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shaping fate

von

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Wunder

„Ich hab’s!“

Mit diesem Satz, so hätte mancher meinen wollen, begann alles. Sicherlich – man konnte auch gut darüber streiten, wo der Anfang tatsächlich lag. War es der Moment, an dem Arien Zauberfänger und Artemis sich ineinander verliebt hatten? Oder vielleicht der Moment, als Artemis überhaupt erst einen eigenen Verstand von der neusten Generation an Nadelmeistern zugestanden bekam? Immerhin erlaubte das überhaupt erst, dass er sich seiner bewusst wurde, eine Persönlichkeit entwickeln, sich entfalten konnte – zu dem werden konnte, den Arien zu lieben lernte. Möglicherweise sollte man es auch zurückführen, auf den Zeitpunkt seiner Schöpfung? Oder noch fundamentaler, auf den Zeitpunkt der Schöpfung von Vetus, der seinerseits überhaupt erst die Nadel und damit die Notwendigkeit zur Schöpfung von Artemis hervorbrachte. Und wenn man diesen Pfad schon verfolgte, warum dann nicht die Berufung von Hans Laye, Sohn einer Schneiderin, zum Gott der Zeit, Zwölfter im Pantheon der Alten? Oder all die Umstände, die zu seiner Zeugung überhaupt erst geführt hatten?

Es gab immer Varianzen. Wahrscheinlichkeiten. Mögliche Abweichungen. Entscheidungen. Entgegen dem Glauben mancher war freier Wille keine Illusion und an zahllosen Stellen hätten viele Ereignisse anders ausgehen können. Selbst nachdem dieser schicksalsträchtige Satz gefallen war hätte sich vieles noch anders entwickeln können, als es das letztlich tat.

Es war schlicht nicht möglich, einen einzelnen Zeitpunkt festzusetzen, mit dem sich diese Geschehnisse signifikant in den Büchern einbringen ließen. Und in jenem Moment? Da war ohnehin niemandem bewusst, was es wirklich bedeuten, wozu führen, wie die Zukunft formen würde. In jenem Moment war da einfach nur Eresthenes, der sehr selbstzufrieden sich sogar ein Lächeln erlaubte. Er stand in der Tür zum Gasthaus, starrte Arien und Artemis an, die ihrerseits überrascht aufgefahren waren.

Irgendeinen sozialen Anlass sprengte er hier gerade. Ein Jubiläum vielleicht? Wovon?

Es scherte ihn nicht allzu sehr. Er hatte Nachrichten, Neuigkeiten, von außerordentlicher Größe und nein, sie konnten keine weitere Stunde oder auch nur die nächste Minute warten!

„Eh… Entschuldigung“, brachte Artemis zunächst verdutzt hervor, „aber… was hast du?“

„Eine Lösung für das Energieverteilungsproblem bei dem Gewehr? Du hast aber nicht schon wieder versucht, die Sekundärplatinen kurzzuschließen, oder? Hast du eine Schalldämpfung für die Werkstatt installiert oder ist diesmal tatsächlich nichts explodiert?“ Ariens Enthusiasmus verließ binnen eines Wimpernschlages den Tisch und das zugegeben ohnehin seichte Gespräch, das sie gerade mit ihrem Liebsten geführt hatte – zu Gunsten der möglichen neuen Entdeckungen eines guten Freundes. Ein guter Freund… aber nicht unbedingt immer der Zurechnungsfähigste.

Der Gnom rollte seinerseits mit den Augen. Warum unterstellten ihm nur immer alle, er würde Dinge explodieren lassen? So ein Blödsinn, er war kein verdammter Goblin! Wenn, dann würden sie implodieren. Oder phasenverschoben werden. Oder die Farbe ändern. Sie hätten jedenfalls andere, bemerkenswertere, sensationellere Effekte als einfach nur stumpfe Explosionen. Ihm solche Stümperei zu unterstellen, er war fast geneigt, tatsächlich zu warten, sie schmoren zu lassen, in ihrer eigenen Ungeduld. Verdient hätte sie’s!

Fast.

„Nein, nein!“, winkte er hastig ab, „Alles Schnee von gestern! Ich habe-“

„Schnee?“, echote Arien irritiert, „Du hast… das Gewehr aber nicht aus Versehen in Eis verwandelt, oder? Kannst du die Temperatur ausreichend niedrig halten oder ist es schon geschmolzen? Falls du Hilfe brauchst, es rückgängig zu machen, sag einfach was, ich könnte-“

„Arien!“, zischte Eresthenes in einem seltenen Moment der Ernsthaftigkeit. Sie schwieg sofort still und nach einer Sekunde betretenen Schweigens im Raum – vielleicht auch zehn Sekunden – seufzte der Gnom und schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Artemis Recht. Vielleicht färbten sie beide tatsächlich irgendwie aufeinander ab. War er wirklich so? So… nun…

Nein. Nein, das konnte einfach nicht sein. So war er nicht. Wie immer man es nannte.

„Ich habe eine Lösung für das andere Problem. Euer Problem“, erklärte er in einem neuen Versuch.

Jetzt endlich begriff sie. Artemis ebenfalls. Während der zu lächeln begann, bekam der Halbdrache große Augen und wurde ein klein wenig blasser, auch wenn ihre Mundwinkel ebenfalls nach oben zuckten. Er nickte zufrieden und trat näher, zog sich von einem der benachbarten Tische einen Stuhl herbei und besah sich den Aufbau auf dem Tisch kurz. Ein Kerzenhalter mit drei halb herabgebrannten Kerzen deutete einen romantischen Hintergrund an. Dazu, dass das Treffen schon eine Weile ging und möglicherweise die besten Teile – oder Wichtigsten – ohnehin bereits geklärt waren. Denn ohne ein Verständnis für die üblichen Abläufe war es nur naheliegend, wichtige und drängende Dinge eingangs zu besprechen. Wer würde schon bis zum Schluss warten?

Die Tischdecke war gewöhnlich. Die, die sie hier immer hatten. Also war es wohl nicht zu wichtig. Oder Artemis ließ mit der Mühe nach, mit der er um Arien warb. Auch wenn es selbst nach dessen Erklärung noch immer ein seltsames Konzept für ihn war, um jemanden zu werben, dessen Interesse und Zustimmung man bereits ‚gewonnen‘ hatte. Eresthenes verstand natürlich das Prinzip, das Interesse auch wieder sinken konnte und man es aufrechterhalten musste. Was er nicht verstand war, warum diese übliche Regel in diesem unüblichen Fall ebenfalls griff. Oder greifen sollte.

Aber er zerbrach sich ohnehin lieber den Kopf über Maschinen als über Leute und deren Relationen zueinander. Maschinen waren verlässlicher. Teile griffen ineinander und funktionierten einfach. Und taten sie das nicht, gab es gut nachvollziehbare, klare, eindeutige Fehler, die man beheben konnte. Lisa, Vasilla, Elesil, Ithildalin, die hatten alle oft genug versucht, ihm zu erklären, dass es im Grunde möglich sei, diese Denk- und Vorgehensweisen auch auf das soziale Parkett zu übertragen. Aber wann immer jemand damit begann, Leute, Teile ihrer Persönlichkeiten, Facetten, Eigenheiten, Angewohnheiten, mit Maschinenteilen und deren Kooperationsbedürfnis und –fähigkeit gleichsetzen zu wollen… hörte es bei ihm einfach auf. Sein Verstand stoppte jegliche operative Funktion und verweigerte sich den Schlussfolgerungen.

Leute waren keine Teile. Beziehungen waren keine Maschinen. Und sie zu reparieren war damit glücklicherweise nicht, niemals nie nicht, seine Aufgabe. Darum konnten sich gut und gerne andere kümmern. Ihm egal, wer. Andere eben.

„Eresthenes?“, erkundigte sich Artemis. Er hätte es vermutlich ignoriert, so wie die zwei Mal zuvor auch schon, aber diesmal winkte das Konstrukt mit der Hand vor seinem Gesicht und der über seine Augen wandernde Schatten ließ ihn unwillkürlich blinzeln, was sich als störend für seine klaren, strukturierten Gedankengänge erwies und-

Er hatte gerade eine Idee gehabt. Eine Erkenntnis. Und jetzt war sie weg.

Etwas ungnädig betrachtete er den grauen Stahlriesen, verwarf jegliche Vergeltungswünsche jedoch augenblicklich und kehrte stattdessen zur eigentlichen Thematik zurück. „Ist Artemis ein Konstrukt?“ Verwirrung herrschte für einen Moment vor, bis Arien – vertraut mir Eresthenes gelegentlich wirrer Gesprächsführung – entschied, seinem Faden zu folgen und bejahte. „Seht ihr, die Naniten in ihm wissen das. Das und auch alles andere. Und letztlich wissen sie, inzwischen zumindest, auch so viel mehr als das, was sie ursprünglich mal wissen sollten. Sie kennen und unterstützen mit ihrer Rechenleistung all die Routinen, die inzwischen seine Persönlichkeit ausmachen. Sie kommunizieren, geben diese Informationen weiter, entwickeln sie, verändern sie, speichern sie bis zur nächsten Weitergabe oder Veränderung. Im Grunde… besteht Artemis aus Sprache. Und du, du genauso. Du bist Halbdrache. Aber du hast auch blaue Schuppen an den Schultern. Am Bauch aber nicht. Du hast Flügel, die am Rücken sitzen – nicht an der Brust. Dein Körper wächst und weiß, wie und wo er wachsen muss, was wohin gehört und wie aussehen muss. Er kennt seine Funktionen. Und jede Zelle deines Leibes enthält die Informationen, die dazu nötig sind. Und dein Hirn? Elektrische Impulse, Erinnerungen im Fluss, letztlich nicht so viel anders als eine Schar Routinen, nur komplexer. Sein Körper wird zwar nicht von seinen Routinen bestimmt und verändert, aber letztlich könnte man selbst dafür ein paar Neue schreiben.“

Eine erste, dramatische Pause.

Er hoffte auf Begeisterung. Darauf, dass Arien nach wenigen Sekunden seinen Gedankengängen weit genug gefolgt wäre, von dort aus den Sprung ins frisch eröffnete Ideenbecken wagen würde und letztlich, bei den selben simplen Schlüssen ankäme wie er. Sie war immerhin brillant. Vermutlich einer der klügsten Köpfe dieses Zeitalters.

Allerdings hatte sich in der Vergangenheit schon mehrfach gezeigt, dass das auch hinderlich sein konnte. Und auch diesmal erlag sie dem Nachteil, den solch ein überragender Intellekt mit sich brachte: Sie schoss über das Ziel hinaus, dachte viel zu kompliziert und verhedderte sich in einer gewaltigen Schar gleichzeitig eindringender, miteinander verwobener und generell völlig irreführender und unnützer Ideen. Bis sie die Stirn in Falten gelegt die Brauen zusammenzog und ihn hilfesuchend ansah. „Worauf willst du hinaus?“

Er hatte Hoffnung für sie, wirklich. Gemeinsam würden sie diese Existenzebene revolutionieren. Ihre Technik, ihr Verständnis der Naturwissenschaften, einfach alles!

Aber nicht heute.

Heute war einer dieser Tage, an denen er sehr frustriert und sehr gedehnt seufzen wollte. Und sie schütteln.

Natürlich war ihm klar, dass das nicht zielführend wäre. Vom Schütteln allein würde kein Verständnis in ihren Kopf einsickern. Auch wenn seine Mutter das stets damit zu erklären gewusst hatte, dass man jemanden schüttelte, damit sein Kopf etwas durcheinander kam, damit dort im Oberstübchen Chaos entstand und der Geschüttelte im Nachgang dessen, im Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, möglicherweise endlich ein paar Grenzen überschritt, Limitationen einriss, Dinge endlich in den richtigen Zusammenhang setzte. Er wusste es inzwischen nur einfach besser.

Aber wäre es nicht schön, wenn die Dinge so einfach funktionieren würden…?

„Sprache, Arien! Es geht um die Sprache!“, brach er in einem neuen Anflug von Begeisterung hervor, „Alles ist Sprache! Du bist Sprache! Dein Körper ist Sprache! Er ist Sprache! Sein Körper ist Sprache! Vermehrung ist nichts anderes als zufällige Kommunikation, wirres Gebrabbel zwischen Zellen! Das ganze Problem bei euch war eigentlich immer nur, dass eure Sprachen so unkooperativ waren, sich nicht miteinander verknüpfen ließen! Aber die Naniten, die verstehen! Verstehst du? Sie verstehen, dass Artemis aus Metall besteht. Welches Metall. Wie dieses Metall auf molekularer Ebene strukturiert ist. Sie verstehen, dass seine Platinen nicht aus dem gleichen Metall bestehen. Und warum dem so ist. Wie man die Metalle kombinieren muss. Welche Funktionen wie gewährleistet werden. Die Sprache deines Verstandes und Körpers ist Chemie und die Naniten in ihm verstehen Chemie! Alles, was ich machen muss, ist ihnen beizubringen, wie sie auch Chemie sprechen können! Wenn sie seine physiologische Erscheinung und die Routinen, die seine Persönlichkeit, Erinnerungen, seinen Verstand ausmachen, wenn sie die in Chemie übersetzen können, dann haben wir’s! Ich muss ihnen nur begreiflich machen, nach welchem Prinzip deine chemische Kommunikation aufgebaut ist. Ihnen quasi das Alphabet beibringen. Dann Wortbildung. Grammatik, Rechtschreibung. Satzstrukturen. Und selbst das muss ich nicht mal selbst machen – ich, ich muss ihnen nur die Werkzeuge geben, es sich selbst anzulernen. Analyse-Routinen und ein paar Upgrades hier und da schreiben. Aber wenn das erstmal steht, dann können sie es sich selbst beibringen, hundertfach schneller, als ich es ihnen zu lehren fähig gewesen wäre!“

Endlich begannen ihre Augen ebenfalls zu leuchten. Nicht wortwörtlich, glücklicherweise - dann hätte er sich Sorgen gemacht, ob der Stuhl wieder aus seiner Werkstatt ausgebüchst wäre. Aber endlich war da dieses zuvor schon erhoffte Feuer der Zuversicht, der Spaß an der Entdeckung, das Berauschen im Angesicht neuer Entwicklungen. Und, zweifellos, die Freude über die Aussichten, die damit einhergingen. „Wenn du ihnen das beibringst, sind die Informationen, die beide Teile verarbeiten, kompatibel… das heißt…“

Eresthenes nickte eifrig. „Das heißt, du schuldest mir eine Werkstatterweiterung!“

Arien nickte – und stutzte benommen einen Moment später. „Ich… was?“

Er bekräftigte sein Nicken. „Ich habe die Wette gewonnen. Ich habe das Rätsel geknackt. In unter dreißig Jahren.“

Etwas verdutzt starrte Artemis zu Arien herüber, die dezent errötend den Blick senkte. „Ich war betrunken“, nuschelte sie leise zu ihrer Verteidigung – mit wenig Erfolg, wie sie zweifellos bereits erwartet hatte.

„Wette ist Wette und du warst nicht so betrunken. Du erinnerst dich noch daran“, schoss er zurück.

„Das liegt an den verdammten Erinnerungstechniken“, merkte sie defensiv an.

Doch der Gnom zuckte nur mit den Schultern. „Nicht mein Problem. Du schuldest mir eine größere Werkstatt.“

„Fein. Ich werde mit Vater darüber reden und Artemis findet sicherlich demnächst Zeit…?“ Sich geschlagen gebend, wanderte ihr Blicke Unterstützung suchend zu Artemis, der geistesabwesend nickte.

„Das heißt“, setzte dieser schließlich an, den Kopf mit einem vorsichtig-freudigen Lächeln auf den Lippen hebend, „das… das wir…?“

Arien lächelte. Vielleicht war es sogar mehr als nur das. Zählte das schon als Grinsen? So oder so war ihr tiefroter Hautton verräterisch, als sie nickte und beinahe unhörbar leise ein „Wir können Kinder bekommen“ flüsterte.

„Oh. Ja, genau. Das auch“, meinte Eresthenes nach einem Moment.

Arien und Artemis, die sich seiner weiterhin bestehenden Anwesenheit jetzt erst wieder richtig bewusst wurden, starrten ihn einen Moment an, ehe sie einen Blick miteinander wechselten und zu lachen begannen. Er hätte sich echauffieren wollen. Die Werkstatterweiterung war für ihn natürlich vorrangig und wichtiger als der Umstand, ob sie nun Nachwuchs zeugen konnten oder nicht. Das sollte ja wohl selbstverständlich sein!

Doch er wollte ihnen den Moment nicht ruinieren und beließ es daher bei einem Schnaufen. Sollten sie doch lachen.

Nun ja. Immerhin wirkten sie glücklich.

 

„Ich habe einige Zufallsroutinen eingebaut. Damit Ariens Informationen nicht vollständig überschrieben werden, aber auch nicht immer das Gleiche herauskommt. Ist damit auch etwas realistischer. Auch wenn ich nach wie vor befinde, dass das ein unnötiger Schritt war. Es wäre so viel einfacher, ein Kind einfach zu bauen. Ich meine… gerade in dieser Situation wäre es so simpel!“, maulte Eresthenes und überreichte Artemis einen kleinen Kanister. Die scheinbar zähflüssige Substanz darin war tatsächlich ein Schwarm von Millionen von Naniten. Ihre Lebenserwartung war nicht sonderlich hoch und ihr Arbeitsbereich… hochspezialisiert. Dafür konnten sie, was Artemis‘ restliche Naniten nicht zu vollbringen vermochten.

„Wenn wir ein Kind bauen wollen würden, dann hätte ich einfach einen Hammer zur Hand genommen und Arien in die Schmiede geführt. Erz und Esse, Eresthenes. Mittel, die uns schon seit Anbeginn dieser Sache zur Verfügung standen. Aber das ist einfach nicht das Gleiche“, erwiderte Artemis geduldigen und nachsichtigen Tones.

Eresthenes hasste diesen Ton. Man musste nicht geduldig mit ihm sein. Er war schnell. Begriff schnell. Weil er auch klug war. Sehr. Und überhaupt, Nachsicht brauchte man mit ihm erst recht nicht! Er war umsichtig und vorausschauend und weitsichtig und… und bestimmt noch andere wichtige Sachen. „Fein. Aber wehe du beschwerst dich, das euer Nachwuchs kahl ist. Die Naniten haben auch dafür Informationen gespeichert.“

Artemis lachte kurz auf. „Ich denke, das werden wir überleben. Solange das Kind nicht schon vor der Geburt vorhat, so groß wie ich werden zu wollen…“

Der Gnom verzog das Gesicht. „Natürlich nicht, Dummkopf. Ich habe mehr Zeit auf die Sicherheitsmaßnahmen verwendet als auf sonst irgendwas. Es ist nur… es ist trotzdem viel Arbeit gewesen. Und ihr macht ein Glücksspiel draus. Das erscheint mir einfach nicht richtig. Aber letztlich ist es eure Entscheidung, also macht was ihr wollt.“

Artemis kniete sich hin, um ihm etwas mehr auf Augenhöhe begegnen zu können. Eine Hand auf seiner Schulter, wurde das Lächeln des Konstruktes seltsam… warm. Freundlich. Eresthenes hatte nie ganz begreifen können, allen technischen Sachverstandes und aller detaillierter Analysen zum Trotz, wie er das bewerkstelligte. Und er hasste und verfluchte diesen ‚Geist in der Maschine‘-Blödsinn. Das waren Routinen! Kleine Programme. Dutzende. Hunderte. Zehntausende. Aber es war alles nachvollziehbar!

Nur diese lebendige Mimik war-… war bestimmt nur Einbildung. Er selbst war schließlich aus Fleisch und Blut und damit fehlerhaft und anfällig für Suggestionen, selbst wenn sie von seinem eigenen Verstand ausgehen mochten. Er konnte Artemis gut leiden, also unterstellte er ihm eine bessere, lebendigere, authentischere Mimik, als dem wiederum hätte möglich sein sollen. So musste es einfach sein. Bestimmt.

„Dir ist klar, dass du dann Patenonkel wirst, oder?“, durchbrach Artemis‘ Stimme seine Gedankengänge.

Eresthenes stockte und überlegte einen Moment, wog ab. Onkel zu sein hatte sicherlich so seine Vorteile. Es war technisch betrachtet nicht sein Kind, er konnte es also abgeben, wann immer ihm der Sinn danach stand. Trotzdem konnte er auch so viel Zeit damit verbringen, wie er wollte. Es studieren. Analysieren. Ihm beibringen, wie man aus ein paar Schrottteilen kleine Maschinen bastelte. Erstmal nur simple Mechanik, für den Anfang. Energiekonverter, Nuklearreaktoren und Plasmaspulen konnte man sich für die frühe bis späte Jugendzeit aufheben.

Und so eine weitere kostenlose Assistenz war sicherlich auch nicht verkehrt. Noch jemand, den er möglicherweise einspannen und an die Technik der Zukunft heranführen könnte. Wenn auch nur ein Funke Ariens in diesem Kind stecken würde… nun, nicht alle Persönlichkeitseigenschaften oder körperlichen Merkmale schlugen sich im chemischen Konstruktionsplan nieder. Vieles wurde auch durch Umwelt, Erziehung und Myriaden ihm unbekannter interner und externer Faktoren beeinflusst, abgeändert. Aber bei Arien und Artemis? Das Kind musste einfach ein Genie sein. Er konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht vorstellen, wie es keins werden sollte.

Also nickte er langsam. „Natürlich.“

Artemis stählerne Braue hob sich langsam, sein Mundwinkel einseitig ebenso. Er vermutete zweifellos, dass der frisch gekürte Patenonkel bereits eine kleine Schar an Absichten und Plänen hatte. Aber Eresthenes gedachte aktuell definitiv nicht, die zu teilen. Wozu auch? Die Naniten waren allem zum Trotz immer noch experimenteller Natur. Es gab letztlich keinen Garant für das Gelingen dieses Projektes und beide gingen all seinen Mühen zum Trotz dennoch ein erhebliches Risiko ein.

„Dann… gehe ich mal zu ihr. Arien, meine ich“, erklärte Artemis, als hätte es da irgendwelche Zweifel geben können. „Zur… zur möglicherweise zukünftigen Mutter unserer Kinder…“ Er lächelte versonnen. „Es klingt seltsam. Aber schön. Noch immer etwas unwirklich.“

Der Gnom verzog dagegen reichlich das Gesicht. „Stimme zu. Klingt seltsam. Will ich auch wirklich nichts von wissen. Jetzt raus hier. Los. Husch. Raus!“ Er, Herr und Meister der Werkstatt, hätte das dreieinhalb Tonnen schwere Konstrukt unmöglich bewegen können. Sein Versuch, den Stahlriesen also aus der Werkstatt hinaus zu schieben, war nur und ausschließlich deshalb von Erfolg gekrönt, weil Artemis glucksend wie ein Bursche mit dem ersten Flaum am Kinn beim Streichespielen sich hatte schieben lassen. Oder vielmehr: Er richtete sich auf und zog vor, gemächlichen Schrittes zur Tür zu gehen, während hinter ihm ein Gnom schnaufend versuchte, sein Schritttempo zu erhöhen.

 

„Wollen wir?“, hakte Artemis im Bemühen um eine verführerische Stimme nach. Versuche dieser Art gab es schon zur Genüge und erfolgreich waren sie so gut wie nie gewesen. Zumindest nicht dahingehend, tatsächlich in sich verführerisch zu sein. Ihr üblicherweise durchaus vorhandener Erfolg lag vielmehr darin begründet, was Arien sich bei jenen Worten unweigerlich ausmalte – und das wiederum, das griff auch dieses Mal.

Deutlich errötend nickte sie.

„Ich habe ein paar Dinge… verändert“, erklärte er lächelnd, während beide unter der Decke verschwanden.

„Hast du?“

„Mhm. Eresthenes ging mir beim Schreiben dessen ein wenig zur Hand. Er meinte, es würde mein Empfinden auf grundsätzlicher Ebene deutlich realistischer gestalten und-… u-und…“ Artemis hatte nicht grundlos deutliche Schwierigkeiten, seinen Satz zu beenden. Oder auch nur, den Gedanken festzuhalten, den er damit zum Ausdruck zu bringen versucht hatte. Arien zeigte dieser Tage weit mehr Initiative, als sie es zu Beginn ihrer Beziehung je getan hatte. Mehr, als er ihr an manchem Punkt zugetraut hätte. Und übernahm gelegentlich sogar die Führung. Wie, offenbar, auch heute Abend.

Sie rutschte über ihn, saß zunächst auf seiner Brust und spähte hochrot zu ihr herab. Selbst im Dunkel konnte er es ausmachen. Sie zierte sich noch immer, wurde ihr Schamgefühl selbst ihm gegenüber nie wirklich los und würde es wohl auch nie werden. Aber sie wusste, dass er ihren Anblick liebte. Jede Sekunde, die er erhaschen konnte und jeden Zentimeter, an dem er sich sattsehen durfte. Langsam nur stützte sie sich auf seiner Brust ab und rutschte etwas tiefer, positionierte ihre Hüfte über der seinen und lehnte sich zu einem innigen Kuss herab.

Er spürte die Hitze, die von ihr ausging. Sie warm, weich, wohlig angenehm ihr Körper war, ihre Nähe, ihr Atem, ihre Lippen, ihre Schenkel, fuhr mit seinen Händen ihren Rücken herab bis zum Steiß, strich behutsam über ihre Flügel. Stirn an Stirn liegend, glitten seine Hände wieder herauf, zogen zärtliche Spuren über ihre Ohren. Das unweigerliche, ungehemmte Aufkeuchen, als er jener hochempfindlichen Region seine Aufmerksamkeit schenkte, war für das frisch erprobte, realistischere Empfinden jedoch offenkundig zu viel.

Unter einem Ächzen bäumte er sich ein kleines Stück auf, kam ihr entgegen. Überrascht lehnte Arien sich zurück, richtete sich auf und hielt ihn, als er die Stirn an ihre Brust legte. Als er sich mit den Armen nach hinten abstützte und das Haupt hob, lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie zuvor nicht oder höchst selten zu sehen geglaubt hatte. Artemis war üblicherweise niemand, der für Schamgefühl sonderlich anfällig war…

„Bist du gerade…? Also… hast du…?“ Verdutzt blickte sie sich noch ein Stück zurücklehnend herab, zwischen ihre Leiber und wieder zu ihm herauf.

„I-Ich glaube… ich belasse es erstmal bei… uhm… den… d-den konventionellen… uhm… wir… können das ja später testen und… ja…“ Die Situation war absurd. Und entbehrte nicht einer gewissen Komik. Wie oft hatte er sie aufgezogen? Wie oft hatte er sie geneckt? Und jetzt saß er hier und wusste weder kohärente Sätze zu formen, noch mit der Situation umzugehen? Wo waren jetzt seine frechen Sprüche?

Für einen Moment erwog sie, es ihm heimzuzahlen. Natürlich keineswegs in böswilliger Absicht. Niemals in solcher. Aber ein kleiner Seitenhieb, den würde er verkraften können, nicht? „Nun…“, hob sie schmunzelnd an und wartete, bis er zu ihr aufblickte. Langsam ließ sie etwas bemüht ihre Hüfte kreisen, verfolgte, wie seine Augen sich weiteten, er sie anstarrte. Es war glorreich! Zugleich aber wurde ihr auch bewusst, wie… seltsam verletzlich er plötzlich wirkte. Einen Moment nur erwog sie, ihn noch ein wenig länger auf die Folter zu spannen, entschied sich jedoch dagegen. Später wäre sicherlich genug Raum. „Ja. Können wir. Wir haben mehr als genug Zeit“, erklärte sie stattdessen, lehnte sich wieder vor und küsste ihn abermals. Mit sanftem Druck verdeutlichte sie ihm ihren weiteren Plan und bereitwillig senkte er sich wieder auf das Bett zurück.

Arien dagegen nahm ihren Mut zusammen und richtete sich nach einem kurzen Moment wieder auf. Ein wenig Feinjustierung und unter einem Seufzen sank sie nieder, biss sich unbewusst auf die Unterlippe und hielt die Augen für den Moment geschlossen, spürte dem Gefühl nach.

Sie hatten jede Menge Zeit. Jede Menge.

 

„Ich bin fett“, kam der frustrierte Tonfall seitens seiner Liebsten.

„Das liegt am guten Kraftfutter und dem Umstand, dass dein Appetit nun für zwei reichen muss“, erwiderte Artemis in dem Versuch, ihre Stimmung ein wenig aufzuhellen. Dazu musste er nur den Pinsel aktuell noch nicht weglegen.

„Du machst dich über mich lustig…!“, warf sie ihm anklagend vor.

Ihm lag bereits ein Spruch darüber auf der Zunge, wie er sich das im Leben nicht wagen würde, der Ton sorgfältig moduliert, um das Gegenteil zu implizieren, doch die Ernsthaftigkeit, mit der sie das vorgebracht hatte, ließ ihn zögern und schließlich den Pinsel bei Seite legen. Er trat von der Staffelei und der Leinwand zurück, wischte sich kurz die Hände am Tuch ab und kniete sich vor Arien, die mitsamt ihrem voluminösen Bauch in ihrem Sessel im Kaminzimmer seiner Wohnung saß. Das Buch, das sie gelesen hatte, lag seit einer Weile schon unbeachtet auf dem kleinen Nebentisch. Sie hatte so ziemlich jedes Werk über Schwangerschaften und Kindererziehung verschlungen, dass ihre Bibliothek hergab. Und die umspannte immerhin sämtliche Bibliotheken eines ganzen Kontinents. Den Wissensschatz von drei Nationen und inzwischen mehr als einem halben Dutzend Völkern.

Manche der Bücher waren hilfreich gewesen. Andere dienten eher dem gemeinsamen Amüsement. Denn keiner von ihnen hatte wirklich vor, den Ratgebern der Drow oder Zentauren zu folgen. Dein Kind kann sich nicht gegen andere Kinder verteidigen? Mach ein Neues, Stärkeres!

Er kniete sich vor sie, die Hände auf den Armlehnen und musterte sie einen Moment.

„Erinnerst du dich, als wir bei deinem Großvater Urlaub machten? Unser erstes Phyliafest in Carasamban. Dieser Abend, als wir Essen gingen. Ich sagte dir, dass ich zu der Überzeugung gelangt sei, dass du jedes Kleid tragen könntest, jede Farbe, jeden Stoff – es würde nur die Schönheit unterstreichen, die ohnehin schon da sei. Damals ging es um Kleider und heute… erweitere ich das. Du bist – und wirst bleiben – die schönste Frau, die ich gesehen habe. Und inzwischen kannst du es nicht mehr darauf schieben, das ich zu wenige Frauen gesehen hätte.“ Es war nicht unbedingt sein bester Versuch. Aber er bemühte sich und er war ehrlich. Etwas, das sie möglicherweise spürte.

„Ich bin zu nichts mehr nütze“, seufzte sie gequält, „Ich sitze den ganzen Tag nur noch herum. Schlafe, esse, beschwere mich. Ich darf nicht mehr kämpfen, nicht mehr aushelfen, trainieren, nicht mal mehr fliegen! Fliegen, Artemis! Was kann da schon groß dabei sein!“

„Es ist eine enorme Beanspruchung deines Körpers und die Flugbewegungen könnten-…“ Er brach ab. Sie rollte mit den Augen und er realisierte auch leicht, warum. Sie hörte diese Begründung wahrlich nicht zum ersten Mal und hatte sich damit vermutlich schon bei allen anderen beschwert, die ihr – möglicherweise – allesamt genau das Gleiche geantwortet hatten, wie er gerade zu antworten ansetzte.

„Ich kann froh sein, das Eresthenes mich wenigstens noch arbeiten lässt… wer weiß, wie lange er das noch zulässt… oder wie lange der Rest das noch zulässt“, murrte sie weiter.

Artemis seufzte, lächelte jedoch auch. „Das sind deine Stimmungsschwankungen, die da aus dir sprechen. Und tief drin weißt du das auch. Eresthenes würde eher mit Waffengewalt drohen, vielleicht sogar Fallen einbauen, als sich etwas vom Rest vorschreiben zu lassen. Und vermutlich hätte er dir vorher Asyl gewährt, wenn du ihm deine Situation darlegst. Ich bezweifle, dass du jemals bei ihm vor verschlossener Tür stehen würdest.“ Das schien sie zwar zumindest mit jenem Teil ein wenig zu versöhnen, nicht aber mit den grundsätzlichen beiden Problemen. Sie fühlte sich nicht mehr wohl, von ‚attraktiv‘ ganz zu schweigen. Doch gleich, wie oft er betonte, dass er sie noch immer hinreißend fand, anziehend, sie glaubte ihm nicht. Konnte es möglicherweise einfach nicht.

Das war damit eine Schlacht, die er unmöglich gewinnen konnte. Sie würde erst enden, wenn der Krieg selbst endete.

Eine andere Schlacht dagegen konnte er möglicherweise durchaus für sich entscheiden, hier und heute zumindest. Sein Blick blieb kurz an dem Buch hängen, das dort lag. „Trainieren und Kämpfen magst du nicht mehr können – aber du darfst noch immer schwimmen, nicht? Und in der Werkstatt arbeiten, wie du sagtest. Du kannst noch immer mit Thalion rausgehen. Oder die Pferde versorgen. Du kannst so viele Bücher lesen, wie du es noch nie zuvor gekonnt hast. Und brauchst nicht länger eine Ausrede, warum du diese Bücher liest und nicht etwas, das ‚effektiv‘ und ‚nützlich‘ ist. Du kannst dir Gedanken um das Kinderzimmer machen. Pläne zeichnen. Die Einrichtung bauen.“

Sie lächelte. Schwach und schmal, aber es war da. Ihr Widerstand schmolz zumindest ein wenig. „Wir wissen doch noch nicht einmal, was es wird. Junge, Mädchen… Kreuzschlitzschraube…“

Beide teilten einen kurzen Moment ihr Glucksen und Kichern, ehe Artemis ihre Hände ergriff. „Es ist die Nadel, Arien. Es ist nicht so, als hätten wir Platzmangel. Dann baust du eben für einen Jungen und ein Mädchen. Und wenn es soweit ist und wir mehr wissen, dann können wir eins der Zimmer immer noch verschwinden lassen. Oder umdekorieren. Den Inhalt verkaufen. Oder unser Kind in späteren Jahren damit gefügiger bekommen, indem wir ihm statt Hausarrest und frühes Zubettgehen androhen, dass er die nächste Woche in dem anderen Zimmer zubringen muss.“

Diesmal bekam er ein ungefiltertes, ehrliches Lachen aus ihr herausgekitzelt. „Folter! Das ist schrecklich. Du bist schrecklich!“

Er lachte ebenfalls kurz auf, gab ihr einen Kuss auf die Hand und nickte. „Möglicherweise. Aber wenn ich unser Kind vergraule, dann steigen die Chancen, dass es hilfesuchend zu dir rennt.“

„Ist das meine einzige Option, mich bei unserem Kind beliebt zu machen?“, hakte sie nach, eine Braue gehoben, „Und willst du wirklich riskieren, dass wir es mit unseren komplexen Plänen nicht eher in Richtung seines Patenonkels treiben…?“

Artemis stockte, erwog einen Moment. „Spätestens, wenn es das erste Mal bunt leuchtend und glitzernd zurückkommt, ist es vermutlich ohnehin erstmal ein Weilchen vom Spielen in Onkel Astrasius‘ Werkstatt kuriert.“

„Oder möchte dann erst recht dahin“, wandte Arien schmunzelnd ein.

„Nun in dem Fall… wissen wir zumindest, wie wir das Zimmer umdekorieren müssen.“ Wieder lachte sie kurz auf. Er beugte sich etwas vor und küsste sie. Ein langer, inniger Kuss, ein Moment Frieden und Besinnung auf das Gute, das sie hatten. „Du könntest mir beim Malen helfen, wenn du möchtest.“

Lächelnd nickte sie und ließ sich aufhelfen. „Was wird es denn diesmal?“

Er führte sie dem Gemälde näher und Arien begann abermals zu kichern. „Arthur Laiermann, erster Ritter des Ordens der Nadel, bei einem seiner gefährlichsten und wichtigsten Einsätze.“ Tatsächlich war das Bild noch grob, doch die Szenerie bereits zu erkennen, wenn man damals anwesend war. Die ersten Farbtupfer fassten gut den blassen Orangeton der riesigen Reitschnecke ein, von deren Rücken Arthur gerade stürzte, schleimig und mangels eines Sattels, als diese sich aufbäumte.

„Hatten wir an dem Tag nicht Illyanas Keksdose erbeutet?“, flüsterte Arien leise, verträumt. Sie trat an das Gemälde heran und strich vorsichtig über eine der skizzierten, aber noch farbfreien Stellen.

„Du meintest wohl: Ein kostbares Familienrelikt mit Schätzen jenseits der Vorstellungskraft vieler“, erklärte Artemis mit ernstem Nicken.

Ihr Lächeln gewann an Wärme, als sie sich neben ihm einfand. „Ich vermisse ihn“, flüsterte sie leise. Es lag Nostalgie in ihren Worten. Vielleicht noch eine Spur Wehmut. Doch der Schmerz war inzwischen vergangen. Eine Weile ließ er ihr, besahen sie sich das Bild, erinnerten sich still der Szenerie, ehe er seinen Pinsel aufnahm und ihr einen Zweiten reichte.

Je länger sie daran arbeitete, umso ruhiger und entspannter wirkte sie wieder. Mit ihren Launen umzugehen war gerade anfangs schwierig gewesen. Er hatte wenig darüber gewusst, viel zu lernen gehabt. Doch inzwischen… war er an dieser Herausforderung gewachsen – wenn auch längst nicht im gleichen Ausmaß wie sie.

… vielleicht sollte er sich den für später merken…

 

Ariens Schreie zogen durch die Nadel.

All die Pein und Qual der Seelen, die Jahrtausende in den Höllen zubrachten, täglich neu gefoltert und gemartert, vereint in ihrem wahnsinnigen Kreischen nach Erlösung und ihrem Heulen vor Schmerzen, all jene wären verblasst im Angesicht des Schreies, der Ariens Kehle entrang. Immer wieder ging sie dazu über, in kurzen, heftigen Atemstößen ihre Lungen neu zu befüllen, ehe Eresthenes, ausgerechnet Eresthenes, ihr die Anweisung gab, zu pressen.

Die letzten Stunden waren, gelinde gesagt, anstrengend gewesen. Für alle Beteiligten. Und dank Ariens Organ und der immensen Lautstärke, zu der es offenbar fähig war, galt wohl so ziemlich jeder als Beteiligter, der sich innerhalb der Nadel befand. Eresthenes konnte sich nicht ausmalen, welche Schmerzen das sein mussten. Und wirklich, er wollte es auch eigentlich nicht wissen, so gar nicht. Was ihn interessierte war lediglich, was alle interessierte, wirklich alle: Dass es bald vorbei war.

Und genau das war, wofür er arbeitete. Gut, schnell, so ruhig wie möglich.

Es gab Komplikationen. Das war angesichts der Umstände zu erwarten gewesen. Sie war ein Halbdrache. So etwas hatte es vorher nie gegeben. Und hatte Nachwuchs gezeugt. Mit einem Konstrukt. Auf Basis von Nanitentechnologie, die in dieser Zeit eigentlich wirklich nicht existieren sollte. Ja, Komplikationen waren gewissermaßen unvermeidlich gewesen.

Er hatte getan, was er konnte. Hatte alle Sicherheitsprotokolle installiert, die ihm eingefallen waren. Aber er hatte nicht daran gedacht, ob es Möglichkeiten gab, Ariens Körper ebenfalls, nun, sicherer zu machen. Zu spät erst hatte sich gezeigt, dass der Gedankengang vielleicht nicht verkehrt gewesen wäre. Zu spät erst war er mit der Nase darauf gestoßen worden, dass die Naniten noch so sicher sein konnten, aber letztlich würde es Ariens Körper sein, der mit den langfristigen Konsequenzen dieser Zeugung umzugehen hätte.

Jetzt war es zu spät und sie konnten sie Ursache nicht mehr angehen. Alles, was ihnen blieb war, die Symptome zu bekämpfen.

Dabei war Eresthenes frühzeitig immerhin zu dem Entschluss gekommen, seinen üblichen Arbeitsmodus vorzutäuschen. Er war fokussiert, konzentriert, definitiv nicht ablenkbar oder ansprechbar oder sonstwie kommunikativ über das zwingend Nötige hinaus. Denn wirklich, Artemis hatte von Geburten keinen Schimmer und Rik noch viel weniger. Vetus wiederum hatte zwar Ahnung… war jedoch umgekippt und fiel als wirklich nützliche Hilfe damit auch raus.

„Nächste Ladung“, warnte Eresthenes, bevor er ein Trio von Ampullen in Ariens Arm leerte. Die Haut war schon völlig zerstochen. Ursprünglich hatte er ihr eine Ladung pro zehn Minuten gegeben. Dann eine alle fünf. Dann eine jede Minute. Dann zwei jede Minute. Inzwischen waren es drei alle dreißig Sekunden. Ihr Unterarm heilte auch nicht mehr die Einstichwunden. Zu beschäftigt war ihre beschleunigte natürliche Heilung damit, die deutlich kritischeren Wunden an anderen Stellen zu behandeln. Interne, hauptsächlich – was ihm weiterhin erlaubte, Artemis über den Ernst der Lage im Unklaren zu lassen.

Der hatte sich zwar über den enormen Verbrauch gewundert, sich aber mit einem simplen „Das war zu erwarten gewesen“ abwimmeln lassen.

Rik platzte rein. „Die nächsten Ladungen“, klärte er Eresthenes nur kurz auf, packte zwanzig Stück auf den kleinen Rolltisch mit dem medizinischen Besteck und sah zu, das er schleunigst wieder aus dem Raum kam. Das erste Mal war Arien von seiner Anwesenheit und Beteiligung an dieser Sache aus irgendwelchen so ziemlich allen unklaren Gründen heraus nicht sehr begeistert gewesen – und hatte ihn per Telekinese erst gegen die Wand geworfen, dann fast daran zerquetscht in dem Versuch, ihn durch die Wand durchzudrücken.

„Wieviele?“, hakte der Gnom nach.

„Noch fünfzig“, meinte Rik auf dem Weg nach draußen. Er würde in ein paar Minuten mit den nächsten zwanzig Ladungen zurückkommen. Eresthenes rechnete kurz den aktuellen Verbrauch hoch, den noch vorhandenen Vorrat und die geschätzte Dauer, bis Arien endlich das Kind bekommen hätte.

Das verdammte Hemochem würde nicht reichen. Als der steigende Verbrauch absehbar wurde, war Eresthenes eingangs noch dankbar für Riks fortwährende Paranoia gewesen, für seinen beinahe schon zwanghaften Drang, sich stets aufs Äußerste auf alle möglichen und unmöglichen Katastrophensituationen vorzubereiten. Hemochem zu horten wie Arien Schmuck hortete war dem Bastler ein wenig merkwürdig vorgekommen, aber es war die Nadel und hier hatte es schon ganz andere Absurditäten gegeben.

Jetzt wurde jede Dosis zu einem kleinen Lebensretter. Arien brannte dennoch schneller durch die Dinger durch, als sie sie nachproduzieren konnten.

Ein Fluchen auf dem Gang ließ Eresthenes aufhorchen und das Schlimmste befürchten. Falls Rik eine komplette Ladung fallen gelassen hatte… hätte Arien nur noch wenige Minuten…

„Schau nach!“, wies er Artemis an, bemüht, jegliche Hektik aus seiner Stimme fern zu halten.

„Wenn du jetzt gehst, reiße ich deinen Schädel in zwei Hälften! Mit bloßen Händen!“, fauchte Arien mit solcher Wortgewalt, das Artemis wie angewurzelt stehen blieb. Glücklicherweise konnte er nicht wirklich blass werden und vermutlich war es etwas Gutes, das Arien ihm erlaubt hatte, zumindest das Schmerzempfinden in seiner Hand abzustellen. Stark genug, Metall zu verbiegen, war sie allemal. Nichts, was ein paar gut gezielte Hammerschläge und ein paar Zauber später nicht würden richten können. Aber der Gnom machte sich Sorgen um Arien.

Er hatte zwar wirklich gehofft, nicht dazu greifen zu müssen, sah aber auch an dieser Stelle nicht viele Alternativen. Die Geburt musste beschleunigt werden. „Trink das“, wies er ruhig an.

„Fahr zur Hölle!“, zischte Arien zwischen heftigen Atemstößen und kniff bemüht die Augen zusammen, biss die Zähne aufeinander.

Rik kam herein – offenbar mit nicht einer Ladung beschädigt. Gut. Immerhin etwas.

„Nächste Ladung“, verlangte Eresthenes, während er Arien das nächste Trio spritzte und eine weitere Spritze vorbereitete. Sie wollte es nicht trinken? Fein. Dann würde er eben den direkteren Weg nehmen! „Das wird weh tun“, warnte er sie vor.

Der Blick, den er daraufhin abbekam… er hatte keine Worte dafür. Eresthenes war nüchtern. Üblicherweise schwer einzuschüchtern. Er gab sich von Zeit zu Zeit so, aber ihn tatsächlich einzuschüchtern, war nahezu unmöglich. Und dieses ‚nahezu‘ hatte vor diesem Augenblick auch nicht existiert.

Etwas zusammenschrumpfend erwog er kurz, ob ihre eigenen, regenerativen Kräfte nicht vielleicht doch irgendwie damit fertig werden würden, doch… doch letztlich wusste er es besser. Also packte er zu und drückte die Spritze hinein. Sie riss sich beinahe von den Adamantiumfesseln los, als sie sich aufbäumte. Ihr Kreischen schwoll nochmals in Lautstärke an, wurde beinahe zu einem herzzerreißenden Heulen, das letztlich nur schwächer wurde, weil sie nicht endlos viel Luft in ihrer Lunge hatte.

Jener Moment erschütterte unweigerlich auch Artemis zutiefst. Ihn – und sein Vertrauen in Eresthenes‘ Können und die Normalität des bisherigen Ablaufs. „Was passiert hier?!“, verlangte er entsetzt zu wissen.

„Ich beschleunige die Geburt“, erklärte Eresthenes knapp.

„Warum?“ Natürlich fragte er nach dem Warum. Wozu war ja auch völlig irrelevant. Oder wie.

„Wir haben nicht genug Hemochem übrig, um sie durch den restlichen Geburtsprozess gehen zu lassen“, erwiderte Eresthenes leiser, in der Hoffnung, Ariens eigenes Jaulen möge dafür sorgen, dass sie selbst das nicht zu hören bekam.

„Was?!“, drang es dummerweise dennoch aus beiden Kehlen zu ihm.

„Lasst mich meine Arbeit machen und vertraut mir. Steh mir nicht im Weg rum“, erwiderte er kratzbürstig und schob Artemis wieder zu Arien heran, als der einen Schritt näher zu ihm trat. Was er damit hatte bezwecken wollen, war dem Gnom unklar – und gerade in diesem Moment war es ihm auch völlig einerlei. Seine Freundin, seine Kollegin, seine möglicherweise-irgendwann-mal-Schülerin lag dort auf dem Tisch und verblutete allmählich. Er gedachte das nicht zuzulassen.

Als Rik wieder reinkam, schleppte er nur noch halb so viele Ladungen. „Das ist der Rest“, gab er hastig wieder. Statt jedoch abermals fluchtartig den Raum verlassen zu können, stoppte Eresthenes ihn, indem er ihm in den Weg trat.

„Drei Ladungen alle dreißig Sekunden, zähl‘s in Gedanken ab oder nimm die Uhr, lass dich nicht ablenken, lass dir nichts erzählen, hör einfach nicht zu. Drei Ladungen, dreißig Sekunden. Ich bin gleich wieder da!“

Fassungslos starrten alle drei dem Gnom hinterher, als der in aller gebotenen Eile – sogar einen Zauber wirkend, um sein Lauftempo mehr als nur zu verdoppeln – den Raum hinter sich ließ. Noch immer etwas schockstarr gaffte Rik einen Moment die drei Ampullen an, dann zu Arien, die bereits mit Blicken drohte, seine Wange neuerlich Bekanntschaft mit der Wand schließen zu lassen. Just in dem Moment, als die Anspannung im Raum so dick zu werden drohte, dass man sie sicherlich hätte mit der Hand greifen können, packte Artemis die Ampullen und setzte Arien die Ladungen in den Unterarm.

Eresthenes verschwand in seiner Werkstatt. Und baute. So schnell und rücksichtslos, wie er noch nie gebaut hatte. Ein paar Teile flogen ihm um die Ohren, als er Werkstoffe und Einzelteile aus ihren halbfertigen, aber bis dato zumindest stabilen Konstruktionen herausriss. Es zischte und surrte und fauchte und klirrte, der Hammer wurde geschwungen und binnen zwei Minuten hatte er das mieseste Stück instabiler Technik zusammengeworfen, das er je entwickelt hatte.

Wobei man wohl auch wirklich nicht von einer Entwicklung sprechen sollte.

Mit dem äußerlich im Grunde unidentifizierbaren Ding kehrte er zurück, stellte es neben Arien. „Das wird weh tun“, erklärte er und schüttelte den Kopf, als Rik wortlos darum bat, den Raum verlassen zu dürfen. Arien… versuchte einmal mehr fast erfolgreich, ihn mit bloßem Blick in Asche zu verwandeln.

Er war wirklich, wirklich froh, dass sie gegenwärtig keine Ressourcen mehr hatte, um irgendwas oder irgendwen zu desintegrieren.

Mit einem beherzten Schwung stieß er eine längere Metallnadel in Ariens Arm. Das Ding brach einmal komplett durchs Fleisch und rutschte dabei unweigerlich am Knochen ab. Sie schrie erneut auf, rüttelte an den Ketten und – Faelons solider Arbeit sei Dank – sie hielten auch diesmal stand.

„Beschwör Thilia. Danach hol Brutus“, wies Eresthenes Rik an und trat an Artemis, „Es überträgt Heilfähigkeiten. Ist nicht stabil und dezent giftig, aber das wird euch drei nicht stören. Es erspart uns ein paar Ladungen und verschafft uns Zeit.“ Artemis nickte und zögerte keinen Moment. Die zweite Nadel nahm er dem Gnom ab und schob sie unter zwei der Panzerplatten in den eigenen Brustkorb.

Rik bemühte sich wirklich sehr, Thilia an Ort und Stelle zu beschwören – aber nach einer halben Minute sah er ein, dass er hier unmöglich die Konzentration zusammen brächte, um das durchzuziehen. Er verließ unter Eresthenes Antrieb zur Eile den Raum und schickte Brutus hoch, bevor er Thilia zu beschwören versuchte.

Artemis erkaufte ihnen tatsächlich ein paar Minuten. Danach konnte man selbst dem Konstrukt die Schwächung ansehen. Und ganz ähnlich erging es Brutus. Als die zwei ihrer Kräfte beraubt waren, kam Thilia gerade recht. Beherzt und ohne Zögern ließ auch sie sich anzapfen und gab auf und weiter, was Rik bemüht mit einigen Zaubern noch verstärkt hatte. Ihre Heilkräfte waren inhärent, waren von ihm vor langer Zeit ein- und nie wieder ausgebaut worden. Aber mit etwas Arbeit ließen sie sich verstärken. Nicht viel, aber jedes Bisschen zählte.

Mit dem beschleunigten Geburtsvorgang, der gestohlenen Regenerationsfähigkeit und den letzten Resten an Hemochem konnten sie den Großteil der verbliebenen Zeit überbrücken. Hätten sie auch nur einen konventionellen Heilzauber weniger gehabt – jene, die sie noch vor Hemochem zu verbrauchen begonnen hatten -, hätte Arien den Tag möglicherweise nicht überlebt.

Wie knapp es trotz seines Versuchs, alles abzusichern, dann letztlich geworden war… beunruhigte Eresthenes. Ein Aspekt, der ihn für Wochen und Monate verfolgen würde. Selbst Jahre später, gelegentlich, beim ihrem Anblick, würde er noch schaudern und sich an den Tag erinnern, an dem die Konsequenzen seiner Forschung fast seine Freundin getötet hätten.

Als der erste Schrei erklang, waren sie alle erleichtert. Aus irgendeinem Grund. Denn an jenem Punkt endete es noch nicht. Eresthenes bemühte sich, den Sprössling zunächst einmal angemessen zu verarbeiten, so wie die Bücher und Anleitungen und Lehrstunden mit Vetus es ihm beigebracht hatten. Es gab da ein paar Handgriffe, die erledigt sein wollten. Doch Arien schrie und presste noch immer – bis ein zweites Kind das Licht der Welt erblickte.

Mit der Erstversorgung erledigt, wickelte Eresthenes sie fachmännisch ein und war heilfroh, die zwei kleinen, ungeschickt zappelnden Bündel vorsichtig übergeben zu können. Er hatte genug von Nachwuchs. Genug von Hemochem und Geschrei – nein wirklich, ihm klingelten noch immer die Ohren von Ariens ständigem Gebrüll! Er hatte genug von Nadeln und Blut und Operationstischen. Er hatte genug von alledem hier.

Eresthenes hätte es unumwunden zugegeben: Er war mit den Nerven am Ende. Selten genug, wie das vorkam… dieser Tag erfüllte die nötigen Bedingungen mühelos – und dann noch ein wenig mehr.

Die Nachbereitung, obwohl dringend, fühlte sich dennoch nicht mehr so hektisch an. Ohnehin kamen seine nicht sonderlich beeindruckend ausgeprägten Muskeln auch allmählich zum Ermüden. Entsprechend war er froh, mehr als froh, als Vetus anbot, sich um den Rest zu kümmern. Arien war in ihrem Bett, zusammen mit Artemis und zwei kleinen Sprösslingen. Vetus kümmerte sich um das Aufräumen und Saubermachen und das Entsorgen der Maschine und Eresthenes… nun, der zog sich in seine Werkstatt zurück. Er hielt es dort ganze drei Minuten aus, ehe er selbst den Anblick der in aller Hast und Eile zerpflückten Maschinen nicht mehr ertrug und sich noch weiter, noch tiefer zurückzog.

Ein langes, heißes Bad später kroch er mit seiner Leselampe und einem Roman ins Bett und zog die Bodenplatte über den Schlafverschlag zu. Erst wurde es finster, dann dank der Lampe ein klein wenig heller. Ihr schwaches, warmes Licht fühlte sich wundervoll für seine Augen an. Das weiche Bett bemühte sich im Verlauf der nächsten zwei Stunden im Grunde kontinuierlich, ihn einzulullen. Aber zunächst gab er dem nicht nach, nein. Er las. Las irgendetwas über die Eskapaden von irgendwem in irgendwo, vermutlich irgendwann. Irgendwas passierte auch.

Von Bedeutung war nichts davon. Nichts blieb hängen. Worte zogen an seinen Augen vorbei, Seiten wurden umgeblättert. Absätze, Kapitel, bedeutungslos. Es ging darum, die Fülle in seinem Kopf mit etwas zu verdrängen, das verlässlich war, ohne wirkliche Arbeit zu bedeuten.

Und am Ende erreichte er nach eben jenen zwei Stunden einen Zustand der Leere, der ihn zutiefst zufrieden stimmte. Dann erst löschte er das Licht. Und beendete einen Tag, von dem er wirklich hoffte, es würde ihn weder so, noch in ähnlicher Form jemals wieder geben.

 

Es klopfte an der Werkstatt. Es klopfte wie Arien klopfte, wenn sie ungehalten war.

Einer der möglichen Gründe, warum sich weder auf magische Weise – oder technische – die Tür von allein öffnete. Noch, dass er an die Tür käme. Oder auch nur etwas sagen oder sonstwie seine Anwesenheit deutlich machen würde. Dummerweise hielt das Arien nicht davon ab, einfach einzutreten – wie es das früher auch schon nicht getan hatte.

„Eresthenes, wir reden“, begann sie.

Nein, er zog nicht den Kopf ein – auch wenn der Impuls einen kurzen Moment da war. Es war kein ‚Wir sollten reden‘, kein ‚Wir müssen reden‘, nicht mal ein ‚Hast du kurz Zeit?‘ – sie redeten. Jetzt sofort. Keine Wahl.

Entsprechend bemühte er sich noch immer, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Seine Arbeit war wichtig. Er musste hochkonzentriert sein und durfte sich nicht ablenken. Der kleinste Irrtum könnte fatale Folgen haben und-

„Legst du bitte den Würfel weg? Thilias Geburtstag ist erst in einer Woche und wenn ich mich nicht irre… bist du mit Anmalen seit vorgestern fertig.“

Er war nicht ertappt. Überhaupt nicht. Man konnte ihn nicht ertappen. Sie sowieso nicht. Dennoch war es an diesem Punkt wohl ratsamer, einfach grundsätzlich gesünder, den Würfel wegzulegen und aufzuschauen. Und ja – sie wirkte ein wenig… verstimmt. „Was ist?“, fragte er bemüht höflich. Vielleicht nicht die ideale Wortwahl, um auch tatsächlich höflich zu wirken, aber sie kannte ihn gut und lange.

„Du hast Eathor erzählt, er sei eine Maschine“, meinte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ich… was?“ Etwas verdutzt starrte er sie an. Wie kam der Bengel denn auf diesen Blödsinn…? Die Stirn in Falten legend, sann er nach. Worüber hatten sie geredet? „Er kam her. War neugierig. Wollte wissen, wo er hergekommen war“, begann er sich zu erinnern.

Schon an dieser Stelle seufzte Arien. Erstmals. „Und dir kam nicht in den Sinn, gerade bei einer Frage wie dieser, ihn zu uns zu schicken?!“

Der Gnom zuckte mit den Schultern. „Warum? Ich bin mit eurem Reproduktionsprozess sehr vertraut“, erwiderte er und nein – er genoss überhaupt nicht, wie sie kurz sehr rot wurde und Anzeichen zeigte, das Thema ganz grundsätzlich fallen lassen zu wollen und die Werkstatt fluchtartig zu verlassen. Er hätte damit leben können. Gut leben können. Wirklich.

Aber Arien hatte eine Mission und solche nahm sie immer bitterlich ernst. Auch diesmal, unweigerlich – und sehr zu seinem Verdruss.

„Was hast du ihm erzählt?“, hakte sie nach.

„Alles. Vom gestellten Problem über die diversen Lösungsansätze bis hin zu Feldversuchen und letztlich der Idee, die am Ende funktioniert hat, einschließlich Entwicklungsphase, Produktionsphase, Umsetzung und Ergebnisformung. Oh… ich habe vergessen, ihm von der Geburt zu erzählen, da haben sich noch ein paar wichtige Rückschlüsse ergeben. Er sollte jetzt eigentlich sehr viel mehr über Nanitentechnologie wissen und verstehen.“ Er nickte, zufrieden mit sich selbst. Er hatte seine Erklärungen gut und sauber gehalten, war nicht abgedriftet, hatte keine seltsamen Ideen zwischendrin gehabt, die unbedingt sofort aufgeschrieben oder gar umgesetzt werden mussten… es war wirklich ein Bilderbuchgespräch gewesen. Und Eathor hatte so brav und artig da gesessen und zugehört.

„Eresthenes…“, hob Arien fassungslos starrend an.

„… ja?“, meinte der nach einem Moment stirnrunzelnd.

„Er ist neun. Nicht neunzig, nicht neunhundert, nein. Einfach nur neun. Jahre. Nicht Dekaden oder Generationen, Jahre!“ Sie schien schon wieder ein wenig aufgebracht und insgeheim fragte er sich, ob er den Blutdrucktest nicht doch nochmal wiederholen sollte. Er hatte die Vermutung, dass Eltern gerade in der ersten Lebensphase ihres Nachwuchses sehr viel anfälliger für diesbezügliche Veränderungen und Leiden waren. Bei Artemis ließ sich sowas nur denkbar schlecht messen.

„Ich weiß“, gab er bemüht zurück, „Amdiriel versteht das alles prima.“

Abermals starrte sie ihn einen langen Augenblick fassungslos an. „Du hast es ihr auch erzählt?!“

„Natürlich. Die zwei sind untrennbar. Außerdem konnte sie bestens verstehen, wie der Plasmagenerator versteht – und das, nachdem ich ihr die Teslaspule erklärt habe, nicht den Generator selbst. Sie abstrahiert schnell.“ Er war – obwohl es nicht sein Nachwuchs war und er nach diesem ganzen Theater sicherlich niemals Nachwuchs haben würde – durchaus sehr stolz auf das Mädchen. Einen klugen Kopf wusste er immer zu schätzen. Und sie bemühte sich wirklich, ihrer Mutter nachzueifern. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich nicht nur ein bemerkenswertes Basisverständnis für höhere Technologie zugelegt, nein. Sie hatte die phamazeutischen Grundzüge von Rik gelernt, die Basis für magische Bauprozesse von Ariens Großvater und Faelon aufgesaugt und bemühte sich, genauso an ihren bislang zugegeben noch etwas flauen und halbgaren ‚Prinzipien‘ festzuhalten. Beispielsweise, keine Leute zu hauen. Das wurde nur gelegentlich bei ihrem Bruder außer Kraft gesetzt. Üblicherweise dann, wenn er getroffene Abkommen über die Aufteilung erbeuteter zusätzlicher Nachspeisen zu ignorieren versuchte.

„Aber du kannst doch nicht einfach-“, setzte Arien wieder an, „Sie ist noch… du… urgh!“ Sie warf hilflos die Hände in die Luft und wirklich, Eresthenes hätte ihr sogar helfen wollen, es definitiv versucht… hätte er gewusst, was nun eigentlich das Problem war.

„Wäre es dir lieber, ich würde sie nicht fördern?“, versuchte er vorsichtig die mögliche Wurzel auszukundschaften.

„Nein“, gab sie durchaus glaubwürdig zügig zurück, „Es ist nur…“ Sie seufzte tief. „Ich weiß, dass du nicht völlig unempathisch bist. Ich musste gerade eine halbe Stunde auf meinen Jungen einreden, damit er sich von Tick Tack löste und mir sagte, was eigentlich das Problem ist. Er saß völlig aufgelöst in der Box und klammerte sich an ihn, als sei er sein letzter verbliebener Freund auf der Welt. Du hast ihm eine fürchterliche Angst eingejagt. Und ich hoffe einfach, dass du das verstehst. Und daraus lernst. Und dich in Zukunft bei sowas besser verhältst. Eathor und Amdiriel sind nicht gleichauf. Nimm ein wenig Rücksicht auf ihn, ja? Bitte.“

Er hätte ihr durchaus zustimmen wollen. Nein, sie waren nicht gleichauf. Wirklich nicht. Das Unvorstellbare war geschehen. Eathor war wirklich nicht dumm, nein. Er war nur nicht… nun, brillant. Er war nicht so überragend klug wie seine Schwester. Oder seine Mutter. Oder sein Vater. Oder Eresthenes. Oder… nun, andere.

Nach Eresthenes ersten Schätzungen war er dem Durchschnitt immer noch minimal überlegen. Minimal.

Arien war zu klug, um nicht zu sehen, wohin das früher oder später einfach würde führen müssen. Egal, wie nah die Geschwister einander standen und wie freundlich und akzeptierend die Eltern das Umfeld auch schufen. Früher oder später würde die Selbsterkenntnis einsetzen und das Verstehen, aus der Reihe zu fallen. Nicht dazu zu gehören. Nicht völlig, allemal. Egal, wie sehr sich alle bemühen würden, ihm das Gegenteil zu sagen und zu zeigen. Damit würde unweigerlich auch der Punkt kommen, an dem er sich distanzieren würde. Versuchen würde, sich zu beweisen. Zunächst anderen, vermutlich. Seinen Wert zu demonstrieren. Dass er trotz ‚minderen‘ Intellekts das Gleiche oder mehr sogar zu leisten fähig wäre, aufgewogen durch Mut, Entschlossenheit, Tatkraft und andere irrwitzige Ideale. Aber irgendwann würde er einsehen, dass er letztlich nur sich selbst hatte beweisen wollen, würdig zu sein. Würdig, dass man ihn akzeptierte. Würdig all der Liebe und Anerkennung, die ihm mit völliger Selbstverständlichkeit und allzeit kostenlos zuteil geworden war. Und dann würde es nochmals dauern, bis er eben jene Bedingungslosigkeit zu sehen und zu akzeptieren fähig wäre. An jenem Punkt würde er zurückkehren, sich seiner Familie wieder anschließen und alles war gut.

Es wäre einfach nur ein anderer Entwicklungsprozess, als Arien sich für ihn gewünscht hatte. Oder wünschen würde. So vermutete Eresthenes jedenfalls.

Er nickte zunächst nur und wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. „Er wird seinen Weg finden. Egal, welche Worte ich wähle.“

 

„Eathor! Sie sind über die linke Flanke eingebrochen!“, rief einer der Offiziere.

Der Angesprochene zog sich den Helm vom blonden Schopf und wischte sich mit dem Handrücken jene Mischung aus Schmutz und Blut aus der Platzwunde an der Stirn vom Gesicht. Oder vielmehr, verschmierte alles nur noch mehr. Wie sein Untergebener es erklärt hatte, erspähten seine geschlitzten Augen im Westen einen Durchbruch. Eine Reihe von Kältekegeln und Feuerbällen pulverisierte die dortigen Truppen. Schilde und Rüstungen allein konnten wenig gegen die Wut der Elemente ausrichten.

„Was machen wir jetzt?“, verlangte der Offizier mit leichter Panik in der Stimme seine nächsten Befehle zu erfahren.

„Wir können nicht gewinnen“, erklärte der frustriert, „Die Front kann gerade so standhalten – wenn sie die Flanke nehmen, können sie unsere Leute an der Front einkesseln und ein Keil in unsere Reihen treiben. Gib das Signal zum Rückzug, wir gruppieren uns im Heerlager!“ Die gewaltigen blauen Schwingen öffneten sich und Eathor hob mit wuchtigen, kräftigen Schlägen ab. Ein kleiner Schubs Windmagie beförderte ihn rasch auf die nötige Geschwindigkeit und in aller Eile stürmte er der westlichen Flanke zu Hilfe. Die Magier hatten allerhand beschworene Bestien entfesselt, um den vor den Elementen flüchtenden Soldaten den Rest zu geben.

„Folgt mir!“, rief er über ihre Reihen fliegend, „Folgt mir!“

Er landete in knapper Entfernung und die zuvor noch kopflos Flüchtenden sammelten sich hinter der Kraftbarriere, die er schuf. Feuerbälle, Kältekegel, Blitzstürme und Säurebomben prallten wirkungslos an der Mauer ab. Seine Männer konnten kurz durchatmen, ihre Waffen aufsammeln, ihre Rüstungen straffen – aber die Atempause würde nicht lange währen. In wenigen Augenblicken würde die Barriere kollabieren und er musste mit den Verbliebenen den Rückzug antreten. Und versuchen, so viele von ihnen hier lebendig heraus zu bringen, wie ihm möglich war.

„Kapituliert und ihr-“, begann soeben einer der Magier mit seltsam näselnder Stimme. Unter anderen Umständen hätte er zum Wohl der Moral seiner Männer einen Witz darüber gerissen – das Kapitulationsangebot war ohnehin den Atem nicht wert, der dafür verschwendet worden war, es auszusprechen.

Doch dann stieß etwas aus dem Himmel nieder. Sonne brach sich an stählernen Schwingen. Mehrere Plasmaladungen rissen beachtliche Löcher in die frisch aufgeschlossenen Reihen der Magier und ihrer Kriegsbestien. „Wuhuuu~!“, kam der wenig einschüchternde ‚Kriegsschrei‘ von oben, als mitten in ihren Reihen eine weitere Zauberfänger landete. Die Sensoren ihrer Flügel operierten makellos in Zusammenarbeit mit ihren Gedanken und was eben noch dazu diente, sie in der Luft zu halten, wurde zu einem Ersatz für noch ein Paar Schwerter.

Als die Magier sich am Flankendurchbruch zurückzogen, ohne Kommandanten zunächst orientierungslos und zersprengt, konnte Eathor die Barriere fallen lassen. Erleichtert auf eine Weise, die er nicht auszudrücken vermochte, trat er an seine Retterin heran und fiel ihr um den Hals. „Es tut gut, dich zu sehen, Schwester! Wie hast du mich gefunden?“

„Du hast Flügel. Sie sind blau“, scherzte sie schief grinsend und wich der eigentlichen Frage damit vorläufig aus.

Eathor hingegen verschob ein Nachhaken auf später. Die Front lag dennoch unter massiver Anstrengung und er hatte Tausende, die er bevorzugt mit weniger als mehr Wunden zurückbringen würde. „Du hast uns etwas Zeit verschafft, aber wir werden dennoch Schwierigkeiten bekommen. Kannst du vielleicht ein bisschen Unterstützung leisten? Vielleicht die Front entlasten? Dann kann ich den Rückzug organisieren und-“

Amdiriel lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Keine Sorge – darum hab ich mich schon gekümmert. Du wirst dir allerdings nachher eine ziemliche Predigt anhören dürfen.“

Ihm schwante Übles. Nicht, das er nicht dennoch dankbar war – aber trotzdem verzog er dezent das Gesicht, als er zwei riesige Schatten über das Schlachtfeld fegen sah. „Du hast Mutter und Großvater mitgebracht…?“, fragte er kleinlaut, über den Kampflärm hinweg kaum hörbar. Rhetorisch obendrein. Die Sonne brach sich am satten Blau ihrer Schuppen und jegliche noch verbliebene Zweifel wurden ausgeräumt, als Sekunden später unter dem dualen, tiefen Aufbrüllen zweier Kehlen gewaltige Kegel aus Magie auf den Boden trafen und ganze Landstriche leerfegten.

Zeitverschoben um wenige Minuten nur – aber das war mehr als genug.

Eathor wirkte einen Zauber, der seine Stimme auf Meilen tragen würde. Auch an das Ohr seiner Mutter, wie er befürchtete, aber das ließ sich nun nicht wirklich ändern. Großvater hatte ihm glücklicherweise nie wirklich Probleme bereitet und würde ihm vermutlich eher den Rücken stärken für das, was er hier tat… nur hatte Amdiriel die Predigt nicht grundlos in Aussicht gestellt.

Eigentlich… sollte er nicht wirklich hier sein. Im Gegenteil. Offiziell saß er in einer Schule und lernte fleißig.

„Rückzug zum abgesprochenen Treffpunkt!“, donnerte seine Stimme um ein Hundertfaches gewaltiger über das Feld hinweg, „Rückzug!“

Die Schlacht endete in einem Patt. Verluste auf beiden Seiten. Beachtliche, aber sie hätten weitaus schlimmer ausfallen können. Und keine Seite konnte den Sieg für sich beanspruchen. Angesichts dessen, womit er hatte arbeiten müssen… ein passabler Ausgang. Er war nicht zufrieden, wusste, dass es mehr hätte sein, er mehr hätte erreichen können.

„Junger Mann!“, donnerte Arien, kaum dass sie im Heerlager sein Zelt betrat.

Eathor zuckte fürchterlich zusammen und sandte die Offiziere mit einem möglichst professionell wirkenden und darin kläglich scheiternden „Bitte lasst uns allein“ hinaus.

Vetus trat nicht ein, sondern begnügte sich damit, breit grinsend den Kopf durch den Eingang des Zeltes zu stecken und damit gleich noch den einzigen potenziellen Fluchtweg zu blockieren. Wobei Eathor sich durchaus zu fragen begann, wie es wohl ausgehen würde, wenn er Vetus einen starken Luftstoß ins Gesicht blies. Möglicherweise überrascht, würde er dann den Kopf hochreißen, um auszuweichen – und damit das gesamte Zelt vom Boden heben. Was ihm Fluchtrouten in alle anderen Richtungen eröffnen würde. Nur… wäre das nicht nur kindisch, nein, schlimmer noch.

Seine Mutter würde ihn einfach zurück teleportieren.

„Wo ist Vater?“, erkundigte Eathor sich hoffnungsvoll. Er konnte wirklich alle Rückendeckung brauchen, die es gab.

„Nachdem der sich bereits dahingehend geäußert hatte, dass du zweifellos gut genug erzogen worden bist, um dich niemals selbst zu überschätzen und ich dir etwas Freiraum lassen solle, hielt ich es für angemessen, ihn dort zu lassen, wo er sich zu jenem Zeitpunkt befand“, erwiderte Arien bemerkenswert… feinfühlig? Eathor witterte seine Chance und hakte vorsichtig ein.

„Und das wäre… wo?“

Nur leicht verzog seine Mutter das Gesicht. „Ans Bett gefesselt.“

„Das wollte wirklich keiner wissen“, krähte Vetus seitens des Eingangs und sein Enkel pflichtete ihm das Gesicht verziehend bei.

„Dann stellt keine Fragen, wenn ihr die Antwort nicht wollt!“, murrte Arien verdrossen, straffte dann ihre Haltung wieder und trat an ihren Sohn heran. „Wir reden.“

Abermals verzog er das Gesicht. „Vor diesen Worten und diesem Ton hat mich Onkel immer gewarnt…“



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