbesondere solche, die einen lange Zeit am Leben erhalten hatten.

Beinahe hätte Minoru sich nach seinen Beweggründen erkundigt, ehe sein Verstand den verirrten Impuls niederrang. Welche Möglichkeiten blieben wohl einem halbblütigen Jungen und seiner Mutter, wenn der dämonische Vater kurz nach seiner Geburt verstorben war? Eine Menschenfrau, welche Liebe sie auch immer für ihr Kind empfinden mochte, war schwerlich in der Lage, ein Halbblut vor der Welt zu beschützen – auch nicht vor ihrer. Menschen und Dämonen vereinte ihre Abneigung gegenüber Mischlingen, und wenngleich die Argumentation oftmals eine andere war, blieb am Ende doch beiderseits nur Missachtung und bestenfalls Ignoranz.

Sein Onkel betrachtete ihn nicht minder grübelnd, aber auch er sah davon ab, das Gespräch weiter fortzusetzen. Stattdessen schob er die Hände in die ausfallenden Ärmel seines leuchtend roten Hitatare und wechselte das Thema. „Kommst du zurecht?“

„Wie muss ich das verstehen?“

„Vier Jahre in Kagomes Zeit. Nach einigen Stunden hatte ich schon das Gefühl, dass mir jemand Watte in die Ohren gestopft hat. Die ganzen Autos, Busse, Menschen – und erst dieser Gestank.“ Er schnupperte in seine Richtung. Vermutlich roch er immer noch einen Rest des Parfums, mit dem ihn ein Mitarbeiter der Drogerieabteilung eines Kaufhauses vergangenes Weihnachten überfallen hatte. Pfefferminzschokolade oder etwas ähnlich penetrantes. Er hätte den Mann am liebsten auf der Stelle ausgeweidet.

Minoru seufzte niedergeschlagen. Er hatte nicht Unrecht. Die Neuzeit überflutete die Sinne mit Eindrücken, bis sie für Geräusche und Gerüche unempfindlicher waren. Es würde noch dauern, bis er dieselbe Sensibilität erlangt hatte, die ihm seit Jahren den Kopf auf dm Hals gehalten hatte. Doch er bemerkte bereits jetzt, wie er die vermeintliche Stille mit jeder verstreichenden Stunde als weniger tief empfand. Es war als hätte die Neuzeit ihm einen anhaltenden Gehörsturz beschert, wie er sonst nur nach lauten Konzerten die Ohren verstopfte.

„Watte trifft es“, räumte er schließlich ein und erntete dafür ein Naserümpfen.

„Ich kapier' nicht, wie du das geschafft hast. Das Ding hat Jahrzehnte keinen Mucks getan und dann schickt es dich nach Tokyo. Kein Wunder, dass dich keiner finden konnte. Zu wittern, dass du den Ort nie verlassen hast, wäre ja ein Leichtes gewesen. Aber du musstest ja die gesamte Umgebung verpesten.“

Minoru blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. „Wie bitte?“

„Du weißt genau, wovon ich rede. Dein Alter schafft das auch spielend. Hat fast das Gerippe von unserem alten Herrn zersetzt mit seiner Giftsabber.“

„Ihr denkt allen Ernstes, das sei ich gewesen?“, das Entsetzen erreichte ausnahmsweise seine Stimme und ließ seinen Onkel gleichsam abbremsen. „Zum Mitschreiben, Inuyasha: Ich besitze eine gewisse Giftresistenz. Angeblich habe ich auch mal einen Mönch umgebracht. Aber ich wüsste nicht, wie ich eine ganzes Areal derart in Mitleidenschaft ziehen sollte, dass man vier Jahre später noch keinen Fuß darauf setzen will. Das waren eure teuren Dämonenjägerinnen, die mich umbringen wollten -“

„Dich? Das ist doch schwachsinnig. Die Wahrscheinlichkeit, dass dich Gift umhauen könnte -“

„Hätte jemand sich die Mühe gemacht, ihnen das mitzuteilen, hätten sie vermutlich auch andere Wege gesucht, um mich loszuwerden, statt zwischen mir und Kaito die Rauchbomben zu zünden.“

Mit einem Mal nahm Inuyashas Haut die Blässe des zunehmenden Mondes an. „Er war dort?“

„Ja. Sie haben meinen Kopf gefordert und er hat ihn verwehrt. Es war ihnen egal, ob sie uns beide umbringen, solange ich verrecke. Ich weiß nicht, für wie bösartig du mich hältst, aber ich beiße nicht die Hand, die mich eben noch unter einem Drachen weggezogen hat.“

„Das ergibt doch keinen Sinn. Was hast du ihnen getan?“

Wütend schnaubte Minoru. „Wenn ich das wüsste, wäre ich ein ganzes Stück weiter! Warum denken alle ständig, ich hätte ein Interesse daran, mir Feinde zu machen? Die Zwillinge und ihr Ärger mit deinen Kindern interessieren mich nicht! Haben mich nicht interessiert.“ Er würde sicherlich keinen Moment verschwenden, wenn die Zwillinge die Dreistigkeit besäßen, ihm je wieder unter die Augen zu treten. Er sah zu Inuyasha auf, der immer noch verdächtig blass wirkte. „Honoka meinte, ihr hättet angenommen, dass der Generalleutnant das Dorf nur wegen Kaitos Einsatz mit schlimmerem verschont hat. Ich dachte, da sei das alles bekannt.“

Der Ton knirschender Zähne glich dem einer bremsenden Straßenbahn. „Jeder hat gesehen, dass er dir mit dem Drachen geholfen hat. Dass er auch am Brunnen bei dir war, wusste ich nicht. Davon hat er nie etwas gesagt und wie hätte ich das auch ahnen sollen? Das Gift hätte ihn doch - .“ Er hielt inne. Seine Miene verfinsterte sich und er schloss die Augen, als müsse er einen Gedanken verdrängen. „Ich bin so ein Idiot.“

Das Gefühl nagender Ungewissheit fiel von ihm ab wie Schnee von einer Frühjahrstanne. „Er lebt.“

„Natürlich lebt er“, raunzte Inuyasha grob, als könne der Gedanke allein seinem Sohn schaden.

„Und er hat keinem erzählt, was passiert ist?“, ungläubig hob Minoru eine Braue. „Warum? Auch euer Dorffrieden muss Grenzen haben.“

Es war ein mahnender Blick, den Inuyasha ihm zuwarf, aber er war bestenfalls halbherzig. „Ich glaube, er hat es versucht“, räumte er schließlich ein. „Aber ich habe ihm nicht zugehört. Nicht wirklich. Als er sich erholt hatte, ist er ohne ein Wort fortgegangen. Angeblich streunt er an den Fronten umher und mischt sich in die Kämpfe ein. Aber nach Hause gekommen ist er seitdem nicht mehr.“

Er schwieg eine Weile und betrachtete Minoru schließlich mit verschränkten Armen. „Kannst du mir mal verraten, warum mein Sohn sein Leben für dich riskiert? Ich dachte, ihr könnt euch nicht leiden.“

„Es wäre mir neu, wenn er mich ausstehen könnte. Mich zu retten sollte euer Dorf schützen – und das hat es auch. Wir sind keine Freunde.“

„Keh. Ist wohl nicht gut genug für dich, was?“

Es wären Minoru sicherlich ein dutzend abfälliger Erwiderungen auf diese Bemerkung eingefallen, doch er behielt sie für sich. Kaitos Beweggründe waren ihm überlassen. Darüber zu diskutieren würde lediglich Streit provozieren, wenn Inuyasha seine Regungen so offen zur Schau stellte. Es war auffällig, wie schwer es seinem Onkel fiel, die Verbitterung über das Zerwürfnis mit seinem Sohn verstecken. Denn nichts geringeres würde es gewesen sein, wenn Kaito den Krieg seiner Familie vorzog. Wichtig war jedoch nur, dass er lebte. Wenngleich ein Wunder geschehen sein musste, um ihn aus dieser Todesfalle zu bergen. Sicherlich bestand die Möglichkeit, dass die Zwillinge nach Minorus Verschwinden Einsehen gezeigt und ihn aus der Gefahrenzone gerettet hatten. Vielleicht besaßen sie sogar ein Gegengift, für den Fall, dass etwas Unerwartetes geschah. Aber das war reine Spekulation. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen. Wobei der nachsichtige Umgang des Generalleutnants mit diesem Dorf davon kündete, dass die Angelegenheit für Kaito nicht allzu gut ausgegangen war. Was auch immer sich zugetragen haben mochte, änderte nichts. Minoru musste nach Hause, das Mädchen zurück in das Dorf und die Zwillinge an den Haken. Sich in die Familienstreitigkeiten seines Onkels einzumischen hatte in diesem Zusammenhang keinen Mehrwert. Kaito war in der Lage, für sich selbst zu sorgen, und wenn er nun beschlossen hatte, das Dorf endgültig zu verlassen, war es allein seine Entscheidung. Immerhin war er schon lange kein Kind mehr.

Es war nur ein Rascheln in den Ästen. Ein Vogel, der hastig über sie hinwegzog und Schutz in einer der großen Tannen suchten, deren Nadeln am Boden jeden Schritt erstickten. Es brauchte nur eine Handbewegung, um Ichirou wieder an Minorus Seite zu holen und während der Hund noch einen fragenden Blick aufsetzte, hatte Inuyasha in breiter Aufstellung bereits eine Hand an Tessaigas Griff gelegt. Der Nebel schlängelte sich um ihre Beine, so lautlos wie der übrige Wald. Nur der Rabe sträubte die Federn und hüpfte nervös im Geäst über ihren Köpfen umher.

Dann brachen sie frontal aus dem Nebel hervor. Ein halbes Dutzend behaarter Kreaturen hangelte hastig am den umstehenden Bäumen entlang oder sprang auf allen Vieren über den Boden.

Die Augen ihrer menschenähnlichen Gesichter reflektierten das Mondlicht wie Spiegel, als sie sich mit einem schrillen Kreischen auf die Hunde stürzten. Die Affendämonen waren schnell und ihre Arme lang. Der erste landete federnd auf Tessaigas Klingengrad und brüllte abermals zum Angriff, während er auf Inuyasha einhieb, der die Waffenspitze zu Boden fallen ließ, dem Feind entgegen ging und ihm mit einem einzigen Griff das Genick brach. Minoru hatte das Katana deutlich später aus der Scheide gerissen und dem erstbesten Affen den Schädel gespalten, um im Nachhieb einen weiteren zumindest die Hand abzuschlagen, die nach Ichirou griff. Kreischend wich der schwer verletzte Gegner zurück. Der Hund drückte sich zähnefletschend in Minorus Schatten herum und war mit gesträubtem Fell zu beeindruckender Größe herangewachsen. Gerade als Minoru ihn noch weiter in die Tannen drängen wollte, schoss der Akita an ihm vorbei, wich einem paar grabschender Hände aus und ging einem weiteren Affen anstandslos an die Kehle. Ein Schütteln, ein Knacken, dann ließ er den leblosen Körper des Dämons zu Boden fallen und machte zwei Sätze zurück an die Seite des Inus. Inuyasha hatte unterdessen zwei weiteren den Garaus gemacht, sodass sich der Letzte einhändig, aber drohend in die nächste Baumkrone verzog und kreischend mit Tannenzapfen nach ihnen warf. Minoru schlug ein Geschoss weg und knurrte, während Inuyasha schlicht gegen den Baum trat, der daraufhin bedrohlich wackelte. Der einhändige Affe klammerte sich mit den verbleibenden Klauen an den Stamm und schrie wütend in die Richtung aus der er gekommen war.

Minoru begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, dass der Boden unter ihm vibrierte und schob Ichirou mit dem Knie zur Seite, ehe er die Hand zur Faust ballte, mit schräg schlagenden Krallen wieder aufschnappen ließ und das Blut im letzten Moment in die Nebelwand schleuderte, aus der der Oni brüllend hervorbrach. Die gewaltigen, gelben Zähne ragten, vom Geifer überzogen, aus dem dunklen Gesicht hervor, als er sich schüttelte und die Keule in seiner Rechten kreisen ließ. Blut rann aus vielzähligen Wunden an Oberkörper und Schultern. Die gelben Augen glühten hasserfüllt.

„Keh!“, Inuyasha hievte Tessaiga mit einer Hand vom Boden. „Sowas Hässliches hab' ich selten gesehen.“

Wenn der Oni von seinen Worten gekränkt war, konnte die Beleidigung seine Laune offensichtlich nicht weiter senken. Er warf den behornten Kopf einem Bullen gleich von einer Seite zur anderen und brüllte, bis sich sein Speichel meterweit verteilte. Unter dem ersten Hieb tauchte Minoru hindurch, machte einen Satz nach vorn, um das Ausholen des Riesen zu behindern und schlug mit dem Katana nach dem erstbesten auf Augenhöhe – seinem Knie. Das Gewebe gab widerspenstig nach. Ein sauberer Schlag mit einer schärferen Klinge hätte dem Oni ohne Weiteres das Bein gekostet, aber der Stahl war Menschenwerk vergangener Zeit und der geringe Abstand nicht nur für den Oni ein Problem. Der Dämon knickte zur Seite weg, machte einen Ausfallschritt, bei dem der Unterschenkel grotesk am verbleibenden Gelenk baumelte. Unzufrieden wich Minoru zurück und machte Inuyasha den Weg frei, der Tessaiga nach dem Kopf des Ungetüms schwang – und dabei erstarrte. Ein Speer flog über die Schulter des sich gerade aufbäumenden Riesen und bohrte sich zu Inuyashas Füßen in den Waldboden. Fluchend machte der einen Satz zurück, während auch der Oni einen Blick auf das Wurfgeschoss riskierte. Einen Wimpernschlag später durchbohrte das zweite seinen Hinterkopf. Die pechschwarze Speerspitze hatte den Schädel durchschlagen und glitzerte einen Moment vor Blut im Mondlicht, ehe das Ungetüm der Länge nach zu Boden ging. Die Erschütterung glich der eines gefällten Baumes.

Wind kam auf, als sich im Nebel weitere Gestalten näherten und fegte die Tannennadeln in alle Himmelsrichtungen über den Boden: Tessaigas Aura wurde mit jeder Sekunde bedrohlicher. Der Wind nahm nicht nur zu, er schien auch erstmalig eine eigene Witterung zu besitzen.

Entschieden griff Minoru nach dem Handgelenk seines Onkels und bedeutete ihm, die Waffe zu senken, während er sein eigenes Schwert demonstrativ zurück in die Scheide gleiten ließ. Die aufkommende Windnarbe verschwand so schnell wie sie gekommen war. Was blieb war Inuyashas angesäuerter Blick. „Was ist?“

Minoru konnte seinen Unmut verstehen, doch er war lange genug mit dem Generalleutnant und auch Myōga zusammen gewesen, um zu wissen, wie er ein Material einzuordnen hatte, dass den gewaltigen Schädelknochen eines Onis durchbohrte und so schwarz war, dass nur das darauf anhaftende, frische Blut Licht reflektierte. „Das sind Inuyōkai.“

Im selben Moment sprang jemand auf dem Rücken des gefällten Riesen und rammte einen Speer durch dessen Haut bis in das Herz, als sei ein zerfetztes Gehirn nicht Todesurteil genug. Eine weitere Gestalt landete unmittelbar vor Minoru, sah aber davon ab, mit seinem Kopf gleichermaßen zu verfahren und ließ die Speerspitze unmittelbar vor seinem Gesicht ruhen. Binnen Sekunden waren sie von allen Seiten umstellt. Masken, so unterschiedliche ihre Musterungen auch sein mochten, hatten allesamt ihre hohlen Blicke auf sie gerichtet; die Gesichter ihrer Träger vollends verborgen. Es waren fünf von ihnen, mit Speeren und einer Vielzahl anderer Waffen ausgestattet, die Klingen so schwarz wie der Einblick in ihre Masken.

In Anbetracht der drohend erhobenen Speere verspannte sich Inuyasha, doch Minoru gab sein Handgelenk nicht frei, verstärkte seinen Griff. „Wir werden kein Abkommen brechen“, raunte er und hielt den Blick auf die Gestalt vor sich gerichtet, deren schwarzviolette Maske nichts preisgab.

Die Inu der Insel Sado hinterließen selbst in ihrer Stille Unbehagen. Das Gesicht eines westlichen Kriegers war unter Dämonen ein gefürchteter Anblick, war es doch oft das letzte, das sie sahen. Doch Minoru sah lieber in kalte, wütende Augen voller Verachtung als in die Tiefen einer unbeweglichen Maske, die einer Handlung keine Mimik voranschickte.

Es war Brauch auf der Insel das Gesicht zu verdecken. Immer. Selbst Ryouichi besaß seine noch. Nur ganz selten wurde im engsten Familienkreis auf diese Masken verzichtet – zumindest hatte Myōga das gemutmaßt, denn wer wollte es schon mit Sicherheit behaupten? Sado war abgelegen, unergründlich und eigenständig. Dass die Krieger ihre Heimat verlassen hatten, bedeutete, dass sie ihre jahrtausendelange Isolation aufgegeben hatten – erstmalig seit die Inugami die menschliche Zivilisation in Asche und Rauch hatten aufgehen lassen.

„Der Westen steht zu Akayas Wort. Es wird keinen Kampf mit den Nachfahren unserer Verbündeten geben“, hob Minoru förmlich an und so schwer ihm dieses Gerede auch über die Lippen gehen mochte, war er sich doch sicher, dass Myōga gerade irgendwo vor Stolz platzte, dass seine Lektionen im höfischen Umgang nicht gänzlich vor die Säue geworfen worden waren.

„Es steht dir nicht zu, das Wort in seinem Namen zu ergreifen“, knurrte es hinter ihnen.

Minoru schnaubte hörbar, ungeachtet des Speeres, der immer noch vor seinen Augen schwebte. „Ich bin Minoru. Sohn des Inu no Taishōs und Erbe des Westens. Ich spreche für wen ich will, wann ich will.“

„Der Junge ist tot.“

„Gerede“, schnappte Minoru in dem kältesten Tonfall, den er zustande brachte. „Mein Vater würde mich nicht eher für tot erklären, bis man ihm meine Leiche vor die Füße wirft. Ich will zu ihm. Sofort.“

Natürlich. Minoru fühlte sich quicklebendig, aber es war nicht verwunderlich, dass einige ihn nach vier Jahren längst für tot und seinen Vater für realitätsfremd hielten, wo doch das Palastpersonal ihm schon zuvor Affektionen gegenüber einem fremden Balg vorgeworfen hatten – natürlich nur hinter vorgehaltener Hand und äußerst leise.

„Die Inu Sados schulden dem Taishō keinerlei Gehorsam“, meldete sich eine Frauenstimme zu Wort und eine Gestalt mit petrolblauer Maske trat vor. „Ebensowenig seinem vermeintlichen Sohn.“

Minoru spürte, wie Ichirou von hinten gegen seine Beine drängte. Er legte ihm die Linke auf den Kopf. „Zumindest der Generalleutnant würde diese Aussage vehement abweisen. Ich schlage vor, Ihr überlasst meinem Vater oder seinem engeren Gefolge die Beurteilung meiner Aussage.“

Der Vorschlag entfachte eine Diskussion in einer Sprache, die Minoru nie zuvor gehört hatte. Im Ansatz erschien sie bekannt, aber es war unmöglich einzelne Wörter voneinander zu trennen, die hin und wieder von einem Zungenschnalzen und Knurren überlagert wurden.

Inuyasha wurde sichtlich ungeduldig und tippte mit den Klauen auf Tessaigas Schwertgriff herum, was offenbar auch Anlass dazu gab, die Waffe in das Gespräch einzubinden. Der Name seines Großvaters fiel ein paar Male, dann wieder nur Wortfetzen.

Was ist los?... Ich dachte, sie freuen sich, dich zu sehen?“ Ichirou begann vorsichtig die Wunden an Minorus Hand zu lecken, wo er die eigenen Klauen durch das Fleisch gerissen hatte. „Du warst so lang weg... ich würde mich freuen, dich zu sehen, wenn du so lange weg warst. Müssen wir doch wieder gehen?

„Nein, wir gehen nicht. Mach dir keine Sorgen.“

Mit einem Schlag herrschte eisiges Schweigen. Die Blicke hefteten sich auf den Akita, der die Aufmerksamkeit spürte und mit gebleckten Zähnen zurückwich. „Mino...

„Wir nehmen ihn mit“, entschied die Frau hinter der Petrolmaske und stampfte mit dem Ende ihres Speeres auf den Boden auf, als ihr jemand widersprach. „Tötet das Halbblut.“

„Er ist mein Onkel“, Minoru bleckte die Zähne. Sein Yōki brandete auf und er nutzte die geringe Kontrolle, die er darüber besaß, um es mahnend über den Boden streichen zu lassen. „Wagt nicht, Hand an das Blut meines Großvaters zu legen. Er ist hier, um das Menschenmädchen, das meinetwegen von Ryouichi-sama als Geisel genommen worden ist, zurück zu ihren Eltern zu bringen und wird mich bis in das Lager begleiten, wenn das sein Wunsch ist.“ Er sah zu Inuyasha. „Es sei denn, du willst hier warten?“

„Bist du bescheuert? Damit sie dir die Kehle durchschneiden, sobald ich außer Sicht bin? Ganz sicher nicht.“
 


 

Der Vogel war eine äußerst bizarre Mischung aus Rotkehlchen, übertrieben aufgeplustertem Hahn und einem Greifvogel, den näher zu bestimmen wohl auch den besten Vogelkundler in den Wahnsinn getrieben hätte. Er öffnete den krummen Schnabel und stieß ein heiseres Krächzen aus, das sogleich unter lautem Gelächter erstickt wurde. Sogar die Krähe, die schon seit über zwei Stunden regungslos in der alten Eiche über ihnen saß, plusterte amüsiert das mitternachtschwarze Gefieder auf.

„Fehlt nur noch eine abrupte Schockmauser.“ Kōhei schmunzelte und machte eine knappe Handbewegung, um die übrige Meute verstummen zu lassen. „Nicht so schadenfroh, Männer. Das Chaos außen vor gelassen: Was hat er richtig gemacht?“

„Er hat sich ganz verwandelt.“

„Korrekt. Ein vollständige, anhaltende Verwandlung nach drei Tagen. Das ist gut. Wirklich gut. Woran kann er arbeiten?“

„Sich mal für einen Geier entscheiden?“, schnarrte ein rothaariger, junger Kitsune mit Sommersprossen.

Ein anderer schaute nachdenklicher drein: „An der Aufregung. Er war zu nervös.“

Anerkennend nickte Kōhei. „Nervosität und Unsicherheit blockieren, sorgen für Unordnung. Die Angst, Fehler zu machen, führt häufig erst zu den Problemen. Deswegen übt ihr das bis Sonnenuntergang gemeinsam. Fehler in Übungen sind Fehler, die euch im Ernstfall nicht passieren. Deswegen betreiben wir den ganzen Spuk.“ Er machte einige Schritte zur Seite, ehe er sich umwandte und wich damit der Falle aus, die seine jungen Soldaten für ihn ausgelegt hatten. Seit Wochen bemühten sie sich, ihn hereinzulegen – als kenne er nicht mittlerweile jeden noch so erbarmungswürdigen Versuch. Ein entnervtes Stöhnen ging durch die Reihen und Kōhei warf ein schiefes Grinsen über seine Schulter. „Daran solltet ihr auch arbeiten.“

Dann winkte er Jirō heran und übergab ihm die Aufsicht über die Bande, während er den Übungsplatz hinter sich ließ. Inmitten der dichten Wälder um den Gipfel des Berges verschwamm sein smaragdgrüner Kimono im Sommerlaub – das war jedoch keinesfalls hinreichend, um den ungebetenen Besuch loszuwerden, der seine Absonderung als stille Einladung genutzt hatte, um ihn allein zu sprechen.

Die Krähe flog dicht über seine Schulter hinweg und blieb auf einer gestürzten Buche sitzen, die den letzten Sturm nicht überstanden hatte. Die schwarzen Federn schimmerten in der untergehenden Sonne rötlich, verblassten jedoch angesichts des bernsteinfarbenen Loderns in den Augen des Tieres. Kōhei hielt inne und betrachtete den Vogel wortlos. Was wollte er hier?

Der Erbe des Südens ließ die Gestalt des Vogels in einem warmen Aufblitzen fallen. Gelangweilt zupfte er eine letzte, einsame Feder aus seinem schwarzen Fellkragen und ließ sie nachlässig vom Wind hinforttragen, ehe er sich an Kōhei wandte. „Ich begreife nicht, aus welchem Grund mein Vater euch nicht längst eine seiner vielzähligen Töchter aufgezwungen hat. Ihr seid ein hervorragender Lehrer und bei Euren Soldaten teils beliebter als deren Eltern. Als Familienvater würdet Ihr ein passables Bild abgeben – wenn Ihr nicht immer noch Eurer westlichen Schönheit nachtrauern würdet.“

Kōhei verspannte sich augenblicklich. Da war es wieder. Das Gefühl von diesem Mann in Einzelteile zerlegt zu werden wie ein geschlachtetes Schwein. Jedes Wort war Hohn und Spott, Klinge und Salz. Diese Eigenart, alte Wunden bis zu den Adern neu aufzureißen, hatte Kōhei in den vergangenen Jahren nicht eine Sekunde vermisst. Im Gegenteil. Seine letzten Erfahrungen mit der Fürstenfamilie hatten es vermocht, ihm den Hof endgültig zu verleiden.Verbittert hob er den Blick.

„Und Ihr? Wie steht es um Euer auferzwungenes Familienidyll?“

Saburō schenkte ihm die Andeutung eines schiefen Lächelns: „Oh? Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr je den Mut aufbringt, nach mir zu schnappen.“

Kōhei stieß ein Schnauben aus. Es sah ihm in der Tat nicht ähnlich, seinen Stand derart zu vernachlässigen und sich auf Augenhöhe mit dem Erben seines Herrn zu begeben.

Lange hatte er sich gefragt, wie er ihm wohl gegenübertreten sollte, wenn sie erneut aufeinander trafen. Ihre gemeinsame Reise ins Chūgoku-Gebirge, die Ereignisse am südlichen Hof und Saburōs Verrat am Fürsten, den Kōhei zu allem Überfluss verdeckt hatte, hatten so viele Unklarheiten aufgeworfen und Barrieren niedergerissen, dass der General des Südens nicht zu sagen vermochte, wo sein Platz in diesem Chaos war und wo er sich selbst sah. Er wollte nicht sterben, so viel war sicher, aber mittlerweile wusste er nicht mehr, wie er das zwischen diesen beiden Wahnsinnigen bewerkstelligen sollte – und Saburō wäre nicht Saburō gewesen, wenn er zu der ohnehin verfahrenen Situation nicht noch etwas Groteske hätte hinzufügen können:

Er ließ sich durch Kōheis Schmähung nicht etwa reizen, sondern lockerte stattdessen die gestrafften Schultern und fuhr sich mit der Hand durch den Nacken, als könne er die hohe Stellung eines Erben für jedermann sichtbar abstreifen.

„Da Ihr die Offenheit besitzt zu fragen: Es ist genauso widerwärtig wie Ihr vermutet.“

Kōheis Mund wurde trocken, als ihm bewusst wurde, dass Saburō seine Anmaßung als Einladung aufgefasst haben mochte, Vertraulichkeiten auszutauschen – und die tatsächlich dankend annahm. Die Vermutung erhärtete sich dramatisch, als sich der Silberfuchs mit verschränkten Armen an die Buche lehnte, auf der er eben noch gesessen hatte und fortfuhr: „Meine Mutter habe ich seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Seit Akemi wieder schwanger ist, darf sie zumindest unsere Gemächer im Beisein ihrer Mutter verlassen, um in den Gärten spazieren zu gehen, aber auch dann sind Palastwachen bei ihnen und er wird nicht müde, mich daran zu erinnern, dass sie mit ihr ebenso verfahren werden wie mit Hiromi, wenn ich auch nur einen falschen Atemzug tue. Auf den Ratsversammlungen führt er mich vor wie einen Welpen, dem er erfolgreich die Zunge herausgeschnitten hat und prahlt mit seiner bezaubernden, jüngsten Enkelin.“ Ein Nerv in Saburōs ansehnlichem Gesicht zuckte gefährlich, als er von seiner Tochter sprach. „Eine Drohung. Nichts weiter. Ich sehe meine Tochter nur von Weitem. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie versteht, wer ich bin.“

Aus der Ferne hatte Kōhei von der Geburt des Mädchens gehört und seine Glückwünsche anstandshalber über einen Boten vermitteln lassen. Die Weisung des Fürsten hielt ihn seit nunmehr vier Jahren an den Grenzen des Landes und befreite ihn von der Pflicht, den Herrschaften für derart gesellschaftliche Anlässe aufzuwarten. Er würde lieber die nächsten Jahrhunderte damit verbringen, die Grenzen zu bewachen, als nur einen Tag in diese Natterngrube zurückkehren zu müssen – insbesondere, wenn Saburōs bloße Anwesenheit ihn daran erinnerte, was er alles nicht vermisste.

„Warum erzählt Ihr mir das?“

Saburō hob eine Braue. „Ich habe Eure Frage beantwortet.“

Stellt keine, wenn Ihr keine Antwort wollt, klang es unausgesprochen mit.

„Ihr wisst, wie das gemeint war“, murmelte Kōhei, wütend über seine eigene Dummheit. Spätestens nach dem Gespräch mit Masuko hätte ihm bewusst sein müssen, dass sein Gegenüber dazu bereit war, derlei Fragen zu beantworten – vor allem, wenn es ihm zum Vorteil gereichte. „Wenn Ihr Mitleid wollt -“

„Ich brauche Euer Mitleid nicht. Mitleid bringt mich nicht weiter“, unterbrach der ihn und sammelte abwesend ein Haar von seinem Kimono. Erst jetzt bemerkte Kōhei, dass er ungewohnt hell gekleidet war. Ein Gewirr aus gestickten Blättern und Federn in der Farbe dunkler Eiche bedeckte einen sandbraunen Stoff, der ihm keinesfalls so schmeichelte wie seine übliche, mitternachtschwarze Garderobe mit den herbstlich-roten Ahornblättern. Mit objektivem Blick wirkte er hagerer als vor vier Jahren. Unter dem dünnen Kimonostoff zeichnete sich sein Schlüsselbein ab und die Wangenknochen spannten die blassen Züge seines Gesichtes einen Hauch zu stark.

„Wieso dann?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir sind meilenweit weg vom Palast. Es nimmt ein wenig der Last, darüber zu sprechen. Und es schadet nicht, es Euch zu erzählen. Ihr habt ohnehin mehr gegen mich in der Hand als mir lieb ist – da kommt es auf ein, zwei Informationen auch nicht mehr an.“

„Ihr seid verrückt.“ Die Worte waren über Kōheis Lippen, ehe er darüber nachdenken konnte. „Ihr bringt uns beide noch ins Grab.“

Saburō lächelte matt. „Es gibt ein 'uns'?“

„Spart Euch die Scheinheiligkeit. Ihr habt mich in Euer Himmelfahrtkommando gezogen, als Ihr dem Fürsten diesen Schädel präsentiert habt! Als Ihr Euch geweigert habt, dieser … dieser -!“

„Hexe? Hure? Natter?“

„Frau.“

„Götter, seid Ihr langweilig.“

„Als Ihr Euch geweigert habt, ihr den Kopf von den Schultern zu schlagen!“

„Soweit ich mich erinnere, habe ich Euch nicht darum gebeten, mir zu helfen“, gab Saburō zu bedenken. „Es war Eure Entscheidung meinem Vater dieses Lügenmärchen aufzutischen. Ich danke Euch dafür. Außer Euch hätte er das niemandem so anstandslos abgekauft. Dass Ihr dabei zu Boden gegangen seid, hat sicherlich geholfen. Habt Ihr eigentlich mal einen Gedanken daran verschwendet, ob er Eure Mutter kannte? Das würde einiges erklären.“

„Seid Ihr etwa eifersüchtig?“, zischte Kōhei gefährlich leise und bereute die Frage, sobald sie seinen Mund verlassen hatte. Saburō musterte ihn, als müsse er sich erst darüber klar werden, was er von dem Gedanken hielt. Schließlich sog er die Abendluft geräuschvoll ein. „Vielleicht. Anders herum weiß ich, dass man niemandem um die Aufmerksamkeit dieses Mannes beneiden sollte. Er war aufgelöst, als Ihr zusammengebrochen seid. Er braucht Euch. Das wiederum hat mich fast den Kopf gekostet. Irrsinnigerweise dachte er wohl, ich hätte Euch Leid zugefügt. Er hat nicht verstanden, dass Ihr den Anblick seiner Abscheulichkeiten nicht ertragen habt. Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch durch etwas anderes als eine Waffe zu Boden gehen zu sehen.“

Kōhei ballte die Fäuste. „Wenn Ihr mich verspotten wollt -“

„Mitnichten. Ihr habt Sie geliebt. Ihr liebt den Jungen. Das ist etwas, das er nie verstehen wird – oder verzeihen.“

Elender, besserwisserischer Bastard! Jede Sehne seines Körpers spannte sich schmerzhaft an, während das Blut durch seine Adern rauschte und so laut in seinen Ohren pochte wie seit der letzten Schlacht vor unzähligen Jahrzehnten nicht mehr. Er erwischte sich dabei, wie er Saburō taxierte und seine Schwächen abzuschätzen begann. Wie er sich fragte, was von all dem Lächeln, Possen und der Scharfzüngigkeit bliebe, wenn er erst einmal mit ihm fertig war. Er war nicht wegen seiner väterlichen Führungsqualitäten zum Kommandanten dieser Armeen gemacht worden und ein hungriger, uralter Teil von ihm wollte herausfinden, ob der Sohn des Fürsten einen würdigen Gegner abgab, während er ihn in Stücke riss. Ihn und seine unerträgliche Überheblichkeit. Nur mit viel Mühe fasste er sich wieder, suchte seine Stimme auf das Sprechen zu fokussieren und eine Haltung zu wahren, die zivilisiert wirkte. Erhaben und zurückhaltend. Seiner Stellung entsprechend.

„Was zur Hölle wollt Ihr von mir?!“ Es war ihm nicht gelungen, die Unruhe aus der Stimme zu nehmen, die Abneigung und die Wut darüber, dass er sich erdreistet hatte, seine Fehler bloßzustellen. Ihn verletzlich zu machen. Wegen Reika und des Jungen.

Saburō war nicht dumm genug, das Raubtier zu übersehen, das hinter den smaragdgrünen Augen lauerte. Offensichtlich wusste sogar er, dass es einen Punkt ohne Rückkehr gab. Dass er es sich auf immer mit ihm verderben würde, wenn er ihn nun mit der üblichen Schärfe anstachelte.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Kōhei. Ich drohe Euch nicht.“

„Das will ich Euch auch geraten haben“, knurrte Kōhei bitter und strich seinen Kimono glatt, der unter seiner schwelenden Aura Falten geworfen hatte. „Was also wollt Ihr hier?“

„Ich mieme den Botenjungen für Euch“, erwiderte Saburō. „Mein Vater hält Euch seit unserem gemeinsamen Abenteuer vom Hof und von mir fern – einen Abstand, um den ich Euch beneide –, aber Ratsversammlungen ohne den General abzuhalten ist schlicht dämlich.“

„Yuto vertritt mich in diesen Angelegenheiten.“

„Yuto ist ein unselbstständiger Narr. Er weiß um die Truppenstärken und kann besonders hübsch nicken, aber in Sachen Taktik, der Organisation des Heeres und politischen Entwicklungen hat er weniger Ahnung als mein Pferd. Jedes Notizblatt könnte ihn ersetzen.“ Er machte eine verwerfliche Handbewegung. „Ebenso den Großteil dieser senilen Böcke. Sie sind sicher passable Unterdrücker ihrer Provinzen, aber Entscheidungen für das Reich trifft kaum einer von ihnen. Insbesondere, wenn er selbst einen Nachteil daraus ziehen könnte oder etwas riskieren müsste.“

Es war nichts neues, dass die Produktivität der Sitzungen daran scheiterte, dass jeder seinen eigenen Interessen den Vorzug gab. Es lag nun einmal in der Natur eines Yōkais – und vielleicht auch der Menschen – erst einmal eine ganze Weile an sich zu denken, bevor der verstörende Gedanke fremder Existenzen und Bedürfnisse den Verstand belästigte. Fürst Hayato hatte jedoch ohnehin nie viel auf das Geplänkel des Rates gegeben und nutzte die regelmäßigen Treffen vorzugsweise dafür, die Provinzvertreter daran zu erinnern, wer ihr Herr war. Wenn er es besonders weit treiben wollte, bedachte er die unbedeutende Meinung des Einzelnen mit einem Hauch von Anerkennung – und lenkte damit für den Rest der darauf folgenden Wochen das Hauptaugenmerk der Ratsmitglieder darauf, wer von ihnen wohl am höchsten in der fürstlichen Gunst stand, während er ohnehin tat, was ihm beliebte. Saburō wusste das. Ausgeschlossen, dass er den Rat für etwas anderes hielt als eine reine Machtdemonstration seines Vaters. Doch er machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihm dieser Umstand missfiel.

„Was ist so wichtig, dass ihr Euch persönlich zu mir bemüht?“, erkundigte Kōhei sich trocken, ehe sie sich in Schmähungen des Rates verloren.

Die Miene seines Gegenübers wurde ernst. „West und Ost ziehen ihre Truppen zusammen. Innerhalb der nächsten Tage werden wir wissen, ob die Drachen und Panther unsere vierjährige Untätigkeit vergelten oder sich der Inu no Taishō gen Süden wendet. Die meisten würden wohl auf die Drachen setzen. Was bedauerlich ist, da unsere teure Hundedame dabei nicht im Geringsten von Vorteil wäre.“

„Sesshōmaru hat einen Weg gefunden, die Drachen zu töten?“ Inständig hoffte Kōhei, dass die Antwort nicht so ausfiel wie er befürchtete. Dass es keine reine Verzweiflungstat war, kein Frontalangriff, ehe sie ihn ehrlos überrannten und seine Ländereien in ein Schlachthaus verwandelten. Als Saburō nichts erwiderte, wurde die Hoffnung schal.

„Er hat seinen Generalleutnant zu sich gerufen. Der Mann hat in seiner Abwesenheit über Jahrzehnte seinen Hof geführt. Seit Verschwinden des Jungen wird er als der einzig denkbare Nachfolger gehandelt.“

„Möglich, dass er genau diesen Eindruck beabsichtigt, der sich dabei aufdrängt.“

In Saburōs Mundwinkel schlich sich ein Schmunzeln: „Ihr habt mir wirklich gefehlt, General.“

„Ihr mir nicht.“

Das Schmunzeln wurde zu einem schiefen Grinsen, ehe es erstarb. „Möglich, dass er verzweifelt wirken will. Es sieht ihm zwar nicht ähnlich, mit dem Gegner zu spielen, aber genauso unwahrscheinlich ist es, dass ausgerechnet er seine Männer in einem letzten Aufbegehren verheizt. Nicht nach nur vier Jahren. Die Inu haben Biss – und mehr hinter ihren Mauern als Klingen und Bögen. Bedauerlicherweise weiß niemand im Rat von Akaya und sofern mein werter Vater begreift, auf was er sich damals eingelassen hat, kann er es ausgezeichnet verbergen. Sie sind lediglich alle beunruhigt, dass dieser Sadoaner an die Seite seines Herrn marschiert.“

„Was erwartet der Fürst, dass ich nun unternehme?“

„Ihr sollt einen Teil der Armee in die neutrale Zone überführen und mit ausgewählten Kriegern den Schlachthergang auf Feindgebiet verfolgen.“

„Um mich opportunistisch auf die Seite des Siegers zu schlagen.“

Kōhei war nach Schnauben zumute, aber er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Saburōs Miene verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln: „Aber, aber Kōhei. Ihr werdet doch kein ehrbares Manöver erwarten. Dafür dient Ihr im falschen Heer.“

„Das ist mein Heer. Meine Männer sind ehrbar und loyal. Wir werden den Anweisungen des Fürsten Folge leisten. Wenn er von uns verlangt, die Initiative erst zu ergreifen, wenn der Ausgang absehbar ist, werden wir gehorchen. Ich muss allerdings meine Besorgnis anklingen lassen: Ein spätes Eingreifen wird den Osten aus meiner Sicht nicht zufriedenstellen.“

„Wie? Glaubt Ihr etwa, die Drachen werden nicht erfreut sein, wenn ihre lang angeforderte Verstärkung erst aus den Löchern kriecht, wenn man sie nicht mehr braucht?“, er lachte herb. „Möglich.“

Eher unausweichlich. Die Panther hatten sie anfangs wiederholt zum Kriegseintritt aufgefordert. Anschließend war noch einmal ein Schreiben an den Hof gebracht worden, das von Shisuna, dem sandfarbenen Scheusal, höchstselbst unterzeichnet worden war und keinen Zweifel daran gelassen hatte, was er davon hielt, dass man ihm nur Ausflüchte und halbherzige Zugeständnisse entgegenbrachte. Danach war es verdächtig ruhig geworden. Auch wenn die Drachen siegten, würde der Westen ihnen empfindlichen Schaden zufügen. Schäden, die die untoten Kreaturen nachweislich nur mit dem Leben anderer wieder auszumerzen vermochten. Der Osten war Berichten zufolge nun fast menschenleer, große Teile der neutralen Gebiete ebenfalls gebrandschatzt worden. Sie würden sich über die kläglichen Reste der Inu hermachen, um ihre Wunden zu tilgen – und sich dann gen Süden wenden.

Nachdenklich betrachtete Kōhei die untergehende Sonne. „Der Westen ist unklarer. Sie haben uns nie um Beistand ersucht, das widerspricht ihrem Stolz. Vielleicht würden sie die Hilfe kommentarlos dulden, aber Sesshōmaru wiegt nicht den einen Beistand mit der anderen Schmähung auf. Er wird Vergeltung für seinen Sohn fordern. Für Reika, wenn er je die ganze Wahrheit erfährt. Er wird ungebetenen Kriegsbeistand niemals als Wiedergutmachung akzeptieren. Solche Schulden werden nur mit Blut beglichen.“ Kōhei verstummte, als er über die Bedeutung seiner eigenen Worte stolperte. Er sah zu Saburō. Der schwieg. Es war das erste Mal, dass der verdammte Silberfuchs nichts sagte, kein Lächeln andeutete. Seine Augen waren unergründlich tiefe Teiche flüssigen Bernsteins. Millionenjährige Gefängnisse bedeutungsloser Insekten. Insekten wie ihm, die in den höfischen Intrigen umhergeschoben wurden wie Figuren auf einem Spielbrett. Er hatte stets gewusst, dass die Verwicklungen mit dem Westen sein Ende bedeuten würden. „Deswegen seid Ihr hier“, sagte er schließlich bitter, „um einem Totem aufzuwarten. Ich hoffe, das Amüsement ist nach Eurem Geschmack.“

„Im Gegenteil, mein General. Ihr könnt nicht einfach sterben.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück