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shaping fate

von

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Der große Tag

Schockstarr saß sie vor dem Spiegel. Wie hatte das passieren können?

Sie wagte nicht, sich selbst in die Augen zu schauen. Sie würde zu viel Panik darin finden, sich davon anstecken lassen. Vielleicht am Ende sogar noch fliehen.

Fliehen.

Das war früher ihre Standardantwort gewesen, nicht wahr? Außer natürlich, es gab zwingende Umstände. Solche, die sie dazu nötigten, zu bleiben und sich dem zu stellen, was immer ihre Furcht in solch schwindelerregende Höhen getrieben hatte. Aber diesmal konnte sie nicht fliehen. Konnte nicht, weil es wieder solche Umstände gab.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf – nein. Nein, nein, nein! Sie würde nicht fliehen. Und vor allem würde sie nicht fliehen wollen. Diesmal ging es nicht um Umstände und Zwänge. Das war etwas, das sie mit sich ausmachen musste. Wenn sie nur fest an sich glaubte, daran, was sie zu tun fähig war – an all das, was so viele ihr über die letzten Wochen und Monate hinweg immer wieder gepredigt hatten… dann würde sie bestimmt genug Mut zusammennehmen können, um dort raus zu gehen und… und dann… dann würde sie…

… sie würde…

Kalter Schweiß. Sie spürte ihn auf ihrer Stirn, an ihren Händen, mit denen sie fortwährend an im Stoff herumnestelte. Ein leichtes Zittern verbergend. Ganz leicht. Unauffällig. Wirklich völlig unauffällig.

„Na, kalte Füße?“, durchbrach eine Stimme neben ihr Ariens Gedankenwelt.

„Gah!“ Ihr Kopf fuhr herum und für die Dauer weniger Sekunden fror die Welt ein… bis sie verwirrt den Blick vom Gesicht ihres Vaters riss und im Raum herumsah. „Was… wieso…?“

Vetus dagegen amüsierte sich prächtig, breit grinsend und kehlig lachend, obwohl er sich wirklich um Beherrschung bemühte und zumindest die Lippen fest zusammenpresste. Es hinterließ einen merkwürdig verzerrten, gedämpften Laut, der aus ihm hervorkroch. „Fies kalte Füße, was? Du hast sogar das da vergessen?“, mahnte, erklärte und erinnerte er zugleich, als er mit einer Klaue auf das Amulett um ihren Hals deutete – dessen hübscher blauer Saphir selbst jetzt noch gehörig leuchtete. Es galt da schließlich eine ganze Menge Teleportationsmagie aufzufangen, auszubremsen und zu zerstreuen.

Verlegen errötete Arien. Das war einfach nicht fair. Natürlich wäre es… unpraktisch gewesen, wäre sie jetzt einfach verschwunden. Aus dem Raum teleportiert. Geflohen. Aber deshalb erschreckte man ja Leute auch nicht! Damit genau sowas nicht passierte! Und überhaupt… „Kalte Füße?“, hakte sie stirnrunzelnd nach. Sie hatte zugegeben nicht die bequemsten Schuhe an. Sie waren hübsch, keine Frage. Aber nicht so bequem wie erwartet. Daran merkte man unweigerlich Lisas und Vasillas Prioritäten. Aber gut, sie würde sie auch nicht lange oder auch nur ein zweites Mal tragen müssen, von daher war das wohl gut zu überleben. Es war ja auch nicht so, dass sie schmerzhaft oder wirklich unbequem wären, einfach nur dieses leichte-

Die vor ihrem Gesicht wedelnde Klaue riss sie abermals aus ihren abdriftenden Gedanken heraus. Und… natürlich leuchtete das Amulett erneut auf. Verdammtes, verräterisches Ding.

Dabei ging sie zunehmend errötend in Gedanken durch, wohin sie eigentlich hatte fliehen wollen. Die Teleportation triggerte noch immer intuitiv, instinktiv – und brachte sie in aller Regel zu denen, bei denen sie sich sicher fühlte. Was, wenn sie die Umstände bedachte, ihr so wirklich überhaupt nicht weitergeholfen hätte. Wirklich gar nicht.

„Was ist denn?“, gab sie ein wenig unleidlich von sich. Vetus zeigte sich davon unbeeindruckt, nahm den Kamm zur Hand und wies sie an, sich gerade und ordentlich auf den Stuhl zu setzen. Völlig ruhig begann er, sie zu kämmen. Es war angenehm. Ihr Magen – insbesondere dessen Inhalt, bei dem es sich aktuell um gefühlt sämtliche Schmetterlingspopulationen Elvorans handeln musste – rebellierte gegen den Beruhigungsversuch, indem er sich verkrampfte und, gefühlt, umstülpte. Glücklicherweise konnte sie die Übelkeit gut im Zaum halten.

Nach allem, was die Meister der Nadel durchhatten, war ein bisschen Brechreiz eigentlich kaum noch der Rede wert. Traurig irgendwie, nicht? Als er dann jedoch auch noch begann, ein wenig schief und aus dem Takt zu summen, zauberte es doch unweigerlich ein Lächeln auf ihre Lippen. Wie konnte sie auch nur versuchen, ihm nachtragend zu sein, ihm irgendwas übelzunehmen, wenn er sich so bemühte. Schief und krumm, aber bemüht.

„Es ist ein Sprichwort der Menschen“, erklärte Vetus nach einer ganzen Weile. Sie hatte unlängst die Augen geschlossen, sich wieder der Anweisung um gerade Sitzposition ein wenig sinken lassen, es sich bequemer gemacht. Sie genoss die Berührungen, sie genoss das vorsichtige Kratzen des Kamms auf ihrer Kopfhaut, genoss die grässliche Melodie. Als sie langsam die Augen öffnete, ihn im Spiegelbild musterte, wussten sie beide sofort, dass er gewonnen hatte. Ihre Neugier und ihr Wissensdurst funktionierten einfach immer. „Ich bin mir nicht ganz sicher, wie genau sie es eigentlich begründen. Aber kalte Füße zu bekommen steht bei ihnen offenbar für Flucht.“

Sie nickte langsam. So einige Bräuche der Menschen waren befremdlich. Dann wiederum… je weniger über die Bräuche, Traditionen, Instinkte, Reflexe und Gewohnheiten von Drachen gesagt war… desto besser.

„Ich will doch aber gar nicht fliehen!“, merkte sie leise und ohne rechte Überzeugung an.

„Mhm“, kam sofort ungläubig zurück. Er deutete mit der freien Klaue, die bis eben noch auf ihrer Schulter geruht hatte, auf den Spiegel. Genauer genommen, auf das Amulett, das darin sichtbar leuchtete. Verdammtes Ding.

„Das lügt“, erklärte sie trotzig.

Vetus schüttelte leicht den Kopf, lächelnd. Und nur das Zucken und Beben seiner Schultern, das sich bis in seine Flügel übertrug, verriet das diesmal sehr viel besser unterdrückte Kichern und Glucksen. „Wovor hast du solche Angst, hm?“

„Ich habe vor gar nichts Angst!“, widersprach sie noch immer mit der Kraft der Sturheit gesegnet. Sie sah seine geschuppte Braue empor wandern, ließ sich ohne Zögern auf das Blickduell ein, ehe sie doch einsehen musste, ihm noch immer nicht gewachsen zu sein, wenn es ihm nur ernst genug war.

Vielleicht hatte sie auch einfach darauf spekuliert, dass das hier nicht ernst genug wäre…

Also gab sie nach. Kaute angespannt auf ihrer Unterlippe herum. Es war Vetus. Ihr Vater. Und der Raum war, ansonsten, leer. Niemand würde es hören, nicht? Doch die mögliche Zuhörerschaft war nicht einmal, was sie wirklich besorgte. Tatsächlich war sie nicht einmal besorgt, vielmehr… in der Not, die richtigen Worte zu finden, um ihre Bedenken darin einzukleiden.

„Es ist… es ist eine Ehe“, begann sie langsam, zögerlich. Vetus nickte zunächst nur. „Es ist… die Ehe. Meine Ehe.“

„Erstmal nur die Hochzeit, Arien – eins nach dem anderen“, merkte er grinsend an.

Arien aber schüttelte den Kopf. „Nein, eben nicht. Die Hochzeit ist ein Tag. Dieser eine Tag, an dem eine Entscheidung für den Rest des Lebens getroffen wird. Das ist nichts, was man… was man leichtfertig eingehen sollte. Was man rückgängig machen könnte. Was… was, wenn ich nicht bereit bin? Was, wenn ich mich zu schnell entschieden habe? Was, wenn ich…“

Vetus unterbrach sie. Er brauchte dafür nicht mehr zu tun als mit dem Kämmen kurz zu pausieren. „Ah, ah, ah! Liebes, hör gut zu: Du, von allen Wesen, die mir in meinem langen, ätzend langen Leben je begegnet sind – zumindest dem Teil, an den ich mich erinnern kann – bist du diejenige, von der ich am wenigsten erwarten würde, das sie jemals eine Entscheidung trifft und umsetzt, der sie vorher nicht das Maximalmaß an Aufmerksamkeit und Recherche gewidmet hat. Du hast so ziemlich jedes Buch in unserer Bibliothek gelesen, dass das Thema auch nur anschneidet – Sachbuch, Ratgeber oder fiktional. Du hast mit jedem darüber geredet. Gute Güte, du hast Leute um Rat gefragt, bei denen ich mir nicht sicher bin – nach wie vor nicht, übrigens -, ob du deren Rat wirklich je hättest hören sollen. Du hast Monate darüber nachgedacht. Dich tiefer in das Thema eingegraben, als es die Priester vermutlich tun – und die führen die Trauungen üblicherweise durch! Du hast dein eigenes Gelübde geschrieben. Du hast mit Artemis darüber geredet, wieder und wieder und wieder.“

„Denkst du, das war zu viel?“, hakte sie unweigerlich verunsichert nach.

„Lass mich ausreden, Liebes. Und nein, denke ich nicht. Keiner kann sich so schnell so viel Wissen aneignen wie du und das hast du getan. An deiner Vorbereitung solltest du also nicht zweifeln. Dazu hast du schlicht keinen Grund. Oder fällt dir noch irgendetwas ein, das du hättest tun können oder sollen?“ Herausfordernd grinste er ihr zu und Arien gab sich wirklich, wirklich Mühe. Dachte ein paar Minuten sogar angestrengt nach, während er das Kämmen wieder aufnahm.

„Nein“, gab sie sich schließlich geschlagen. Selbst ihr wollte einfach nichts mehr einfallen.

„Fein. Gut. Was das ganze… bereit sein angeht… ich fürchte, da kann ich dir nur bedingt helfen. Fühlst du dich denn bereit?“, hakte Vetus nunmehr selbst etwas unsicherer nach.

„Ich… ich weiß es ja eben nicht“, gestand sie kleinlaut ein – und nahezu unhörbar leise. Hätte es irgendeine Form von Kulisse geben, irgendwelche Hintergrundgeräusche, er hätte sie vermutlich kaum einen Ton von sich geben hören.

„Nun… dir ist speiübel bei dem Gedanken, was kommt, oder?“ Sie nickte ohne Zögern. „Aber… wenn du Appetit auf Kekse hast. Wirklich, wirklich, wirklich fiesen Appetit auf Kekse. Und du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Aber es müssen Kekse sein. Ein Käsebrot, keine Pilzpfanne – Kekse. Dann wird dir mitunter schlecht, nicht? Das macht Kekse nicht zu etwas Schlechtem. Was… was ich sagen will – denke ich -: Hast du Angst vor Artemis?“ Kopfschütteln. „Davor, mit ihm zusammen zu sein?“ Sie wurde etwas röter, schüttelte aber erneut den Kopf. „Mit ihm zu reden?“ Wieder Kopfschütteln. „Mit ihm zusammenzuleben?“

Arien seufzte. Wenn sie es dabei beließ, dann würde er ewig so weiter machen und Dinge aufzählen, die gar nicht wichtig waren. Nicht für ihr Problem, allemal! „Das sind alles Dinge, die wir sowieso schon tun!“, merkte sie verdrossen an.

Vetus hingegen grinste in den Spiegel hinein, als hätte er gerade von ihr unbemerkt eine Partie Schach gegen sie gewonnen. Was völlig unmöglich war, weil er für Schach nicht die Geduld besaß. „Eben“, erklärte er zu ihrer Verwirrung und elaborierte nach wenigen Augenblicken, „Was glaubst du, was sich alles ändern wird? Ihr lebt zusammen. Gute Güte, genau genommen habt ihr schon eine gemeinsame Wohnung und Kinder.“

„Was?“, fuhr sie überrascht auf.

„Hey, nichts für ungut, aber ich habe gesehen, wie ihr zwei – beide – Thalion betüddelt. Und Coru. Und gelegentlich sogar Lucilia.“

„Aber-“

Doch offenbar war er nicht geneigt, sie ausreden zu lassen. „Alles, was ihr da nachher macht ist, das, was sowieso schon besteht – offensichtlich besteht – auch offiziell zu machen. Ihr bekommt schicken Schmuck als Erinnerung für euch, an euer Versprechen, an eure Feier und aneinander. Und als Zeichen für andere, das ganz subtil sagt ‚Finger weg, sonst Finger ab – das ist meiner!‘“ Bei dem Gedanken musste Arien unweigerlich schmunzeln. Vielleicht war ja tatsächlich jemand so frech gewesen, genau das in die Ringe gravieren zu lassen…? „Ihr bestätigt vor den Göttern und den Anwesenden, dass ihr zueinander gehört. Aber das tut ihr sowieso schon. Ihr seid unzertrennlich. Auch wenn ihr schon ein paar Quer- und Tiefschläge hattet, aber die kommen unweigerlich immer wieder und was habt ihr gemacht? Ihr habt euch zusammengesetzt, drüber geredet und Lösungen entwickelt. Und das werdet ihr auch weiterhin tun. Die Götter nehmen’s vielleicht zur Kenntnis, aber letztlich werden auch die nichts groß unternehmen. Wenn sie euch hätten trennen wollen, hätten sie ein bisschen früher anfangen müssen. Die Gäste, die werden sich freuen, das ihr endlich so weit seid, nachdem schon so ziemlich jeder jede diesbezügliche Wette verloren hat-“

„… was? Es gab Wetten?“

„Das ist jetzt nicht wichtig. Und alle, die es stören würde, die würde es stören, ganz egal ob Ringe oder nicht.“

Sie… wollte nachfragen. Eigentlich wollte sie wirklich, wirklich nachfragen. Nicht nur wegen Lucilia. Sie betüddelten sie überhaupt nicht! Wenn überhaupt, war sie für Arien so etwas wie eine kleine Schwester, nicht? Und was es mit diesen ominösen Wetten auf sich hatte, von denen sie gerade zum ersten Mal hörte, das wollte sie definitiv wissen. Wenn nicht jetzt, dann mindestens später!

Aber was ihr letztlich so schwer im Magen lag… war nicht einmal, was sie als Vorwand hingeworfen hatte. Wenn sie ehrlich war – nicht nur mit Vetus, sondern auch mit sich selbst. Vor allem mit sich selbst. Dann zweifelte sie nicht an ihrer Vorbereitung. Nicht einmal daran, ob sie bereit war.

Sie liebte Artemis.

„Aber…“, setzte sie zögerlich und leise neu an, während er den Kamm weglegte und begann, ihre Flechtfrisur zurechtzumachen, „… was ist… was ist, wenn es sich ändert, Papa? Was ist, wenn er sich ändert? Oder wenn ich mich ändere? Oder wenn sich ändert, was er für mich empfindet? Was ist… wenn ich ihm irgendwann nicht mehr genug bin?“

Der Kloß in ihrem Hals war unerträglich dick geworden. Ihr Magen fand immer neue Knotenmuster, die es auszuprobieren galt und die Schmetterlinge machte das ständige Hin- und Herknoten natürlich auch ziemlich unruhig. Vetus dagegen runzelte die Stirn, konnte es sich bei dieser Arbeit jedoch nicht leisten, zu pausieren. Zu viele Strähnen zwischen zu vielen Klauen, die zu präzise verarbeitet werden wollten. Wenn er pausieren würde, würden ihm unweigerlich die Arme erlahmen, die er auch so schon lange genug hoch und in präzisen Stellungen halten musste. Dennoch – für ein Seufzen war Platz. „Liebes, ich… ich kann dir nicht garantieren, das sich Dinge und Leute nicht ändern werden. Keiner kann das. Die ganze Welt dreht sich fortwährend. Veränderung ist der Lauf der Dinge, unweigerlich. Selbst wir Drachen ändern uns – es dauert nur sehr lange und geht langsam vonstatten, weshalb alle glauben, wir wären wie die Urgebeine der Erde. Aber frag mal Zwerge – sogar die ändern sich. Wenn die Änderungen kommen – bei euch, bei eurem Umfeld – dann kommt es darauf an, sich mitzuändern. Anzupassen. Sich nicht stur dagegen zu stemmen. Und mit einem kleinen Schuss Glück, wenn ihr arbeitet, an euch, an eurer Beziehung, dann werdet ihr euch miteinander verändern. Aneinander anpassen.“

„Aber-“, begann Arien natürlich unweigerlich. Atmen wurde irgendwie schwieriger. Schlucken war schwieriger geworden. Der Knoten in ihrem Magen tat weh. Und die Schmetterlinge schienen plötzlich alle verschwunden. Oder verharrten für einen Moment einfach nur so still, dass man sie gut und gerne hätte totglauben können. „Was ist… wenn er mich irgendwann nicht mehr liebt…?“

Vetus hatte mit sich zu kämpfen. In der Vaterrolle, die er seit seinem Wiedererwachen erstrebt, erreicht und seither eisern und verbissen ausgeübt und verteidigt hatte. In jener Rolle, die ihn immer wieder vor überraschende und unerwartete Probleme und Aufgaben gestellt hatte. In eben jener Rolle hatte er Arien besser kennengelernt denn je zuvor und sie letztlich auch für die Tochter gewonnen, die er in ihr gesehen hatte. Das machte es in solchen Situationen umso schwieriger. Ihre Angst war real. Und sie war durchaus begründet. Dinge konnten schiefgehen. Emotionen waren unberechenbar.

„Selbst wenn irgendwann, irgendwie, alles in die Brüche geht. Und versteh mich richtig: Ich bezweifle sehr, dass das passieren wird, geschweige denn, überhaupt möglich ist. Ebenso, wie ich mir sehr, sehr sicher bin, das viele andere das ähnlich sehen wie ich. Aber gesetzt des Falles. Dann sind wir für dich da. Wir alle. Jeder einzelne von uns, der heute hier versammelt ist. Wir werden da sein. Für dich, um dir Trost und Halt zu bieten, Sicherheit und einen Rückzugsort. Und auch für ihn, falls er das braucht und will.“

Die aufgestauten und von purer Willenskraft und einigen reichlich unlauteren geistigen Drohungen zurückgehaltenen Tränen verschwanden nur zögerlich wieder in den Löchern, aus denen sie hervorgekrochen waren. Noch ein wenig schwer und unregelmäßig atmend, etwas schniefend, kurz schluchzend, ehe sie sich vom Stuhl halb erhob, halb ihn umwarf und sich an Vetus‘ geschuppter Brust vergrub. Die Klauen um sie geschlossen, spannte er die Flügel auf und formte eben jenen Sicherheit vorgaukelnden Kokon, den sie auch früher schon genutzt und zu schätzen gewusst hatte.

Erst, als sie sich nach einigen Minuten etwas beruhigt hatte, entließ er sie wieder. Und sehr zu seiner Beruhigung und Zufriedenheit war die Frisur mit ein paar einfachen Handgriffen hier und da wieder gerichtet. Immerhin waren dramatische Momente wie dieser zwar bei der Organisation und Planung des Tages grundsätzlich berücksichtigt worden, doch das hieß noch lange nicht, dass es nicht dennoch einen Zeitplan gab.

„Geht es dir besser?“, hakte er langsam und vorsichtig nach.

Arien schniefte noch ein letztes Mal, lächelte aber. Und erstmals – seit er das Amulett sehen konnte, jedenfalls – leuchtete der Stein nicht. Ha! Ein weiterer Sieg für die Familie. Er war eindeutig der beste Vater aller Zeiten… „Gut, dann können wir ja los, hm? Immerhin warten da schon ein paar Leute auf dich!“

… uuund das verdammte Ding leuchtete wieder. Soviel zum besten Vater.

Seufzend gab er es auf. Vielleicht konnte er auch auf Ariens Ausrede verweisen, dass das Ding irgendwie defekt sein müsse? Wer hatte das nochmal gebaut? Ah ja, genau, das war-… oh gut, dann würde er wohl mit der Niederlage leben müssen…

 

Zeitgleich in einem anderen Teil der Nadel ging es sehr viel ruhiger und gesitteter zu. Weit weniger dramatisch.

Nein. Keinerlei Drama.

„Das ist eine Katastrophe!“, krächzte Artemis und ließ den Kopf auf den Tisch knallen, Gesicht voran. Er hatte keine weiche, formbare Muskulatur, von Natur aus warme Haut und entsprechende Nervenenden, dass er sich um Schmerz hätte sorgen müssen. Er hatte Routinen, die auf Basis von Aufschlagsgeschwindigkeit, Material des Aufschlagsgegenstandes und Winkel berechneten, wie viel Schmerz er empfinden sollte und dann wiederum diese Informationen an wiederum andere Routinen weitergaben, die auf Basis der vorherrschenden Informationslage durchaus fähig waren, Schmerz im entsprechenden Ausmaß zu simulieren.

Glücklicherweise war er auch fähig, diese Prozesse abzuschalten – und das Sekundenbruchteile, bevor sein Gesicht die Tischplatte aus gutem, solidem Massivholz deformierte. Nicht, das er seinen Schädel wirklich mit Kraft aufgeschlagen hätte. Dann wäre der Tisch eingebrochen. Aber bei einem Koloss wie ihm, zu großen Teilen aus massivem Metall bestehend, wog selbst etwas so halbwegs Handliches wie sein Kopf noch immer eine ganze Menge.

Unter einem mehr als frustrierten Seufzen setzte sich Brutus neben seinen Schöpfer. Gewissermaßen machte das Artemis zu seinem Vater. Abhängig davon, wen man befragte, natürlich. Obgleich Vetus Artemis erschaffen hatte, hütete sich so ziemlich alles und jeder davor, dergleichen als irgendeine Form familiärer Beziehung definieren zu wollen – allem voran, weil es hieße, dass heute Geschwister heiraten würden.

Das wollte sich keiner im Detail vorstellen. Immerhin waren organische Körper ohnehin schon fragil genug – wenn man dann auch noch begann, an der Grundsubstanz herumzupfuschen und das Risiko für Fehlbau zu erhöhen, was konnte man da letztlich schon noch groß erwarten? Die diesbezüglichen Befürchtungen waren für ihn also sogar ein kleines, wirklich winziges Stück nachvollziehbar. Es wäre vermutlich ein wenig größer gewesen, hätte irgendein Risiko bestanden, das sich Arien – eine Fleischliche – mit Artemis – einem Konstrukt – überhaupt fortpflanzte. Zugegeben, da waren so einige seltsame Faktoren involviert. Arien war ein Halbdrache und Halbdrachen waren, wie der Name schon sagte, halbe Drachen. Drachen wiederum waren für ihre ausgesprochen absurd starke Magie bekannt und wer konnte schon genau sagen, wozu Arien fähig war oder sein würde? Ihr Leben oblag nicht länger einer natürlichen Spanne, kein Ende in Sicht. Sie würde lernen, studieren, forschen können, wie immer sie wollte. Sie war schon zu Zeiten ihres Daseins als Halbelbe mit unbekanntem Vaterteil und inaktivem Drachenblut ein überaus arkan talentiertes Geschöpf gewesen. Jetzt? Wer konnte schon über die Gegenwart spekulieren! Oder die Zukunft erst!

Und Artemis, nun. Er war ebenso zeitlos. Darüber hinaus war er alles andere als ein gewöhnliches Konstrukt. Er war von einem Zeitdrachen erschaffen worden. Einem Zeitdrachen. Wer wollte sagen, aus welcher Epoche die Informationen stammten, mittels derer Artemis fertiggestellt worden war? Vielleicht würde es irgendwann den Moment geben, an dem sich Maschinen mit biologischen Wesen fortpflanzen konnten? Vielleicht hatte der uralte Vetus in seiner Weisheit und Voraussicht solcherlei verwendet, entwickelt, eingebaut? Und auch da wieder: Vetus, Artemis‘ Schöpfer, war auch ein Zeitdrache.

Dazu kamen diese Roboter, die Eresthenes ihm verpasst hatte. Maschinen, die so winzig klein waren, dass das bloße Auge sie nicht sehen konnte. Der Gnom nannte dergleichen ‚mikroskopisch‘. Und mikroskopische Maschinen hießen offenbar Naniten. Woher der Gnom dieses Wissen hatte, war Brutus unklar. Und nachdem es ein paar kleinere Zusammenstöße zwischen ihnen gegeben hatte – und ein paar Größere zwischen dem Gnom und anderen Verbündeten oder nicht-mehr-Verbündeten -, war er auch nicht versucht, nach der Quelle der nötigen Informationen zu forschen.

Früher oder später gab einfach jeder auf, Eresthenes über Dinge befragen zu wollen, deren Anfang mit Warum, Wie oder Woher begann.

Also ja – vielleicht, irgendwann, mochte es Sprösslinge geben. Dann war es völlig legitim und sogar relevant, sich um mögliche Verwandtschaften zu sorgen. Bis dahin fiel es Brutus schwer, einen Großteil der diesbezüglichen Abneigungen nachzuvollziehen. Allerdings konnte er sich auch nicht wirklich vorstellen, dass es sich in diesem Moment um dieses Thema handeln mochte. All seinen Beobachtungen nach hatte Artemis sich in einer interessanten Mechanik befunden. Je näher der heutige Tag gerückt war, desto… kurzsichtiger wurde er. Als würde kein Tag, keine Stunde, jenseits der heutigen Geschehnisse existieren.

Was zwar nicht unmöglich war, ihm aber dennoch sehr unwahrscheinlich erschien.

Das legte zumindest nahe, das der subtile Ruf um Hilfe und verbale Unterstützung sich mit etwas befassen musste, dass sehr viel naheliegender war – zeitlich betrachtet.

„Was ist?“, erkundigte er sich daher von Artemis‘ möglichen Schmerzen reichlich ungerührt. Falls er welche hatte und sie wollte – fein. Falls er welche hatte und sie nicht wollte – nun, dann sollte er sie wohl abschalten. So oder so, war das seine Entscheidung.

„Was ist… wenn das hier ein Fehler ist?“

Im ersten Moment glaubte Brutus, Artemis wolle scherzen. Nicht, weil er dazu irgendeine Veranlassung hatte. Es gab keine Indikatoren, dass das hier irgendwie humoristisch für seinen Schöpfer war, im Gegenteil. Er wirkte ernst und ehrlich aufgebracht. Besorgt, verzweifelt fast schon. Zweifelnd, allemal.

Doch Brutus hatte ein paar der Spionagebots, wie Eresthenes sie nannte, in verschiedenen Winkeln der Nadel eingesetzt und behielt konstant seine Aufgabe als Torwächter bei. Und wie der Zufall es so wollte, gab es einen der Miniaturroboter in Ariens Zimmer. Die wenige Minuten zuvor mit einer ganz ähnlichen Tirade begonnen hatte.

Nun mochte man davon halten, was immer man wollte – Brutus war nicht Vetus. Artemis war nicht Arien. Und es waren zweifellos unterschiedliche Beweggründe, die seinen Schöpfer dazu veranlassten, nach und nach eine fast identische Rede zustande zu bringen wie seine Geliebte – Verlobte – es gerade getan hatte. Das änderte nichts daran, dass Brutus sich mit der Situation grundsätzlich überfordert sah.

Er war niemand, den man um seelischen Beistand oder moralische Stärkung bitten sollte. Das zu tun sprach von Verzweiflung. Dem Mangel an Alternativen. Er war zornig, er war besessen vom Zorn. Wut war die Wurzel seiner Persönlichkeit. Er hatte sich der Lehren und Lektionen vieler Mönchs- und Paladinorden verschrieben, führte sie mit eisernem Willen und Selbstdisziplin durch, um Herr eben dieser Wut zu werden.

Niemand sollte sich von jemandem beraten lassen wollen, der konstant vor Wut schäumte. Egal wie ruhig und gesittet er nach außen wirken mochte…

Nichtsdestotrotz war er hier und musste sich das anhören. Nichtsdestotrotz war Artemis überfordert und erhoffte sich offenkundig Antworten von ihm. Von ihm, ausgerechnet. Tatsächlich verzweifelt. Oder es war einer dieser Fälle, in denen das Sprichwort über falsche Orte und falsche Zeiten zutraf. Vielleicht hatte Möbius seine Finger im Spiel. Er sollte das untersuchen und sofern sich die Theorie bewahrheitete… nun, er hatte 2.781 Pfeile. Irgendeiner davon würde schon irgendetwas Sensibles treffen.

Zunächst jedoch erwehrte er sich der Situation bestmöglich, indem er Vetus‘ Verhaltensweisen imitierte. Das war… gar nicht so leicht. Einerseits musste er dazu den konstanten Informationsfluss der anderen Spionagedrohnen vorübergehend ignorieren und zusätzlich seine Aufmerksamkeit für die unmittelbare Umgebung drastisch senken, um dann aus den immer wieder wiederholten Aufzeichnungen dieser einen Drohne die Texte heraus zu sammeln und auf die Situation anzupassen, um diese dann wiederum an Artemis weiterzugeben – inklusive brauchbarer Gestik und angepasster Stimmmodulation.

So gesehen war es plötzlich sehr verständlich, warum Fleischliche fortwährend in Konflikt miteinander gerieten. Empathie zu demonstrieren war schwierig, kräfte- und zeitzehrend und erforderte die Vernachlässigung anderer Pflichten. Die Ungeduld, die so vielen von ihnen zu Eigen war, war völlig unverdient und letztlich bei ihrer rückständigen Art der Kommunikation die Wurzel vieler Übel.

Immerhin verbuchte er zumindest einigen Erfolg mit der Imitation. Nur das Artemis – glücklicherweise – nicht nach körperlicher Nähe bedurfte oder zusammenbrach, ehe es besser wurde. Brutus mochte sich ungern vorstellen, wie… befangen es geworden wäre, hätte er auch diesen Teil aus Vetus‘ Vorgehensweise kopieren müssen. Denn jener Part ließ nicht allzu viel Modulation zu. Ein freundlich-aufbauendes Schulterklopfen hätte vermutlich nicht die gleiche Reaktion erwirkt.

 

Es war Zeit.

Alle wussten das. Nichtsdestotrotz war noch einiges an Bewegung zu sehen.

Unruhig verlagerte Hans sein Gewicht ständig von einem Fuß auf den anderen. Die Kleider, die er trug, waren schick. Sahen sehr… beeindruckend aus. Sehr offiziell. Aber er fühlte sich alles andere als wohl darin. Er war Hans. Früher mal bekannt gewesen als Hans Laye, Sohn einer Schneiderin aus Samara. Und heute war er… nun ja – heute heute war er Priesterersatz. Was irgendwie witzig genug war. Hätte seine Mutter ihm das je zugetraut? Dass er irgendwann Priester spielen und Leute verheiraten würde?

Zugegeben, nicht einfach irgendwelche Leute. Seine Enkelin. Gewissermaßen. Das kam wohl ganz darauf an, ob man Vetus als seinen Sohn ansah, oder seine Schöpfung…

Sein unruhiger, nervöser Blick schweifte über die Gäste. Arthur hatte Sedhwen mitgeschleppt. Der alte Mann wirkte bemerkenswert… gerührt. Die Elbe hielt sogar bereits ein Taschentuch bereit und so, wie er sie kennengelernt hatte – wenig genug, wie’s war -, galt die kleine Aufmerksamkeit gewiss nicht ihren eigenen, von Hochwasser bedrohten Augen, sondern seinen. Hatte er Sedhwen je weinen sehen? Würde er das je? Konnte sie das überhaupt?

Nicht, das er ihr grundsätzliche Unmenschlichkeit unterstellte. Oder Unelbischkeit? Das klang merkwürdig. Jedenfalls wollte er ihr nichts Böses. Nicht mal etwas unterstellen. Doch sie wirkte… hart. Härter als Arthur, um Längen. Während inzwischen in der gesamten Nadel es ein mehr oder weniger offenes Geheimnis war, dass der raue Kriegsveteran, Soldat vieler Jahrzehnte, eine geheime Leidenschaft für Backbücher und –rezepte pflegte und eine noch viel größere, noch viel peinlichere Vorliebe für die miesesten, unrealistischsten, kitschigsten Schnulzen und Romantikromane aller Zeiten, so war Sedhwen… die Elbe, die ihre Männer striezte. Zu jeder Gelegenheit. So hart sie nur konnte. Und stellte einer sie in Frage oder warf ihr vor, nie mitzumachen? Dann machte sie es vor. Bewies das Gegenteil. Und ließ das Großmaul doppelte Arbeit bei halber Ration verrichten.

Hans schauderte kurz. Irgendwie glaubte er, unter Sedhwens Kommando zu stehen musste ein wenig so sein, wie unter Thorins. Wirklich nichts, das er wollte. So ganz grundsätzlich nicht wollte.

Elesil hingegen hatte es wider Erwarten und ihrer ursprünglichen Ankündigung doch noch geschafft – und sie hatte Maria gleich mitgebracht. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum Brutus darauf bestanden hatte, dass irgendwer sich irgendwas zur Absicherung einfallen ließe. Der Auftrag fiel letztlich zur allgemeinen Beunruhigung und Belustigung ausgerechnet Eresthenes zu. Man wusste schließlich nicht, ob das verdächtige Ticken aus Elesils Geschenk irgendwas zu bedeuten hatte…

Und sei es im Zweifelsfall nur, das jeder, der zum Zeitpunkt des Öffnens dieses Geschenkes im Raum war, die nächsten zwei Wochen blau sein würde. Königsblau, von Kopf bis Fuß. Es war schon amüsant, was man mit ein bisschen Alchemiekenntnissen anfangen konnte. Es erinnerte ihn irgendwie an früher und weckte das Bedürfnis, sich nochmal kurz von der versammelten Gemeinschaft zu verabschieden, um sich an ein paar von Riks Vorräten zu vergreifen. Nichts, was er nicht ersetzen könnte, nicht wahr?

Er hatte sich bereits von der kleinen Bühne heruntergeschlichen, die sie zusammen mit einigen Sitzbänken und natürlich kräftig Dekoration im leergefegten Trainingsraum aufgebaut hatten, als eine Stimme aus der Gästeschar erklang. „Wo genau glaubst du, dass du hingehst?“ Bei diesem Tonfall zuckte er unwillkürlich zusammen und stand danach ein wenig strammer als zuvor.

„Ich? Uh, nirgendwo. Ich… Ich geh nirgendwo hin!“, haspelte er rasch hervor und eilte zum Pult zurück.

Rasska. Natürlich. Der Blick der Naga folgte ihr kritisch, dann skeptisch, dann zufrieden und beruhigt. Verflixter Fisch. Und dieser nicht-Oktopus an ihrer Seite beunruhigte ihn nach wie vor. Er war ja für kulturellen Austausch und all das, wirklich. Aber das hier war die Nadel. In der Nadel passierten ständig seltsame Sachen. Und gleich beide Hohepriesterinnen von Eumenes hier zu haben, das bereitete ihm irgendwie Bauchschmerzen. Rasska mochte die Nadel und ihren Irrsinn ja noch gut in Erinnerung haben. Aber hatte sie auch ihre liebreizende Gesellschaft eingeweiht, deren Tentakel-Beine sich gerade an der Bank per Saugnapf festklebten…?

Hinter den zwei nicht-Fischen saßen Sszerin und Isimalia. Oder Isimal…antie? Isima… Issi. Sszerin und Issi. Jeder rief sie so – also war es in Ordnung, das auch zu tun, nicht? Er sollte heute ernst sein und seriös und alles, aber… man konnte ihm nicht vorwerfen, dass er einen einzigen Namen der Gäste nicht aussprechen konnte, oder?

Rasskas Begleitung zählte nicht. Den kannte er nicht mal. Und keiner hatte sich die Mühe gemacht, das zu ändern, also war es auch nicht wichtig. Es ging ja auch gar nicht um die Gäste. Genau. Es ging nicht um die Gäste.

Nicht um Siranthus, nicht um Prisuwalim, nicht um Julimania, nicht um Adrilayan. Um die ging es nicht. Warum, in drei Teufels Namen, hatte er sich also die wiederum eingeprägt? Die hatten nicht mit ihm getrunken. Die hatten nie mit ihm Karten gespielt. Vermutlich, weil sie die Karten aus Versehen verbrannt hätten…

Es machte keinen Sinn, dass er sich ausgerechnet deren Namen merkte. Aber Motte war es so unglaublich, so wirklich unfassbar unglaublich wichtig gewesen. Und sie hatte einfach nicht lockergelassen, bevor er die Namen nicht allesamt fehlerfrei betont wiedergeben konnte. Wozu auch immer!

Und weit hinten, demonstrativ in der letzten Bankreihe, saß Peter. Was, wie Hans befand, für eine Fee nach wie vor ein wirklich seltsamer Name war. Als würde man einen Hohen Lord vom Hof der SidheHarald nennen oder so. Oder Gunther.

Nicht, das er fragen würde. Jemals. Denn Peter war gruselig. Allein diese Tasche mit den Puppen, die er ständig herumschleppte... selbst der bloße Gedanke daran jagte ihm eine Gänsehaut herab.

Dreizehn Gäste. Irgendwer hatte nicht nachgedacht. Oder nicht nachgezählt. Oder forderte aktiv und in vollem Bewusstsein das Schicksal heraus. Dreizehn Gäste. Konnte ja nichts mehr schief gehen…! Vielleicht hätten sie weniger Trauzeugen wählen sollen oder weniger-

„Ah!“, entfuhr es Hans abrupt, als er beinahe von der Tribüne stürzte und, dem eigenen Gefühl nach, fast wortwörtlich aus der Robe sprang. Dabei handelte es sich lediglich um die Instrumente, die Vasilla und Lisa animierten, damit sie die sanfte Musik begannen. Eine Melodie, die zunächst nur ankündigte, dass es allmählich Zeit wurde. Krisen waren beizulegen, Drama einzustellen: Die Show würde bald beginnen.

Nachdem er sich etwas beruhigte und zwecks eben dessen die Hand an der Brust verkrampft nach seinem Puls spüren ließ, richtete er sich etwas… straffer und ernster und seriöser am Pult auf. Glücklicherweise war von ihm nicht allzu viel Text zu erwarten. Er musste nur seriös aussehen. Ein bisschen einleitendes Geschwafel, ein Satz am Ende – keine großen Reden. Die hatten die zwei selbst geschrieben. Was irgendwie sehr… süß war. Kitschig, aber süß.

Als es einige Minuten später endlich soweit war, das die Melodie der Instrumente in eine neue übergeführt wurde – Teil zwei von drei -, erhoben sich in den vorderen Reihen die Trauzeugen. Auf Artemis‘ Seite traten Rik und Eresthenes hervor. Und Hans biss sich wirklich auf die Zunge, nach wie vor, um nicht ein Wort darüber zu verlieren, das Rik auf Artemis‘ Trauzeugenseite stand. Auf Ariens Seite dagegen machten sich Ahillea und Athavar bereit.

Vielleicht hätten sie einfach mit der Asynchronizität leben sollen? Es war ja nun wirklich kein Weltuntergang, wenn auf Ariens Seite drei standen und auf Artemis‘ Seite einer, oder? Aber er würde ganz sicher nicht jetzt, im Grunde während der Hochzeit, noch anfangen und irgendetwas umrangieren wollen. Vermutlich würde dann die versammelte Gemeinschaft, allesamt, wie Wölfe über ihn herfallen und ihn in Stücke reißen. Zu viel Arbeit war investiert, zu viele Nerven strapaziert worden, um dafür zu sorgen, dass dieser Tag wirklich perfekt wurde – oder wenigstens so nah wie möglich an Perfektion heranreichte.

Der Trainingsraum war einfach die logische Konsequenz gewesen. Sie brauchten einen großen Raum mit guter Akustik, der sich leicht freiräumen ließe. Allein die Bettkiste in Vetus‘ Zimmer war zu schwer gewesen, von seinem Sofa oder den Steinbänken ganz zu schweigen. Das Schwimmbecken hätte man vielleicht irgendwie trockenlegen können, aber dann mussten alle heraus und wieder herein kommen. Er fand immer noch, dass man einfach die Oberfläche hätte vereisen können. Wäre die Schicht dick genug gewesen, hätte sie die Bänke samt Gästen sicherlich tragen können. Das wäre sooo hübsch geworden! Aber nein. Das war ja wieder zu absurd…

Den Trainingsraum hatte man zumindest nur auskehren müssen. Gewissermaßen. Die großen Trümmerstücke mussten immer noch von Arien oder irgendwem mit absurder Körperkraft weggeräumt werden, aber wenigstens konnten sich da auch die ohne eben diese Kraft beteiligen – mit einem Besen im Kampf gegen die kleineren Stücke oder beim Abräumen und wegschleppen der Waffentische. Und die Dekoration konnte sich sehen lassen. Man hielt das Farbthema beider bestmöglich aufrecht. Blautöne auf Artemis‘ Seite, Lilatöne auf Ariens. Und obgleich das in Hans‘ Kopf keine allzu hübsche Kombination zu ergeben vermochte, bewies sich darin dann offenbar seine mangelnde Vorstellungsgabe. Dann wiederum: Man hatte eine Muse an die Arbeit gelassen… natürlich funktionierte es, irgendwie.

Die Statuen waren ein hübsches I-Tüpfelchen. Und die feine Garderobe der Gäste erst! Issis Fähigkeit, Seide zu produzieren, war tatsächlich einer der Faktoren gewesen, warum die ganzen Vorbereitungen überhaupt so lange gedauert hatten. Immerhin brauchte es gute Kleider. Wirklich, wirklich gute Kleider. Für die Trauzeugen, für den Priester, für-… ihm wurde immer noch seltsam bei dem Gedanken daran, was genau er gerade am Körper trug. Das kam aus dem Hinterleib von Sszerins Freundin…

Vielleicht ein klitzekleines bisschen blasser als zuvor war Hans doch sehr dankbar, als der Wechsel in die dritte Melodie endlich den tatsächlichen Beginn ankündigte. Zunächst kam der Bräutigam mit seinem Ringträger – also Artemis und Brutus. Dabei war es für Hans selbst jetzt, da er ihn so oft in Kleidung gesehen hatte, noch immer seltsam, den Stahlriesen in einem feinen, elegant geschnittenen Anzug zu sehen. Nicht, das ihm das nicht stehen würde – es war schlicht ungewohnt.

Brutus dagegen war stoisch und schweigsam wie eh und je. Er fügte sich mit der gewohnten Präzision den Aufgaben, die der heutige Tag von ihm verlangte und wirkte dabei weder abgelenkt, noch nervös, weder euphorisch, noch angefressen. Es schien nahezu unmöglich, zu sagen, ob er eigentlich überhaupt hier sein wollte oder nicht. Ganz anders als bei Peter – der sich zumindest redlich Mühe gab, den Eindruck erwecken zu wollen, dass man ihn zu diesem Unsinn verpflichtet habe… obwohl inzwischen jeder wusste, dass er Lisa um eine Einladung gebeten hatte, nachdem man ihn zunächst nicht fragte, schlicht davon ausgehend, das er solch einer Veranstaltung nicht beiwohnen wollen würde…

Nachdem Bräutigam und Ringträger ihre Position bezogen hatten, kamen schließlich die Brautjungfern, Lisa und Vasilla.

Es war zweifellos ein amüsanter Gedanke, der Hans schmunzeln ließ: Eigentlich sollten Brautjungfern böse Geister verwirren und von der tatsächlichen Braut ablenken, um Unglück, Pech und Übel für die Ehe abzuwenden, die geschlossen werden sollte. Aber irgendwie vermutete er, das Vasilla insbesondere eine ganz eigene Art von Abwehr parat hätte, wenn irgendwer oder irgendwas versuchen sollte, diese wundervoll romantische, von ihr zu einem guten Teil mitgeplante und mitorganisierte Hochzeit zu ruinieren. Ganz zu schweigen davon, dass Lisa inzwischen auch zweifellos einige Erfahrung darin hatte, die ach so bösen Geister niederzuringen

Der Gedanke an mögliche Rollenspielkombinationen der beiden im Schlafgemach ließ ihn einen Moment beinahe jungenhaft glucksen. Glücklicherweise lag zu viel Aufmerksamkeit auf den Brautjungfern und ihren Frisuren und Kleidern und wer wusste was nicht noch alles, als das irgendwer ihn bemerkt oder sich an seinem Blick hätte stören können. Lisa war… bildschön. Unmenschlich schön. Und selbst Vasilla war eine Augenweite, solange sie ihr menschliches Abbild wiedergab. Doch derlei hatte für Hans irgendwie deutlich an Reiz verloren. Kam wohl mit dem Götterdasein – oder dem Umstand, niemanden mehr berühren zu können, ohne denjenigen in einen orakelnden Visionär zu verwandeln…

Niemanden außer seine Familie zumindest… ein Gedanke, der das Lächeln auf seine Lippen zurückbrachte.

Nachdem die Brautjungfern ihren Teil erfüllt und böse Geister vertrieben hatten, tauchten auch postwendend die Blumenmädchen auf. Gewissermaßen. Hans hatte wirklich sehr mit sich zu kämpfen, nicht zu lachen – aber diesmal erging es ihm da wenigstens nicht als Einzigen so. Lucilia war… begeistert von ihrer Rolle. Und dem jüngsten Mitglied des Ältestenrates von Elvoran sah man plötzlich nicht mehr an, das sie etwas anderes war als ein junges Mädchen mit einem hübschen Flechtkorb voller Blütenblätter, die sie ausnahmsweise mal aller Ordnungsliebe der Erwachsenen zum Trotz herumwerfen und überall verteilen konnte. Man sah ihr nicht einmal an, dass sie je etwas anderes gewesen wäre.

Das war, was ein warmes Lächeln auf die Gesichter trieb, ja. Was sie in Schalk und Amüsement verzog, das waren Thalion, Zenna und Coru. Die hatten ihre Körbe im Maul – und wedelten damit eifrig herum. Was ganz unweigerlich den Teil mit dem Blütenblätter verteilen natürlich ebenso erledigte. Aber allein die Euphorie zu sehen, mit der sie um Lucilia herumliefen…

Man hatte versucht, ihnen zu erklären, was ihre Aufgabe war. Und wozu sie das machten. Und natürlich, was es als Belohnung gab. Aber offenbar hatte die allgemeine Nervosität, Energie und Freude aller auch die Tiere angesteckt. Thalion jagte schneller als das Auge folgen konnte um Lucilia herum, Coru hüpfte irgendwann die Formation brechend aus der Reihe und über diverse Schöße, ehe er unter den Bänken hindurch kroch und generelles Chaos stiftete und die Einzige, die weiterhin tapfer blieb, ihre Rolle hielt und mit Lucilia in gemäßigtem Tempo den Gang zum Altar beendete… war Zenna.

Die dann natürlich auch entsprechend begeistert zu Arthur sprang und ihren Korb dabei eher ignorant mit einem Kopfschwung zur Seite beförderte.

Wer war eigentlich auf die brillante Idee gekommen, die Dinger zu verzaubern? Der Vorrat an Blütenblättern darin war – vermutlich? – endlos, wurde permanent nachgefüllt. Was dazu führte, das – gerade mit Thalions Begeisterung und Corus generellem Wahnsinn – sehr schnell eine konstante Blütendecke den Boden des Trainingsraums bedeckte und es so ziemlich überall recht intensiv nach den zugegeben hübschen Blumen roch, die man tagelang in den Kavernen gesäht, gepflegt, geerntet hatte.

 

Alle Aufmerksamkeit verlagerte sich unweigerlich zum Eingang der – für heute – Festhalle, als die Braut erschien.

Arien wurde von Vetus am Arm geführt, wie die Tradition es gebot und obgleich er sich nicht ohne eigene kleine Panikattacken und Zweifel kräftig in Schale geworfen hatte – immerhin war Ahillea anwesend -, wurden doch alle Blicke ganz unweigerlich von Arien selbst angezogen. Lisa und Vasilla hatten zusammen mit Issi Wochen an diesem Kleid gesessen. Dutzende Entwürfe waren verworfen worden, dutzende Schnitte probiert und ignoriert. Für die Farbgebung hatte man Rik und das Alchemielabor bemüht, wieder und wieder. Seidenproben hatten darauf getestet werden müssen, wie gut sie welche Farben annahmen. Und letztlich… war dieses Prachtwerk entstanden.

Selbst Lisa, die viel auf ihre Kunst gab, war am Schluss des Schaffensprozesses überzeugt gewesen, so etwas kein zweites Mal schöpfen zu können.

… glücklicherweise schien das auch weiterhin keine Kreaturen anderer Ebenen anzuziehen, nur weil sie ihren Job gut machte.

Hans räusperte sich kurz. „Du sabberst“, flüsterte er leise in Artemis Richtung, der daraufhin den Mund zuklappte. Natürlich sabberte er nicht. Er konnte. Vermutlich. Aber seine aufrichtige Verwirrung zu sehen, war wunderbar – und es brach ihn genug aus der Trance, damit es auch tatsächlich weitergehen konnte.

Vetus führte Arien bis zum Altar, ehe er sich langsam löste und seinen neuen Platz einnahm. Dann verstummten die Instrumente und es wurde Zeit. Einen letzten, zu spät heraneilenden Impuls der Nervosität niederkämpfend, räusperte sich Hans und holte Luft. „Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um die Vermählung von Arien Inránainn Zauberfänger und Artemis zu vollziehen. Und weil die beiden es einfach nicht lassen können, haben sie ihre Gelöbnisse selbst geschrieben.“

„Hans!“, wies Arien ihn mit beinahe wehklagendem Ton zurecht, ehe der beschwichtigend die Hände hob.

„Hey, alles ernst, keine Panik. Also, Leute – bereit dafür?“ Nachdem ein Lächeln, vereinzelt sogar ein Kichern, durch die Reihen gegangen war und allgemeines Nicken, Lächeln und Zustimmung ihnen entgegenschlug, nickte der Zeremonienleiter Artemis zu. Der daraufhin aussah, als würde er gleich zusammenbrechen. Was wirklich seltsam war für ein dreieinhalb Tonnen Stahlkoloss.

 

Dann jedoch fing das Amulett um Ariens Hals seinen Blick ein. Der wundervolle Saphir darin eingefasst, verzaubert von ihrem Großvater… und im Moment von einem bildschönen, tiefdunklen Meerblau. Er leuchtete nicht. Sie wollte nicht weg. Keine Flucht. Sie wollte hier sein. Bei ihm. Und das durchziehen. Mit ihm.

Artemis nickte. Ob nun als Reaktion auf Hans oder sich selbst zur Bekräftigung, wer konnte das schon sagen?

„Wir haben viel miteinander durchgemacht. Es mögen noch keine Jahrzehnte sein – aber ich wage zu hoffen, dass wir in Jahrzehnten mit einem warmen Lächeln auf diesen Tag zurückblicken werden, gemeinsam. Ich habe um dich fürchten müssen, muss es noch. Darum, ob du von deinen Aufträgen überhaupt zu mir zurückkehrst. Darum, ob Ereshkigal dir die Gnade der Wiedergeburt gewährt, falls dem nicht so sein sollte. Darum, wie schlimm deine Alpträume diesmal sein werden. An manchen Tagen glaubte ich, vor Sorge krank zu werden. Und du teilst diese Ängste. Nicht zurückzukehren. Schlafen zu gehen. Und dennoch gehst du hinaus, jedes Mal wieder. Stellst dich dem Irrsinn dort draußen, den Gefahren dieser Welt und den Kräften, die sie zu zerstören versuchen. Nicht einmal, weil du daran glaubst, dem gewachsen zu sein – sondern weil du daran glaubst, dass es das Richtige ist. Ich bewundere diese Stärke und Entschlossenheit. Ich bewundere seine Willenskraft und Selbstdisziplin. Deinen Willen, für das einzustehen, woran du glaubst. Und ich liebe dich für so viel mehr – für all die Kleinigkeiten, allem voran. Für die bildschöne Röte in deinen Wangen, wenn ich dich verlegen mache. Für dein Lachen, dass du viel zu selten erklingen lässt. Für die Stunden, die wir Seite an Seite in der Küche standen, mit Teigresten an den Händen und Mehl in den Haaren. Ich liebe dich für all die Stunden, die wir gemeinsam auf dem Sofa saßen und schweigend gelesen haben. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen – und will es auch nicht müssen.“

Einen Moment lang verlor sich Artemis in ihren wunderschönen Augen. Der Drang war groß, einfach diesen einen Schritt vor zu tun, die Tränen von ihren Wangen zu streichen und sie zu küssen. Sie an sich zu ziehen und ihr zuzuflüstern, dass er für sie da war. Und immer sein würde. Dann jedoch riss er sich schweren Herzens los – das käme erst noch. „Ich, Artemis, gelobe hier und heute feierlich, dich zu ehren und zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, bis zum Ende der Zeit selbst… und frage dich nun: Willst du meine Frau werden?“

Warum? Es machte keinen Sinn, dass so viele angespannte, nervöse Blicke nun plötzlich auf Arien ruhten. Hans konnte sich das nicht recht erklären. Er hatte während Artemis‘ Rede kaum zugehört. Während der Proben hatte er sie dutzende Male gehört, er kannte sie selbst auswendig. Es war gewiss nicht die hübscheste oder epischste Rede aller Zeiten. Er hatte eloquentere und geschicktere, sogar humoristische Reden gehört. Aber Artemis heiratete zum ersten Mal. Vielleicht – falls der Große Glück hatte, auch zum letzten Mal. Seine Rede war zumindest… ernst. Sie kam von Herzen.

Die mangelnde Notwendigkeit, zuzuhören, hatte Hans jedoch Zeit gelassen, die Gästeschar im Blick zu behalten. Und die waren angespannt. So als würde Arien wegteleportieren – was seines Wissens nach sehr gründlich abgesichert worden war. Oder als würde sie gleich einfach die Schleppe packen und davonrennen. Was… schlicht und ergreifend nicht seine Lieblingsenkelin war. Das hier war kein fürchterliches Monster, das hier war auch keine Peinlichkeit. Das hier war etwas zum Jubeln und Feiern, es war ein Geschenk, ein Glück, es war ihr großer Tag – warum also die Blicke…?

„Ja, ich will“, kam es von ihr nach kurzer Pause, aber überzeugt.

Auch ohne Hans‘ Aufforderung wusste Arien, dass es nun an ihr war. Einen Moment zögerte sie, raffte ihren Mut zusammen, ehe sie ihre Stimme auf der Skala ihrer Lautstärke weit genug in die Höhe treiben konnte, dass sie auch zuverlässig hörbar sein würde – selbst für Peter. Vielleicht hatte er sich deshalb ganz hinter gesetzt…? Damit sie sich wirklich überwinden musste, laut und deutlich zu reden? War das seine merkwürdige Form von Unterstützung?

Der Gedanke – und das Lächeln dabei – halfen ihr, sich zu konzentrieren.

„Ich hatte viele Ängste. Als wir dich und diesen Ort fanden, fürchtete ich die Geheimnisse darin. Als du mir ein Freund wurdest, fürchtete ich, du würdest dich nur an die erstbeste freundliche Seele klammern, die dir in viel zu langer Zeit begegnete. Als wir einander näher kamen, fürchtete ich meine eigene Unwissenheit vor dem, was ich von mir erwartet glaubte. Und während all dessen fürchtete ich mich stets am meisten vor meinen Fehlern. Davor, einmal mehr nicht genug zu sein. Nicht schnell genug, nicht stark genug, nicht gut genug. Aber du warst da. Du warst für mich da und hast mich gehalten, als ich zitternd einschlief und schreiend aufwachte. Du warst für mich da, als ich vor Scham im Boden versinken wollte, weil ich nichts wusste – und hast mich zum Lachen gebracht. Du warst für mich da, wann immer ich übers Ziel hinausgeschossen bin und hast mir Grenzen aufgewiesen, die ich selbst nicht länger sehen wollte. Du hast mir geholfen, wo und wie du nur konntest und all meine Ängste ertragen. Gemeinsam haben wir viele davon bezwungen. Aber du hast mehr getan als das. Du hast dich mir geöffnet. Wie es keiner zuvor getan hatte. Du hast dich mir gezeigt, mich eingelassen. Wir… hatten unsere Schwierigkeiten. Und ich fürchte mich. Ich fürchte mich auch weiterhin vor allem, was schief gehen kann. Vor allen Fehlern, die passieren könnten. Aber alles, was uns bisher im Weg stand, haben wir überkommen können. Und mit jedem Mal wird es schwerer, nicht daran zu glauben, dass wir auch weiterhin alles überkommen werden. Ich… i-ich möchte dich nicht mehr hergeben müssen, nie mehr.“

Ein schwaches Lächeln umspielte Ariens Lippen. Er hatte so viele Dinge angebracht. Alltägliches, gewiss. Zeit, die sie zusammen zugebracht hatten. Sie dagegen, sie erinnerte sich an die großen Dinge. An Nächte, die sie durchgeweint hatte. An Tage, in denen sie vor ihrem eigenen Schatten davongesprungen war. An all den Unsinn, den sie sich selbst über die Wochen und Monate eingeredet hatte – und den ihr wieder auszureden oftmals nicht nur Artemis allein Zeit und Nerven gekostet haben musste, sondern auch viele andere, die heute hier versammelt waren. Vielleicht, irgendwann, würde er dessen überdrüssig werden. Vielleicht würde seine Geduld mit ihr ein Ende finden. Vielleicht würde seine Liebe für sie nachlassen.

Aber bis es soweit war… würde sie keine Sekunde der Zeit, die sie mit ihm hatte, freiwillig hergeben!

Mit neuer Entschlossenheit im Blick atmete sie tief durch. Sie versank in seinem Blick. Dem Lächeln auf seinen Lippen. Es schenkte ihr eine innere Ruhe, die sie abermals durchatmen ließ. „Ich, Arien Inránainn Zauberfänger, schwöre dich zu ehren und zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, bis…“ Einen Moment lang zögerte sie, ehe ein Lächeln auf ihren Lippen aufzog. „… bis zum Ende der Zeit selbst…“, lieh sie sich seine Formulierung aus, „und frage dich nun: Willst du mein Mann werden?“

Die üblichen Gelübde waren dahingehend ein wenig einseitig, wie Hans befand. Willst du meine Frau werden? Willst du mich denn auch zur Frau haben? Dahingehend begrüßte er Ariens Abwandlung der Standardformel mit einem zufriedenen Lächeln – und noch viel zufriedener war er, als Artemis endlich meinte „Ja, ich will!“

Und dann brach Chaos aus.

Man hatte Arien ja bereits gut anmerken können, wie unglaublich nervös sie war. Gewiss nicht als Einzige im Raum, wirklich nicht – und das ging selbst über Artemis hinaus. Aber keiner der Anwesenden hatte erwartet, dass ihre sich monströs und unüberwindlich aufbäumende Nervosität binnen eines Wimpernschlages die Kontrolle an sich reißen und sie gerade dazu verleiten würde.

Ein Laut, der irgendwo zwischen einem glücklichen Schluchzen und einem freudigen Jubelschrei steckengeblieben war, drang gerade noch rechtzeitig aus ihrer Kehle, ehe sie plötzlich Artemis entgegensprang. Der fing sie – wenngleich unnötig – dank guter Reflexe natürlich prompt auf und das technisch betrachtet eigentlich noch nicht vermählte Paar küsste sich.

Sehr, sehr, sehr hingebungsvoll.

Einen Moment herrschte völlige Stille, ehe der Saal in amüsiertes Glucksen und Gelächter ausbrach. Erst da schien Arien zu begreifen, dass irgendwie noch ein Teil fehlte. Also ließ sie schweren Herzens – zweifellos – von Artemis ab, kletterte, nachdem sie ihn wortwörtlich angesprungen hatte, wieder von ihm herab, nahm ihre etwas distanziertere Position ein und brachte das Kleid wieder dahin, wo es hingehörte: Gut sitzend an anständige und sittsame Orte.

Mit hochrotem Kopf nuschelte sie eine kaum verständliche Entschuldigung in Richtung des sich vor Lachen den Bauch haltenden Zeremonienmeisters, der daraufhin vage mit der Hand abwinkte. „Schon gut, ihr zwei, nur zu. Kraft meines Amtes und Macht meiner Person erkläre ich euch zwei Turteltauben hiermit zu Mann und Frau, ihr dürft jetzt – wieder – übereinander herfallen…!“

Von der kleinen Stichelei ein wenig beschämt, hatte Arien Artemis diesmal nur sittlich und gebührlich küssen wollen. Und dabei ganz offenkundig unterschätzt, was der kleine Überfall mit ihm angestellt hatte. Denn kaum reckte sie sich ihm ein kleines Stück entgegen, packte der tonnenschwere Stahlkoloss bereits zu und zog sie zur Gänze an sich, um allen Publikums ungeachtet fortzuführen, was sie hatten unterbrechen müssen.

Glücklicherweise… war Arien hart im Nehmen und konnte das aushalten. Hans mochte gar nicht über die blauen Flecken spekulieren, die anderen über Wochen Schmerzen bereitet hätten, die Arien eigentlich ständig haben musste. Nein. Nein, darüber wollte – und würde – er wirklich nicht spekulieren. Wirklich nicht.

Nachdem sie sich dann irgendwie doch wieder voneinander hatten lösen können, trat das Paar ab und den nicht mehr ganz eindeutig zuzuordnenden Blumenblütenpfad entlang in Richtung Ausgangstür – wo Arien schließlich stehen blieb und, vor der großen Feierlichkeit, den letzten Teil der Hochzeitstradition umsetzte… indem sie blindlings den Blumenstrauß in hohem Bogen hinter sich in die Menge warf.

Hans verfolgte noch immer mit schmerzendem Zwerchfell, wie Vetus das Gebinde verdutzt auffing und sich vors Gesicht hielt, als müsse er zunächst eine Kostprobe nehmen, um seine Natur erkennen zu können. Wirklich dazu kommen konnte er jedoch schlecht, als Ahillea neben ihn trat und den Strauß kecken Lächelns aus seinen Klauen pflückte. „Danke, lieb von dir“, erklärte sie leise und drückte dem Drachen einen Kuss auf die Wange.

Ihr Zwinkern danach. Sein sinnbefreites Gestammel. Das unruhige Zucken und Halbflattern der Flügel. Wie plötzlich da ein kräftiger Schuss Lila seine Schuppen färbte. Hans konnte sich unweigerlich nicht mehr recht halten und sank, von neuem Gelächter geschüttelt und gepeinigt, in sich zusammen. Sie wollten ihn umbringen, das musste es sein. Sie alle hatten sich verschworen, um herauszufinden, ob man einen Gott töten konnte.

Mit Lachen.

So musste es einfach sein. Musste. Immerhin standen jetzt die Feierlichkeiten an… und Arien und Artemis würden mindestens einmal tanzen müssen…

… so musste es einfach sein…



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