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Hiraeth

von

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Interlude II - Fínn

Interlude II - Fínn

Fínn rollte sich rastlos in seinem provisorischen Bett herum. Er wusste, er sollte schlafen – auch ohne Evies ständige Erinnerung war ihm sein Zustand sehr wohl bewusst. Doch er konnte nicht, wollte nicht. Die letzten zwei Monate waren die Hölle gewesen. Noch immer versteckten sie Marise in dem kleinen Raum abseits des Krankenzimmers. Zu groß war die Angst vor Revolten in den eigenen Reihen. Oder Marises Reaktionen selbst.

Doch auch waren viele Menschen erschöpft und hungrig. Immer öfter kamen sie zu ihm, um ihr Leid zu klagen. Doch er konnte ihnen nicht helfen. Um in die nötigen Lebensmittel zu beschaffen, müssten sie in die nächste Stadt – und hoffen, dass es noch Essbares dort gab. Doch er konnte niemanden losschicken, er selbst fühlte sich nicht wieder bereit, nach draußen zu gehen …

 

„Feigling!“, brüllte Fínn, stand aus seinem Bett auf und sah an sich herab. Er konnte deutlich seine hervorstehenden Rippen erkennen, seine Arme schienen nur noch die Hälfte er Muskelmasse zu besitzen wie noch vor einigen Monaten. Wütend schritt Fínn in dem ehemaligen Klassenraum, der als sein Zimmer galt, auf und ab.

 

„Du hast geschworen, zu kämpfen. Du hast geschworen, die Unschuldigen zu schützten. Du hast Gott nochmal geschworen, für die richtige Sache zu sterben“, wiederholte er die Kernpunkte der Initiationsrede junger Soldaten an der Akademie leise, „aber wer ist der Feind? Die Monster? Die Geschütze auf den Monden? Marise? Fuck!“

 

Müde lehnte er sich gegen eine Mauer. Schließlich nahm er sich Kleidung, die er unachtsam auf den Boden geschmissen hatte und verließ den Raum. Langsam schritt er den Korridor entlang, Richtung Innenhof. Dieser war früher ein Ort gewesen, an dem Studenten sich nach und zwischen Unterrichtsstunden getroffen haben, gelernt, gelebt. Jetzt war er der zentrale Punkt ihrer kleinen Gemeinde geworden. Durch den Angriff der Monster waren viele Gebäudeteile zusammengebrochen, auch um den Innenhof herum. Diese waren strategisch günstig gefallen, sodass sie nun wie ein Dach fungieren und die Überlebenden vor dem gelegentlichen Ascheregen aus der Atmosphäre schützen. Fínn betrat das Atrium – wie sie den Innenhof nun zynisch nannten. Sofort kamen einige Personen auf ihn zu und sprachen ihn auf ihr Leiden an. Sie waren in Decken gehüllt, ihre Gesichtsfarbe wies ein ungesundes grau auf. Fínn wandte sich ab und murmelte, dass er schon einen Weg finden würde, dann schritt er weiter durch den großen Raum. Immer mehr Menschen kamen auf ihn zu oder blickten ihn hoffnungsvoll an.

Ihm selbst war zum Heulen zu Mute. Er wollte schreien und all die Verantwortung in irgendwelche Hände übergeben. Er wollte einfach nur … seinen Frieden. All die Menschen, die ihre Hoffnung auf ihn stützten, die Verantwortung, machten ihn einfach nur übel. Er musste handeln.

 

Fínn atmete tief durch, als er das Atrium verlassen konnte und in einem dunklen Flur stand. Er blickte sich um, fast unterbewusst ist er zur Krankenstation gegangen. Er fuhr seine Hände durch sein Haar, welches offen bis auf seine Schultern fiel, dann über sein Gesicht. Die hervorstehenden Wangenknochen weckten ihn endgültig auf, er musste handeln.

Er stieß die Tür zur Krankenstation auf und schlurfte langsam auf eine der Liegen zu. Evie streckte den Kopf auf dem Raum, in dem sich Marise aufhalten musste.

 

„Fínn! Was machst du hier!?“, rief sie besorgt und kam auf ihn zugeeilt. Als sie vor ihm stand, musterte sie ihn.

„Du siehst – verzeih mir – beschissen aus“, bemerkte sie trocken und begann, seine Augen zu untersuchen, die ohne Zweifel trocken und rot unterlaufen waren. Fínn selbst wusste es nicht, so lange hatte er in keinen Spiegel mehr geschaut.

Halt die Klappe, dachte er, doch war unterbewusst froh, dass Evie ihn nicht wie den allmächtigen Retter behandelte, in dessen Rolle er sich befand.

 

„Ich bin hier, um Marise zu holen“, sagte Fínn leise und tonlos, als Evie nur wenige Zentimeter vor ihm stand und noch immer seine Augen kontrollierte. Sie stockte nur kurz, dann fand sie ihre Professionalität wieder und zog ein Augenlid hoch, während sie flüsterte: „Bist du verrückt? Wir hatten uns doch darauf geeinigt-“

 

„Sei nicht albern. Aber ich kann sie gerade wirklich gebrauchen. Wir verhungern, Evie. Ich will nach Herya, ich will sehen, ob ich nicht dort noch etwas Essbares oder zumindest Samen oder ähnliches finden kann. Das kann ich nicht alleine. Naomi ist … ich kann sie für diese Mission nicht mitnehmen. Das ist zu gefährlich. Marise, sie kann sie töten. Du hast es selbst gesehen.“

Evie ließ von Fínn ab und ging einige Schritte zurück.

 

„Was ist mit Raphael?“

 

Fínn schnaubte verächtlich.

 

„Wirklich Evie, versuchst du deinen Freund zu töten? Er würde keine Minute überleben – und schau mich bloß nicht so überrascht an. Ich mag kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch stehen, bin aber nicht blind! Pass‘ lieber auf ihn auf, er könnte noch zu einem ganz passablen Krieger werden – irgendwann.“

 

Evie drehte sich um.

 

„Du bist ein arrogantes Stück Dreck, Fínn … aber du hast Recht.“

 

„Evie, seit wann reden wir so mit unseren Patienten.“

 

Fínn hob den Kopf und sah Dr. Ewa im Türrahmen stehen. Sie hatte vor knapp einem Monat wieder begonnen, die ärztliche Leitung zu übernehmen, sehr zur Erleichterung Evies. Sie lächelte und ging zu Fínn.

 

„Fínn ist kein Patient. Er … ist einfach hier, jeden Tag“, murmelte Evie.

 

„Als ob du meinte Anwesenheit nicht genießen würdest. Ich sollte Raphael -“

 

„Genug ihr beiden!“, Ewa schritt ein, „ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist. Aber ihr solltet endlich beginnen, euch professionell zu verhalten. Falls es euch nicht bewusst ist, Hunderte hier in der Akademie sind auf euch angewiesen.“

 

Fínn stand von der Liege auf. Ewas Ansprache hatte sein Herz für einen kurzen Augenblick aus dem Tack gebracht.

 

„Wisst ihr was? Ja, ja ich weiß, sie beschissen unsere Situation ist. Ich weiß, wie viele Menschen auf mich zählen! Und ich habe Angst, ok? Angst, dass ich sie enttäusche, dass sie alle sterben müssen. FUCK!“

 

Fínn schlug mit einer Hand auf die Liege, Schweiß stand auf seiner Stirn. Ewa legte ihre Hände auf seine Schultern und beruhigte seinen aufgebrachten Atem, während Evie sich zurückzog und in einer Schublade wühlte.

 

„Dann sollten wir keine Zeit verlieren, Fínn.“

 

Alle drei Köpfe wandten sich der Stimme entgegen. Marise stand lässig an den Türrahmen gelehnt. Sie sah erholt aus, ihre kristallenen Augen leuchteten.

 

Fínn wischte sich einige Strähnen aus dem Gesicht, dann schaute er verwirrt zwischen Marise, Evie und Ewa hin und her. Marise durchbrach die peinliche Stille.

 

„Ewa hat nach ihrem ersten Schock schnell mein … Potential erkannt und begonnen, mich zu studieren und sämtliche Tests an mir durchzuführen“, Marise schüttelte sich kurz bei der Erinnerung, „vielleicht können wir so etwas über diese Dinger erfahren. Und über mich“, fügte sie leise hinzu.

 

Fínn stand noch immer wie angewurzelt im Raum. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er Marise nicht mehr gesehen, geschweige denn gesprochen. Sie schien ihr altes Selbstbewusstsein wiedergefunden zu haben, im Gegensatz zu ihm. Isolation schien ihr viel Zeit zum Nachdenken gegeben zu haben. Sie schien ihr Schicksal nahezu akzeptiert zu haben und trug es mit einer äußeren Gelassenheit, die überraschend war, wenn er an ihren Zusammenbruch nach ihrem Erwachen zurückdachte.

 

„Okay“, erwiderte Fínn lang gedehnt. Er hoffte, ihm würde etwas Schlaues einfallen, was er Marise entgegnen konnte. Doch ihm fiel einfach nichts Passendes ein. Also drehte er sich zu Evie, die noch immer in einigen Schubladen kramte und eine kleine Tasche packte.

 

„Ich werde eines der Fahrzeuge nehmen. Die Straße nach Herya sind so ungeschützt, dass wir uns wenigstens schnell fortbewegen sollten. Ich gehe zur Garage und bereite alles vor, wenn ihr fertig seid, bringt mir bitte alles vorbei. Und … lasst sie unentdeckt.“

 

Mit diesen Worten drehte er auf den Absätzen um und verließ die Krankenstation. Hinter seinem Rücken konnte er spüren, dass mehrere Augenpaare auf ihn gerichtet waren, wobei das Paar aus Kristall ihn wie einen Dolch durchbohrten.

 

 

Fínn stieß die Tür zur intakten Garage auf. Seit dem Angriff hatte niemand mehr eines der Fahrzeuge genutzt. Er hoffte inständig, dass sein Plan aufging und sie noch funktionstüchtig waren. Denn ohne ein gepanzertes Fahrzeug war der Weg durch die Wüste nach Herya nahezu unmöglich. Die Temperaturen, die vor dem Aufschlag geherrscht hatten, waren schon nahezu unerträglich gewesen. Nun streiften auch noch Monster durch die Wüste. Fínn öffnete die Tür eines der vier identischen Wägen und setzte sich hinter das Steuer. Er startete den Motor und hoffte, dass das Estryia, das den Wagen befeuerte, durch die monatelange Inaktivität noch nicht wieder erstarrt war. Doch zu seiner positiven Überraschung begann der Bordcomputer alle Systeme hochzufahren. Selbstzufrieden lächelte Fínn, lehnte sich auf dem Sitz zurück und schloss die Augen. Die Luft im Wagen erwärmte sich langsam und entkrampfte seine steifen Glieder.

 

„Ich glaube, ich habe dich noch nie lächeln gesehen.“

 

Evies Stimme riss Fínn aus dem kurzen Moment der Stille. Er öffnete die Augen und blickte träge in Richtung Tür. Ewa, Evie und Marise standen dort. Marise trug zwei Rücksäcke bei sich. Wie selbstverständlich öffnete sie die Beifahrertür und warf diese auf den Sitz. Dann schloss sie die Tür wieder und kletterte auf die Ladefläche hinter der Fahrerkabine.

 

„Ich bin kein Fan kleiner, geschlossener Räume“, murmelte sie und lehnte sich mit dem Rücken gegen das semitransparente Fenster der Fahrerkabine hinter den Sitzen.

 

„Wie du meinst.“

 

Fínn zuckte mit den Schultern und stieg noch einmal aus. Dann ging er zu Evie und Ewa.

 

„Habt ein Auge auf die Akademie. Wenn ich zurück bin, möchte ich noch Menschen um mich herumhaben, die mir dankbar sind, etwas zu essen aufgetrieben zu haben.“

 

Ewa nickte und wünschte Fínn viel Erfolg, dann drehte sie sich um und verließ die Garage. Fínn wollte sich schon auf den Weg zum Wagen machen, da packte Evie ihn am Arm und drehte ihn zurück zu sich.

 

„Ich erwarte, dass ihr beide wohlbehalten wiederkommt. Ich weiß, dass du dich vor Marise fürchtest. Sie hatte genügend Gelegenheiten, uns alle zu vernichten, und doch sind wir alle noch hier.“

 

„Schwachsinn“, zischte Fínn und funkelte Evie wütend an. Während er sich aus ihrem Griff wand und sich bereitmachte, in den Wagen zu steigen, drückte die junge Ärztin ihm mehrere Ampullen reines Estryia in die Hand.

 

„Ewa weiß nicht, dass ich noch immer einen kleinen Vorrat habe. Ich habe aber das Gefühl, dass ihr beiden diese eventuell nötig habt“, sagte sie leise, dann ging. Als sie ihre Hand auf der Klinke der Tür hatte, drehte sie sich noch einmal um.

„Viel Erfolg, Fínn.“

 

Auch Fínn drehte sich vor dem Wagen um, nickte Evie zu und stieg ein. Marise hatte die gesamte Szene von der Ladefläche aus beobachtet, zeigte aber keine Emotion.

 

„Ich habe dich im Auge“, sagte Fínn, während er sie durch den Rückspiegel beobachtete. Marise hob nur lässig eine Hand.

 

Der junge Mann seufzte, dann öffnete er das Tor vom Wagen aus und fuhr langsam aus der Garage, in Richtung Herya.



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