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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte dieses Vorwort nutzen, um euch einige Dinge vorzustellen, die das Verständnis des Kapitels und die FF im Allgemeinen ein wenig erleichtern sollen. Das wird unter anderem nötig, da eine fortlaufende FF im Gegensatz zum fertigen Buch für mehr Lesepausen und damit Lücken sorgt...

1. Karte: Zum besseren Verständnis dieses Kapitels habe ich eine Karte von Japan etwas abgeändert. Ich hoffe, das hilft, die Grenzen besser nachzuvollziehen.
2. Glossar: Ich benutze für gewisse Dinge gern die japanischen Begriffe bzw. die Canon-Ausdrücke. Damit die Texte dennoch nachvollziehbar bleiben und man die Begriffe - alle Mächte bewahret! - nicht googeln muss, sind sie auch im Glossar zu finden - ebenso wie eine Sammlung der Karten (s. Altas).
3. Charaktere: Die Charaktere findet ihr in der Charakterliste - nach Erscheinung geordnet! Wer sich also nicht selbst spoilern möchte, scrollt am besten nicht fröhlich durch! ;)
4. Rückblick: im Vorwort eines jeden Kapitels findet ihr eine möglichst knappe Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse, damit ihr auch nach längerer Pause / Warten auf das neue Kapitel fließender in den neuen Inhalt eintauchen könnt.

Ich hoffe, damit habe ich etwaigen Fragen vorgegriffen. Wenn doch etwas unklar sein sollte, bitte einfach melden. Ich versuche dann für Klarheit zu sorgen. =)
Eure Silberfrost


Was bisher geschah ...
Entgegen aller Zweifel kann sich Takeru, entlaufener Erbe der nördlichen Ōkami, dazu durchringen, die Heimreise gen Norden anzutreten, wo sein Volk in einen Kampf mit Nachbarn verwickelt worden ist.
Minoru begleitet ihn. Komplett anzeigen

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das ich einst zurückließ (neu)

Sie hatten den Winter im Hochland des Nantai verbracht. Dichte, abgelegene Wälder voller Sikawild und Makaken, die sich an den heißen Quellen tummelten, welche in großer Zahl an die Oberfläche traten.

Im Westen des Gipfels lag weitläufiger Weidegrund für die Herden, die im Frühjahr aus den Hochlagen hinabstiegen, um auf den satten Lichtungen zu grasen und ihre Kräfte zu messen. Südlich schloss sich eine große Wasserfläche an. Zu- und Ablauf waren jeweils Wasserfälle, die sich aus halsbrecherischer Höhe in den See ergossen, den man mit ausreichend Mut und einem Hang zum Unnötigen an den schmalen Stellen sicher hätte durchschwimmen können. Aber derlei überließ Minoru lieber anderen, egal wie oft Takeru ihm auch in den vergangenen Monaten mit dem Vorhaben in den Ohren gelegen haben mochte. Durch den Erkundungsdrang des Wolfes wussten sie nun immerhin, dass man den Grund des Sees nur in unmittelbarer Ufernähe erreichen konnte – nicht dass Minoru diese Information in seinem bisherigen Leben vermisst hätte.

Das bewaldete Hochland grenzte im Norden an den Vulkan und bestand aus einer Vielzahl einzelner Berggipfel mit Hängen, Schluchten und Tälern voller Geröll. Wenn der Schnee hoch lag, wagte sich kein Mensch auf die abschüssigen Pfade oder auch nur in das gefrorene Unterholz.

Es gab schlechtere Orte, um die kargen Jahreszeiten zu verbringen und Minoru hatte ein oder zwei erleben müssen, ehe er im vorletzten Frühjahr dem weithin sichtbaren Gipfel des Vulkans in die Berge gefolgt war.

Seither war es ihm verhältnismäßig gut ergangen und abgesehen von einigen unerfreulichen Gedankenspielen hatte er sich nicht vorstellen können, dieses Gebiet jemals wieder zu verlassen – zumindest nicht freiwillig. Da hatte er aber auch nicht damit gerechnet, je mit einem Wolf über den Sinn und Unsinn von Großwildjagd debattieren zu müssen.

Das Leben war eben nicht einmal im Groben so planbar, wie er es gern gehabt hätte, und so hatten sie sein Refugium schon vor Tagen zurückgelassen.

In den Hochlagen, in denen Nässe und Frost an den Hängen ein gefährliches Wechselspiel vollführten, hatte sich ausgezahlt, dass Takeru seine Kindheit in den unwegsamen Bergen des Nordens verbracht hatte. Der Wolf hatte ein Gespür für trittsichere Pfade und war für seine Verhältnisse wenig waghalsig gewesen, was Umwege anbelangte. Trotzdem waren sie gut vorangekommen; waren aus dem Hochland unentwegt hinabgestiegen in besiedelte Landschaften mit vereinzelten Bauernhöfen und Feldern.

Hier jedoch bereitete Takerus Anblick absehbare Probleme. Ein Wolf war unter Menschen nicht gern gesehen. Erst recht kein Ōkami. Glücklicherweise waren die meisten unfähig, das eine vom anderen zu unterscheiden, sonst hätte man ihnen binnen Stunden einen Priester oder Mönch auf den Hals gehetzt, die sich dummerweise zu einer echten Bedrohung entwickeln konnten. Doch die Menschen waren blind für die deutliche Aura, die ihn umgab und sahen lediglich den Wolf, der Erinnerungen an Übergriffe auf Reisende oder ganze Dörfer wach rief. Die waren zwar mittlerweile selten geworden, aber allein das Andenken würde sicher noch einige Jahrhunderte für Abscheu sorgen, auch wenn die Menschen dann längst nicht mehr wussten, dass es auch hier Dämonen gewesen waren, die die Rudel in ihre Mitte geführt hatten.

Einen gewöhnlichen, weißen Hund hingegen verdächtigte kaum ein Bauer eines bösen Gedankens. Die hegte Minoru im Grunde auch nicht, doch wenn Takeru ihn noch weiter dazu anstiftete nahe der Dörfer und Felder zu laufen, um die Gespräche der Bewohner zu belauschen, konnte er nicht garantieren, dass der Wolf am Ende dieser Reise mit zwei Ohren im Norden ankam.

Es gab kaum etwas, das Minoru mehr verabscheute, als auf Kniehöhe in der Nähe von Menschen herumzulaufen. Ihr Geruch war eine beißende Mischung aus Erde und Schweiß, überlagert von dem Vieh, das sie hielten, und dem Räucherwerk ihrer Schreine. Wenn jedoch schon weiter südlich die Männer von einem Krieg zwischen den Dämonenstämmen sprachen, konnten sie nicht wählerisch sein. Takeru mochte es um Neuigkeiten über seine Familie gehen, aber Minoru hatte in erster Linie keine Lust, blindlings zwischen die Fronten zu stolpern. Sie mussten also an Informationen abgreifen, was sich darbot.

Wo bauten sich Fronten auf? Waren Wege blockiert? Hatte ein Feudalherrscher angekündigt, Soldaten einzuziehen und sich in die Auseinandersetzung zwischen Panthern und Wölfen einzumischen?

Das menschliche Interesse an den Grenzen der Yōkai war unnennenswert gering. Es ging um dasselbe Land, dieselben Flüsse und Berge, aber die Kriege der Fraktionen Mensch und Dämon liefen in zwei Welten pausenlos aneinander vorbei. Die jeweiligen Grenzverläufe so auf eine einzelne Karte zu zeichnen war für den praktischen Gebrauch beider Seiten nutzlos und hätte vermutlich auch den Möglichkeitsrahmen eines gewöhnlichen Kartographen gesprengt. Dennoch wussten die Menschen, neugierig und schnatternd wie sie nun einmal waren, oft genug, was auf der anderen Seite der Karte geschah – und obwohl sie auch nicht im Detail verstanden, warum sich die Yōkai wieder die Köpfe einschlugen, so merkten sie doch, dass einige Gebiete schlecht passierbar waren oder bibberten, wenn ihr arroganter Daimyō seine Männer hinaus sandte, um aus einem der Kriege, die ihn nichts angingen, doch Profit zu schlagen – und sei es nur der Kopf eines Dämons, der als Trophäe gut in seine Burg passte.

Nach allem, was er bislang aufgeschnappt hatte, hatten die Großkatzen erst kürzlich einen heiß umkämpften Ausläufer des Ōu-Gebirges, den Kamuro, eingenommen und die Wölfe damit tiefer ins Gebirge gedrängt. Angaben, mit denen Takeru hoffentlich etwas anzufangen wusste. Darüber hinaus hatte ein Daimyō sich einen Namen machen wollen und eine Splittergruppe der siegreichen Panther nahe des Gebirgszuges angegriffen, als er sie nach der Schlacht verletzlich wähnte – mit zu erwartendem Ausgang. Unter Menschen mochte man sogar noch mit der Enthauptung eines bereits niedergestreckten Dämons prahlen können. Allerdings war es ratsam, vorher zu prüfen, ob der auch wirklich tot war. Sich einem gerüsteten Trupp zu nähern war da gelinde gesagt grenzdebil und bereits jetzt stritt man sich, wie der Name des armen Irren gelautet haben mochte, den man Tage später in Einzelteilen flussabwärts gefunden hatte.

Minoru machte sich nichts vor: Die Informationsbeschaffung in der Nähe der Menschen war lästig, aber vergleichsweise sicher. Natürlich waren vernunftbegabte, hochgestellte Yōkai über die politische Lage im Norden besser im Bilde als die Bauern auf ihren Feldern, aber Minoru wäre dennoch nie eingefallen sich einem von ihnen auch nur zu nähern. Im Gegensatz zu den Menschen, vor denen er ohne weiteres als Hund durchging, würde er einen erwachsenen Dämon weder täuschen können noch hätte er ihm ernsthaft etwas entgegenzusetzen. Seit Jahren ging er jeder Begegnung mit ihnen aus dem Weg, zog sich zurück, sobald er das Yōki, die Aura eines anderer Dämonen, wahrnahm und hoffte, dass er nicht bemerkt worden war.

Bei Takeru war das anders. Der Ōkami war zwar nicht viel älter als er, aber im Gegensatz zu Minoru hatte er in seinem kurzen Leben bereits eine Ausbildung genossen, die ihn zwar zu keinem gefährlichen, aber einem durchaus wehrhaften Gegner machte. Für Minorus Geschmack war der Wolf aber oft zu hitzköpfig und ohne größeres Hadern am Feind, während er selbst noch abwägte, ob ein geordneter Rückzug nicht vielleicht die gesündere Alternative war. Hatte er früher Auseinandersetzungen gemieden, blieb ihm heute oft keine andere Wahl als seinem Begleiter zu folgen und ebenfalls zum Angriff überzugehen. Dämliche, heißblütige Wölfe.
 

Als sich am westlichen Himmel die sinkende Sonne hin und wieder durch die Wolkendecke erahnen ließ, beendeten die Bauern ihre Feldarbeit und auch Minoru kehrte zu Takeru zurück, der ihm im Schutz des naheliegenden Waldes gefolgt war. Ungewöhnlich wortlos lauschte er dem Bericht, während sich sein Pelz sträubte, als habe man ihn in einen Herbststurm gestellt.

„Sie verlieren“, sagte er schließlich ernst. „Die Panther drängen sie zurück.“

„Was bedeutet zurück?“

„Zurück hinter unsere Grenzen. Tiefer in die Berge.“

Minoru dachte nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Es sind eure Berge. Der Winter im Norden ist härter und länger. Wenn das Gelände auch nur halb so unwegsam ist wie in den letzten Tagen, ist es klug, tiefer in die Berge zu gehen und sie auf bekanntem Gebiet zu erwarten.“ Auch wenn das beruhend auf seinen zugegeben begrenzten Erfahrungen nicht nach der Taktik eines Wolfes klang. „Für uns ist es jetzt wichtiger, wie wir zu ihnen kommen, ohne durch ein Heer aus Großkatzen marschieren zu müssen.“

„Wo du von Strategie sprichst... es wundert mich, dass sie gerade den Kamuro eingenommen haben“, sinnierte Takeru. „Zu ihren Ländereien ist er kaum zugänglich. Selbst wenn es nur die Ausläufer sind, kann man ihn mit einer Armee kaum begehen ohne schon vorher in unseren Bergen herumzuirren. Von Westen ist es viel direkter, aber den Weg werden sie nicht genommen haben. Der Inu no Taishō hat die Gebiete südwestlich des Ausläufers vor einigen Jahren übernommen und niemand will dem auf die Füße treten.“

„Von euch übernommen?“, fragte Minoru nachdenklich, dem nicht gefallen wollte, dass die Chance bestand, einer weiteren Armee zu begegnen, die sich am Krieg der anderen Parteien bereichern wollte – sicher deutlich erfolgreicher als ein einsamer, närrischer Daimyō.

„Nein, Echigo und Uzen gehörten mal zum Westen, sind nach dem Tod des letzten Fürsten an irgendwelche marodierenden Kleinvölker gefallen und wurden nun wieder eingegliedert. Natürlich haben meine Eltern an der Grenze aufmarschieren lassen, aber er hat sich nicht für uns interessiert. Nicht mal genug, um die Drohung wahrzunehmen. Mein Vater hat tagelang vor Wut gekocht.“

„Wenn die Berge von Osten aus so schwer passierbar sind, wie du sagst, sollten wir dennoch in Erwägung ziehen, dass die Panther über den Westen gekommen sind“, gab Minoru zu bedenken.

Und wenn das zutraf, fielen sie nicht mehr über ihren Boden ein. Die westlichen Länder standen unter der Herrschaft des Inu no Taishōs, dem Fürsten der Hundedämonen. Neutralen Boden zu überqueren, um in ein anderes Land einzufallen, galt auch unter Yōkai nicht gerade als höfliche Art Krieg zu führen. Minoru fehlte allerdings der Patriotismus, der in jedem anderen Inu vermutlich den Hass hätte hochkochen lassen. Er stammte nicht aus dem Westen und hatte vor dieser Reise auch nicht geplant, je wieder einen Fuß auf deren Ländereien zu setzen. Schlimm genug, dass er sie einmal hatte durchqueren müssen, um in die neutrale Zone zu gelangen, die um den Nantai und die gesamten Ebenen bis zum Meer lag - ein Gebiet, das aufgrund des fruchtbaren, flachen Bodens vorwiegend von Menschen besiedelt worden war. Es war ein Wagnis gewesen; dass die Inu ihn nicht erwischt hatten reine Glückssache, aber es hatte geholfen, möglichst viel Wegstrecke zwischen ihn und den Süden zu bringen. Jenseits der Ebenen gab es jedoch laut Takeru keinen neutralen Boden mehr, der sie hätte schützen können. Alles bis zum Territorium seiner Eltern gehörte entweder Panthern oder Inu, also blieb ihnen nichts anderes übrig als durch den Westen zu wandern, wenn sie die Heere der Katzen meiden wollten.

Dennoch waren die Neuigkeiten der Bauern nicht völlig schlecht. Zwar hatten die Wölfe einen Teil ihres Gebietes einbüßen müssen, aber wenn die Panther bestehende Grenzen mit Füßen traten, rückte die Gefahr einer Koalition zwischen ihnen und den Hunden zumindest in weite Ferne. Das letzte, das sie brauchen konnten, waren zwei Heere, die ihnen den Weg nach Norden versperrten.

Takeru schien einen ähnlichen Gedanken verfolgt zu haben, war jedoch offenbar zu einem anderen Schluss gekommen. Die Art, wie er ihm den ein oder anderen Seitenblick zuwarf und die Ohren drehte, missfiel Minoru zusehends.

„Was ist?“

„Wie kann ein Inu nicht wissen, bis wohin seine Grenzen gehen? Dein Volk ist der militanteste Haufen unter der Sonne. Ich dachte, ihr lernt sowas in Kinderreimen.“

Minorus Pfoten versanken tiefer in dem Schlamm, als er schweigend weiterging und sich mühte, das Fell nicht aufzustellen.

Takeru legte die Ohren an und trabte angesäuert näher: „Komm schon. Du weißt alles wichtige über mich!“

„Dann redest du offenbar zu viel“, gab der Hund knapp zurück, bauschte die Rute über dem Rücken auf und verlängerte seine Schritte. Bis der Schlamm aus den Pfützen an seinem weißen Fell empor spritzte und es fleckig wurde, wie das Gefieder einer jungen Drossel. Das war typisch Takeru. Er stellte fest, dass über ein bestimmtes Thema nicht gesprochen wurde, fragte aber dennoch nach, statt einfach davon auszugehen, dass man darüber kein Wort verlieren wollte.
 

Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Nördlich der Bauernhöfe begann die Landschaft erneut steil anzusteigen und nach Sonnenuntergang waren sie noch weit davon entfernt, den Kamm zu erreichen. Takeru hatte trotz fortgeschrittener Stunde und schwierigem Untergrunds das Tempo angezogen. Die Nachrichten über die Geschehnisse an der Grenze beschäftigten ihn und so ungern es Minoru auch zugab, wurde es schwierig, mit dem Wolf mitzuhalten.

Er war durchaus ein ausdauernder Läufer und körperliche Anstrengung gewohnt, aber Takeru legte auch in der Steigung eine Geschwindigkeit an den Tag, die Minoru allmählich zu schaffen machte.

Als er noch mit der Überlegung beschäftigt war, ob sie nun lagern oder doch bis spät in die Nacht den Berg erklimmen sollten, um es am nächsten Morgen einfacher zu haben, ließ Takeru sich zu ihm zurückfallen.

„Weißt du...“, begann er nach einer Weile. „Wenn wir an der Grenze sind, kannst du gern mit mir kommen. Wenn sie mich wieder aufnehmen, dann nehmen sie auch dich auf und wenn sie mich fortjagen, können wir zusammen weiterziehen.“

Minoru warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu, sagte aber nichts. Takeru fuhr fort: „Du bist jünger als ich und dazu noch länger allein unterwegs. Nicht, dass du allein-“

„Meine Eltern sind nicht tot, wenn du das denkst“, unterbrach Minoru seinen Mitleidston.

„Dann bist du weggelaufen? Warum hältst du mir dann Vorträge über Pflichtgefühl?“

„Ich habe dir keine Vorträge gehalten, ich habe eine Frage beantwortet.“

Ein Regentropfen fiel auf seine Nase, dann noch einer und Sekunden später ergoss sich ein Landregen über ihnen, der das Geröll zu ihren Pfoten den Hang hinab schwemmte. Beide seufzten fast gleichzeitig darüber auf, ehe sie unter einem Felsvorsprung Zuflucht suchten. Dichtes Unterholz gab es hier nicht und auf die Schnelle würden sie auch keinen Dachsbau für die Nacht finden.

Missmutig starrte Minoru in die Nacht hinaus, die Nase nur wenige Zentimeter von dem Wasserfall entfernt, der über die Kante ihres Unterschlupfes strömte. Takeru hatte sich neben ihm möglichst platzsparend eingerollt und sah aus, als plane er einen Mord am Wetter selbst.

„Meine Mutter ist eine Inuyōkai aus dem Westen“, begann Minoru schließlich. „Sie hat ihre Heimat für einen Fuchs verlassen und ist zu ihm in den Süden gegangen. Den Westen hat sie seither nie wieder betreten und ich werde es auch nicht tun. Nicht mehr als nötig jedenfalls.“

„Dein Vater ist ein Kitsune?“, Takeru stellte die Ohren auf und sah ihn ungläubig an. „Du siehst nicht einmal im Dunkeln nach Fuchs aus.“

„Mischlinge schlagen nach der Mutter“, zitierte Minoru widerwillig. „Hat irgendwas mit Übertragung dämonischer Energien zu tun oder so ein Blödsinn. Ich habe nicht viel von ihm.“

Kitsune waren Gestaltwandler, ebenso wie Katzendämonen aller Art, aber von der Mentalität ein anderer, gerissener Schlag, der derbe Späße auf Kosten anderer oder Hinterlist zu seinem Vorteil nutze. Minoru war weder hinterlistig noch spaßig – zumindest seiner Ansicht nach.

Als der Wolf amüsiert schnaubte, sah er verdutzt auf. „Und ich hab' mich schon gefragt, wie du auf die Sache mit den Oni gekommen bist! Das war viel zu amüsant für deine Verhältnisse.“ Dann wurde er ernster. „Dann kannst du nicht Gestaltwandeln?“

„Wie ein Kitsune? Nein.“

Takeru beäugte ihn eindringlich, wägte seine Antwort ab und hakte doch nicht weiter nach. Minoru verstand sehr wohl, ließ sich aber auch nicht dazu bewegen, die Unklarheit zu beseitigen. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass sein einziges Erscheinungsbild jenes war, das Takeru bislang kennengelernt hatte: Ein mittelgroßer, spitzähnlicher Hund mit drahtig-weißem Fell, spitzen Ohren und einer sichelförmigen Rute an deren längeren Haaren sich ständig irgendwelcher Dreck verfing. Unabhängig von der Wahrheit oder der Formulierung des Wolfes wäre die Frage eine Beleidigung gewesen – entweder ein Hinweis auf seine Unzulänglichkeit oder aber ein Zweifel an seinen Fähigkeiten.

„Na ja“, meinte er schließlich, „vermutlich ist das einfach so. Ich schlage eher nach meinem Vater und du eben nach deiner Mutter.“

Minoru machte irgendein zustimmendes Geräusch, das auch nicht gerade zufrieden klang und legte den Kopf auf den schlammigen Pfoten ab. Für eine Weile kehrte wieder Ruhe ein, dann, ohne ihn anzusehen, ergriff Takeru erneut das Wort.

„Meine Eltern haben mich einem Mädchen aus einem anderen Stamm versprochen. Um Konflikte unter den Wölfen zu vermeiden und Allianzen zu knüpfen. Außerdem schütze es das Rudel, wenn ich jetzt schon eine Verlobte hätte und die Fronten für alle damit geklärt seien. Ich habe versucht mit ihnen zu reden, als ich davon erfahren habe, aber die Angelegenheit war geklärt und offensichtlich unumkehrbar. Es werden Jahrhunderte vergehen, bevor ich sie heiraten muss, aber allein zu wissen, dass ich nie die Wahl haben werde, macht mich wütend.“

Minoru hob den Blick. Der Wolf versuchte sonst oft genug ihn zu necken, zu einer offeneren Grundhaltung zu motivieren, aber ernst war er selten.

„Das Mädchen werde ich immer noch heiraten müssen, wenn ich jetzt zurückkomme. Mit dem Unterschied, dass man ihr gesagt haben wird, dass ich ihretwegen fortgelaufen bin. Das will auch niemand hören. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich sie mögen werde oder nicht. Vielleicht habe ich ja gar nichts gegen sie.“

„Ich verstehe.“ Hatte er nicht eben noch behauptet, Minoru wisse alles nötige über ihn?

„Manchmal möchte ich einfach nur ein nichts bedeutender Irgendwer sein. Die haben auch ihren Kummer, aber ihre Entscheidungen betreffen nicht sofort das ganze Rudel. Meine Eltern haben ja auch nicht Unrecht. Jeder weiß, dass ein lediger Erbe für allerhand Aufruhr sorgt. Man muss sich nur den Inu no Taishō ansehen. Dennoch hätten sie wenigstens warten können, bis ich in der Lage bin, meine Meinung zu äußern.“

„Vielleicht übertreiben deine Eltern auch. Der Krieg scheint gerade ohne einen ersichtlichen Grund zu entbrennen – zumal mit Katzen und nicht mit einem anderen Stamm der Wölfe. Während es im Westen trotz des ledigen Erben des Inu no Taishōs ruhig ist.“

„Hm, was?“, Takeru sah ihn verwirrt an. „Der Taishō ist der ledige Erbe. Er weigert sich vehement eine Partnerin zu wählen, dabei ist er schon an die tausend Jahre alt. Du kannst bei ihm nicht mal davon sprechen, dass er hässlich wäre. Ärger wird es geben, wenn er das Zeitliche segnet und bis dahin werden ihn genügend Damen umschwirren – mit übermotivierten Vätern. So eine Position ist begehrt und natürlich entstehen dadurch unnötig Reibereien. Würde er sich endlich mal pflichtbewusst dazu herablassen, wäre seinem ganzen Volk geholfen und auch diesem überdimensionalen Reich, das er aufbauen will. Du hast wirklich erschreckend wenig Ahnung.“

„Meine Mutter hat nie ein gutes Wort über den Westen verloren“, erklärte Minoru. „Sie hat lediglich immer wieder beteuert, wie gut es war, diesen Ort zu verlassen.“

„Wundert mich nicht. Als Frau will man da auch nicht leben. Gerade wenn sie hübsch ist oder einen höheren Rang innehatte. Solche Frauen schlafen unsicher. Die gehen sich im Westen doch gegenseitig an die Kehlen. Völliger Unsinn, wenn du mich fragst. Sesshōmaru scheint ohnehin keine von ihnen zu wollen. Meine Eltern wollen genau das verhindern. Wie gesagt, wenn ich distanziert draufsehe, verstehe ich das. Vielleicht nehmen sie damit auch vorweg, dass ich in einigen Jahren von werbenden Frauen umgarnt werde, die nicht an mir, sondern nur an der Stellung interessiert sind... na ja, wir werden sehen, ob sie mich überhaupt noch einen Fuß in die Höhle setzen lassen.“

„Du scheinst deinen Eltern wichtig zu sein – egal aus welchem Grund. Wenn das und die Angst, zu versagen, deine einzigen Gründe sind, aus denen du gegangen bist, kann sich das möglicherweise wieder einrenken.“

„Dann bist du nicht aus Sorge vor irgendetwas gegangen“, folgerte Takeru.

„Ob ich mit meiner Mutter im Süden sitze oder allein im Schnee erfriere kommt auf dasselbe hinaus.“

„Du stehst wohl nicht besonders gut zu ihr.“

„Nein“, erwiderte er kühl und der Wolf senkte den Blick. Begriff offensichtlich, dass es auch an dieser Stelle sinnlos war, weiter nachzufragen. Es war keine besondere Leistung, zu erkennen, dass es mit seinen Eltern anders stand. Selbst in einer Situation, die ihn von Zuhause fort getrieben hatte, hinterfragte er noch ihre guten Absichten. Darüber hinaus sprach er ständig von ihnen. Von seinem Vater, der das Rudel mit seinem schwierigen Temperament durch gefährliche Zeiten geführt hatte und seiner Mutter, die ihren Mann dennoch in die Schranken weisen konnte. Wenn er ihnen nun nicht beistehen konnte, so geringfügig sein Beitrag auch sein mochte, würde er sich das vermutlich nicht verzeihen können.

„Du solltest ohne mich weiterziehen.“

Takeru riss den Kopf herum und starrte ihn aus grünen Augen an.

„Du bist schneller als ich und hältst dich meinetwegen zurück. Lauf vor. Ich folge dir.“

„Wenn das ein Versuch sein sollte, dich abzusetzen-“

„Nein. Du hast mein Wort. Vielleicht kommen wir getrennt ohnehin besser durch ihre Linien und du bist früher bei deiner Familie.“

Takeru öffnete das Maul, aber Minoru unterband seine Bedenken: „Ich bin schon vor dir allein unterwegs gewesen. Ich komme zurecht.“ Dass es dabei nie darum gegangen war, möglichst schnell von einem Ort zum anderen zu kommen, verschwieg er lieber. Es war eine Sache, durch die Lande zu streichen, und eine ganz andere, dabei die Fährte eines Wolfes nicht zu verlieren.

Der knurrte leise. „Fein. Aber glaub' ja nicht, dass du mir so davon kommst, wenn du dein Wort brichst.“

Minoru konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen: „Was denn? Bis du mich aufgespürt hast, bin ich an Altersschwäche krepiert.“

„Sieh an, wer spricht!“, Takerus Fell sträubte sich im Nacken. „Sollen wir mal sehen, wie du dich beim nächsten ungebetenen Besuch schlägst, der sich dir in den Weg stellt – allein?“

„Ich sagte, du kannst nicht jagen“, entgegnete Minoru ungerührt. „Nicht, dass du gänzlich unnütz bist.“

Der Wolf schnellte vor, zwickte ihm ins Ohr, kassierte einen Pfotenhieb auf die Nase, der nur halbherzig traf und lachte. Minoru streckte sich neben ihm, soweit es der enge Raum zuließ und rollte die Rute über die Nase.

Dass Takeru heil ankommen würde, darüber machte er sich weniger Sorgen. Er war gut ausgebildet und schnell. Über sich selbst wollte er da lieber nicht nachdenken.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Solch Ruhe - noch.
Übrigens, was die Orte angeht: Als Vorlage dazu müssen die historischen Präfekturen herhalten. Wie Minoru schon meinte ist es fummelig, zwei Karten übereinander zu dröseln, deswegen nehmen wir mal die, die es schon gab (s. Link im Vorwort).
Für die Neugierigen: Das umstrittene "Dreiländereck" zwischen Wölfen, Panthern und Hunden liegt zwischen den heutigen Präfekturen Akita (Nord), Miyagi (Ost) und Yamagata (West). Kann man hier auf der Karte rechts super durch die
historischen Provinzen Japans klicken. Ich benutze zwar nicht die heutigen Namen & Grenzverläufe der Provinzen, dennoch ist es eine nette, interaktive Wikipedia-Funktion! =)
Soo, damit habe ich euch sicher fürs Erste auch genug mit Karten gefoltert...^^'
Viel Spaß auch weiterhin! =)
PS: Sollten meine Links nicht mehr funktionieren, wäre es super lieb, wenn ihr mir einmal eine kurze Nachricht schicken könntet. Ich behebe das Problem dann so schnell wie möglich. Danke! Komplett anzeigen

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